KAPITEL III ERTRINKENDE

Finlay Feldglöck, vogelfreier Terrorist und ehemals der berühmteste Stutzer seiner Epoche (und der geheimnisvolle Maskierte Gladiator, Liebling der blutrünstigen Anhänger der Zirkusspiele), hing mit dem Kopf nach unten am Ende seines Seils und überlegte, ob er inzwischen nicht vielleicht doch ein wenig zu alt für derartige Heldentaten war. Unter ihm pulsierte das Leben von Golgathas Hauptstadt, die weiten Straßen und prachtvollen Alleen von Parade der Endlosen. Die Stadt hatte ihren Namen wegen des schier endlosen Stroms von Möchte-gern-Helden, die jedes Jahr aufs neue herbeiströmten, um ihre Kraft und Geschicklichkeit in der berühmten Arena unter Beweis zu stellen, die die Stadt im gesamten Imperium bekannt gemacht hatte. Auch viele Aristokraten lebten in dieser Stadt, in streng bewachten pastellfarbenen Türmen, weil Parade der Endlosen der beste Ort im Imperium war, um zu sehen und gesehen zu werden – mit Ausnahme des Imperialen Hofs der Löwenstein natürlich. Dort ging man allerdings nur hin, wenn man gerufen worden war. Und wenn man dorthin ging, dann verfaßte man am besten vorher seinen Letzten Willen, falls man schlau war – nur für den Fall. Finlay bemerkte, daß seine Gedanken unnötig abschweiften. Das hatte man davon, wenn man mit dem Kopf nach unten an einem Seil hing und das Blut in den Ohren rauschte. Er seufzte, griff nach oben, bekam das Seil zu packen und zog sich Hand über Hand wieder hinauf, bis er einen bequemen Ruheplatz in einer Nische an der Fassade des Silvestri-Turms erreicht hatte. Glücklicherweise standen die Silvestris auf Rokoko. Die Fassade ihres Turms war bedeckt mit Hunderten von Nischen und unerwarteten Erkern, voller häßlicher kleiner Statuen mit übertrieben großen Genitalien und Gesichtern, deren Anblick nur eine Mutter ertragen konnte. Finlay quetschte sich neben einen besonders üppig ausgestatteten, Gargoylen mit offensichtlichen Verdauungsstörungen und legte eine Verschnaufpause ein. All dieser Ärger, nur um einen dreihundert Meter hohen Turm hinaufzuklettern.

Ohne seine Sicherheitsleine hätte Finlay einen ziemlich häßlichen Fleck auf dem Boden tief unten hinterlassen. Das geschah nun einmal, wenn man in Eile war. Normalerweise wäre Finlay vorsichtiger zu Werke gegangen, doch er lag hinter seinem Zeitplan. Seine eigene Schuld. Er war auf dem Weg zum Turm in einem annehmbaren Restaurant eingekehrt und hatte hervorragend gegessen. Kein bekanntes Restaurant, natürlich nicht. Finlay konnte sich nicht leisten, erkannt zu werden. Aber seit sein Clan einer feindlichen Übernahme durch die Wolfs zum Opfer gefallen war, war Finlay ständig auf der Flucht. Die einzigen Leute, bei denen er Unterschlupf gefunden hatte, waren die Esper und Klone der Untergrundbewegung, feine Männer und Frauen, wenn es um Mut, Ideale und Widerstand gegen die Autorität ging, aber ziemlich unbedarft, was die angenehmen Seiten des Lebens betraf. Ganz besonders vermißte Finlay die gute Küche, die einem Mann seiner Position zustand. Er war zwar kein ausgesprochener Feinschmecker, doch er wußte, was er mochte. Suppe zum Beispiel, so klar, daß man darin baden konnte. Oder fast rohes Fleisch. Schlachte das Tier, zerlege es, wedele mit dem Steak kurz in Richtung der Pfanne und serviere es. Mehr brauchte es gar nicht, um Finlay glücklich zu machen. Außer vielleicht noch ein paar exotische Gemüse als Beilage und wegen der Ballaststoffe. Und ein widerlich klebriges, süßes Dessert. Himmlisch. Absolut himmlisch.

Finlay hatte so lange darauf verzichten müssen… Finlay hatte dem Duft, der aus dem kleinen, abgelegenen Restaurant auf die Straße gedrungen war, einfach nicht widerstehen können.

Ein schneller Blick auf das Chronometerimplantat am Handgelenk hatte ihm gezeigt, daß er noch ziemlich früh dran war, also… hatte er einen kleinen Abstecher gemacht. Und die Zeit bis zum dritten Nachtisch vollkommen vergessen. Der Schreck war ihm in die Glieder gefahren, als er festgestellt hatte, wieviel Zeit über seiner Schlemmerei vergangen war. Finlay hatte eine Handvoll Münzen auf den Tisch geworfen und war aus der Tür gerannt wie ein Mann, der sich des zurückgelassenen Trinkgeldes schämen mußte. Als er schließlich beim Silvestri-Turm angekommen war, hatten seine Lungen geschmerzt, er hatte an Seitenstechen gelitten, und sein voller Magen hatte rebelliert. Es war ein Wunder gewesen, daß die Wachen ihn nicht entdeckt hatten. Finlay hatte sich genau an den Plan gehalten, war zwischen den Patrouillen hindurchgeschlüpft und hatte sich an den Aufstieg gemacht wie ein Seemann, der gerade im Heimathafen angekommen ist und seine Frau nicht schnell genug wiedersehen kann. Er war noch immer ziemlich spät dran gewesen und deswegen überhastet geklettert. Und beinahe hätte er das Pflaster tief unten mit seinen Innereien dekoriert.

Finlay warf einen weiteren Blick auf seine Uhr. Er hatte gut aufgeholt. Er zwang sich, ruhig zu atmen, während sein Blick über die Stadt glitt. Die pastellfarbenen Türme erstreckten sich in alle Richtungen, ein ganzer Wald aus Glas, Metall und seltenen Steinen, die im Sonnenlicht hübsch funkelten. Finlay warf einen Blick auf sein Spiegelbild im polierten Stahl hinter seinem Rücken. Er hätte sich keine Sorgen machen müssen, daß irgend jemand in dem kleinen Restaurant ihn erkennen könnte.

Der Mann im Spiegel besaß keinerlei Ähnlichkeit mehr mit dem alten Finlay Feldglöck. Früher, in den alten Tagen, hatte er ausgesehen wie ein schrillbunter Paradiesvogel. Groß gewachsen, anmutig und modisch auf dem neuesten Stand, von den polierten, engen Lederstiefeln bis zur Samtmütze. Als Finlay das letzte Mal bei Hof gewesen war, hatte er einen langen Frack getragen, das Gesicht mit fluoreszierenden Farben bemalt, das Haar metallisiert, einen juwelenbesetzten Kneifer auf der Nase, den er überhaupt nicht benötigte, und jeder hatte sich vor ihm als einem der großen Meister der Mode verbeugt. Und jetzt? So weit war es mit ihm gekommen!

Das Gesicht seines Spiegelbildes hätte jedermann gehören können. Keinerlei Kosmetik, um kleinere Narben oder sonstige Defekte zu überdecken oder die Struktur der Wangenknochen zu betonen. Keine leuchtenden Farben, die unübersehbar Status und Rang verkündeten oder die Aufmerksamkeit anderer stolzer Pfauen auf sich zog. Finlays Gesicht war in diesen Tagen hager und verhärmt. Tiefe Linien hatten sich um Augen und Mund gegraben. Er war eben erst fünfundzwanzig und wirkte zehn Jahre älter. Sein langes Haar war so hell, daß es beinahe farblos schien. Am Hof hatte es noch in leuchtend metallischem Bronze geschimmert und sich in sanft gewellten Locken über seine Schultern gelegt. Jetzt hing es schlaff und leblos herab, und es war ihm egal. Um die Stirn hatte Finlay ein einfaches Lederband geschlungen, um das Haar aus dem Gesicht zu halten, das war auch schon alles. Er wußte, daß er die Haare besser abgeschnitten hätte. Es wäre einfach praktischer gewesen. Aber Finlay konnte sich nicht zu diesem Schritt durchringen. Die Haare waren seine letzte Verbindung zu dem berüchtigten Stutzer von einst.

Früher waren Finlays Kleider modisch bis zum Exzeß gewesen. Heute steckte er in einem zu großen Thermoanzug mit einem Chamäleonschaltkreis, der stets die Farben der Umgebung annahm. Finlay grinste. Das Gesicht in der reflektierenden Fläche grinste zurück, doch Finlay erkannte es noch immer nicht. Dieser Mann dort sah hart aus – und verdammt gefährlich obendrein. Seine Augen blickten kalt und vorsichtig, und in seinem Grinsen lag ein trauriger Humor. Finlay hätte ein ehemaliger Soldat oder Söldner sein können, ein bezahlter Schläger, der für den richtigen Preis jeden Auftrag annahm. Er sah aus wie die gefährlichste aller Sorten von Männern: die, die nichts mehr zu verlieren hatte.

Nein, dachte Finlay entschieden und wandte den Blick ab. Er besaß noch immer seine Liebe zu Evangeline und die Sache, für die er jetzt kämpfte. Als Adliger hatte er nie einen Gedanken an die Massen unter ihm verschwendet, ganz zu schweigen an die Nichtpersonen, die Esper und Klone, die Untersten der Unteren. Dann hatte er das Entsetzen von Silo Neun erlebt, auch bekannt als Hölle des Wurmwächters, wo abtrünnige Esper gefangengehalten, gefoltert und schließlich exekutiert wurden. Was Finlay dort gesehen hatte, hatte sein Leben für immer verändert. Jetzt kämpfte er um Gerechtigkeit für alle, und wenn er das nicht erreichen konnte, würde er sich auch mit Rache zufriedengeben.

Genau aus diesem Grund war Finlay hierher zum Silvestri-Turm gekommen. Er zwang sich auf die Beine und setzte seinen Aufstieg fort. Der junge Feldglöck zitterte an allen Gliedern von der Anstrengung, doch irgendwie kam er trotzdem voran. Seine Verbindungsleute im Untergrund hatten ihm eine Auswahl an Drogen angeboten, kleine chemische Wunder, die müde Muskeln wieder munter machten, doch Finlay hatte abgelehnt. Er hatte schon in der Arena niemals künstlichen Mut gebraucht, und wenn er auch nicht mehr der Mann von einst war, so war Finlay doch noch immer der Beste, den der Untergrund aufzubieten hatte. Finlay lachte in sich hinein, während er immer weiter hinaufstieg und sich wie ein flinker Schatten über vorstehende Wasserspeier und verzerrte Steingrimassen schwang, während der Chamäleonschaltkreis seine Anzugfarbe haargenau auf die der Umgebung abstimmte, um ihn vor dem Hintergrund beinahe unsichtbar zu machen.

Vielleicht würde der Silvestri-Clan nach dieser Sache das äußere Erscheinungsbild seines Turms überdenken. Gotischer Rokoko war schön und gut und pittoresk, aber ein Feind konnte sich auch ziemlich leicht anschleichen. An der Fassade eines Techbauwerks wie zum Beispiel dem Turm der Shrecks wäre Finlay innerhalb einer Minute entdeckt worden. Aber wie alle anderen auch, so verließ sich auch der Silvestri-Clan auf teure Sicherheitssysteme, welche im Grunde genommen vollkommen ausreichten – meistens jedenfalls. Sie waren jedenfalls gut genug, um jeden gewöhnlichen Dieb, Spion oder Saboteur abzuschrecken. Sie reichten vollkommen aus, um jeden draußen zu halten – es sei denn, man besaß zufällig die Unterstützung dieser gerissenen kybernetischen Anarchisten, der Kyberratten, Gott segne ihre kleinen Hackerherzen. Genau in diesem Augenblick fütterten sie die Systeme des Silvestri-Turms mit einem Haufen beruhigender Lügen, um die Anwesenheit der lautlosen Gestalt zu verheimlichen, die an der jetzt ungeschützten Fassade hinaufkletterte.

Finlay erreichte das Ende der Leine und stützte sich freundschaftlich auf die furchteinflößende steinerne Statue eines bekannten Vorfahren der Silvestris. Dann zog er die Leine ein und wickelte sie um seinen Leib. Finlay war fertig, und das nicht nur mit dem Aufstieg, wenn man den Zustand seiner schmerzenden Arme und Beine bedachte und den feuchten Schimmer von kaltem Schweiß auf seiner Stirn. Er verzog das Gesicht und atmete tief durch. Der junge Feldglöck hatte seine Muskeln als Gladiator in der Arena gestählt, und trotz der erzwungenen Abwesenheit des mörderischen Sandes war er stolz darauf, noch so gut in Form zu sein. Allein der Aufstieg hätte jeden anderen umgebracht. Finlay dehnte die Muskeln in Armen und Beinen und verdrängte den Schmerz. Er war beinahe an seinem Ziel. Nur noch ein wenig höher. Vorsichtig schwang er sich an der Statue vorbei nach draußen und setzte seinen Weg über die Fassade fort, während er jeden Vorsprung als Halt und Stütze ausnutzte. Vergiß den Schmerz in den brennenden Muskeln und deinem Rücken. Vergiß den unsicheren Halt, den schneidenden Wind und den langen Sturz nach unten.

Klettere einfach weiter, Fuß um Fuß, sei wachsam und konzentriere dich auf deine Mission… und auf den Mord, den du auszuführen hast.

Die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens hatte die Welt Finlay Feldglöck nur als Stutzer gekannt. Stets auffällig bei Hofe und eine einzige große Enttäuschung für seinen Vater, einen berühmten Soldaten. Niemand hatte von seinem Geheimnis gewußt, von seinem zweiten Leben als Maskierter Gladiator auch nur geahnt, unbesiegter Champion der Arena Golgathas – mit Ausnahme des Mannes, der sein Trainer war, und der Frau, die ihn liebte. Als die Umstände ihn gezwungen hatten, um sein Leben zu fliehen, hatte Finlay dem Untergrund sein Können als Kämpfer enthüllen müssen. Es war die einzige Münze gewesen, mit der er ihre Anerkennung hatte kaufen können. Im Untergrund gab es keinen Platz für Mitläufer. Ganz besonders dann nicht, wenn man weder Klon noch Esper war, sondern Mensch und sonst nichts. Bloß Mensch. Der Untergrund hatte Finlay auf eine Mission gesandt, allein und ohne Unterstützung, damit er seinen Wert beweisen oder sterben konnte, und als Finlay mit einer blutigen Spur und dem Sieg in der Tasche zurückgekehrt war, da hatten sie einfach mit den Schultern gezuckt und ihn im Untergrund aufgenommen. Aber sie wußten dennoch nichts von seiner geheimen Identität als Maskierter Gladiator. Es ging sie nichts an.

Finlay hatte ihnen auch nichts von seiner Not erzählt, der Sucht nach Nervenkitzel, Gewalt und plötzlichem Tod, die ihn vorderhand in die Arena getrieben hatte. Es gab Zeiten, da fühlte Finlay sich nur lebendig, wenn er anderes Leben vernichtete. Evangeline Shreck hatte dazu geschwiegen, wenn sie bei ihm gewesen war, oder sich damit abgefunden. Ihre Liebe war alles gewesen, was Finlay gebraucht oder sich jemals gewünscht hatte. Doch die Zeit, die die beiden miteinander verbringen konnten, waren immer nur kurze verstohlene Augenblicke gewesen. Ihre Familien lagen bereits seit Generationen miteinander im Streit. Die beiden jungen Liebenden hatten stets gewußt, daß sie niemals auf eine gemeinsame Zukunft hoffen durften. Aber anstatt sie zu ersticken, hatte diese Vorahnung auf geheimnisvolle Weise die Flamme ihrer Liebe nur noch stärker entfacht, und der Mann, der einst nur lebte, um andere zu töten, lebte heute für die Augenblicke des Friedens, den er in Evangelines Armen fand.

Doch jetzt hatte Finlay sich in den Untergrund verkrochen, und Evangeline war in die Welt darüber zurückgekehrt, in den Turm der Shrecks und zu ihrem entsetzlichen Vater. Ihre Position und ihre Verbindungen zu den Bewohnern der pastellfarbenen Türme machten Evangeline zu wertvoll, als daß sie sich so lange zurückziehen konnte, wie sie wollte. Also hatten die Liebenden sich ein letztes Mal umarmt und mit den Tränen gekämpft, als sie sich mit erstickten Stimmen voneinander verabschiedet hatten. Finlay hatte Evangeline begleitet, so weit er konnte, dann war er stehengeblieben und hatte ihr hinterhergesehen, bis sie in der Ferne verschwunden war. Sie hatten sich versprochen, sich wiederzusehen, aber keiner von beiden glaubte wirklich daran. Happy-Ends waren anderen Menschen vorbehalten. Finlay Feldglöck ging allein zurück in den Untergrund, und wenn ein Teil von ihm an diesem Tag gestorben war, so behielt er es für sich. All das hatte jedoch nichts damit zu tun, daß Finlay der Mörder war, den der Untergrund so dringend für seinen Kampf benötigte.

Finlay hätte sich nie als Rebellen betrachtet. Er hatte nie über die Gesellschaft nachgedacht, in der er sich bewegt hatte, jedenfalls nicht mehr, als ein Fisch über das Wasser nachdenkt, in dem er schwimmt. Finlay hatte seine Privilegien immer als selbstverständlich hingenommen, und er hatte sich nie einen Dreck um diejenigen geschert, deren Arbeit und Leid sein Leben erst ermöglichten. Er war ein Aristokrat gewesen, vor dem andere Aristokraten sich verbeugt hatten, der Erbe einer der mächtigsten Familien des Imperiums. Finlay Feldglöck hatte Macht und Reichtümer jenseits aller Vorstellungskraft besessen.

Bis die Wolfs gekommen waren. Sie hatten die Feldglöcks niedergemetzelt und in alle Winde verstreut. Finlay war mit einem Schlag zu einem der unzähligen Gesichter auf der Flucht geworden, ständig die Wolfs und ihre gedungenen Mörder im Nacken, die ihn bei der ersten sich bietenden Gelegenheit umbringen würden. Er war nur noch im Untergrund sicher, dem er zutiefst mißtraute und dessen Ideale ihn kaltließen. Finlay verstand den Haß seiner neuen Verbündeten auf das System.

Was man den Klonen und Espern in der Hölle des Wurmwächters angetan hatte, war unverzeihlich, ganz egal, aus welcher Sicht man die Dinge betrachtete. Die Foltern und das Leid, das Finlay hatte sehen müssen, hatten selbst seinen an vieles gewöhnten Magen zum Rebellieren gebracht. Er benötigte ein wenig länger, um zu erkennen, daß Klone und Esper mit jedem Tag ihres Lebens ähnliches, wenn auch nicht ganz so Entsetzliches erlebten, ob sie in Silo Neun gefangen gehalten wurden oder nicht. Sie waren keine Menschen. Sie waren Besitz. Und ihre Besitzer konnten alles mit ihnen anstellen, was sie wollten.

Finlay hatte es nicht anders gemacht.

Finlay hatte sich nie sehr für Politik interessiert, und er hatte auch nicht vor, in Zukunft etwas daran zu ändern. Aber er hatte einen grimmigen Respekt für die Rebellen entwickelt, und er war nur allzu bereit, für ihre Sache zu kämpfen. Das war aber auch schon beinahe alles, was er mit ihnen gemein hatte. Die Rebellen und Finlay Feldglöck hatten sich nichts zu sagen. Es war beiden Seiten auch vollkommen egal, oder sie verstanden einfach nicht, was den anderen interessierte oder bekümmerte.

Die Rebellen hielten Finlay für naiv, und Finlay hielt die Rebellen für langweilig. Er verbrachte eine Menge Zeit mit Schmollen, weil er keinen Zugang mehr zu schönen Kleidern oder bunten Parties hatte, die ihn ablenken konnten, wenn er nicht in der Arena auf Leben und Tod kämpfte. Der Untergrund besaß weder Zeit noch Mittel für nicht lebensnotwendige Dinge wie Kleidung oder Parties. Wenn Finlay nicht deswegen Schmollte, dann brütete er über die Vernichtung seines Clans und den Triumph seiner Feinde, der Wolfs, und wie es Evangeline erging ohne ihn. Alles in allem war er die meiste Zeit unausstehlich, und er wußte es – aber es war ihm egal. Also gaben sich die Anführer der Untergrundbewegung die größte Mühe, ihn mit Aufträgen zu beschäftigen, zu ihrer beider Bestem. Es war nicht sonderlich schwer. Der Untergrund besaß eine Menge Feinde, und Finlay war immer begierig auf neuen Nervenkitzel.

Also meldete er sich zu allen möglichen gefährlichen Missionen freiwillig, und der Untergrund war immer einverstanden, und beide Seiten waren zufrieden. Es war schwer zu sagen, ob Finlay oder die Anführer der Untergrundbewegung überraschter waren, daß er immer wieder lebend zurückkehrte.

Dieser Auftrag hier war ziemlich typisch. Der Untergrund hatte einen mächtigen und lautstarken Gegner zum Tode verurteilt, und Finlay war das Hinrichtungsinstrument. Nur war das Ziel dieses Mal der berühmt-berüchtigte Lord William Saint John, Stellvertreter des Hohen Lord Dram persönlich und aus diesem Grund ständig von einer kleinen Armee bestens ausgerüsteter Leibwächter und modernster Sicherheitstechnologie umgeben. Saint John bewegte sich niemals durch die Öffentlichkeit, wenn seine Leute das Gebiet nicht schon im voraus weiträumig gesichert hatten. Außerdem besaß er einen tragbaren Energieschirm für Notfälle und einen persönlichen Flieger, der ihn überall hinbringen konnte. Vollkommen undurchdringlich, die Absperrung. Es sei denn, man war verrückt, verzweifelt oder unglaublich geschickt. Wie Finlay zum Beispiel, der jeden einzelnen dieser Zustände zu verschiedenen Zeiten durchmachte, ganz wie er es gerade benötigte. Was auch ein Grund dafür war, daß er im Augenblick an der Fassade des Silvestri-Turms hinaufkletterte wie eine winzige graue Spinne an einem Baum und hoffte, daß niemand ihn entdecken würde.

Schließlich erreichte Finlay die tiefe Nische, die er auf den Konstruktionsplänen entdeckt hatte, einem weiteren Geschenk der Kyberratten. Er zog sich über die Kante in die Nische hinein und rollte sich zusammen. Sie war gerade groß genug, daß er in dieser Haltung verharren und die Straße unten weiter im Auge behalten konnte. Finlay befand sich in vielleicht fünfzig Meter Höhe. Er machte es sich bequem und wartete.

Nach den Informationen des Untergrunds würde Lord William Saint John bald auftauchen. Billy der Schläger. Billy, dessen Wort den Tod für Esper, Klone und jeden bedeutete, der ihm in die Quere kam. Billy der Schlächter, gehaßt und verabscheut von praktisch jedermann, aber unerreichbar wegen seiner Position. Man erzählte sich, daß die Eiserne Hexe sehr zufrieden mit ihm war.

Und er würde herkommen. Zum Silvestri-Turm. Würde zusammen mit seinem schwer bewaffneten Gefolge haltmachen, um seinem Freund und Alliierten, Lord Silvestri, seine Aufwartung zu machen, bevor er weiterfahren würde zur offiziellen Eröffnung eines nahegelegenen Waisenhauses. Sehr angemessen übrigens, wenn man bedachte, wie viele Waisen Saint John und seine Schergen in den letzten paar Jahren zurückgelassen hatten. Seit dem Tag, an dem Dram der offizielle Prinzgemahl von Löwenstein geworden war, hatte der Hohe Lord die meisten seiner Verpflichtungen als Oberster Krieger an seinen Stellvertreter delegieren müssen, an Saint John. Zu Billyboys neuen Aufgaben gehörte die Verfolgung und Bestrafung potentieller Rebellen sowie die Exekution abtrünniger Esper und Klone, und er erledigte seine Arbeit mit großer Effizienz und noch mehr Genuß. Blut und Tod folgten Saint John auf dem Fuß, und er war bekannt dafür, niemals Gefangene zu machen.

Grausamkeit und Folter waren sein Zeitvertreib und Gnade für ihn nur ein Fremdwort. Der Untergrund hatte einstimmig seinen Tod beschlossen. Die Exekution Saint Johns würde eine Botschaft an den Imperialen Palast bedeuten, die niemand ignorieren konnte.

Niemand würde ihm eine Träne hinterherweinen, nicht einmal seine Standesgenossen. In letzter Zeit hatte Saint John angefangen, in der Politik mitzumischen, um seine Stellung über die Position als bloßer Stellvertreter Lord Drams hinaus zu verbessern. Er war mit der üblichen Portion Schwung und Bosheit an die Sache herangegangen und hatte sich mit höhnischer Überheblichkeit Feinde unter seinen Avalen geschaffen. Die Eröffnung eines neuen Waisenhauses war eine einfache und sichere Sache. Sie gab keinen Anlaß zu neuen Kontroversen, und sie würde Saint Johns Ansehen in der Öffentlichkeit heben.

Der Mann der Tat zeigte plötzlich ein weiches Herz für große Kinderaugen. Es konnte gar nicht schiefgehen. Alle großen Fernsehstationen würden mit ihren Holokameras vor Ort sein.

Finlay grinste. Sie konnten es noch nicht wissen, aber sie würden die höchsten Einschaltquoten seit Ewigkeiten haben.

Finlay waren die Gemeinsamkeiten zwischen ihm und Saint John nicht entgangen. Sie waren beide Männer, die sich nach Blut und Tod sehnten, und beide waren von dem Willen beseelt, sich die Hände beim Töten schmutzig zu machen. Im Krieg, als Soldaten, wären sie Helden geworden, von allen gefeiert, hoch dekoriert mit Orden und Medaillen. Sie wären Kameraden und vielleicht sogar Freunde gewesen. Hätten im Winter zusammen an einem knisternden Lagerfeuer gesessen, mit Gläsern in den Händen, und auf alte Schlachten und gefallene Kameraden getrunken. Doch wenn jetzt Krieg war, dann kämpften Saint John und Finlay Feldglöck auf verschiedenen Seiten. Und die Gemeinsamkeiten zwischen ihnen vergrößerten nur die Herausforderung.

Finlays Kopf fuhr herum. Er konnte hören, wie sich der öffentliche Aufmarsch näherte. Eine Blaskapelle in zeremonieller Uniform marschierte die Straße hinab, während sie ein demonstrativ kriegerisches, patriotisches Stück spielte. Hinter der Kapelle erschien eine volle Kompanie der persönlichen Wache Saint Johns, von Hirntechs zu Loyalität bis in den Tod konditioniert, und mittendrin ein kleiner Flieger, auf dem groß und stolz Saint John persönlich stand, lächelte und der Menge zuwinkte, die die Straßen säumte. Finlay rümpfte verächtlich die Nase. Die Massen am Straßenrand waren mit verdächtiger Hast aufgetaucht. Man konnte meinen, jemand hätte den Leuten Geld gegeben, damit sie sich genau dort versammelten, wo die Holokameras am meisten beeindruckt wurden.

Saint John sah prächtig aus, obwohl er seine normale Dienstuniform ohne jeden Orden trug. Guter Schachzug das. Sollte wohl suggerieren, daß er nur einer der Jungs war. Nur ein gewöhnlicher Soldat wie alle anderen auch, der seine Arbeit erledigte, und sonst nichts. Saint John war groß und breitschultrig, besaß eine tonnenförmige Brust und ein sympathisches Gesicht: das Beste, was die Körperläden für Geld zu liefern imstande waren. Und wenn sein Lächeln ein wenig zu ungeübt erschien und seine Augen kalt wirkten, so waren die Menschen von ihren Politikern nichts anderes gewohnt.

Finlay ignorierte die Gestalt und konzentrierte sich auf den Flieger. Die Maschine war ein ganz gewöhnlicher Gravschlitten mit Extrapanzerung und so großzügig mit kunstgeschmiedetem Metall und Juwelen geschmückt, daß selbst Finlay mit seinem exaltierten Geschmack sich ein wenig abgestoßen fühlte. Man benötigte Stil, um diese Art von Überfluß zur Schau zu stellen, und in Finlay regte sich der Verdacht, daß Saint John Stil selbst dann nicht erkennen würde, wenn er auf der Straße vor ihm auftauchen würde und ihn in die Nase biß. Nur ein weiterer Grund, den Mann zu töten und die Bevölkerung von ihm zu erlösen. Die Luft flimmerte leicht in der unmittelbaren Umgebung des Fliegers; Schutzschirme, die sicherstellten, daß die Zuschauer sich in respektvoller Entfernung hielten. Stark genug, um einen Disruptorstrahl aufzuhalten oder auch eine Explosion. Die Sicherheitsleute Saint Johns kannten sich aus in ihrem Geschäft. Allerdings hielten Schutzschirme alles draußen. Selbst die Atemluft. Also umgaben sie nur die Seiten des Fliegers und ließen oben eine Lücke, so daß Saint John nicht erstickte. Es war kein sonderlich großes Risiko. Im gleichen Augenblick, in dem sich ein anderer Flieger oder Gravschlitten von oben näherte, würde der Schutzschirm sich vollständig schließen und geschlossen bleiben, bis die potentielle Bedrohung vorüber war. Kein Problem. Außer natürlich, es gab keinen Flieger und keinen Gravschlitten, sondern nur einen einzelnen Mann, der gefährlich dicht über dem Abgrund in einer Nische des Turms über dem Flieger Saint Johns lauerte.

Finlay mußte grinsen. Er hatte die Lücke im gleichen Augenblick erkannt, in dem seine Verbindungsleute aus dem Untergrund die Sicherheitsmaßnahmen Saint Johns erklärt hatten.

Ein Angriff von oben galt als unmöglich, wenn man die ausgeklügelten Sicherheitssysteme der umgebenden Türme bedachte…, aber selbst die schlauesten Sicherheitssysteme konnten überlistet werden, wenn ein Mann bereit war, gewisse Risiken einzugehen. Und wenn es einem Mann egal war, ob er überlebte oder bei dem Anschlag starb. Die Offenheit dieses Gedankens schockierte Finlay für einen Sekundenbruchteil, hauptsächlich wegen seiner Ehrlichkeit. Er konnte ohne seine Familie oder einen Platz in der Gesellschaft leben, aber nicht ohne Evangeline. Die Ereignisse hatten sich gegen ihre Liebe verschworen, und möglicherweise würden sie sich niemals wiedersehen…, und ohne Evangeline war das Leben keinen Pfifferling mehr wert. Finlay blickte zur Straße hinunter, wo sich der Aufmarsch näherte, und sein verkniffenes Lächeln verbreiterte sich zu einem Totenkopfgrinsen. Irgend jemand würde bald sterben. Saint John ließ seinen Flieger vor dem Haupteingang des Silvestri-Turms halten, direkt unterhalb von Finlay, und bereitete sich darauf vor, mit seiner Ansprache zu beginnen. Finlay mußte nichts weiter tun als seinen Disruptor ziehen und der kleinen Kröte in den Kopf schießen.

Allerdings wäre das viel zu einfach gewesen. Finlay Feldglöck hatte einen Ruf zu verlieren.

Und er liebte es, sich die Hände schmutzig zu machen.

Eine kurze Bewegung ließ das Seil an der Fassade des Turms hinabgleiten, bis es unbemerkt über Saint Johns Kopf hing. Es besaß die gleichen Tarneigenschaften wie Finlays Chamäleonanzug, und selbst ausgeklügelte Sicherheitssysteme konnten es nicht erkennen, geschweige denn das bloße Auge. Finlay schob sich aus seiner schützenden Nische, packte das Seil fest mit der Hand und beugte sich vor. Er verharrte kurz in dieser Position, während er den Augenblick genoß, dann stieß er sich ab und glitt mit zunehmender Geschwindigkeit an der Seite des Turms nach unten. Lederne Handschuhe schützten ihn vor der Reibungshitze. Kleine Rauchwölkchen quollen zwischen dem Seil und seinen Händen hervor, während er sich dem Opfer näherte.

Finlay wartete bis zum allerletzten Augenblick, bevor er seinen Griff um das Seil wieder schloß und den Absturz bremste. Er löste eine Hand und zog den Dolch aus dem Gürtel. In diesem Augenblick mußte Saint John etwas gehört oder gespürt haben.

Er blickte nach oben, und es war die einfachste Sache der Welt für Finlay, das Seil ganz loszulassen, hinunterzuspringen und den Dolch sauber durch Saint Johns Auge mitten in sein Gehirn zu stoßen.

Der Lord bäumte sich auf, die Arme zuckten, doch er war bereits tot. Finlay landete hart auf den Füßen. Seine Muskeln absorbierten den Aufprall. Er riß den Dolch aus Saint Johns Auge, und ein Schwall von Blut sprudelte hervor. Der Leichnam fiel schlaff zu Boden, noch immer zuckend und bebend. Der Flieger schwankte weiterhin wie verrückt als Folge von Finlays plötzlicher Ankunft. Die Handvoll Leibwachen an Bord waren zu sehr damit beschäftigt, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, als daß sie sich großartig gegen Finlays Schwert und Dolch hätten verteidigen können, die nun blutige Ernte hielten. Finlay hatte sein berüchtigtes Totenkopfgrinsen aufgesetzt, während er die Wachen mit gezielten Streichen angriff, immer darauf bedacht, den größtmöglichen Schaden anzurichten, ohne daß sich eine seiner Waffen in einem Knochen oder der Kleidung eines Gegners verfing. Er lachte lautlos, während er die verwirrten und schockierten Soldaten mit brutaler Geschäftsmäßigkeit niederstreckte. Wenn ihre Klingen ihm hin und wieder bedrohlich nahe kamen, scherte es Finlay einen verdammten Dreck. Er war in seinem Element. Finlay Feldglöck tat das, wozu er geboren war, und er liebte es.

Sein Schwert fuhr einem Gegner in den Unterleib und zusammen mit Blut und Eingeweiden wieder heraus. Dann hob die Klinge sich blitzend, um den Streich eines anderen Gegners zu parieren, der Finlays Kopf abgetrennt hätte. Finlay war froh, daß sich wenigstens einige der Männer zum Kämpfen entschlossen hatten. Er warf sich auf den Angreifer, und einen Augenblick lang standen sie sich Kopf an Kopf gegenüber.

Keiner von beiden wich zurück. Dann ein verräterisches Aufblitzen in den Augen des Leibwächters, und Finlay warf sich gerade rechtzeitig zur Seite, um dem Angriff des Mannes zu entgehen, der sich von hinten auf ihn stürzte. Finlay lachte bösartig, als die Waffe des Angreifers seinen vorherigen Gegner durchbohrte, und stach den Mann hinterrücks nieder, während sein Schwert noch im Körper seines Kameraden steckte. Dann waren nur noch drei Leibwächter übrig. Finlay erledigte sie, so rasch es ging. Jetzt war nicht die Zeit, den Kampf zu genießen.

Finlay stach den letzten Gegner nieder, riß das Schwert heraus und warf einen ersten Blick auf seine Umgebung. Sein Atem ging keine Spur schneller. Erst wenige Minuten waren vergangen, seit er Saint John getötet hatte. Draußen waren die Leibwächter des toten Lords noch immer hektisch bemüht, einen Weg zu finden, wie sie den Schutzschild des Fliegers überwinden und den Mörder ihres Herrn stellen konnten. Die Schilde bildeten noch immer ein unüberwindliches Hindernis, und bis jetzt war noch niemand auf die Idee gekommen, den Silvestri-Turm zu ersteigen, wie Finlay es vorgemacht hatte.

Ein armer Dummkopf feuerte mit dem Disruptor auf den Gravschlitten. Alles warf sich in Deckung, als der Schuß abgelenkt wurde und über ihre Köpfe zischte. Irgend jemand rief geistesgegenwärtig nach Verstärkungen und weiteren Gravschlitten. Für Finlay war es das Zeichen, daß es Zeit wurde, von hier zu verschwinden.

Er trat mit einem raschen Schritt an die Kontrollen des Fliegers und ließ die Maschine in die Luft steigen. Ein Blick in die Runde zeigte ihm, daß sich aus Süden eine Reihe weiterer Flieger mit großer Geschwindigkeit näherte. Finlay beschleunigte rasch auf Höchstgeschwindigkeit und flog in atemberaubenden Kurven zwischen den Türmen hindurch. Wenn seine Verfolger auch nur einen Funken von Selbsterhaltungstrieb besaßen, würden sie verdammte Schwierigkeiten haben, ihn einzuholen. Finlay lachte laut und stampfte mit dem Fuß in die Blutlache auf dem Boden. Es bereitete ihm Vergnügen, das Blut seiner Feinde spritzen zu hören. Finlay Feldglöck hatte es wieder einmal geschafft; hatte den Mord verübt, von dem jeder geglaubt hatte, er sei unmöglich, und jetzt würde er die Flieger abschütteln, die ihm im Nacken saßen, und entkommen. Finlay entkam immer. Er warf einen Blick auf den Leichnam von Lord Saint John, auf dessen blutigem Gesicht noch immer ungläubiges Staunen stand, und lachte erneut. Es klang laut und voller Selbstvertrauen, und wenn eine Spur von Wahnsinn darin mitschwang, dann war es Finlay auch egal.

Adrienne Feldglöck, die Frau Finlays, einst Geißel jeder formellen Festlichkeit und Besitzerin des größten und lästerlichsten Mundwerks in der gesamten Gesellschaft, saß kochend vor Wut vor ihrem Bildschirm und überlegte, wen sie als nächstes anrufen sollte. Sie hatte praktisch jedermann angerufen, dessen Name ihr in den Sinn gekommen war – einschließlich einiger, mit denen sie noch kurze Zeit zuvor niemals zu reden geschworen hatte, aber niemand war für sie zu sprechen. Einige machten Ausflüchte, andere waren grob und direkt, doch die meisten hatten einfach ihre Diener instruiert, Adrienne auszurichten, sie seien nicht zu Hause. Diese verdammten Lügner! Adrienne war in Ungnade gefallen, als der Feldglöck-Clan vernichtet worden war, und das traf sie hart. Sie war verbannt und ausgeschlossen aus der Gesellschaft, die sie früher allein durch die Kraft ihrer Persönlichkeit beherrscht hatte. Aber damals wußte sie auch die Macht und den Einfluß des Feldglöck-Clans noch hinter sich. Heute war Adrienne nichts weiter als eine der wenigen Überlebenden eines zerbrochenen Clans. Sie war isoliert wie niemals zuvor in ihrem Leben. Niemand wollte mit ihr sprechen. Alle hatten Angst, was mit ihr geschehen war, könnte ansteckend sein.

Adriennes angeheirateter Vetter. Robert Feldglöck. Seine Position in der Armee hatte ihn vor dem Fall bewahrt. Die Flotte kümmerte sich um ihre Angehörigen. Nur seinem Einfluß und seinem Schutz verdankte es Adrienne, daß sie die Vendetta überlebt hatte, die von den triumphierenden Wolfs so bösartig und methodisch über den Clan der Feldglöcks verhängt worden war. Blut war in den Straßen geflossen, und niemand hatte auf das Schreien und Flehen der Opfer gehört. Dennoch hatte man Adrienne in Ruhe gelassen. Solange sie sich nicht einmischte, würde es auch so bleiben. Also hatte Adrienne die Tür verschlossen und auf kein noch so verzweifeltes Klopfen reagiert, und wenn es ihr das Herz zu zerreißen drohte. Andere Überlebende der Feldglöcks bettelten und drohten und riefen ihren Namen, und Adrienne saß so weit entfernt von der Tür, wie es nur ging, die Hände auf die Ohren gepreßt. Es half nichts. Sie konnte noch immer hören, wenn die Wolfs kamen und ihre schreienden Opfer verschleppten. Manchmal verstummte das Schreien auch schlagartig, und die darauffolgende Stille war um so schlimmer.

Irgendwann drangen keine Stimmen mehr an Adriennes Ohren, und niemand kam mehr an ihre Tür und klopfte. Adrienne Feldglöck war allein. Die Wolfs besaßen nun alles, was vorher den Feldglöcks gehört hatte, und sie hatten Adrienne nichts gelassen außer ein paar persönlichen Schmuckstücken. Ihr Konto war gekündigt worden. Ein paar unbedeutende Vettern aus einer Seitenlinie der Familie waren dem Blutbad der Wolfs entkommen, weil sie entweder Verbindungen besaßen oder höheren Schutz genossen, so wie Robert, aber auch sie wollten nichts mit Adrienne zu tun haben. Sie machte ihnen deswegen keinen Vorwurf. Die Herrschaft des Hauses Feldglöck war vorüber, und das in jeder Hinsicht.

Adrienne war eine mittelgroße Frau und ziemlich mager. Es ging doch nichts über Furcht und Verzweiflung als Diät. Sie hatte in den letzten Monaten jede Menge Gewicht verloren, und sie war sicher, daß es so weitergehen würde bis zu ihrem Tod. Adrienne konnte nicht nach draußen gehen, um Nahrungsmittel einzukaufen, und sie konnte nicht einmal eine Bestellung über ihren Bildschirm aufgeben. Sie besaß kein Geld.

Adrienne war von Robert abhängig, und Robert hatte seine eigenen Sorgen. Er tat für sie, was er konnte, der Gute. Wenn er konnte. Und wo Adrienne früher die modischsten und auffälligsten Kleider der gesamten Gesellschaft getragen hatte – mit Ausnahme ihres Gatten –, da mußte sie sich heute mit einem verknitterten Hausanzug in blassen, unmodischen Farben zufriedengeben. Sie hatte auch ihre Garderobe auf der Flucht zurücklassen müssen. Adrienne vermißte ihre Kleider nicht wirklich – die meisten hatte sie sowieso nur getragen, um ihren modebesessenen Gatten zu ärgern –, doch es war eine Frage des Prinzips. Sie konnte den Gedanken einfach nicht ertragen, langweilig auszusehen. Robert besorgte ihr jetzt die Kleider, wenn er daran dachte – genau wie er ihr diesen Unterschlupf besorgt hatte. Und wie die meisten Männer besaß Robert nicht eine Spur von Geschmack.

Adrienne blickte mißvergnügt auf ihr Spiegelbild in der Mattscheibe des Schirms. Sie besaß scharf geschnittene Gesichtszüge, und ihr purpurroter Mund war zu einer schmalen, wütenden Linie zusammengepreßt. Die Augen waren dunkel und strahlten Entschlossenheit aus, und ihre Nase war ungewöhnlich stark nach oben geschwungen. Damals war es ihr als guter Einfall erschienen. Adrienne trug das goldene Haar noch immer lang und füllig, obwohl es im Augenblick ein wenig ungepflegt wirkte. Alles in allem hatte Adrienne bereits besser ausgesehen. Bedeutend besser.

Sie seufzte und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. Adrienne fühlte sich zu müde und enttäuscht, um lange wütend zu bleiben. Wie tief war sie nur gefallen, daß sie hier enden mußte, in diesem Loch. Ein schmutziges Wrack in einem schmuddeligen Appartement, das versuchte, sich Einladungen und Unterstützung zu verschaffen von niedrigeren Familien und langweiligen Bekanntschaften, die sie nur wenige Monate zuvor verächtlich abgelehnt hätte. Nicht, daß Adrienne exzentrisch war. Sie war immer stolz darauf gewesen, daß sie alle Menschen gleichermaßen verachtete.

Und jetzt saß sie hier und versuchte, ihre Position mit Hilfe der einzigen Karte zu verbessern, die sie noch ausspielen konnte: Finlay.

Er hatte es fertiggebracht, spurlos zu verschwinden, und Adrienne damit ziemlich überrascht. Der Finlay, den sie kannte, war ein Dilettant gewesen, in jeder Beziehung. Aber eine Menge Leute suchten ihn trotzdem, aus Gründen, die man Adrienne nicht verraten wollte, und sie wollten über sie an ihn herankommen. Entweder durch Bestechung oder durch Drohungen. Adrienne wußte nichts – was sie nicht davon abhielt, das Geld zu nehmen und Finlays Verfolger mit Hinweisen und falschen Fährten so lange hinzuhalten, bis sie ihr schließlich auf die Schliche kommen würden. Die Drohungen ignorierte sie. Robert und seine Freunde beim Militär schützten Adrienne, und jeder wußte das. Niemand wollte sich in einer offenen Konfrontation mit dem Militär die Finger verbrennen, und das wegen einer Information, von der noch nicht einmal sicher war, ob Adrienne sie besaß. Die Flotte hatte ein langes Gedächtnis, was diese Dinge anging, und außerdem war sie nachtragend.

Also spielte Adrienne unbehelligt ihre Spielchen, ein kleiner Fisch in einem großen Teich, während sie versuchte, nicht von den großen Haien gefressen zu werden.

Sie ging davon aus, daß sie gegenwärtig nicht im Spiel war.

Immerhin lebte sie noch – wenn man das Leben nennen wollte.

Adrienne schniefte wütend und funkelte ihr Spiegelbild in der Mattscheibe an. In letzter Zeit hatte sie eine Menge nachgedacht und war zu der unbequemen Schlußfolgerung gelangt, daß sie sich selbst nicht besonders mochte. Adrienne war immer so sehr damit beschäftigt gewesen, alles negativ zu sehen, daß sie nichts Positives mehr erkennen konnte. Nicht einmal sich selbst. Aber sie wußte, daß sie zumindest in einer Beziehung richtig gehandelt hatte. Adrienne hatte ihre Persönlichkeit mit Umsicht und Vorsatz entwickelt. Sie war rauh und kompromittierend, weil es die einzige Möglichkeit für sie war, etwas zu erreichen. Wenn man weich war, wurde man nur verletzt oder schlimmer noch: getötet. Die gehobenen Gesellschaftsschichten glaubten an das Gesetz des Stärkeren. Das Überleben der Tüchtigsten. Außerdem hatte Adrienne stets genossen, laut, widerlich und rüde zu sein. Vielleicht nur aus dem einen Grund, weil sie so gut darin war. Doch all ihre Stärke und Härte und ihre schlaue, böswillige Zunge hatten sie nicht retten können, als es dem Feldglöck-Clan an den Kragen gegangen war.

Wenigstens ihre Kinder waren an einem sicheren Ort, in einer Kadettenanstalt. Nicht genau die Zukunft, die Adrienne für den Nachwuchs geplant hatte, aber zumindest ein sicherer Zufluchtsort. Robert hatte es arrangiert. Eigenartig, der Gedanke, daß der naive junge Mann mit dem unsicheren Lächeln jetzt der Feldglöck war. Das Oberhaupt der Familie. Niemand außer Finlay konnte Robert diesen Anspruch streitig machen, und Finlay hatte all seine Ansprüche auf Titel und Besitz aufgegeben, als er Hals über Kopf in den Untergrund geflüchtet war.

Nur noch ein paar weit entfernte Vettern und Basen hatten überlebt, die überhaupt für eine Erbfolge in Betracht kamen, und die hielten sich noch immer versteckt. Sie warteten die Zeit ab, bis der Sturm sich gelegt und das Wasser sich wieder beruhigt hatte. Der Rest war tot oder vermißt. Die Vermißten waren höchstwahrscheinlich auch tot. Einige der Überlebenden hatten hastig in niedrigere Häuser eingeheiratet und ihren Namen aufgegeben, als Gegenleistung für Zuflucht und Schutz, doch auch von ihnen war eine ganze Reihe verschwunden. Die Wolfs besaßen einen langen Arm – und endlose Bosheit.

Adrienne wußte, daß sie mit der Gesellschaft hätte brechen müssen, wenn sie auch nur einen Funken Stolz im Leib besessen hätte. Genau so, wie die Gesellschaft mit ihr gebrochen hatte. Aber sie konnte nicht. Adrienne kannte nichts anderes.

Das große Spiel von Einfluß und Intrigen war das einzige Spiel, das den Namen wert war. Und es machte definitiv süchtig. Sie hätte alles getan, alles versprochen, um noch einmal einen Fuß in die Tür stellen zu können. Entweder das – oder die Flucht in den Untergrund, den sie verachtete. Adrienne hatte keinen Sinn für Rebellion. Lauter Gesindel. Schläger, Unpersonen und niedere Stände. Sie war nie jemand gewesen, der sein Licht unter den Scheffel stellen konnte. Im großen und ganzen gefielen Adrienne die Dinge so, wie sie waren. Abgesehen von ihren persönlichen Umständen natürlich. Wenn sie nur den richtigen Hebel finden würde – und sie hatte keinerlei Zweifel, daß sie ihn früher oder später finden würde –, dann wäre sie schon bald wieder Mitglied der feinen Gesellschaft.

Man mußte sie einfach wieder aufnehmen. Adrienne gehörte schließlich dazu. Schon möglich, daß sie die Gesellschaft hin und wieder attackiert hatte, aber ohne sie war Adrienne verloren. Adrienne Feldglöck wußte nur, wie man ein Aristokrat war und das große Spiel spielte, sonst nichts.

Genau aus diesem Grund hatte Adrienne sich nach und nach darauf beschränkt, immer verzweifeltere Anrufe bei unwichtigen Elementen, niedrigeren Häusern und diesen sogenannten

›Persönlichkeiten‹ zu tätigen, die von den Krümeln lebten, die die besseren Spieler vom Tisch fallen ließen. Sie waren bekannt für ihren Geschmack, ihre Schlagfertigkeit und dafür, allzeit über den neuesten Klatsch informiert zu sein. Sie kamen und gingen wie die Moden – bis auf eine. Eine Gestalt war immer da und sorgte mit stachligen Bonmots und bissigen Bemerkungen für Gelächter und gehobene Augenbrauen. Chantelle. Weniger Freundinnen als geachtete Rivalinnen, kannten sich die beiden Frauen seit Jahren. Chantelle besaß weder blaues Blut noch politischen Einfluß, aber irgendwie schaffte sie es trotzdem immer wieder, bei Soireen und Festen, die zu besuchen sie sich die Ehre gab, jedermanns Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie zog sich nicht nach der Mode an, sie machte sie. Chantelle entschied mit geblähten Nüstern oder gönnerhaftem Lächeln über Chic und alles andere von Bedeutung. Man konnte sich an ihrem Charme die Fingernägel abbrechen, und sie vergab niemals eine Demütigung. Chantelle und Adrienne hatten immer eine Menge gemeinsam gehabt. Einschließlich mehrerer Ex-Liebhaber, die jedoch den Mund in dieser Hinsicht fest verschlossen hielten. Jedenfalls diejenigen, die wußten, was gut für sie war und was nicht. Wenn es Adrienne gelang, Chantelles Unterstützung zu gewinnen, würde niemand mehr wagen, Adrienne zu beleidigen oder ihre Anrufe nicht entgegenzunehmen. Wenn Chantelle einen akzeptierte, tat die Gesellschaft das gleiche. Jedenfalls diejenigen aus der Gesellschaft, die wußten, was gut für sie war und was nicht.

Adrienne atmete tief durch und stellte eine Verbindung her.

Schließlich bestand die nicht geringe Aussicht, daß Chantelle in Adriennes Sturz ihre eigene Zukunft erkannte und Mitleid verspürte. Der Schirm klärte sich überraschend schnell.

Adrienne zuckte unwillkürlich zusammen, als sie Chantelles Stirnrunzeln erblickte. Die Herrin der Moden trug ein ziemlich verknittertes Ballkleid und Make-up. Anscheinend war sie eben erst von einer Feier nach Hause gekommen. Ihr langes Haar funkelte in leuchtendem Bronze mit silbernen Tupfen, und ihr herzförmiges Gesicht fluoreszierte – nur ein wirklicher Pedant hätte bemängelt, daß der Schimmer auf Chantelles Haar an verschiedenen Stellen stumpf wirkte und das Make-up rings um ihren Mund ein wenig verschmiert war. Adrienne behielt ihre Beobachtung für sich. Für den Fall, daß sie im Verlauf des Gesprächs noch Munition benötigen sollte. Sie lächelte tapfer in den Schirm, doch bevor sie etwas sagen konnte, schniefte Chantelle vernehmlich.

»Ich habe mich bereits gefragt, wann Ihr Euch bei mir melden würdet. Ja, ich weiß, aus welchem Grund Ihr anruft, und nein, ich kann Euch nicht helfen. Ihr seid draußen, meine verehrte Adrienne, so weit draußen, daß ich Euch von hier aus nicht einmal mehr sehen kann, und nichts außer einem kleinen Wunder oder direkter göttlicher Intervention kann Euch wieder zurückbringen. Euer Clan ist in alle Winde verstreut, und Eure Kreditwürdigkeit ist so tief gesunken, daß man einen Schaufelbagger benötigt, um sie wiederzufinden. Ich persönlich bin fest davon überzeugt, daß niemand es so sehr verdient wie Ihr, Liebste. Ihr wart nie wirklich eine von uns, Adrienne, mit Eurem lockeren, vorlauten Mundwerk und Eurer beleidigenden Art. Ihr habt Euch nie um Etikette, Anstand oder einen höflichen Umgangston geschert. Ihr habt immer nach einem Skandal gestrebt; aber um ehrlich zu sein, Ihr wart zu langweilig dazu. Ich an Eurer Stelle würde zu meinen Freunden rennen und sie um Schutz bitten, doch Ihr habt keine Freunde, nicht wahr? Lebt wohl, Adrienne. Und ruft diese Nummer nicht wieder an.«

Chantelles Gesicht verschwand vom Bildschirm. »Lebt wohl, Chantelle«, knurrte Adrienne. »Die Pest soll Euch holen!«

Sie überlegte, ob sie Chantelle noch einmal anrufen sollte, nur um sie daran zu erinnern, daß ihre Kleider immer gezielten Brechreiz bei jedem hervorgerufen hatten, der auch nur eine Spur von Geschmack besaß. Plötzlich summte ihr Schirm und informierte sie über einen angehenden Anruf. Einen Augenblick lang saß Adrienne einfach nur da. Niemand hatte sie angerufen, seit sie hier eingezogen war. Schon allein aus dem Grund nicht, daß die meisten Leute überhaupt keine Ahnung hatten, wo sie Unterschlupf gefunden hatte, und die, die es wußten, waren vorsichtig genug, sie nur persönlich aufzusuchen. Adrienne gab sich einen Ruck und nahm den Anruf entgegen. Vielleicht hatte sie in der Lotterie gewonnen. Der Bildschirm erhellte sich und zeigte Lord Gregor Shreck, das Oberhaupt des Shreck-Clans. Ein zu kurz geratenes Butterfaß von einem Mann mit aufgedunsenem Gesicht und kleinen, tief in den Höhlen liegenden Augen. Der Shreck war einer der gefährlichsten Männer in der gesamten Gesellschaft. Hauptsächlich deswegen, weil er sich einen Dreck darum kümmerte, welche Konsequenzen seine Handlungen nach sich zogen, solange er nur bekam, was er wollte.

»Meine liebe Adrienne!« begann der Shreck mit einer vor Freundlichkeit triefenden Stimme, die von seinen Augen Lügen gestraft wurde. »Ich habe Euch einen Vorschlag zu unterbreiten. Ein kleines Geschäft, Geben und Nehmen zu unserem beiderseitigen Vorteil. Seid Ihr vielleicht interessiert?«

»Es kommt darauf an«, erwiderte Adrienne mit ihrer eisigsten Stimme. Es war nicht gut, mit dem Shreck vertraulich zu werden. Er nutzte es nur aus. »Was wollt Ihr von mir? Als wenn ich es nicht bereits wüßte.«

»Ihr habt ihn nie gemocht, Adrienne, selbst dann nicht, als er Euer Gatte wurde. Und Ihr habt wirklich nichts anderes mehr, mit dem Ihr handeln könntet. Es ist überhaupt nicht schwierig.

Setzt Euch einfach nur mit Finlay in Verbindung, und überredet ihn, zu einem bestimmten Zeitpunkt aus dem Untergrund aufzutauchen und Euch an einem bestimmten Ort zu treffen, wo wir ihn erwarten können. Wir werden ihn schnappen, und Ihr könnt in die Gesellschaft zurückkehren, als wäre nichts geschehen.«

»So viel Einfluß besitzt nicht einmal Ihr, Lord Gregor.«

»Aber ich werde ihn besitzen, sobald ich Finlay habe.«

»Was macht ihn denn so wichtig?«

»Das braucht Ihr nicht zu wissen, meine Liebe.«

»Was wird mit ihm geschehen?«

»Warum macht Ihr Euch deswegen Gedanken? Ich schlage vor, Ihr überlegt Euch mein Angebot gut, solange es steht. Finlay ist im Augenblick ein sehr heißes Eisen, und eine Menge Leute sind ihm auf den Fersen. Er hat eben erst Lord William Saint John ermordet und ist trotz einer wilden Verfolgungsjagd entkommen.«

»Einen Augenblick«, unterbrach Adrienne überrascht. »Wartet mal. Was sagt Ihr da? Finlay hat jemanden ermordet?«

»Jawohl. Ich hätte es nicht für möglich gehalten, wenn ich es nicht mit eigenen Augen in den Nachrichten gesehen hätte. Er ist ein ganz vorzüglicher Schwertkämpfer. Ich kann nur vermuten, daß er im Untergrund Unterricht genommen hat. Aber macht Euch deswegen keine Sorgen. Ich habe mehr als genug Männer, um mit ihm fertig zu werden.«

»Saint John ist tot? Der persönliche Kampfhund der Imperatorin?« Adrienne zuckte die Schulter. »Ich kann nicht behaupten, daß ich den Kerl je mochte. Er hatte immer kalte feuchte Hände und dachte, er wäre ein Geschenk Gottes für jede Frau.

Ich mußte ihm einen Kerzenständer über den Schädel ziehen, damit er seine Finger von mir nahm.«

»Das mag sein, wie es will, meine Liebe. Werdet Ihr uns helfen, oder muß ich ein wenig Druck anwenden? Ihr besitzt zwei so reizende kleine Kinder. Sehr nett. Es wäre doch eine Schande, wenn ihnen etwas zustieße.«

»Legt Hand an meine Kinder, und ich zerquetsche Euch die Eier mit bloßen Händen«, entgegnete Adrienne.

Der Shreck fuhr unbeeindruckt fort: »Robert ist nicht der einzige, der Freunde in der Armee besitzt. Denkt darüber nach.

Und ruft mich an, wenn Ihr Euch entschieden habt. Aber laßt Euch nicht zuviel Zeit. Falls alles andere nicht hilft, könnte ich Euch schreckliche Dinge antun, in der Hoffnung, daß Finlay Euch zu Hilfe kommt. Ich gebe zu, es ist nur eine schwache Hoffnung, aber wir könnten eine ganze Menge interessanter Dinge mit Euch anstellen, während wir darauf warten, daß Euer Gemahl sich zeigt.«

»Ich würde Euch in die Fresse schlagen, Shreck, wenn ich nicht Angst haben müßte, mir dabei eine ansteckende Krankheit einzufangen«, entgegnete Adrienne mit einer Stimme, die so kalt war, daß sie von einer Fremden zu stammen schien.

»Und jetzt entfernt Eure widerliche Fratze von meinem Schirm. Meine Nachbarn denken sonst noch, meine Toilette wäre übergelaufen. Sollte ich meine Meinung ändern, gebe ich Euch Bescheid. Aber es kann eine Weile dauern, also haltet nicht die Luft an.«

Gregor Shreck lachte nur. Adrienne hämmerte mit der Faust auf den Schalter, und plötzlich umgab sie Stille. Sie schnaufte angewidert und streckte sich langsam, um die Spannung aus ihrem Körper zu vertreiben. Anscheinend stand sie im Begriff, ihre Form zu verlieren. Adrienne hätte einen schleimigen Kriecher wie diesen Shreck im Griff haben müssen. Es hatte einmal eine Zeit gegeben, da konnte Adrienne einen Mann mit ein paar gezielten Bemerkungen in besinnungslose Raserei treiben.

Doch diesmal hielt Gregor Shreck die besseren Karten in der Hand, und der Bastard wußte es. Schlimmer noch: Adrienne dachte tatsächlich über sein Angebot nach. Finlay hatte ihr niemals viel bedeutet, und sie durfte nicht riskieren, daß ihren Kindern etwas zustieß. Robert hatte zwar geschworen, sie zu beschützen, doch er war nur Junioroffizier in der Imperialen Flotte. Und wenn Finlay wirklich angefangen hatte, Leute umzubringen… Adrienne biß sich auf die Unterlippe. Wenn sie mit dem Shreck zusammenarbeitete und Robert es herausfand… Robert hätte eigentlich die Nichte des alten Shreck, Letitia, in einer arrangierten Hochzeit zur Frau nehmen sollen. Die beiden hatten ihre Schwüre beinahe abgelegt, als der Shreck die junge Frau vor aller Augen erdrosselt hatte, weil sie ihn sonst entehrt hätte. Die Feldglöcks hatten Robert festgehalten, damit er nicht dazwischengehen konnte. Der Junge hatte dem Shreck nie verziehen.

Adriennes Stirnrunzeln vertiefte sich noch. Wenn sie mit dem Shreck zusammenarbeiten und Finlay verraten würde, dann durfte Robert niemals etwas darüber erfahren. Was bedeutete, daß sie die Männer abschütteln mußte, die Robert zu ihrem Schutz abgestellt hatte, bevor sie mit dem Untergrund Kontakt aufnehmen konnte. Es war nicht ungefährlich. Gregor war bestimmt nicht der einzige, der auf die Idee gekommen war, sie als Köder für eine Falle zu benutzen, um Finlays habhaft zu werden. Nicht, daß er kommen würde, der Bastard. Finlay hatte nie einen Hehl aus seinen Gefühlen gemacht, beziehungsweise aus dem Mangel an Gefühlen Adrienne gegenüber.

Sie und Finlay besaßen mit Ausnahme ihrer beiden Kinder überhaupt keine Gemeinsamkeiten, und bei den wenigen Gelegenheiten, bei denen ihrer beider persönliche Anwesenheit erforderlich gewesen war, hatte es jedesmal keine fünf Minuten gedauert, bis sie sich gegenseitig schnippische Bemerkungen an den Kopf geworfen hatten. Danach war ihre Begegnung mit schöner Regelmäßigkeit eskaliert, und es hatte immer damit geendet, daß sie sich angeschrien und mit Gegenständen um sich geworfen hatten.

Natürlich war Adriennes Hochzeit mit Finlay eine arrangierte Heirat gewesen. Weder er noch sie hatten ein Wort mitreden dürfen. Adrienne hatte insgeheim immer angenommen, Finlay sei mental gestört, mit seiner schrecklichen Leidenschaft für immer neue Kleider und Moden. Seine neuerlichen ›Heldentaten‹ schienen das nur zu bestätigen. Aber würde er wirklich dabeistehen und unbeteiligt zusehen, wie seine Frau zu Tode gefoltert wurde? Würde sie es tun, im umgekehrten Fall? Nun ja, wahrscheinlich. Adrienne hatte immer gewußt, daß sie tief im Innern eine verdammt harte Hexe war. Aber… Finlay hatte sein Leben riskiert, um sie zu retten, als sie während des Angriffs der Wolfs schwer verletzt worden war und zu verbluten drohte. Hätte er sie nicht rechtzeitig zu seiner Regenerationsmaschine gebracht, wäre sie längst tot. Adrienne konnte noch immer spüren, wie das Schwert durch ihre Bauchdecke drang und an ihrem Rücken wieder austrat. Manchmal träumte sie, wie sie hilflos auf dem Gravschlitten in ihrer eigenen Blutlache lag, während Finlay verzweifelt darum kämpfte, die Verfolger abzuschütteln. Sie erwachte jedesmal schweißgebadet und fand keinen Schlaf mehr, bis die tröstende Morgendämmerung einsetzte. Finlay hatte ihr das Leben gerettet, obwohl er es nicht mußte. Aber es war typisch für diesen Bastard, daß er es auf eine Weise getan hatte, die sie erniedrigte und beleidigte.

Damals hatte Adrienne noch nichts von ihm und Evangeline Shreck gewußt. Sie wußte zwar, daß es in Finlays Leben eine Frau gab, die ihm mehr bedeutete, als Adrienne ihm jemals bedeutet hatte, aber sie hatte nicht gewußt, wer diese Person war – bis zu dem Zeitpunkt, als sie in der Regenerationsmaschine in Evangelines Appartement im Shreck-Turm wieder erwacht war. Robert und seine Leute standen Wache und beschützten sie. Finlay und Evangeline waren längst verschwunden. Robert hatte Adrienne in Sicherheit gebracht. Evangeline tauchte irgendwann wieder auf, frei von Schuldgefühlen und ohne ein Wort über Finlay zu verlieren. Adrienne hatte niemals den Mut gefunden, mit ihr zu sprechen.

Sie seufzte und blickte sich in ihrer beengten Wohnung um.

Es war eigentlich Roberts ehemalige Junggesellenbude, wo er seine unregelmäßige Freizeit verbringen konnte. Seit Jahren hatte sich hier nichts mehr verändert. Vielleicht war allein die Aussicht, aus dieser Bruchbude ausziehen zu können, bereits den Handel mit dem verdammten Shreck wert. Adrienne hatte Jakuzzis besessen, die größer waren. Und es war eine rein männliche Umgebung, ohne jede Phantasie und ohne wirklichen Komfort. Adrienne juckte es in den Fingern, die Wohnung nach ihrem Geschmack umzugestalten, aber erstens besaß sie dazu nicht das nötige Geld, und zweitens würde Robert wahrscheinlich der Schlag treffen. Er mochte seine Wohnung so, wie sie war. Männer! Bestimmt wusch er seine Unterwäsche im Handwaschbecken und schnitt seine Fußnägel ins Bidet. Robert überließ Adrienne so viel Geld, wie er entbehren konnte, doch es war nicht viel. Der verdammte Wolf-Clan besaß nun das gesamte Feldglöck-Vermögen, mochten die Bastarde in der Hölle schmoren. Adrienne hatte allen Schmuck verkauft, der ihr geblieben war, Stück um Stück, um sich über Wasser zu halten. Inzwischen besaß sie kaum noch etwas. Man hatte ihr nicht viel Geld für den Schmuck geboten, natürlich nicht, und sie konnte ihn längst nicht anbieten, wo sie wollte.

Ihre ›alten Freunde‹ kannten sie mit einemmal nicht mehr, und Geschäftspartner hatten Angst, sich Feinde unter denen in der Gesellschaft zu machen, die sich offen an Adriennes Sturz ergötzten. Wie es schien, hatte sie mit ihrem vorlauten Mundwerk praktisch jeden zur einen oder anderen Zeit einmal beleidigt oder verärgert. Adrienne schniefte. Zur Hölle mit diesen Schwächlingen, wenn sie keine Spaß vertragen konnten.

Falls sie sich entschließen sollte, mit dem Shreck zusammenzuarbeiten und Finlay zu verraten, würde der Shreck vermutlich ihren Preis akzeptieren. Adrienne könnte wieder reich sein und Teil der Gesellschaft, und sie könnte all denen ins Gesicht lachen, die sie geächtet hatten…

Ein Klopfen an der Tür ließ sie aufschrecken. Adrienne wirbelte mit rotem Kopf herum, als hätte man sie bei etwas Falschem ertappt. Als könnte, wer auch immer es war, ihre Gedanken lesen. Sie zwang sich, ruhig zu atmen, und starrte zur Tür. Zwei Leute an einem Tag. Anscheinend wurde sie populär. Adrienne bemühte sich um einen ruhigen und gelassenen Klang in ihrer Stimme, als sie den Besucher aufforderte, sich zu identifizieren, und sie spannte sich erneut, als sie den Besucher als Robert Feldglöck erkannte. Er hatte von Anfang an klar zum Ausdruck gebracht, daß er sie nicht oft besuchen würde. Es gab eine Grenze, die er nicht überschreiten durfte.

Wenn er ihr zu sehr half, riskierte er seine Karriere. Und nicht nur das. Adrienne hatte verstanden. Wenn Robert jetzt zu ihr kam, gab es einen wichtigen Grund dafür. Sie errötete von neuem. Robert konnte unmöglich bereits vom Angebot des alten Shreck wissen. Vollkommen unmöglich. Sie gab der Tür den Befehl zum Öffnen, und Robert schneite in voller Flottenuniform herein, einen Seesack über der Schulter. Er nickte, lächelte Adrienne zu und ließ den Seesack zu Boden gleiten. Dann blickte er sich in seinem Appartement um.

»Ich fürchte, ich bin nur auf der Durchreise, liebe Adrienne.

Mein Marschbefehl kam heute morgen. Ich wurde an Bord eines der neuen E-Klasse-Schiffe versetzt. Die Dauerhaft. Ein verdammtes Ungetüm von einem Schiff. Doppelte Bewaffnung als bisher üblich und neuer Hyperraumantrieb. Wir starten morgen zu einem zweiwöchigen Erprobungsflug. Danach geht es auf eine sechsmonatige Patrouille am Abgrund. Und das bedeutet nicht nur, daß ich dich nicht länger schützen kann, sondern auch, daß die Flotte dieses Quartier für jemand anderen geräumt haben will. Es tut mir leid, daß ich dich so plötzlich damit überfalle, aber ich wurde selbst davon überrascht.

Ich habe ein paar Freunde hier in der Stadt, die versuchen werden, sich um dich zu kümmern, doch ich weiß nicht, wie es um ihre Loyalität steht, wenn jemand sie unter Druck setzt.«

»Ich verstehe«, sagte Adrienne, und das tat sie wirklich. Die Kontakte des alten Shreck zur Flotte hatten bereits zu arbeiten begonnen und arrangierten die Dinge nach seinem Geschmack.

Er versperrte ihr einen Ausweg nach dem anderen, bis Adrienne keine Wahl mehr blieb, als sich mit Gregor Shreck zusammenzutun.

»Es gibt jemanden, der dir vielleicht weiterhelfen kann«, fuhr Robert fort. »Aber es wird dir nicht gefallen. Ich habe mit Evangeline Shreck gesprochen. Sie war – und ist – Finlays Geliebte, aber sie ist nicht verkehrt, jedenfalls für eine Shreck.

Für Finlay wird sie alles tun. Sogar deinen Schutz übernehmen.

Geh und sprich mit ihr, Adrienne. Du wirst rasch herausfinden, daß ihr mehr Gemeinsamkeiten besitzt, als du glaubst. Ich muß jetzt gehen. Ich werde auf der Dauerhaft erwartet. Ich will versuchen, mit dir in Kontakt zu bleiben. Auf Wiedersehen, Adrienne, und viel Glück.«

Robert griff nach seinem Seesack, gab seiner Cousine einen flüchtigen Kuß auf die Wange und ging hinaus. Leise zog er die Tür hinter sich ins Schloß. Adrienne blickte ihm wütend hinterher, die Fäuste in die Seiten gestemmt. Sie hatte immer gewußt, daß sie nur auf Zeit in ihrem Unterschlupf bleiben konnte. Trotzdem kam die Nachricht, so plötzlich den Haien vorgeworfen zu werden, wie ein Schock für sie. Die Frage war: Wußte Evangeline von den Plänen ihres Vaters? War sie – vielleicht sogar unwissend – ein Teil davon? Wenn Adrienne sie deswegen warnte, würde Evangeline in ihrer Schuld stehen.

Adrienne nickte und grinste kalt. Sie fühlte sich stets besser, wenn sie aus einer Machtposition heraus mit anderen verhandeln konnte. Sie würde sich mit Evangeline Shreck treffen.

Und wenn nur, um von einer Seite Finlays zu hören, die sie nie gekannt hatte.

Evangeline Shreck stand vor dem einzelnen großen Fenster ihres Appartements im Shreck-Turm und blickte auf die Welt dahinter, eine Gefangene in ihrem eigenen Heim. Selbstverständlich war die Tür nicht verschlossen. Nichts so Offensichtliches wie ein gewöhnliches Schloß, o nein. Aber wenn Evangeline versuchen würde, den Turm zu verlassen, ohne zuvor die Erlaubnis ihres Vaters eingeholt zu haben, würden freundliche Wachen ruhig, aber bestimmt darauf bestehen, daß sie in ihre Wohnung zurückkehrte, während sie weitere Befehle ihres Vaters einholten. Und einige von ihnen würden sie auf dem Weg dorthin begleiten, nur um sicherzustellen, daß sie unterwegs nicht verlorenging. Der Shreck wollte, daß Evangeline so selten den Turm verließ wie nur irgend möglich. Offiziell gab er sich besorgt, daß die Eiserne Hexe versuchen könnte, Evangeline zu entführen und eine Dienerin aus ihr zu machen, eine jener mental konditionierten Sklavinnen ohne eigenen Willen.

Löwenstein hatte das bereits mit einer Nichte des alten Shreck getan. Niemand hatte etwas deswegen unternommen. Niemand hatte die Stimme dagegen erhoben. Niemand hatte es gewagt, nicht einmal der alte Shreck.

Aber noch mehr sorgte der Shreck sich, daß man Evangeline als Klon identifizieren könnte, und das in diesen Zeiten, in denen Klone nichts zu lachen hatten. Falls jemals herauskam, daß der Shreck seine Tochter nach ihrem plötzlichen Tod geklont und den Klon anschließend als seine echte Tochter ausgegeben hatte, gäbe es bei Hofe und in der Gesellschaft einen Aufruhr.

Es war der schlimmste Alptraum eines jeden Aristokraten, selbst durch einen Klon ersetzt zu werden. Gregor würde bestraft und geächtet, und der Klon Evangeline würde zerstört werden – hauptsächlich wegen des Verbrechens, alle so lange an der Nase herumgeführt zu haben.

Doch auch das war noch nicht die ganze Wahrheit. Der Shreck hielt Evangeline als Gefangene, weil er die Macht dazu besaß. Er wollte Evangeline lieben, sie umsorgen und vollkommen besitzen. Wie es bei seiner richtigen Tochter gewesen war. Der Shreck hatte seine Tochter nicht als Vater geliebt, sondern als Liebhaber. Vielleicht hatte er sie aus diesem Grund getötet. Evangeline kannte die wahre Geschichte nicht. Der Shreck bestand darauf, daß es ein Unfall gewesen war, doch hin und wieder ließ er versteckte Andeutungen fallen, daß niemand ihm jemals trotzen und lange genug überleben würde, um sich damit zu brüsten. Evangeline hielt den Kopf demütig gesenkt und tat, was der Shreck von ihr verlangte. Sie haßte ihren Vater und hätte ihn auf der Stelle getötet, wenn sich eine Möglichkeit geboten hätte, doch im Augenblick blieb ihr keine andere Wahl, als seinem Willen zu gehorchen. Evangeline spielte die liebevolle, ergebene Tochter, und als Gegenleistung schützte der Shreck die Frau ihres wirklichen Geliebten Finlay und seine Kinder, wie Evangeline es Finlay versprochen hatte. Finlay wußte nichts von dem Preis, den Evangeline dafür zahlte.

Er durfte es niemals erfahren, oder er würde aus dem Untergrund stürmen und schreckliche Rache nehmen, ohne Rücksicht auf sein eigenes Leben. Evangeline sorgte sich um ihn.

Also verriet sie nichts. Evangeline liebte Finlay so sehr, daß sie eine Rolle spielte, die sie früher oder später zerstören würde, und sie dachte nicht ein einziges Mal darüber nach, wie unfair das alles war.

Evangeline stand kurz davor zu zerbrechen, obwohl ihr selbst diese Tatsache noch nicht bewußt war. Sie besaß zu viele Verpflichtungen gegenüber zu vielen Leuten. Gegenüber ihrem Vater, wegen seines Schutzes. Gegenüber Finlay und seiner Familie, wegen seiner Liebe. Gegenüber der Untergrundbewegung von Espern und Klonen, wegen der gerechten Sache.

Und, und, und… Sie alle wollten etwas von Evangeline, und manchmal alle zur gleichen Zeit. Es fiel ihr immer schwerer, die verschiedenen Parteien getrennt zu halten. Unterschiedliche Lügen für unterschiedlich Leute. Bis die Wahrheit sich ganz in Rauch auflöste. Evangeline liebte Finlay noch immer von ganzem Herzen, obwohl sie ihn immer seltener zu Gesicht bekam.

Der Untergrund beschäftigte ihn mit Aufträgen, über die Finlay niemals ein Wort verlor. Evangeline war die Kontaktperson zum Hof und zur Gesellschaft gewesen, aber da sie inzwischen so selten nach draußen kam, wurde ihr Nutzen für die Bewegung immer geringer. Sie durfte keine Erklärung abgeben. Ihre Verbindungsleute könnten es Finlay erzählen. Und sie durfte natürlich auch ihrem Vater nichts verraten, weder von Finlay noch von der Untergrundbewegung. Der alte Shreck hätte sie auf der Stelle getötet. Für das, was sie getan hatte, und weil sie ihm getrotzt hatte. Und weil Evangeline gewagt hatte, jemand anderen zu lieben.

Der Shreck konnte schließlich jederzeit eine neue Evangeline klonen. Er hatte es bewiesen.

Und so marschierte Evangeline in ihrem Appartement auf und ab, während ihre Gedanken sich überschlugen und gegen die schwankenden Wände ihrer zahlreichen Rollen prallten, ohne zu einem Ergebnis zu kommen. Sie näherte sich still und leise dem Wahnsinn. Evangeline sprach kaum jemals mit anderen Menschen, aus Angst, der falschen Person das Falsche zu verraten. Und sie fürchtete ständig, daß der nächste Besucher an ihrer Tür von der Sicherheitsbehörde sein könnte, mit einem Haftbefehl in der Hand, um sie mitzunehmen und in die Verhörzellen zu werfen. Sie würden Evangeline zum Reden bringen. Alles hing von ihrem Schweigen ab, Finlay, der Vater, die Untergrundbewegung, und Evangeline fühlte sich mit jedem weiteren Tag weniger zuverlässig. Bis jetzt hatte sie durch reine Willenskraft ihren Zusammenbruch verhindert. Teilweise wegen ihrer Liebe zu Finlay und teilweise, weil so viele leiden würden, wenn sie Schwäche zeigte. Wenn sie sich gehenließ.

Und so war die Last auf Evangelines Schultern immer schwerer geworden. Sie konnte nicht – durfte nicht – verschnaufen und sie absetzen. Arme Evangeline.

Evangeline zuckte unwillkürlich zusammen, als ihr Schirm leise summte und einen eingehenden Anruf meldete. Sie wußte, wer es war, wer es sein mußte – trotzdem nahm sie den Anruf entgegen. Sie nahm vor ihrer Ankleidekommode Platz. Der Spiegel wurde hell und zeigte das feiste, grinsende Gesicht ihres Vaters. Eine kalte Hand umklammerte Evangelines Herz.

Sie rang nach Luft und biß die Zähne zusammen, um das Beben ihrer Lippen zu verbergen.

»Ich rufe an, um dir zu sagen, daß ich auf dem Weg bin, meine Liebe«, sagte der Shreck. »Bis zu meinem Eintreffen solltest du dir ein paar liebende Gedanken machen, mein Schatz. Und zieh dein rosafarbenes Nachthemd an. Du weißt schon, welches ich meine. Ich bin bald da, und dann können wir uns ein wenig amüsieren, nur du und ich allein. Freust du dich?«

Das feiste Grinsen verschwand, und der Schirm wurde wieder zu einem Spiegel, in dem Evangeline nur noch sich selbst erblickte. Im ersten Augenblick erkannte sie sich nicht wieder.

Ihr Gesicht war schmaler als je zuvor, und die bleiche Haut spannte über den hervorstehenden Wangenknochen. Ihre Augen wirkten gehetzt und gequält. Sie versuchte zu lächeln, eine Probe für ihren Vater, doch es kam nur eine Grimasse heraus.

Evangeline hatte den Verdacht, daß es ihrem Vater ganz recht war. Dann klopfte es an der Tür. Evangeline wäre vor Schreck beinahe in Ohnmacht gefallen. Sie starrte mit leerem Blick auf die Tür. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Der Shreck konnte unmöglich bereits hiersein. Waren die Sicherheitsbehörden schließlich doch gekommen, um sie schreiend und um sich schlagend abzuführen, in die Folterkammern der Hirntechs zu zerren, wo weder Vater noch Geliebter sie retten oder ihr Beistand leisten konnten? Evangeline griff eine schwere Schere von der Kommode. Nicht ganz so gut wie ein Messer, aber das Beste, was sie besaß. Sie würden Evangeline nicht lebend in die Finger bekommen. Sie würden sie töten müssen. Dann wäre endlich alles vorüber. Irgendwie verging ihre Hysterie, und Evangeline wurde ruhig. Die Schere entschlossen in der Hand, näherte sie sich vorsichtig der Tür. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sie davorstand. Als sie die Tür schließlich mit leicht zitternder Hand geöffnet hatte, stand Adrienne Feldglöck vor ihr. Evangeline starrte Finlays Ehefrau an, und ihr einziger Gedanke war: Großartig. Eine weitere Komplikation.

»Nun?« sagte Adrienne. »Wollt Ihr mich nicht hereinbitten?

Wir haben über vieles zu reden.«

»Zur Hölle«, erwiderte Evangeline. »Ich habe keine Zeit dafür.«

»Es muß aber sein.«

»Ich bin wirklich in Eile. Ich… ich erwarte Besuch. Könntet Ihr nicht zu einem späteren Zeitpunkt wiederkommen?«

»Das bezweifle ich«, entgegnete Adrienne und lächelte schwach. »Eure Sicherheitsleute wollten mich gar nicht hereinlassen. Ich mußte ein ernstes Wort mit ihnen reden. Trotzdem versuchten sie weiter, mich abzuweisen, bis ich eine Leibesvisitation forderte. Da beruhigten sie sich ein wenig. Ich mag zwar in Ungnade gefallen sein, aber ich bin noch immer eine Feldglöck und von adliger Geburt. Wenn sie einem Vorgesetzten berichten, daß sie eine Aristokratin einer Leibesvisitation unterzogen haben, werden sie in Zukunft bei der Imperatorin arbeiten und ihr die schlechten Nachrichten überbringen. Soweit ich weiß, gibt es dort jede Menge freier Stellen. Sie stolperten fast übereinander, als sie sich zu entschuldigen versuchten und mich einließen, die armen Bastarde.«

»Was haben wir uns denn zu sagen?« beendete Evangeline Adriennes weitschweifige Einleitung.

»Wenn ich das wüßte«, erwiderte Adrienne. »Aber es gibt zumindest eine Sache, die wir gemeinsam haben, meine Liebe.

Oder besser gesagt, eine Person. Habt Ihr Neuigkeiten von Finlay?«

»Zur Hölle! Kommt besser herein. Aber Ihr könnt nicht lange bleiben.«

Evangeline trat einen Schritt zurück und öffnete die Tür weit.

Adrienne Feldglöck betrat das Appartement, als wäre es ihr eigenes. So war sie eben. Es war ihr Markenzeichen. Evangeline bemerkte, daß sie noch immer die schwere Schere in der Hand hielt, und warf die improvisierte Waffe auf einen nahegelegenen Stuhl. Sie wollte nicht in Versuchung geraten. Adrienne sah sich mit leicht erhobenen Augenbrauen in Evangelines Wohnung um. In ihrem Blick stand deutlich zu lesen, daß sie schon geschmackvollere Einrichtungen gesehen hatte, aber zu gut erzogen war, um darüber zu sprechen. Mit untrüglichem Instinkt suchte sie sich den bequemsten Sessel aus und sank mit einer graziösen Bewegung hinein. Sie lächelte großzügig und wartete geduldig, während Evangeline einen Stuhl heranzog und ihr gegenüber Platz nahm. Adriennes Gebaren hatte etwas von einer Imperatorin an sich, die einen ihrer Untertanen besucht, doch Evangeline nahm es nicht persönlich. So war Adrienne eben. Sie mochte in Ungnade gefallen sein, aber sie war nicht tief gefallen. Evangeline verspürte noch immer das Bedürfnis, ihr eine Ohrfeige zu geben, und wenn es nur aus Prinzip war. Ein Kichern drang über ihre Lippen, doch sie beherrschte sich rasch. Jetzt war nicht die Zeit für hysterische Anfälle. Evangeline rückte ihren Stuhl zurecht und blickte Adrienne kühl und gelassen in die Augen.

»Finlay hat Euch nie geliebt«, begann sie tonlos. »Das müßt Ihr doch wissen.«

»Oh, natürlich weiß ich das. Ich habe ihn ebenfalls nie geliebt. Unsere Heirat wurde aus familiären und geschäftlichen Gründen arrangiert. Damals erschien es allen Beteiligten als gute Idee. Wir hätten es vielleicht schaffen können, aber wir stritten bereits, als wir die Kirche verließen, und danach wurde es nur noch schlimmer. Finlay hatte seine Frauen, und ich hatte meine Männer, und wir nahmen es beide sehr gefaßt hin. Ihr seht schockiert aus, meine Liebe. Ihr habt doch nicht ernsthaft geglaubt, daß Ihr seine erste Liebe wart?«

»Nein. Finlay hat zwar nie über die anderen Frauen gesprochen, aber ich wußte Bescheid. Es spielte keine Rolle. Er hat sie nie geliebt, jedenfalls nicht auf die Art und Weise, wie er mich liebt. Ich bin lediglich überrascht, weil Ihr zugebt, daß auch Ihr Eure Liebhaber hattet. Ich hätte nicht gedacht, daß Ihr überhaupt lieben könnt

»Oh, auch ich hatte meine schwachen Augenblicke, liebe Evangeline. Ihr wärt überrascht, wenn Ihr wüßtet, wie viele Männer eine geheime Schwäche für starke Frauen besitzen. In mehr als einer Hinsicht, meine ich.«

»Warum seid Ihr hergekommen, Adrienne?«

»Ich… ich muß mit Euch reden. Wegen Finlay. Ich hätte geschworen, daß Finlay sich nicht mehr um mich sorgt als ich mich um ihn. Bis zu dem Tag, an dem die Wolfs uns die Vendetta erklärten und unseren Clan bei einem Familientreffen überfielen. Als ich schwer verletzt war und in Lebensgefahr schwebte, hat er sein eigenes Leben riskiert, um mich zu retten.

Er hat mich sogar hierher zu Euch gebracht, wo ich Schutz fand. Ich frage mich nur, ob… ob Ihr den Grund dafür kennt?«

Evangeline nickte zögernd. »Er hat gesagt, daß Ihr sehr tapfer wart. Daß man Euch verwundete, als ihr gekämpft habt, um den Clan zu schützen. Er achtet Euer Verhalten.«

»Der Finlay, den ich kannte, war ein Stutzer und Tunichtgut«, sagte Adrienne. »Er trug zwar ein Schwert, aber ich habe nie gesehen, daß er es gezogen hätte. Er ist nie mit mir in die Arena gegangen. Er hat erzählt, daß er beim Anblick von Blut in Ohnmacht fallen würde. Aber als die Wolfs den Feldglöck-Turm überfielen, ist er mit Schwert und Pistole zwischen sie gefahren, als hätte er in seinem ganzen Leben nichts anderes getan. Um mich zu retten, hat er gegen ein ganzes Dutzend Verfolger gekämpft, alles ausgebildete Kämpfer, und sie besiegt. Und jetzt habe ich gehört, daß er trotz aller Sicherheitsmaßnahmen und Wachen den berüchtigten Saint John getötet hat und entkommen ist. Ich kann mir nicht helfen, aber ich habe das Gefühl, daß es noch einen anderen Finlay gibt – einen, den ich niemals kennengelernt habe.«

»Ihr habt recht. Es gibt einen anderen.«

»Könnt Ihr mir mehr darüber verraten?«

»Ich denke nicht, daß ich sein Geheimnis preisgeben darf. Ihr werdet Finlay selbst fragen müssen. Nur soviel: Finlay ist der tapferste und mutigste Mann, den ich jemals getroffen habe.

Der Stutzer war nur eine Maske, die er trug, um Leute wie Euch auf Distanz zu halten. Um zu verhindern, daß jemand den wirklichen Finlay erkannte.«

»All die Jahre mit ihm verheiratet, und ich habe ihn niemals wirklich gekannt.« Adrienne lächelte schwach. »Andererseits habe ich mich auch niemals wirklich mit ihm beschäftigt.«

»Er war Euch egal.«

»Auch das. Doch das hat sich geändert.«

Evangeline blickte Adrienne fest in die Augen. »Warum? Was ist geschehen? Was ist passiert, daß Ihr zu mir kommt und mir Fragen über Finlay stellt?«

Zum ersten Mal senkte Adrienne den Blick, doch ihre Stimme blieb fest. »Ich brauche Hilfe, und ich kann sonst nirgends hin. Meint Ihr allen Ernstes, ich würde zu Euch kommen, wenn ich einen anderen Weg wüßte? Robert hat mich und die Kinder beschützt, aber er wurde auf ein Schiff versetzt. Euer Vater hat es arrangiert. Er beginnt, Druck auszuüben. Er bedroht mich und meine Kinder. Ich kann mich selbst wehren, doch die Kinder müssen geschützt werden. Ich brauche Hilfe. Eine Waffe, die ich einsetzen kann, um mich und die Meinen zu verteidigen. Die Tatsache, daß ich mich an Euch wende, sollte Euch zeigen, wie verzweifelt meine Lage ist. Ihr liebt Finlay, und ich bin mit ihm verheiratet. Er ist ein Teil unserer beider Leben, und wir haben eine Menge wegen ihm durchgemacht, auf die eine oder andere Weise. Vielleicht finden wir eine Gemeinsamkeit. Es tut mir leid, wenn ich Euch sagen mußte, welche Rolle Euer Vater in dieser Sache spielt. Ich weiß, daß Ihr ihm sehr nahesteht, aber…«

»Nein!« unterbrach Evangeline Adrienne unvermittelt. »Wir stehen uns… überhaupt nicht nahe.«

Adrienne hob eine Augenbraue. In Evangelines Stimme hatte ein Ton mitgeschwungen… »In der Öffentlichkeit und bei Hofe seid Ihr immer an seiner Seite. Ihr erweckt ohne Zweifel den Anschein…«

»Der Schein kann trügen. Bitte, Ihr müßt jetzt gehen. Er wird bald hiersein, und er darf Euch nicht sehen. Ich möchte, daß Ihr jetzt geht.«

»Warum? Was ist so Besonderes am Besuch eines Vaters bei seiner Tochter?« Adriennes Augen verengten sich. »Ihr habt ein Geheimnis. Ich kann es riechen, und ich spüre Eure Furcht.

Was ist es? Hat er Euch verletzt? Der Shreck ist ein verdammter Bastard und Schläger, wie die meisten Männer, aber ich wußte nicht, daß er gewalttätig gegenüber seiner eigenen Familie ist.« Adrienne verstummte abrupt, als sie den plötzlichen Ausdruck von Schmerz und Leid auf Evangelines Gesicht bemerkte. Tränen rannen über Evangelines Wangen, und sie rang um Atem. Adrienne beugte sich vor und nahm Evangelines Hände in die ihren. »Nein, nein, hört auf damit, Kleines. Was auch immer es sein mag, ich werde Euch helfen. Ich bin gut darin, Dinge zurechtzurücken. Und es gibt keinen einzigen Mann auf der Welt, der solche Tränen wert ist. Ist es Euer Vater? Hat er Euch geschlagen? Ich kann mit einflußreichen Leuten bei Hofe sprechen…«

»Nein. Er ist nicht… gewalttätig. Er…« In Evangelines Hals bildete sich ein Kloß. Sie konnte nicht weitersprechen. Sie spürte die Röte auf ihren Wangen, als die Scham sie übermannte. Die Stimme ihres Vaters donnerte durch Evangelines Kopf.

Du kannst es niemandem verraten, niemals. Oder sie werden entdecken, daß du ein Klon bist. Und du weißt, was mit dir geschieht, wenn du ihnen auch nur den kleinsten Hinweis lieferst. Außerdem würde dir sowieso niemand glauben. Und ich schwöre dir, wenn du trotzdem jemals den Mund aufmachen solltest, dann werde ich dir weh tun, kleine Evie. Ich werde dir weh tun, bis du vom Schreien heiser bist. Wage es ja nicht, jemals den Mund aufzumachen!

Evangeline umklammerte Adriennes Hände, als würde sie aus ihnen Kraft ziehen können. Sie saß da mit der Frau, die sie am meisten von allen Menschen gehaßt hatte, und sie war so dicht davor wie noch nie, ihr Geheimnis preiszugeben, das sie so sorgsam gehütet hatte, jene Sache, über die sie noch nie mit einem Menschen gesprochen hatte, noch nicht einmal mit Finlay. Vielleicht, weil nur eine Frau wie Adrienne es hören konnte, ohne sie zu verurteilen. Ihren Schmerz und ihr Entsetzen anhören konnte, ohne daß sie vor Scham starb. Und ganz sicher würde nur eine Frau wie Adrienne einen Dreck darauf geben, daß Evangeline ein Klon war…

»Sagt mir, was Euch bedrückt, Kind«, redete Adrienne mit ruhiger, fester Stimme auf Evangeline ein, damit sie nicht bemerkte, wie sehr ihr Griff um Adriennes Hände schmerzte.

»Wir Frauen müssen zusammenhalten. Wir leben in einem Männerimperium, selbst wenn eine Frau auf dem Thron sitzt, aber wir müssen uns nicht alles gefallen lassen. Männer haben Macht und sind stark, doch wir sind schlauer als sie. Was auch immer Euch bedrückt, ich werde einen Ausweg finden, glaubt mir. Er sperrt Euch hier ein, nicht wahr? Das ist der Grund, warum wir Euch in der Öffentlichkeit nur gemeinsam sehen.

Richtig. Unternehmt etwas gegen den Bastard. Brecht mit ihm.

Die Gesellschaft wird auf Eurer Seite stehen. Sie haben keine Geduld mit Typen, die ihre Angehörigen verprügeln.«

»Ihr… Ihr versteht nicht. Er… er tut mir nicht weh. Nicht auf diese Weise.«

»Was dann, Kind? Was hat er mit Euch angestellt, um Euch in einen derartigen Zustand zu versetzen?« Plötzlich hielt Adrienne inne und blickte Evangeline an. Evangeline machte sich auf einen mitleidigen oder sogar entsetzten Blick gefaßt, doch als sie die Augen hob, erkannte sie nur Schockiertheit in Adriennes Gesicht, die nach und nach blanker Wut wich.

»Mein Gott! Er schläft mit Euch, oder nicht? Dieser verdammte Scheißkerl! Er zwingt Euch, mit ihm ins Bett zu gehen, das ist es! Macht Euch keine Gedanken. Die Gesellschaft wird ihn dafür an das Kreuz nageln!«

»Nein!« erwiderte Evangeline scharf und kämpfte gegen die Tränen, damit sie deutlich sprechen konnte. »Niemand darf es je erfahren! Wenn Finlay davon erfährt, wird es ihn umbringen.

Oder er wird versuchen, Papa zu töten, und dabei oder hinterher umgebracht. Ich habe mein Geheimnis so lange für mich behalten, und ich kann es auch noch eine Weile länger aushalten. Finlay darf nichts geschehen. Ich kann Euch nicht helfen, Adrienne. Ich kann nicht einmal mir selbst helfen.«

»Hört auf«, erwiderte Adrienne brüsk. »Also schön, wir dürfen es niemandem sagen. Aber es gibt andere Methoden. Ich habe noch nie einen Mann kennengelernt, den eine Frau nicht austricksen und überlisten konnte, wenn sie sich Mühe gab.

Laßt mich einen Augenblick nachdenken. Ich werde einen Ausweg finden, der Finlay nicht mit einbezieht. Ihr habt vollkommen recht. Er darf nichts darüber erfahren. Er würde überreagieren. Männer sind nun mal so. Meine Güte!«

»Und wenn Ihr mir helft, muß ich Euch helfen«, sagte Evangeline. »Ist es das, was Euch vorschwebt?«

»Kein Geschäft«, entgegnete Adrienne. »Nicht in dieser Sache. Ich würde jedem helfen, der in einer Situation wie der Euren steckt. Und jetzt gebt mir bitte meine Hände zurück, und wischt Eure Tränen ab. Wir werden uns einen Weg ausdenken, wie wir dem alten Bastard seine fiesen Marotten abgewöhnen.«

»Werdet Ihr, meine Liebe?« ertönte die Stimme des Shreck in der offenstehenden Wohnungstür. »Wie faszinierend!«

Die beiden Frauen fuhren erschreckt zusammen. Evangeline sprang auf, die Hände vor den Mund geschlagen. Sie war weiß wie eine Wand, die Augen weit aufgerissen vor Entsetzen.

Adrienne ließ sich Zeit, bevor sie aufstand. Sie wollte nicht, daß der Shreck glaubte, er könne sie einschüchtern. Sie bedachte Gregor mit ihrem kältesten Blick.

»Hat man Euch nicht beigebracht anzuklopfen?«

»In meinem eigenen Heim?« erwiderte der Shreck und grinste breit. »Warum, um alles in der Welt, sollte ich das tun? Der Turm gehört mir, zusammen mit allem und jedem, was sich darin befindet. Sie gehören mir. Stimmt das etwa nicht, Evangeline? Nun sei ein braves Kind und bitte deine neue Freundin zu gehen. Wir haben so viel zu besprechen.«

»Nein«, wiederholte Evangeline und starrte auf ihre Schuhe.

»Was war das?« erkundigte sich Gregor. »Ich glaube, ich habe dich nicht richtig verstanden, meine Liebe.«

»Nein!« sagte Evangeline laut und starrte den alten Shreck trotzig an. »Ich habe es satt, ständig in Angst zu leben. Du hast mich angelogen, Papa. Du hast mir geschworen, Adrienne und ihre Kinder und die restlichen überlebenden Feldglöcks zu beschützen, und jetzt muß ich erfahren, daß du sie sogar bedrohst, um an Finlay heranzukommen. Du hast mich belogen.«

»Das ist Politik, mein Kind. Die Dinge ändern sich. Ich erwarte nicht, daß du das verstehst. Aber du solltest wissen, daß ich einzig und allein das Wohl der Familie im Auge habe.«

»Wenn Eure Familie wüßte, daß Ihr Eure eigene Tochter vergewaltigt, würde sie Euch davonjagen und enteignen«, meldete sich Adrienne mit ruhiger Stimme zu Wort. »Ihr seid ein geschmackloser Krimineller, Shreck, und Ihr verschanzt Euch hinter feigen Lügen und Drohungen. Ich wußte schon immer, daß Ihr kein Mann seid, aber ich hätte nicht gedacht, daß Ihr die Frauen in Euer Bett prügeln müßt. Und jetzt dreht Euch um und verschwindet von hier. Wenn Ihr dieses arme Kind jemals wieder anrühren solltet, werde ich persönlich dafür sorgen, daß jeder in Eurer Familie von Eurem schmutzigen kleinen Geheimnis erfährt. Sie werden Euch aller Ämter entheben und aus dem Clan werfen, Shreck, und Ihr wißt, daß sie das können, wenn sie sich mehrheitlich dazu entschließen. Und ich wüßte nicht, wer von ihnen über eine so scheußliche Angelegenheit wie dieser hier anderer Meinung sein sollte. Ohne Clan wird niemand mehr mit Euch reden oder Geschäfte machen. Ihr wärt erledigt, Shreck, ein Ausgestoßener, genau wie ich. Mit dem Unterschied, daß ich damit zurechtkomme und Ihr nicht.

Schließt die Tür bitte leise, wenn Ihr geht.«

»Und du stimmst ihr zu?« fragte Gregor seine Tochter. »Du wendest dich gegen deinen eigenen Vater, der dich über alles liebt?«

»Was du mit mir machst, hat mit Liebe nicht das geringste zu tun, Papa. Du hast mich angelogen. Ich möchte, daß du jetzt gehst, bitte. Und komm nie wieder ohne anzuklopfen herein.«

»Ihr beide meint wohl, ihr wärt unglaublich schlau, was?« sagte der Shreck, und sein feistes, heimtückisches Gesicht lief rot an vor Wut. »Ihr meint, ihr wärt schlauer als ich. Aber Ihr, liebe Adrienne, Ihr sollt wissen, daß auch Ihr nicht die ganze Wahrheit kennt. Meine kleine Evie hat ihr größtes Geheimnis nämlich für sich behalten. Sie würde es nicht wagen, darüber zu sprechen. Also wirst du dieser Feldglöck-Hexe jetzt artig sagen, daß sie verschwinden soll, Evie, oder ich werde ihr sagen, was du in Wirklichkeit bist.«

»Das ist nicht notwendig, Papa. Ich werde es selbst tun.«

Evangeline atmete tief durch und blickte Adrienne mit einer Mischung aus Herausforderung und Flehen an. »Ich bin ein Klon. Vater hat mich geschaffen, damit ich die Tochter ersetze, die er ermordet hat. Das ist das Geheimnis, weswegen er mich die ganze Zeit kontrolliert hat. Dachte er jedenfalls. Aber du hast nicht gewußt, daß ich zur Untergrundbewegung gehöre, lieber Papa, nicht wahr? Nein, ich erkenne es an deinem Gesicht, daß du keine Ahnung hattest. Drohe mir, und der Untergrund wird dich töten. Erzähle jemandem von mir, und ich verschwinde im Untergrund. Ich bin nur deswegen geblieben, weil ich Finlay versprach, seine Familie zu schützen. Du hast keine Gewalt mehr über mich, alter Mann. Du hattest nie wirklich Gewalt über mich, wenn ich meine eigene Furcht einmal außer acht lasse. Du hast immer gesagt, ich wäre dein Eigentum, und ich habe dir geglaubt. Aber das ist jetzt ein für allemal vorbei.«

»Schön, das zu hören, Kleine«, sagte Adrienne. Sie warf dem Shreck einen triumphierenden Blick zu. »Verschwindet aus unseren Augen, Ihr kleines ekelhaftes Ungeheuer.«

Gregor Shreck blickte die beiden Frauen nacheinander an und suchte verzweifelt nach Worten. Dann wandte er sich abrupt um und ging. Die Tür fiel mit lautem Knall hinter ihm ins Schloß. Adrienne stieß hörbar die Luft aus und ließ sich in ihren Sessel zurückfallen. Evangeline blieb stehen, wo sie war.

»Nun?« erkundigte sie sich leise. »Was haltet Ihr jetzt von mir, wo Ihr wißt, daß ich nur ein Klon bin?«

»Meine Liebe, nach allem, was wir beide durchgemacht haben, ist das noch das Geringste. Ehrlich gesagt, ich bin sogar fasziniert. Ich habe noch nie jemand aus dem Untergrund kennengelernt. Außer Finlay natürlich, und ich denke, wir stimmen darin überein, daß ich ihn nie wirklich kannte.«

»Und wie steht es damit, daß ich zu den Rebellen gehöre?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte. Das alles kam ein wenig zu plötzlich, selbst für jemanden wie mich. Ich vermute, ich sollte schockiert oder aufgebracht sein, doch ich habe zum letzten Mal die Fassung verloren, als ich vierzehn war, und ich bin emotional viel zu erschöpft, um mich aufzuregen.

Ihr seid ein Klon, und ich bin eine Hexe, und das Imperium hat für keine von uns beiden Verwendung. Also zur Hölle mit ihnen allen, und lang lebe der Untergrund. Habt Ihr eine Schlachthymne? Mir ist danach, ein lautes und trotziges Lied anzustimmen.«

Der Schirm auf Evangelines Kommode summte. Die Frauen schraken zusammen. Dann grinsten sie sich an, und Evangeline ging, um den Anruf entgegenzunehmen. Adrienne erhob sich und trat rasch aus dem Aufnahmebereich der Kamera. »Besser, wenn niemand erfährt, daß ich bei Euch bin, Evie.«

Evangeline nickte, nahm vor der Kommode Platz und schaltete den Apparat auf Empfang. Der Spiegel verschwand, und sie nickte, als ein vertrautes Gesicht erschien. Es war Klaus Griffin, ihr Kontaktmann aus dem Untergrund. Soweit es die Außenwelt betraf, war er ihr Schneider. Zum ersten Mal lächelte er nicht, als er sich meldete. Evangeline spannte sich ein wenig.

»Seid Ihr allein, Evangeline?«

»Natürlich. Gibt es ein Problem?«

»Die Leitung ist abgeschirmt. Wir können frei sprechen. Ihr müßt herkommen, Evangeline, und mit Finlay sprechen. Es ist dringend. Könnt Ihr Euch freimachen?«

»Wenn es sein muß. Was ist mit Finlay? Ist er verletzt?«

»Nein. Aber es ist von größter Bedeutung, daß er eine bestimmte Aufgabe erfüllt, und wir brauchen Euch, um ihn davon zu überzeugen.«

»Warum sollte er sich weigern?«

»Weil er diesmal beinahe sicher dabei stirbt.«

»Und Ihr erwartet, daß ich ihn dazu überrede? Seid Ihr verrückt?«

»Wir brauchen Euch, Evangeline. Wir brauchen ihn. Die Sicherheit der gesamten Untergrundbewegung steht auf dem Spiel.

Finlay ist unsere einzige Hoffnung. Werdet Ihr kommen?«

»Ich werde kommen. Aber ich kann nichts versprechen. Finlay hat bereits genug für uns alle getan. Niemand hat das Recht, noch mehr von ihm zu verlangen. Und wagt ja nicht, ihn zu überreden, bevor ich da bin. Er wird nirgendwo hingehen, bis ich mit ihm gesprochen habe, und vielleicht auch dann nicht. Verdammt, Klaus, wir haben schon so viel für den Untergrund getan. Findet endlich jemand anderen.«

»Es muß Finlay sein. Wie lange dauert es, bis Ihr hiersein könnt?«

»Gebt mir eine Stunde.« Evangeline unterbrach die Verbindung und starrte in den Spiegel. »Bastarde. Ob sie wirklich glauben, ich würde Finlay verraten, selbst für den Untergrund?«

»Das wird ja von Minute zu Minute aufregender«, sagte Adrienne und trat neben ihre neue Freundin. »Der liebe Finlay, die letzte Hoffnung des Untergrunds? Allmählich denke ich, Ihr habt wirklich recht mit Eurer Bemerkung, daß ich ihn niemals richtig gekannt habe. Und da Ihr ihn offensichtlich besser kennt als jeder andere, was meint Ihr? Würde er ein Selbstmordkommando annehmen, wenn der Grund wichtig genug ist?«

»O ja. Deswegen mache ich mir ja so große Sorgen. Die meisten seiner Missionen hätten für jeden anderen Selbstmord bedeutet. Finlay besitzt keinen gesunden Menschenverstand, wenn es um die Einschätzung von Gefahren geht, und seit er seine Familie verloren hat, wird er zunehmend unbesonnen. Er fühlt sich schuldig, weil er überlebt hat und so viele starben.

Wenn diese Mission so gefährlich ist, daß selbst Finlay zögern würde, dann muß es wirklich schlimm stehen. Ich muß zu ihm, Adrienne. Ich danke Euch sehr für Eure Hilfe, und ich wünschte, ich könnte etwas für Euch tun.«

»Das könnt Ihr«, erwiderte Adrienne rasch. »Nehmt mich mit.

Ich bin hier nirgendwo mehr sicher, nachdem ich mir Euren Vater zum Feind gemacht habe. Wenn ich Schutz für meine Kinder finden will, dann bleiben wohl nur noch die Leute vom Untergrund übrig, an die ich mich wenden kann. Obwohl Gott allein weiß, womit ich sie bezahlen soll. Vielleicht mit Klatsch. Ich kenne mehr Geheimnisse über mehr Leute als der halbe Hof zusammen. Ein Teil davon gäbe sicher ganz hervorragendes Erpressungsmaterial ab. Außerdem werdet Ihr meine Hilfe benötigen, wie auch immer Ihr Euch am Ende entschließen mögt. Ich war schon immer hervorragend darin, Finlay von etwas zu überzeugen. Ich kann ihm alles einreden. Und ich denke, es wird mir Freude bereiten, zum Untergrund zu gehören.«

»Was macht Euch so sicher, daß sie Euch akzeptieren werden?«

»Was läßt Euch denken, sie hätten eine Wahl? Ich kann sehr entschlossen sein, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe. Außerdem bin ich wirklich gespannt, diesen vollkommen neuen Finlay kennenzulernen. Ich habe so ein Gefühl, daß ich ihn viel besser leiden kann als den alten. Wollen wir gehen?«

Julian Skye, Esper und Agent des Untergrunds, hatte früher einmal gut ausgesehen, aber das war gewesen, bevor die Verhörspezialisten des Imperiums ihre Hand an ihn gelegt hatten.

Zu Beginn hatten sie ihn nur schlimm zusammengeschlagen, nicht, um ihn zum Reden zu bringen, sondern nur, um ihn weichzuklopfen. Sie hatten ihm keine einzige Frage gestellt.

Zwei hatten ihn festgehalten, und der dritte hatte sich an Julian ausgetobt, bis jeder Knochen in ihm vor Schmerz stöhnte. Anschließend hatten sie sich mit seinem Gesicht beschäftigt. Verletzungen im Gesicht waren zugleich seelische Verletzungen.

Dann waren sie gegangen, und Julian hatte nackt und allein in seiner Verhörzelle gesessen, in aufrechter Position von dicken Stricken an den blanken Metallstuhl gefesselt, während er darauf wartete, daß seine Folterer zurückkamen und von vorn begannen. Ein Auge war zugeschwollen, seine Nase war gebrochen, und getrocknetes Blut verkrustete sein Gesicht. Sie hatten den Mund relativ unverletzt gelassen. Julian sollte schließlich in der Lage sein, ihre Fragen zu beantworten – falls sie irgendwann begannen, ihm welche zu stellen.

Sie hatten Julian allein gelassen, damit er seine Situation überdenken und sich Sorgen über das machen konnte, was als nächstes auf ihn zukommen würde. Und Julian Skye, der von sich immer geglaubt hatte, ein Held zu sein, schämte sich in Grund und Boden, weil er nicht aufhören konnte zu weinen. Er war noch jung, ein junger Mann mit dem Mut und den Idealen eines jungen Mannes, doch die Imperialen Folterknechte hatten den Mut systematisch aus ihm herausgeprügelt. Jetzt waren Julian nur noch seine Ideale geblieben, und auch die schienen nicht mehr so stark und überzeugend zu sein wie einst. Schließlich brachte er seine Tränen doch zum Versiegen und schluchzte nur noch gelegentlich auf, während er seine Umgebung in Augenschein nahm, so gut es ging. Julian befand sich in einem kahlen, leeren Raum, tief unter der Oberfläche, in den dunklen stählernen Eingeweiden des Imperialen Palasts. Die Wände bestanden aus blankem Stahl, ohne jedes Fenster, und außer seinem verzerrten Spiegelbild im schmerzhaft grellen Licht des einzigen Scheinwerfers direkt über ihm war nichts zu erkennen. Julian Skye konnte die Hitze des Scheinwerfers spüren, die auf seinem Kopf brannte, als stünde sein Gehirn in Flammen. Die Tür seines Gefängnisses bestand aus stumpfem schwarzem Metall, direkt vor seinem Stuhl, elektronisch gesichert. Der einzige Weg hinaus, nur von außen zu öffnen und nur von jemandem, der den korrekten Zugangskode besaß.

Julian Skye saß nackt auf seinem Metallstuhl. Man hatte ihm alles genommen, was geistigen Trost oder körperliches Behagen bedeuten konnte. Sie hatten ihn sogar seines hohlen Zahns mit der Selbstmordkapsel darin beraubt. Ohne jede Betäubung hatten sie den Zahn mitsamt der Wurzel aus dem Kiefer gerissen. Hin und wieder fuhr Julian tastend mit der Zunge über das Loch, als hoffte er, der Zahn wäre wieder da. Der Schmerz war klein gewesen – klein im Vergleich zu dem, was danach gekommen war, aber Skye schossen noch immer die Tränen in die Augen, wenn er daran dachte. Der Zahn war seine letzte Hoffnung gewesen. Seine Blase hatte sich entleert, und er konnte nicht einmal den Urin von seinen Beinen wischen.

Auch das war ein Bestandteil der Weichmacherstrategie seiner Peiniger.

Skye wußte, daß er niemandem außer sich selbst die Schuld an seiner Gefangennahme geben konnte. Julian Skye war immer zu wild für den langsamen, bedächtig arbeitenden Untergrund gewesen, selbst für Esper-Terroristen der ELF, der Esper-Liberations-Front. Zu stolz und zu impulsiv. Also hatte man ihn in Ruhe gelassen, und Skye hatte seine eigenen Aktionen mit seinen eigenen Leuten durchgeführt, mit dem Untergrund verbündet, aber nicht Teil von ihm. Weshalb er auch mitten im Geschehen gesteckt hatte, als der mißglückte Überfall auf Silo Neun stattfand und der Untergrund sich fluchtartig zurückziehen mußte. Julian Skye war der einzige gewesen, der aus halbwegs sicherer Distanz den Rückzug organisieren und die Verantwortung übernehmen konnte. Er hatte die Operation geführt und, solange es ging, Zufluchtsorte, falsche Namen und neue Paßwörter beschafft, bis er selbst durch den Verrat des Mannes namens Huth so sehr kompromittiert worden war, daß er um sein Leben rennen mußte.

Er war ihnen entwischt, wie immer, und die Sicherheitsleute hatten nichts gefunden außer dem Echo seines spöttischen Gelächters. Julian Skye war ein alter Hase, was das Große Spiel der Intrigen anging, trotz seines noch fast jugendlichen Alters.

Er hatte sich für unschlagbar gehalten. Unberührbar. Er hatte sich geirrt. In Wahrheit hatte Julian Skye bisher immer nur Glück gehabt. Und sein Glück hatte ihn in dem Augenblick verlassen, als er den Fehler beging, der falschen Person zu vertrauen.

Wenigstens hatten sie ihn nicht nach Silo Neun verschleppt und ihm auch keinen jener gentechnisch produzierten Würmer ins Gehirn gepflanzt, die jeden seiner Gedanken kontrollierten.

Wenn schon nichts anderes, so hatte der Untergrund wenigstens gründliche Arbeit geleistet, das Gefängnis zerstört und den Wurmwächter getötet, bevor die Angreifer verraten worden waren und flüchten mußten. Es würde Jahre dauern, bis das Imperium Silo Neun wieder in Betrieb nehmen konnte. Wenn es überhaupt gelang, einen weiteren künstlichen Esper wie den Wurmwächter zu züchten, der ein vollkommener Gefängniswärter gewesen war. Und ohne einen Wurmwächter funktionierten die Würmer nicht. Deswegen saß Julian hier in seiner Zelle, und ein ESP-Blocker neutralisierte seine Fähigkeiten.

Zum ersten Mal grinste er schwach. Sie mochten ihn daran hindern, sein ESP einzusetzen, aber wenigstens kontrollierten sie nicht seine Gedanken. Sein Lächeln verschwand rasch wieder. Die Hirntechs würden ihm seine Gedanken entreißen. Zusammen mit allem anderen, was sie von ihm erfahren wollten.

Skye überlegte, was am Ende mit ihm geschehen würde, wenn sie ihn ausgepreßt hatten wie eine Zitrone und er nichts mehr wußte, das sie interessierte. Wahrscheinlich würden sie sein Bewußtsein einfach löschen und ihm eine neue Persönlichkeit einpflanzen, die den Bedürfnissen des Imperiums eher gerecht wurde. Sie würden den neuen Julian Skye mit dem alten Gesicht in den Untergrund zurückschicken, zusammen mit einer überzeugenden Geschichte, die seine Flucht deckte, und dann würde er einen nach dem anderen in rascher Reihenfolge verraten, bevor der Untergrund seine neue Persönlichkeit entdecken konnte. Aber vielleicht verriet er schon hier in seiner Zelle alles so gründlich, daß sie ihn anschließend gar nicht mehr benötigten. Skye hatte gehört, daß das Imperium einige der Monstrositäten aus Silo Neun gerettet hatte, Esper und Klone, an denen Experimente durchgeführt worden waren, denen sie mit ihren schmutzigen Fingern an der DNS herumgepfuscht und Gestalt und Bewußtsein in eine neue, entsetzliche Form gebracht hatten. Vielleicht ereilte ihn das gleiche Schicksal. Vielleicht würde auch Julian Skye nicht länger menschlich bleiben, außer auf genetischer Ebene. Vielleicht rüsteten sie ihn zu einer lebenden Waffe um, die nach Bedarf auf die zahlreichen Feinde des Imperiums losgelassen werden konnte. Es war ihm egal. Skye wollte nur, daß es endlich vorbei war. Die Schmerzen, die Furcht und das Entsetzen. Er war nicht länger ein Held – wenn er überhaupt jemals einer gewesen war. Ein einfacher Mann, der darauf wartete, daß man ihn zerbrach. Bei dem Gedanken regte sich schwacher Widerstand in ihm. Julian Skye war noch nicht zerbrochen. Denk nicht an das, was sie wollen. Halte es aus deinem Verstand raus. Vergrab es tief in dir. Laß die Hirntechs danach suchen. Gewinne Zeit. Denk überhaupt nicht mehr. Sei wie ein weißes Blatt Papier. Gib ihnen nichts, an dem oder mit dem sie arbeiten können.

Doch Skye konnte nicht aufhören zu denken. Sein Körper schmerzte zu sehr, um ihn zu ignorieren, und weil er mit dicken Seilen, die in sein Fleisch schnitten, hilflos und nackt an einen Stuhl gefesselt war, blieb ihm nichts anderes zu tun, als nachzudenken. Im Augenblick war er sicher. Die Untergrundesper waren vor langer Zeit tief in sein Bewußtsein eingedrungen und hatten eine Reihe mentaler Blocks errichtet, undurchdringliche Schilde, die alles bis auf die mächtigsten Imperialen Esper von seinem Verstand fernhalten würden. Skye hatte die Blocks mit Hilfe eines unterbewußten Kodeworts im gleichen Augenblick aktiviert, als ihm bewußt geworden war, daß er in der Falle saß, und die Schilde hatten sein Bewußtsein abgeschirmt. Jetzt besaß er keinerlei Informationen mehr, an denen seine Peiniger interessiert waren. Sie waren weggesperrt, an einen Ort, den selbst Skye nicht erreichen konnte. Man kann nichts verraten, das man nicht weiß. Bearbeitet die Schilde zu stark, und mein Bewußtsein wird sich selbst zerstören und alle Informationen mitnehmen.

Also waren seine Peiniger für den Augenblick sehr vorsichtig mit dem, was sie zu ihm sagten. Wenn sie etwas zu ihm sagten.

Wenn sie überhaupt redeten. Zwischen den Schlägen. Sie konnten keinen Esper auf Skye ansetzen, ohne den ESP-Blocker aus seiner Zelle zu entfernen, und im gleichen Augenblick, wo sie das taten, würde er seine Zelle mit einem psionischen Sturm zerfetzen, wie die Folterknechte ihn noch nie zuvor erlebt hätten. Der einzige Weg in Skyes Gehirn führte über die Hirntechs. Die Spezialisten des Imperiums, was Schmerz, Wahrheit und mentale Konditionierung anging. Sie würden Drogen und Technologie und all die psychologischen Tricks einsetzen, die sie bereits seit Jahrhunderten vervollkommnet hatten. Schließlich würden Skyes Schilde fallen, und er hätte nichts mehr, hinter dem er seine Informationen verstecken konnte. Dann erst würde Skye zerbrechen und den Imperialen alles verraten, was sie wissen wollten. Er würde sie anflehen, es tun zu dürfen.

Skye wußte, daß es so kommen würde. Jeder zerbrach am Ende. Er besaß nur eine Hoffnung: sie so lange hinzuhalten wie möglich, um der Untergrundbewegung genug Zeit zu verschaffen, damit sie ihn entweder befreien oder töten konnten. Er hatte nicht viel Hoffnung auf eine Rettung. Auf der anderen Seite fürchtete er auch den Tod nicht mehr, nicht nach dem, was seine Peiniger ihm angetan hatten und noch antun würden.

Skye fürchtete nur eines: daß sie ihn am Ende dazu bringen könnten, den Untergrund zu verraten. Wenn er erst tot war, dann starben seine Geheimnisse mit ihm. Er konnte es nicht selbst tun. Nach dem Ziehen seines Giftzahns hatte einer seiner Peiniger Skye einen spinalen Block eingesetzt. Er konnte noch immer alles spüren, aber er konnte sich nicht mehr bewegen.

Die Fesseln besorgten den Rest. Er konnte sich wimmern hören, aber er konnte nicht damit aufhören. Er hatte noch nie in seinem Leben so viel Angst gehabt. Andererseits hatte er auch nie geglaubt, daß er eines Tages hier enden würde. In Gefangenschaft zu geraten war etwas, das nur anderen Leuten zustieß. Jetzt weinte Julian Skye. Er konnte spüren, wie die Tränen über seine Wangen liefen. Er hätte sogar geschrien, aber er konnte nicht. Es spielte auch keine Rolle. Er würde später noch genug schreien.

Plötzlich erklang das Geräusch sich entriegelnder elektronischer Schlösser, und die Tür schwang leise auf. Julian wäre zusammengeschreckt, aber selbst das konnte er nicht. Sein Verhörmeister trat ein, ein großer schlanker Mann, ganz in Weiß gehüllt, damit die Blutspritzer noch dramatischer wirkten. Ein großer Teil der Schmerzen spielt sich schließlich im Verstand ab. Der Mann nickte Julian zu und umrundete den Stuhl. Er nahm sich Zeit und überprüfte sorgfältig die Fesseln und den spinalen Block in Julians Nacken. Der Mann war stets freundlich und hob niemals auch nur die Stimme. Das war auch gar nicht nötig. Seine Bewegungen wirkten abgehackt, präzise und äußerst effizient. Julian kannte seinen Namen nicht. Er mußte ihn nicht wissen, also nannte ihn niemand. Der Verhörmeister trat vor den Stuhl und blickte Julian an.

»Du hast Besuch, Julian«, sagte er mit sanfter Stimme. »Ich habe deinen Spinalblock so justiert, daß du sprechen kannst.

Nutze deine Zeit gut. Wenn du fertig bist, werde ich mit dir reden.«

Der Mann verließ die Zelle, während Julians Gedanken sich überschlugen. Wer, zur Hölle, hatte genügend Einfluß, daß die Hirntechs ihn zu ihrem Gefangenen ließen, während sie mitten im Weichmachungsprozeß steckten? Vielleicht ein anderes armes Schwein aus seiner Gruppe. Jemand, den sie gefangen hatten und von dem sie glaubten, daß Julian sich um ihn sorgte.

Jemand, den sie vor Julians Augen quälen oder töten konnten.

Skye bewegte den Kopf langsam hin und her, zum Teil aus Ablehnung, aber größtenteils einfach, um zu spüren, wie sein Kopf sich nach der langen Zeit der Bewegungslosigkeit bewegte. Er leckte sich über die Lippen und schmeckte getrocknetes Blut und Salz von seinen Tränen. Julian hörte, wie Schritte näher kamen, und wappnete sich, so gut er konnte. Dann trat SB Chojiro durch die Tür in die Zelle, und Julian dachte im ersten Augenblick, sein Herz würde stehenbleiben. Sie sah wunderschön aus, wie immer, eine kleine puppenhafte Frau mit langem schwarzem Haar und scharf geschnittenen orientalischen Gesichtszügen. Sie trug einen leuchtend purpurnen Kimono, dessen Farbe zu der ihrer Lippen paßte, und blickte Julian fest aus dunklen, glänzenden Augen an. Sie blieb vor ihm stehen, und die Tür fiel hinter ihr ins Schloß. Julian erwiderte ihren Blick und spürte, wie das Entsetzen erneut in ihm aufstieg. Sie wußten Bescheid über SB. Wenn sie ihr weh taten…

Allein der Gedanke trieb ihn fast in den Wahnsinn. Sie trat einen Schritt vor – selbst hier bewegte sie sich mit der vollkommenen Grazie, die den Angehörigen ihres Clans zu eigen war – und zog ein kleines metallenes Gehäuse aus dem Ärmel.

Sie drückte auf den einzelnen Knopf auf der Oberseite, und der Spinalblock gab Julian frei. Er sackte nach vorn. Allein die Fesseln verhinderten, daß er von seinem Stuhl fiel. Julians Finger zuckten krampfartig und hilflos. SB Chojiro kniete vor ihm nieder und blickte Skye in die Augen. Julian versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen, aber es wurde nur eine Grimasse daraus. SB Chojiro steckte den kleinen Apparat wieder ein und zog ein seidenes Taschentuch hervor, mit dem sie Julians Tränen und das getrocknete Blut abwischte. Ihre Berührung war sehr sanft.

»Mein armer Julian, was haben sie nur mit dir gemacht? Du warst immer so stark, so sicher. Jetzt haben sie dir die Flügel gebrochen, und du wirst nie wieder fliegen.«

»SB«, sagte Julian mit heiserer Stimme. Er mußte seinen Mund zwingen, ihm zu gehorchen. »Haben sie dir weh getan?

Was…?«

»Versuch nicht zu sprechen. Hör einfach nur zu. Ich kann nicht lange bleiben. Ich möchte, daß du ihnen alles sagst, Julian. Es ist nur zu deinem Besten, wirklich. Du weißt, daß sie es so oder so aus dir herausholen werden. Das tun sie immer. Und was dann noch von dir noch übrig ist, wird nicht einmal mehr wissen, wer ich bin. Wenn du mit ihnen zusammenarbeitest, lassen sie dich am Ende gehen, und wir können wieder Zusammensein, so wie früher. Würde dir das nicht gefallen, mein armer Julian?«

Julian blickte sie an und schwieg. Er kannte SB Chojiro noch kein ganzes Jahr. Sie war die Geliebte seines jüngeren Bruders gewesen. Auric Skye hatte versucht, eine Anstellung im Chojiro-Clan zu finden, damit er in ihrer Nähe sein konnte. Um den Clan zu beeindrucken, hatte er den Maskierten Gladiator in der Arena herausgefordert. Der Maskierte hatte ihn getötet. Auric hatte nicht die Spur einer Chance gegen den legendären Schlächter gehabt. Julian hatte seinen Bruder gewarnt, doch Auric hatte nicht auf ihn hören wollen. Julian hatte schweigend zugesehen, wie sie den Leichnam seines Bruders über den blutigen Sand davongetragen hatten. Er hätte Auric gerächt, wenn er eine Möglichkeit dazu gesehen hätte, aber Julian besaß genug Verstand, um zu wissen, daß er den Maskierten weder in einem fairen noch in einem unfairen Kampf schlagen konnte.

Also hatte er die Angelegenheit abgehakt. Nichts als eine weitere böse Episode in einem bösen Imperium. Julian hatte sich mit SB Chojiro getroffen, um sie über Aurics Tod hinwegzutrösten. Sie hatten den ganzen Abend und die darauffolgende Nacht über Auric gesprochen, und am Ende hatte SB in Julians Armen gelegen und geweint. Sie hatten sich erneut getroffen, und wieder, und sich ineinander verliebt. Julian war eine Zeitlang deswegen von Schuldgefühlen geplagt gewesen, aber SB hatte sie ihm ausgeredet. Sie war überzeugt davon, daß Auric sich für sie beide gefreut hätte. Julian hatte in SBs Armen geweint und seinem Bruder endlich Lebewohl gesagt. Danach waren SB und Julian so oft zusammengewesen, wie sie es nur einrichten konnten. Es war nicht sehr oft gewesen. Der Chojiro-Clan durfte es unter keinen Umständen herausfinden. Sie waren sehr streng und hätten die Verbindung nicht gutgeheißen. Und Julian besaß Verpflichtungen gegenüber dem Untergrund. Es hatte sehr lang gedauert, bis er SB davon erzählt hatte. Zuerst schien sie überrascht gewesen zu sein, doch dann hatte sie ihn in die Arme genommen und gesagt, es wäre richtig gewesen, ihr davon zu erzählen. Nicht lange danach hatten sie ihn geschnappt. Überhaupt nicht lange.

Julian Skye blickte seine Geliebte an, die vor ihm kniete, und mit einemmal wußte er, wer ihn verraten hatte.

»Ich dachte, du hättest mich geliebt«, sagte er mühsam. »Wie konntest du mir das antun?«

»Es war nicht besonders schwierig, Liebling. Meine Loyalität hat immer zuerst dem Clan gegolten und sonst niemandem.

Auric wußte das. Er starb, weil er versuchte, ein Teil des Chojiro-Clans zu werden. Du hast mich nie nach meinem richtigen Namen gefragt. Willst du gar nicht wissen, wofür die Initialen SB stehen?«

»Du hast gesagt, ich solle nicht fragen.«

»Ja. Und du hast stets getan, was ich dir sagte. Doch allein die Tatsache, daß ich etwas so Grundlegendes vor dir verborgen gehalten habe, hätte dir zu denken geben müssen. SB ist nicht mein richtiger Name, Julian. Es ist meine Berufsbezeichnung. Ich gehöre zum Schwarzen Block

Die Worte trafen Julian wie Schläge. Er hatte vom Schwarzen Block gehört, aber nur Gerüchte. Der Block war das bestgehütete Geheimnis der Versammlung der Lords; eine verborgene Privatarmee aus entfernten Vettern und Basen als letzte Verteidigungslinie der Familien gegen die Imperatorin und ihre Leute. Jede Familie steuerte eine Anzahl Kandidaten bei, freiwillig oder nicht, und sandte sie zum Schwarzen Block, wo sie ausgebildet und auf vollkommene Loyalität gegenüber ihrem Clan konditioniert wurden. Bis in den Tod. Sie waren überall, unerkannt und unverdächtig, programmiert, sich den Leuten, die von Bedeutung waren, so weit wie möglich zu nähern. Im entscheidenden Augenblick würden sie die letzte vergiftete Waffe der Lords sein und auf Löwenstein und jeden anderen losgelassen werden, der versuchte, die Macht der Lords zu brechen oder ihnen ihre Position streitig zu machen. Jedenfalls erzählte man sich das. Der Schwarze Block wurde nur flüsternd erwähnt, und er war weniger als ein Gerücht. Für Löwenstein war das alles nur ein Hirngespinst. Hätte sie den Schwarzen Block ernst genommen, sie hätte nicht eher geruht, als bis der letzte Angehörige dieser geheimen Armee aufgespürt und exekutiert worden wäre. Die Imperatorin hätte eine derartige Bedrohung ihrer eigenen Machtposition niemals zugelassen.

Schwarzer Block Chojiro. Schwarzer Block. Ihrem Clan treu bis in den Tod ergeben, ohne Ehre, ohne Hoffnung.

»Unsere Liebe hat dir gar nichts bedeutet, nicht wahr?« fragte Julian schließlich.

»In meinem Leben ist kein Platz für das, was du unter Liebe verstehst. Ich hatte viel Spaß mit dir. Ich mag dich immer noch.

Deswegen will ich auch, daß du alles erzählst, was du weißt, und die Sache endlich hinter dich bringst. Der Verhörmeister ist einer von uns. Er gehört zum Schwarzen Block. Sobald er alles weiß, was er von dir wissen will, wird er dich, so gut er kann, wieder zusammenflicken, und du kannst zu mir zurückkommen. Du kannst sogar dem Chojiro-Clan beitreten, wie dein Bruder sich das immer gewünscht hat. Natürlich wird man dich zum Schwarzen Block schicken, aber es ist nicht so schlimm, wie du denkst. Und anschließend ist dir egal, wer oder was du einmal warst.«

»Wenn ich rede«, begann Julian mit heiserer Stimme, »werden Hunderte sterben. Tausende werden in Gefahr geraten. Der Untergrund würde sich wieder einmal in alle Winde zerstreuen.

Vielleicht würde er sich nie wieder davon erholen. Ich kann nicht reden. Nein, es geht nicht.«

»Du wirst reden. Ich weiß, daß du reden wirst. Sprich mit dem Verhörmeister, Liebling. Tu es für mich.«

»Für dich?« Julian hätte gelacht, wenn seine Kehle nicht ausgetrocknet gewesen wäre. »Wer bist du? Ich kenne nicht einmal deinen richtigen Namen. Ich kenne dich nicht wirklich. Ich habe dich geliebt, du Hexe. Ich hätte alles für dich getan, sogar mein Leben geopfert, doch jetzt wird mir bereits bei deinem Anblick schlecht.«

»Bitte sag so etwas nicht, Julian. Wir hatten eine schöne Zeit miteinander, wir beide. Erinnerst du dich noch an unseren Flug über die Rabenschreckberge? Wie wir uns auf Gravschlitten gegenseitig durch die gewaltigen Wasserfälle gejagt haben?

Oder wie wir den hellen Doppelstern beobachtet haben, der über dem Tannhäusertor funkelte? Erinnerst du dich, wie wir in der staubigen Gedenkenswüste um das Lagerfeuer getanzt und gesungen haben, als würde die Nacht niemals zu Ende gehen? Das waren schöne Zeiten, Julian. Zeiten, die wir gemeinsam verbrachten. Und es könnte wieder so sein. Wir könnten noch immer ein gemeinsames Leben leben. Es liegt in deiner Hand, Julian. Mit mir zusammen wirst du den Untergrund vergessen.«

»SB, tust du mir einen Gefallen?«

»Aber sicher, mein Liebling. Möchtest du einen Schluck Wasser?«

»Nein. Komm näher.«

Chojiro lächelte und brachte ihr Gesicht dicht vor Julians. Er konnte ihr vertrautes Parfüm riechen. Sie spitzte die Lippen zu einem Kuß. Julian nahm alle Kraft zusammen, die ihm noch verblieben war, und stieß ihr den Kopf mitten ins Gesicht. Der Stoß war nicht so heftig, wie er gewünscht hatte, doch er reichte aus, um SB nach hinten auf den Hintern fallen zu lassen.

Schock und Überraschung zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab und wichen sofort dem Ausdruck von Schmerz, als sie die Hände hochnahm und ihre blutende Nase betastete. Julian kicherte rauh, obwohl es in seinem Hals schmerzte. Chojiro blinzelte ihn unsicher aus verkniffenen Augen an, dann erhob sie sich ruckartig. Sie wischte mit dem seidenen Ärmel ihres Kimonos über das Gesicht, mit dem einzigen Erfolg, daß sie das Blut noch mehr verschmierte. Schließlich stellte sie ihre Bemühungen ein und straffte sich. SB ignorierte das Blut und lächelte Julian eigenartig spröde und befriedigt an.

»Danke sehr, Julian. Ich fing allmählich an, Mitleid mit dir zu empfinden, für alles, was du durchmachst. Du hast mir wieder in Erinnerung gebracht, warum ich dich verraten habe. Du bist Abschaum, Dreck, weniger als nichts, und du stehst so weit unter den Familien, daß wir dich und deinesgleichen von unserer Position aus nicht einmal sehen könnten, wenn wir wollten. Wenn ich daran denke, daß ich dich beinahe zu einem von uns gemacht hätte! Rede nur über den Schwarzen Block, soviel du magst. Nur der Verhörmeister wird dich hören, und er ist einer von uns. Er wird dafür sorgen, daß dein Geschrei nicht nach draußen dringt, selbst wenn er dafür die Sicherheitsaufzeichnungen manipulieren muß. Denk an mich, während er dich bearbeitet. Ich zumindest werde an dich denken.«

SB Chojiro klopfte herrisch gegen die Tür, die sogleich aufschwang. Dann blies SB Julian einen Handkuß zu und stapfte aus der Zelle, Zoll für Zoll eine vollkommene kleine Aristokratin. Julian bäumte sich gegen die Fesseln auf, aber sie gaben nicht nach. Trotzdem, Chojiro hatte einen Fehler gemacht. Sie hatte den Spinalblock nicht wieder reaktiviert. Julian konnte einen Weg finden, wie er sich das Leben nahm, um seinen Peinigern zu entkommen. Doch im Augenblick war er zu wütend, um über diese Möglichkeit nachzudenken. Julian Skye mußte leben, und er mußte entkommen, um SB Chojiro zu töten. Er würde alles überleben, was sie ihm antaten, und er würde auf den kleinsten Fehler und die kleinste Lücke warten, um ihnen zu entkommen. Und dann würde er die Folterknechte töten und jeden, der sich zwischen ihn und seine Rache an Chojiro stellte.

Er hatte sie über alles geliebt, doch jetzt konnte er nur noch daran denken, wie seine Hände sich um ihren perfekten Hals schlossen, während ihr spöttisches Grinsen einem Schrei des Entsetzens wich. Plötzlich lachte Julian auf, ein rauhes, brutales Geräusch von schwärzestem Humor. Der Verhörmeister blieb überrascht im Eingang stehen, als wäre ihm in diesem Augenblick bewußt geworden, daß er im Begriff stand, einen kleinen Raum zu betreten, in dem ein wildes Tier auf ihn wartete. Doch der Augenblick ging vorüber, und der weißgekleidete Mann trat ein, während er sein zukünftiges Opfer gönnerhaft anlächelte. Sorgfältig schloß er hinter sich die Tür, so daß Julians Schreie niemanden stören konnten, der zufällig draußen über den Korridor ging.

Finlay Feldglöck kehrte auf einem Wrack von Flieger von seiner Mission zurück, blutend und ein klein wenig außer Atem.

Die Piloten der verfolgenden Gravschlitten hatten sich als außerordentlich geschickt erwiesen, und Finlay hatte tief in seine Trickkiste greifen müssen, um sie am Ende doch noch abzuschütteln. Er landete die Maschine mit einem deutlichen Krachen und sackte für einen Augenblick über den Kontrollen zusammen. Leute kamen herbei, um den Flieger außer Sicht zu ziehen, bevor man ihn entdeckte. Finlay straffte sich mit einem Ruck. Niemand sollte das Gerücht in die Welt setzen können, er sei weich geworden. Er trat vom Flieger herunter und genoß den Ausdruck auf den Gesichtern der Umstehenden, als sie sahen, was er auf der Plattform für sie zurückgelassen hatte.

Finlay hatte den Leichnam Saint Johns mitgebracht, zum Teil als Beweis, daß er seinen Auftrag erfüllt hatte, zum Teil, weil der fehlende Körper die Lords wütend machen würde, und zum Teil als Trophäe. In ihm regte sich die vage Idee, daß er Saint John ausstopfen lassen und an einer belebten Ecke ausstellen sollte, damit jeder ihn sehen und den Anblick genießen konnte.

Doch im Augenblick blieb Finlay keine Zeit, sich eingehender mit diesem verlockenden Gedanken zu beschäftigen.

Finlay ließ den Leichnam in dem erbeuteten Flieger zurück und schlenderte unwillig zu den wartenden Aufzügen. Sollte jemand anderes sich um Saint John kümmern. Einer von Julians Stiefel gab beim Gehen laute, platschende Geräusche von sich. Es war Blut aus einer Wunde am Bein. Finlay hatte auch noch andere Wunden davongetragen, doch er hielt sich aufrecht. Er hatte schließlich einen Ruf zu verteidigen. Ungeduldig wartete er vor der Aufzugstür, die Hand auf dem Griff seines Schwerts, als würde er seine Kraft aus der Waffe beziehen.

Endlich glitten die Türen zur Seite, und Finlay stapfte in den Lift. Hinter ihm schlossen sich die Türen wieder, und Finlay Feldglöck sank zusammen. Nur die stählerne Wand verhinderte, daß er fiel. Finlay hatte sich schon besser gefühlt. Er wurde anscheinend alt. Demnächst würde er wohl nur noch Dame spielen. Im Augenblick wünschte er sich nichts sehnlicher als ein heißes Bad und ein paar Tage ungestörten Schlaf, doch die Anführer der Bewegung erwarteten seinen Bericht. Natürlich nicht schriftlich, das wäre zu leicht gewesen. Nein, er hatte persönlich vor ihnen zu erscheinen und in allen Einzelheiten von seinen Taten zu berichten wie ein Schuljunge in einem Klassenzimmer. Finlay dachte sehnsüchtig an sein Quartier und ein großes Glas guten Branntwein. Während der letzten Phase seiner Flucht hatte ihn nur der Gedanke an einen guten Tropfen auf den Beinen gehalten. Das, und die Erinnerung an Evangeline. Sie war nie weit von ihm, wenigstens in Gedanken, was auch immer er unternahm. Langsam richtete Finlay sich wieder auf und drückte sich von der stützenden Wand ab. Er schnaufte geringschätzig wegen der zahlreichen Schmerzen, die ihn plagten. Er wußte wirklich nicht, warum er sich eigentlich Gedanken um seinen Bericht machte. Die Anführer der Untergrundbewegung mußten nur einen Blick in den Schlitten werfen, um zu sehen, daß er seinen Auftrag erfolgreich abgeschlossen hatte. Aber sie wollten Einzelheiten. Sie wollten immer Einzelheiten. Vielleicht half es ihnen, sich einzubilden, daß sie die Befehle gaben. Und Finlay spielte mit. Widerwillig. Er war auf den Untergrund angewiesen.

Die Türen des Aufzugs öffneten sich auf einer Ebene, die in keiner offiziellen Karte existierte, und Finlay wankte unsicher in einen düsteren Korridor hinaus. Im Untergrund schien es nie genug Lampen zu geben. Wahrscheinlich war das Absicht, um den Treffpunkten ein mysteriöses Aussehen zu verleihen. Entweder das, oder man sparte wieder einmal Energie. Finlay bemerkte, daß seine Gedanken erneut zu wandern begannen, und konzentrierte sich auf den Weg vor ihm. Hier unten in den Subsystemen, weit unter der Oberfläche Golgathas, sah ein verlassener stählerner Korridor aus wie der andere. Nur wenige Menschen hielten sich hier unten auf, und Finlay riß sich zusammen und erwiderte die Grüße der Passanten. Sie nickten alle freundlich, und das gehörte sich auch so. Er war schließlich Finlay Feldglöck, verdammt!

Schließlich erreichte Finlay den Treffpunkt, eine verlassene Werkstatt, deren Existenz die Kyberratten aus dem offiziellen Gedächtnis gelöscht hatten. Es war ein großer, offener Raum, dessen Wände aus stählernen Platten bestanden. Überall hingen lose Kabel herab und gaben dem Platz ein unfertiges, provisorisches Aussehen. Ziemlich treffend, wenn man bedachte, daß der Untergrund jeden Augenblick damit rechnen mußte, seine Sachen zusammenpacken und fluchtartig verschwinden zu müssen. Nach dem Debakel des Angriffs auf Silo Neun und den darauffolgenden Säuberungsaktionen tendierten die Überreste der Bewegung dazu, von einem Augenblick auf den anderen zu leben und sich noch paranoider zu verhalten als vorher.

Finlay stapfte zu den wartenden Anführern der Bewegung, die in der Mitte des Raums im Zentrum einer freien Fläche auf ihn warteten, und nickte ihnen steif zu. Diesmal waren sie zu dritt, mächtige Esper, die sich hinter telepathisch projizierten Bildern versteckten, um ihre wahre Identität zu verbergen. Zumindest lautete so ihre Geschichte. Finlay gefiel die Vorstellung, daß sie ihr Aussehen wegen Hautproblemen oder einer mißglückten Haartransplantation hinter einer Illusion verbargen. Finlay hatte vor nichts und niemandem mehr Ehrfurcht.

Der Anführer, den alle nur unter dem Namen Mister Perfekt kannten, war ein nackter Adonis, dessen unglaublich definierte Muskulatur vor Schweiß glänzte, obwohl er nie etwas anderes tat, als reglos dazustehen. Mister Perfekt besaß harte, furchteinflößende Gesichtszüge, die ein wenig zu klassisch geschnitten waren, um echt zu sein. Er besaß sogar ein Grübchen am Kinn, der Bastard. Finlay achtete sorgfältig darauf, nicht auf Mister Perfekts Genitalien zu starren. Es hätte ihn nur deprimiert. Neben dem griechischen Adonis hing ein Mandala in ständig wechselnden Farben und Umrissen in der Luft, ein sich drehendes Rad aus ineinander verlaufenden Mustern. Finlay behagte der Anblick ebensowenig wie der des üppig proportionierten Mister Perfekt. Die plötzlichen Wechsel von Farbe und Intensität und die Art und Weise, wie sie anscheinend ins Nichts davonwirbelten, bereiteten ihm Kopfschmerzen. Der dritte Anführer präsentierte sich als sechs Meter langer Drache, der sich um einen großen Baum gewickelt hatte. Er sprach meist nicht viel, doch seine großen goldenen Augen blinzelten kaum jemals und vermittelten den Eindruck eines aufmerksamen Zuhörers. Wenn es denn ein männlicher dritter Anführer war. In Finlay regte sich darüber hinaus der heimliche Verdacht, daß der Baum mehr war, als er zu sein schien. Vielleicht waren es ja vier Anführer, vor denen er stand.

Bevor er mit seinem Bericht begann, blickte Finlay nach hinten zu der Zuschauermenge, die dem Treffen beiwohnte. Seine Berichte zogen stets Zuschauer an. Er lächelte ihnen freundlich zu, und sie lächelten zurück und verneigten sich respektvoll vor ihm. Einige applaudierten sogar. Die übliche Mischung aus Elfen in Leder und Ketten, aus Klonen mit identischen Gesichtern und verschiedenen Sympathisanten wie Finlay selbst, toleriert von den Anführern, weil sie auf die eine oder andere Weise nützlich waren, hatte sich versammelt. Neben der erwartungsvollen Menge kamen und gingen andere Leute geschäftig ein und aus, lieferten Berichte ab oder lauschten einfach in der Hoffnung, etwas Nützliches zu erfahren. Der Untergrund lebte vom Klatsch.

Und dann klappte Finlays Kinnlade herunter, und sein Blick blieb an zwei Gestalten in den vordersten Reihen der Versammlung hängen, die er niemals nebeneinander zu sehen erwartet hätte. Erst recht nicht hier, im Untergrund. Adrienne Feldglöck und Evangeline Shreck. Seine Frau und seine Geliebte. Die beiden Frauen schwatzten fröhlich miteinander und schienen sich ganz offensichtlich sympathisch zu finden. Finlays erster Gedanke war, daß es sich um eine Art Illusion durch einen der Esper handelte, einen üblen Scherz oder Trick, um Finlay aus dem Gleichgewicht zu bringen, aber außer ihm wußte kein Mensch Bescheid über die beiden Frauen in seinem Leben. Also mußten sie es wohl selbst sein. Hier. Zusammen.

Finlay blickte sich suchend nach dem nächstgelegenen Ausgang um. Bericht oder nicht Bericht, er mußte von hier verschwinden, und zwar so schnell wie möglich. Es gab Dinge, die konnte kein Mann ertragen. Vielleicht, wenn er sich umdrehte und einfach losrannte…

»Finlay Feldglöck, so hört uns denn«, sagte das Mandala mit lauter, durchdringender Stimme, die schmerzhaft in Finlays Kopf dröhnte. Soviel also zum Weglaufen. Anscheinend war die Stimme nicht allein in Finlays Kopf erklungen, denn plötzlich blickte jedermann auf ihn. Finlay seufzte resigniert und trat vor. Er nickte den Anführern des Untergrunds zu und blieb in ausreichender Entfernung stehen. Die Illusionen hatten etwas an sich, das Finlay Respekt einjagte. Er salutierte militärisch, mehr für die Zuschauer, doch er machte sich nicht die Mühe, in Habachtstellung zu gehen. Wenn sie einen Soldaten benötigten, dann sollten sie sich jemand anderen aussuchen. Finlay war nur ein Saboteur und Attentäter auf hohem Niveau, und er hatte einen Ruf zu verteidigen.

»Könnt Ihr Euer Farbenspiel ein wenig verlangsamen?« fragte er das Mandala steif. »Ich werde allmählich seekrank. Außerdem weiß ich überhaupt nicht, warum Ihr Euch immer noch die Mühe der Illusion macht. Ich bin bereits seit einer ganzen Weile nicht mehr beeindruckt. Vertraut Ihr mir nicht, nach allem, was ich für Euch getan habe?«

»Das ist keine Frage des Vertrauens«, erwiderte Mister Perfekt mit seiner angenehmen, charismatischen Stimme. »Was Ihr nicht wißt, kann niemand Euch entreißen. Sicherheit ist lebenswichtig, heute mehr denn je.«

Finlay schniefte laut und vermied sorgfältig, in Adriennes und Evangelines Richtung zu blicken. Er konnte spüren, wie kalter Schweiß auf seine Stirn trat. »Ich nehme an, Ihr wollt meinen Bericht. Also schön. Ich habe Lord William Saint John getötet, wie Ihr mir aufgetragen habt, zusammen mit einer ganzen Reihe seiner Leute. Dann habe ich seinen persönlichen Flieger gestohlen und bin damit entkommen. Ende der Durchsage. Kann ich jetzt bitte gehen? Ich will in meine Unterkunft, wo eine Flasche laut und mit wachsender Ungeduld meinen Namen ruft.«

Finlay ignorierte das enttäuschte Gemurmel der Menge und blickte unverwandt zu Mister Perfekt, der ihn am wenigsten von allen drei Anführern verunsicherte. Die Farben des Mandalas zerflossen plötzlich. Finlay wollte hinsehen, aber er konnte seinen Blick nicht fixieren. Dann donnerte die Stimme der Illusion laut durch den weiten Raum. »Normalerweise würden wir jetzt auf einem detaillierteren Bericht bestehen, Finlay Feldglöck, doch dazu ist keine Zeit. Wir brauchen dich für einen weiteren Auftrag. Ohne Verzögerung.«

Finlay starrte die Anführer an. Für einen Augenblick verschlug es ihm die Sprache. »Was sagt Ihr da? Ich bin eben erst zurückgekommen, verdammt! Man hat mich beschossen und ist mit dem Schwert auf mich losgegangen, und ich wurde auf meinem verzierten Schlitten zwischen den Pastelltürmen hindurch bis zur Hölle und wieder zurück gejagt, und ich bin nur durch Glück in einem Stück entkommen, und Ihr wollt, daß ich direkt wieder losziehe? Kennt Ihr das Zitat: Steckt es Euch dahin, wo die Sonne nie scheint! Seid Ihr vollkommen verrückt geworden, oder habt Ihr plötzlich Todessehnsucht? Weil ich nämlich, wenn Ihr Eure Meinung wegen dieser neuen Mission nicht schleunigst ändert, herausfinden werde, was sich hinter Euren drei hübschen Illusionen verbirgt, um Euch in dünne Scheiben zu schneiden! Ich bin müde, verletzt und verstehe im Augenblick überhaupt keinen Spaß. Und nein, ich habe auch keinen Sinn für Loyalität oder Ehre. Ich bin ein verdammter Aristokrat, habt Ihr das bereits vergessen? Ich werde nirgendwo hingehen, bevor ich nicht ein ausgiebiges heißes Bad, eine üppige Mahlzeit mit mindestens drei oder vier Nachschlägen und ein verdammt langes, ungestörtes Nickerchen hinter mir habe. Ich bin wie ein Disruptor. Ich brauche Zeit, um meine Kristalle nach einem Einsatz wieder aufzuladen. Zur Zeit sitzen meine Kristalle in einer Ecke und weinen sich die Augen aus, und mein Mut ist aufgestanden und gegangen, ohne eine Nachsendeadresse zu hinterlassen. Mit anderen Worten: Ich werde verdammt noch mal nicht gehen!«

Die Menge applaudierte. Das war es, was die Leute hören wollten. Finlay blickte erwartungsvoll zu den Anführern. Das alles hatten sie bereits bei früheren Gelegenheiten von ihm gehört, und sie schienen nicht im mindesten beeindruckt. Mister Perfekt ließ seine Muskeln spielen und blickte Finlay streng in die Augen.

»Dieser Auftrag ist lebenswichtig. Die Sicherheit der gesamten Bewegung steht auf dem Spiel. Während Eurer Abwesenheit hat eine bis zu diesem Zeitpunkt unbekannte Gruppe von Rebellen die Hauptstadt angegriffen. Die Rebellen sind in das Gebäude der Steuerbehörde eingedrungen und haben die Lektronensysteme mit großer Sorgfalt und Effektivität zerstört.

Anschließend flohen sie in einem Schiff der Hadenmänner.

Unsere früheren Beziehungen zu den Hadenmännern waren gespannt, aber zusammen mit den anderen Rebellen haben sich unsere neuen Verbündeten als sehr machtvoll und subtil erwiesen. Außerdem brachten sie uns Nachrichten von großer Bedeutung. Jakob Ohnesorg ist aus seinem Versteck aufgetaucht und führt sie an.«

Die Menge applaudierte ausgelassen und begann aufregend zu schnattern. Finlay schloß sich nicht an. Er hatte von dem Berufsrebellen gehört, wie jeder andere auch, aber der Mann mußte inzwischen in die Jahre gekommen sein. Und Finlay vertraute Legenden nicht länger. Nicht, seit er selbst zu einer geworden war.

»Was hat das alles mit meiner neuen Mission zu tun, die ich nicht annehmen werde?« erkundigte er sich laut, und der Applaus der Menge verstummte. Jeder blickte interessiert zu den Anführern und wartete auf ihre Antwort. Das war es, weswegen sie Finlays Meldungen so sehr liebten. Er zog immer eine phantastische Schau ab.

Mister Perfekt sah Finlay in die Augen. »Dank unserer neuen Freunde befinden sich die Verteidigungseinrichtungen und die Sicherheitskräfte von Golgatha zur Zeit in einem desolaten Zustand. Im Augenblick sind Dinge möglich, die vorher nicht möglich waren. Ihr werdet Euch an Julian Skye erinnern. Ihm allein haben wir es zu verdanken, daß die Untergrundbewegung nach dem Debakel mit Silo Neun so rasch neu organisiert werden konnte. Skye wurde gefangengenommen. Sie haben ihn noch nicht lange in ihrer Gewalt, aber es ist von allergrößter Bedeutung, daß er nicht redet. Er kennt sämtliche Namen, Paßwörter und Orte, die unsere Reorganisation ermöglicht haben. Wir haben Blocks und Verteidigungsmechanismen in seinen Verstand eingepflanzt, doch sie werden nicht sehr lange halten, wenn die Imperialen Hirntechs sich ernsthaft mit ihm beschäftigen. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätten wir hilflos zusehen müssen, aber im augenblicklichen Chaos? Niemand weiß, was ein einzelner entschlossener Mann erreichen kann.«

»Wer weiß, was eine kleine Armee mit entsprechender Bewaffnung erreichen kann?« widersprach Finlay. »Denkt nur an all die anderen Gefangenen, die man ebenfalls retten könnte.«

»Wir dürfen nicht riskieren, noch mehr von unseren Leuten zu verlieren«, sagte das Mandala. »Skye wird in einem Hochsicherheitstrakt festgehalten, und selbst unter Berücksichtigung der gegenwärtigen Umstände wird man ihn bestimmt stark bewachen. Ein Mann allein könnte sich hinein- und wieder hinausschleichen, wo eine Armee keine Chance hätte. Ihr werdet dieser Mann sein.«

»Ich nehme an, weil ich tapfer, talentiert und vollkommen entbehrlich bin?«

»Exakt. Natürlich hilft auch die Tatsache, daß Ihr der einzige seid, der eine derart verzweifelte Mission entgegen aller Wahrscheinlichkeit überleben kann. Was ist los mit Euch, Finlay?

Ich dachte immer, Ihr liebt die Herausforderung?«

»Das ist keine Herausforderung, das ist ein Todesurteil. Und entgegen dem, was alle zu glauben scheinen, führe ich keine Selbstmordkommandos aus. Sucht Euch einen anderen Dummen.«

»Diesmal werdet Ihr es tun. Skye muß befreit oder zum Schweigen gebracht werden, bevor er reden kann. Ihr entscheidet, welche Option unter den gegebenen Umständen die praktikablere ist.«

»Hallo? Hört mir jemand zu? Ich sagte, daß ich nicht gehen werde!«

»Wir haben eine Spur zu Skye. Alle Esper im Untergrund besitzen einen telepathischen Signalgeber, der tief in ihrem Unterbewußtsein versteckt ist. Das Imperium hat ihn noch nicht zum Schweigen gebracht, so daß wir Skyes genauen Aufenthaltsort kennen. Was bedeutet, daß wir Euch direkt in seine Zelle teleportieren werden.«

»Also schön«, sagte Finlay. »Ich bin interessiert. Wo liegt der Haken?«

»Das Imperium muß von Skyes Signalgeber wissen. Sie haben bereits früher genug Esper gefangengenommen und ihre Signale recht zuverlässig zum Schweigen gebracht. Wenn man Skye nicht blockiert hat, kann das nur bedeuten, daß er die Rolle des Köders in einer Falle spielt. Das Imperium weiß, wie sehr wir auf Skyes Schweigen angewiesen sind. Sie erwarten eine kleine Armee. Sie werden nicht einen einzelnen Mann wie Euch erwarten. Jedoch müssen wir der Fairneß halber zugeben, daß wir Euch zwar hineinteleportieren können, aber mit ziemlicher Sicherheit nicht wieder heraus. Das Imperium wird ganz ohne Zweifel Maßnahmen ergriffen haben, um das zu verhindern.«

»Verstehe ich Euch richtig?« erwiderte Finlay. »Ihr wollt mich mitten im Hochsicherheitsbereich von Golgatha absetzen, umgeben von zahllosen bewaffneten Sicherheitskräften, und ich soll Skye befreien und mir den Weg nach draußen erkämpfen?«

»Richtig«, gestand Mister Perfekt. »Ein Spaziergang im Park.

Wir haben vollstes Vertrauen in Eure Fähigkeiten, Finlay Feldglöck. Vielleicht erwarten sie gar nicht, daß ein einzelner Mann in eine so offensichtliche Falle marschiert. Ganz allein und ohne Unterstützung. Ihr solltet ihnen eine ziemliche Überraschung bereiten.«

»Ich kann mir nicht helfen«, entgegnete Finlay, »aber ich denke, ›solltet‹ trifft den Nagel auf den Kopf. Ich habe Euch bereits gesagt, daß ich keine Selbstmordaufträge akzeptiere.

Und bisher habe ich nichts gehört, das auch nur entfernt dazu beitragen könnte, meine Meinung zu ändern.«

»Genau aus diesem Grund wollten sie, daß ich herkomme«, sagte Evangeline. Sie schritt langsam aus der Menge auf Finlay zu, während ihre Augen unverwandt in die seinen blickten. Sie streckte die Arme nach ihm aus, doch er unterbrach sie mit erhobener Hand.

»Nein. Ich bin dreckig, verschwitzt und voller Blut. Du machst dir deine Kleider schmutzig.«

Evangeline musterte Finlay von oben bis unten und hatte Mühe, beim Anblick seiner zahlreichen Wunden nicht zusammenzuzucken. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Noch mehr Blut. Noch mehr Schmerzen und Leid, und alles wegen mir.

Ich habe immer gewußt, daß du das alles nur für mich tust. Du hast nie einen Dreck auf die Rebellion oder den Untergrund gegeben, nicht wahr?«

»Ich mußte etwas tun, um mich hier unten zu beschäftigen«, antwortete Finlay unbehaglich. »Und es ist mir nicht egal, was geschieht. Auf meine Weise. Ich habe nicht vergessen, was ich in Silo Neun gesehen habe, in der verdammten Hölle des Wurmwächters. Ich werde nicht zulassen, daß dieser Terror weitergeht. Ich habe einen Eid auf mein Leben geschworen, auf mein Blut und meine Ehre, gegen das System zu kämpfen, das die Verantwortung für Einrichtungen wie Silo Neun trägt.

Der Untergrund bildet für mich die beste Basis dazu. Aber ich werde diese Mission trotzdem nicht annehmen, Evangeline.

Auch nicht für dich. Ich kenne meine Grenzen.«

»Genau wie ich. Du hast vollkommen recht. Wahrscheinlich wirst du sterben. Aber wir brauchen dich für diese Mission. Ich komme mit dir, wenn du willst. Ich werde an deiner Seite kämpfen und sterben.«

»Nein! Auf gar keinen Fall! Ich hätte dich in Silo Neun beinahe verloren. Das darf nie wieder geschehen. Ich muß wissen, daß du in Sicherheit bist. Ich würde nicht ohne dich leben wollen. Ist dieser verdammte Bastard von Skye wirklich so wichtig?«

»Wenn er redet, muß der Untergrund sich erneut in alle Winde zerstreuen. Tausende von Espern und Klonen würden wieder einmal ihre Gefangennahme oder den Tod riskieren. Es könnte zehn oder zwanzig Jahre dauern, bis wir wieder organisiert wären, und das ist noch optimistisch geschätzt. Vielleicht überlebt der Untergrund überhaupt nicht. Mit Sicherheit wird die Rebellion einen schweren Schlag erleiden. Das Ironische daran ist der Zeitpunkt. Die Dinge entwickeln sich endlich zu unseren Gunsten, Finlay. Die neue Gruppe von Rebellen mit Jakob Ohnesorg als Anführer könnte der letzte Funke sein, der uns noch gefehlt hat, um das ganze verdammte Imperium in die Luft zu jagen.«

»Was soll ich tun, Evie?«

»Ich möchte das gleiche wie du, Liebster. Ich möchte, daß wir hier in Sicherheit zusammenleben können. Aber was wir möchten, ist nicht länger von Bedeutung. Wenn Skye redet, wird man uns das wenige, was wir haben, auch noch nehmen.

Du mußt gehen, Finlay. Du bist der einzige, der auch nur die Spur einer Chance hat, diese Sache zu erledigen und lebend davonzukommen.«

»Und wenn nicht? Wenn ich getötet werde?«

»Dann wird ein Teil von mir mit dir sterben«, antwortete Evangeline und blickte Finlay fest in die Augen. »Ich weiß, was ich von dir verlange, Finlay. Es zerreißt mich innerlich, glaube mir. Aber…«

»Aber du bittest mich trotzdem.«

»Ja. Ich kenne meine Pflicht gegenüber allen Espern und Klonen, die Tag für Tag als Unpersonen unter dem Imperium leiden oder denen, die in Silo Neun gelitten haben.«

Finlay lächelte schwach. »Du hast immer mit schmutzigen Tricks gekämpft.«

»Ich liebe dich, Finlay. Wenn du nein sagst, wird das nichts daran ändern.«

»Ich liebe dich, Evie. Obwohl du so viel von mir verlangst.«

Finlay und Evangeline blickten sich lange Zeit an, und ihre Liebe war so stark, daß sie die gesamte Kammer auszufüllen schien. Die Menge sah atemlos und schweigend zu. Schließlich räusperte sich Adrienne und trat vor.

»Mach es nicht, Finlay. Du müßtest verrückt sein, um so einen Auftrag anzunehmen. Alle haben mir erzählt, welch ein großartiger Kämpfer du bist, aber kein Mensch auf der ganzen Welt kann sich einer solchen Übermacht stellen und lebend zurückkommen.«

Finlay grinste seine Frau kalt an. »Du hast nie an mich geglaubt, Adrienne.«

»Darum geht es nicht. Sollen sie jemand anderen finden. Es gibt immer jemand anderen.«

»Dazu ist nicht genügend Zeit«, entgegnete Finlay. »Hast du nicht zugehört?«

»Verdammt, hör endlich auf, gegen mich zu kämpfen! Ich mache mir Sorgen um dich!«

»Ehrlich? Woher plötzlich dieser Sinneswandel?«

»Ich will verdammt sein, wenn ich das wüßte! Ich weiß nicht einmal, was ich hier zu suchen habe. Aber Evangeline und ich, wir sind uns in letzter Zeit zu unser beider Überraschung ein ganzes Stück nähergekommen, und da sie ganz eindeutig weder dumm noch leicht zu beeindrucken ist, muß ich ihr wohl glauben, wenn sie sagt, daß du ein Held und Kämpfer bist. Du bist ein so guter Schauspieler, daß du auf einer Bühne stehen solltest, mein Lieber. Trotzdem. Über diesem Auftrag steht in großen Buchstaben ›Selbstmord‹ geschrieben. Du könntest genausogut ohne Waffen und mit einer Hand auf den Rücken gefesselt in die Arena marschieren! Geh nicht, Finlay! Ich will nicht, daß du stirbst, bevor ich eine Gelegenheit habe, dich wirklich kennenzulernen. Sag ihnen, sie sollen sich ihren Auftrag sonstwohin stecken. Es findet sich immer ein anderer Weg, wenn man sorgfältig genug danach sucht.«

»Du denkst, ich kann es nicht schaffen, was?« entgegnete Finlay. »Nun, du irrst dich, Addie. Ich kann hineinspringen, mir den Bastard schnappen und wieder verschwinden, bevor die Wachen auch nur wissen, wie ihnen geschieht. Ich bin ein Kämpfer, Adrienne, und zwar der verdammt beste Kämpfer, den du jemals gesehen hast.«

»Du willst nicht auf mich hören«, sagte Adrienne. »Aber das hast du ja nie getan. Rede du mit ihm, Evangeline!«

»Aber ich will, daß er geht«, erklärte Evangeline. »Bitte, Finlay! Tu es für mich. Ich will nicht in einem Gefängnis wie Silo Neun enden.«

»So weit wird es nicht kommen«, erwiderte Finlay. »Ich würde niemals zulassen, daß sie dich mitnehmen.«

»Selbst du wärst nicht imstande, mich vor den Kräften zu schützen, die Julian Skye in Bewegung setzen kann. Ich würde lieber sterben, als in Gefangenschaft zu geraten.«

»Ich würde eher jeden verdammten Soldaten und jede verdammte Wache im gesamten Imperium töten, bevor ich zulasse, daß dir etwas geschieht«, sagte Finlay. »Also schön, ich werde gehen. Aber wenn ich durch irgendein Wunder lebendig und halbwegs gesund aus diesem Schlamassel zurückkehre, habe ich einen Wunsch frei.« Er funkelte die Anführer der Esper an. »Habt Ihr das gehört, Ihr Bastarde?«

»Wir sind nicht überrascht«, sagte das Mandala und pulsierte gelassen. »Wie lautet dein Wunsch?«

»Ich will Valentin«, antwortete Finlay. Er grinste breit, doch in seinem Lächeln war keine Spur von Humor. »Ich will seinen Kopf auf einem Pfahl.«

Valentin Wolf war einst ein glühender Förderer des Untergrunds gewesen. Er hatte finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt und seinen Einfluß geltend gemacht, wo er nur konnte, ohne sich selbst zu kompromittieren. Aber dann hatte er eine überraschende und in höchstem Maße erfolgreiche Vendetta gegen den Clan der Feldglöcks inszeniert und war zum Oberhaupt seines eigenen Clans avanciert, als sein Vater beim Überfall auf den Feldglöck-Turm fiel. Als der neue Wolf hatte Valentin Zugang zu unbeschreiblichem Reichtum und Macht.

Seither hatte er scheinbar jegliches Interesse am Untergrund und der Rebellion verloren. Der Wolf erschien nicht länger zu den Treffen und ignorierte alle Versuche, mit ihm in Kontakt zu treten. Also hatte der Untergrund sich von ihm zurückgezogen. Valentin konnte ihnen allen eine Menge Schaden zufügen, wenn er wollte. Er kannte Namen und Gesichter, Pläne und Treffpunkte. Ein paar Vertreter der harten Linie, vor allem unter den Elfen, wollten seinen Tod, allein als Vorsichtsmaßnahme. Bisher hatten die Anführer nein gesagt. Valentin hatte geschwiegen, und niemand wollte andere Aristokraten alarmieren oder verärgern, die mit dem Untergrund zusammenarbeiteten.

Es wäre zumindest ein schlechter Präzedenzfall gewesen.

Obendrein war Valentin als der Wolf hervorragend abgeschirmt. Ein erfolgloser Mordversuch durch den Untergrund mochte sehr wohl genau die Enthüllungen nach sich ziehen, die alle so verzweifelt zu verhindern suchten.

Andererseits: Wenn sie Finlay auf Valentin losließen und er ihn zu töten versuchte, konnte man es als persönlichen Racheakt hinstellen. Nichts weiter als ein Feldglöck und ein Wolf, die es unter sich auskämpften. Es war ein verlockender Gedanke. Solange Valentin am Leben war, hingen die Informationen in seinem Kopf als Drohung über dem gesamten Untergrund.

Sein Wissen war zwar nicht so gefährlich wie das von Julian Skye, aber er konnte eine Menge Schaden anrichten, wenn er wollte. Außerdem stand die Frage im Raum, wieviel Einfluß der Hohe Lord Dram über Valentin besaß. Auch Dram war eine wichtige Figur im Untergrund gewesen, unter dem Decknamen Huth, doch er hatte die Esper und Klone während des Angriffs auf Silo Neun verraten und in eine Falle gelockt. Er war unmittelbar verantwortlich für die darauffolgenden Säuberungsaktionen und das Zersprengen der Organisation, wodurch Julian Skye überhaupt erst auf den Plan gerufen worden war.

Bisher hatte Dram noch keinen Versuch unternommen, mit Valentin Wolf in Kontakt zu treten oder ihn zu kontrollieren, aber die mögliche Bedrohung durch eine Erpressung war nicht von der Hand zu weisen.

Finlay wußte, daß in den Köpfen der Anführer diese und ähnliche Gedanken herumspukten. Dazu mußte er kein Telepath sein. Außerdem hatte Finlay schon oft mit ihnen über dieses Thema gesprochen. Sie hatten stets nein gesagt. Aber diesmal lagen die Dinge anders.

»Also schön«, sagte der Drache und wickelte sich fester um seinen Baum. Er fixierte Finlay mit seinen goldenen Augen und fuhr fort: »In dem unwahrscheinlichen Fall, daß Ihr erfolgreich und lebend von dieser Mission zurückkehrt, mögt Ihr Eure Vendetta gegen Valentin Wolf durchführen. Der Untergrund wird Euch weder behindern noch unterstützen, und Ihr werdet alle Konsequenzen alleine tragen. Wir werden Euch verleugnen und ausstoßen, wenn es sein muß – aber das ist wohl selbstverständlich.«

»Einverstanden«, erwiderte Finlay. »Ich wußte immer, woran ich bei Euch war.«

»Laßt uns über die bevorstehende Mission sprechen«, meldete sich das Mandala zu Wort. »Eure Aufgabe besteht darin, Julian Skye entweder zu befreien oder ihn zum Schweigen zu bringen, je nachdem, was Ihr aufgrund der Situation für das Beste haltet. Er darf unter gar keinen Umständen reden. Sobald wir Euch in sein Gefängnis teleportiert haben, seid Ihr auf Euch allein gestellt. Wir können Euch nicht unterstützen. Wir können Euch lediglich ein wenig im voraus helfen.«

Einer der Elfen trat vor und reichte Finlay ein kleines, flaches Kästchen. Das Gehäuse bestand aus blankem Stahl, und auf der Oberseite befand sich ein einzelner Knopf in dramatischem Rot. Finlay wog den Gegenstand nachdenklich in der Hand. Er hatte so etwas noch nie zuvor gesehen, doch er wußte, was es war, was es sein mußte. Eine Gedankenbombe. Eine Terrorwaffe, die im gesamten Imperium geächtet und verboten war.

Nach ihrer Aktivierung griff sie das Bewußtsein jedes Nicht-Espers an, verstümmelte die Gedanken und sorgte für vollständige Verwirrung ihrer Opfer. Halluzinationen und Wahnsinn waren die Folge und schließlich Katatonie. Es war eine bösartige Waffe, ein letztes Mittel der wirklich Verzweifelten, und sie ließ keine Gefangenen zu. Gedankenbomben waren äußerst selten, genau wie ESP-Blocker, und basierten auf dem Hirngewebe eines lebenden Espers. Es war undenkbar für die Anführer des Untergrunds, den Besitz einer derartigen Waffe zuzugeben, ganz zu schweigen davon, sie Finlay auszuhändigen.

Sie mußten fest davon überzeugt sein, daß er nicht zurückkehren und darüber reden würde. Finlay ertappte sich bei der Überlegung, ob das Hirngewebe von einem Freiwilligen stammte und noch immer auf irgendeine Art bewußt war oder dachte. Er unterdrückte ein Schaudern und schob das Kästchen in eine Tasche. Finlay nickte den Elfen respektvoll zu und salutierte den Anführern, womit er das Ende der Anhörung andeutete, soweit es ihn betraf. Dann nahm er Evangeline beim Arm und führte sie zur Seite. Adrienne folgte ihnen. Die Illusionen der Esper-Anführer lösten sich auf wie platzende Seifenblasen, und die Menge begann sich aufzulösen, während die Leute erregt diskutierten. Finlay hatte ihnen genug Material geliefert,

um sie für Wochen mit neuem Klatsch zu beschäftigen.

Finlay wußte, was die Anführer des Untergrunds von ihm erwarteten. Er sollte Skye töten. Sie waren überzeugt, daß er nicht zu Subtilitäten imstande war. Wahrscheinlich dachten sie auch, er würde Skye allein schon deswegen töten, um anschließend leichter aus dem Verhörzentrum fliehen zu können. Sie täuschten sich in beidem. Finlay war fest entschlossen, Skye lebendig zurückzubringen. Zum Teil, weil er so viele Gefangene aus Silo Neun nicht hatte retten können und sich geschworen hatte, nie wieder zu versagen, und zum Teil, um den verdammten Espern zu beweisen, daß sie sich in ihm getäuscht hatten. Finlay war mehr als eine einfache Mordmaschine, mehr als eine Waffe, die die Anführer nach Gutdünken auf ihre Feinde abfeuern konnten – trotz allem, was ihm widerfahren war. Er mußte es sein, um Evangelines willen. Finlay lächelte seine Geliebte an und nickte Adrienne steif zu.

»Ich hätte nie gedacht, euch beide ohne Waffen in den Händen an ein und demselben Ort zu sehen. Wie zur Hölle, ist es dazu gekommen?«

»Die Umstände bringen die seltsamsten Leute zusammen«, antwortete Adrienne. »Das habe ich schon immer gesagt.«

»Darauf könnte ich wetten«, entgegnete Finlay.

»Du mußt diese Mission nicht übernehmen«, sagte Evangeline. »Ich habe zwar viele Gründe dafür genannt, aber ich will nicht, daß du stirbst.«

»Ich muß diese Mission übernehmen«, widersprach Finlay.

»Und zwar nicht allein aus den offensichtlichen Gründen. Du hast nie verstanden, warum ich in der Arena gekämpft habe.

Ich brauche den Nervenkitzel, das Rauschen des Blutes, das Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen Leben und Tod.

Und jetzt, wo mein altes Leben in Trümmern liegt, brauche ich den Nervenkitzel sogar noch mehr als früher. Ich habe sonst nichts mehr, womit ich mich beschäftigen könnte.«

»Du hast immerhin mich«, sagte Evangeline.

»Wir sehen uns in letzter Zeit kaum noch«, entgegnete Finlay. »Ich konnte die Arena vergessen, wenn ich bei dir war, all das Blut und das Töten. Aber jetzt trägst du Verantwortung in der Welt oben, und dir bleibt nur noch wenig Zeit, die du mit mir verbringen kannst. Du mußt verstehen, was mich antreibt, Evie. Meine Motive sind nicht besonders ehrenhaft oder geschmackvoll, aber so bin ich. Ich muß töten, immer und immer wieder, wie ein Raubtier in einer Welt voller Beute. Nichts ist geschehen, das daran etwas geändert hätte. Der einzige Unterschied zu früher ist der, daß das Leben, welches ich jetzt führe, alles dichter an die Oberfläche gebracht hat.«

»Die Welt oben ist mir egal«, sagte Evangeline. »Und meine Verantwortung kann sich meinetwegen zur Hölle scheren. Mir wird das alles langsam zuviel. Mir brummt der Schädel, und ich kann nicht mehr sehen, was wirklich von Bedeutung ist. Ich werde für immer nach hier unten kommen, wenn es das ist, wonach du dich sehnst. Egal, was der Untergrund von mir will.

Am Ende geht es nur um uns beide und das, was wir einander bedeuten. Alles andere ist nur dummes Zeug.«

Finlay schloß Evangeline in die Arme und küßte sie, und ihre Leidenschaft erhitzte die Luft. Adrienne beobachtete die beiden nachdenklich. Es war ein Tag voller Überraschungen gewesen.

Dieser Finlay war ein Mann, den sie vorher nur flüchtig bemerkt hatte, im verwirrenden Aufblitzen versteckter Charakterzüge, die sie geängstigt und nervös gemacht hatten. Der Gedanke, daß sie sich so gründlich in jemandem geirrt hatte, der ihr so nahestand, gefiel ihr nicht im geringsten. Der hübsche Stutzer Finlay in seinen modischen, geschmackvollen Kleidern, ein verrückter Killer aus der Arena… und Evangeline, eine kleine stille Maus, die bei Hofe nie sonderlich aufgefallen war, voller heimlicher Alpträume und mit einem Mut, den Adrienne nur bewundern konnte. Beide waren inzwischen von den Geschehnissen der jüngsten Vergangenheit gezeichnet, doch Adrienne mochte sowohl Finlay als auch Evangeline weitaus mehr als früher. Sie hatte schon immer eine Schwäche für Menschen unter starkem Druck gehabt. Finlay und Evangeline hatten zu lange in verschiedenen Welten gelebt, und sie besaßen keinerlei Gemeinsamkeiten bis auf ihre Liebe – doch am Ende war das alles, was zählte. Diese Liebe war stark und wahrhaft genug, um die beiden zusammenzuhalten. Adrienne konnte es spüren. Sie hätte blind sein müssen, um es nicht zu erkennen.

Zum ersten Mal wußte Adrienne nicht, was sie tun sollte.

Finlay mußte vollkommen verrückt sein, wenn er wirklich diese Mission akzeptierte, aber alles deutete darauf hin, daß er bereits in Aufbruchstimmung war. Nichts, was Adrienne sagte oder tat, konnte seinen Entschluß noch ändern. Es war eine vollkommen neue Erfahrung für sie. Adrienne war in ihrem gesamten Leben noch nie mit einer Situation konfrontiert worden, in der all ihre Arroganz und ihre Meisterschaft im Umgang mit Worten nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt hätten. Sie verließ sich seit so langer Zeit auf ihre ätzende Zunge, um ihre Ziele zu erreichen, daß ihr einfach keine Alternative einfallen wollte. Adrienne wollte diesen neuen, interessanten Finlay nicht verlieren, jetzt, da sie ihn endlich gefunden hatte.

Es überraschte sie festzustellen, wieviel ihr das bedeutete.

Finlay und Evangeline legten endlich eine Pause ein, um Atem zu holen, und Adrienne hüstelte bedeutungsvoll. Es war ein gutes Hüsteln, und an manchen Tagen konnte sie einen gefüllten Saal damit zum Schweigen bringen. Die beiden Liebenden wandten sich zu ihr um, ohne die Hände voneinander zu lassen.

»Bevor du etwas sagst«, sagte Evangeline zu Finlay, »Adrienne und ich sind Freundinnen geworden. Sie gab mir die Kraft, etwas sehr Unangenehmes, aber trotzdem Notwendiges zu tun, das ich bereits viel zu lange vor mir hergeschoben hatte.

Und nein, ich werde dir nicht verraten, was es war. Es genügt vollauf, wenn du weißt, daß ich dank ihrer Unterstützung in Zukunft mehr Zeit hier unten bei dir verbringen kann.«

»Danke dafür, Adrienne«, sagte Finlay.

»Keine Ursache, mein Lieber«, entgegnete Adrienne. Mann und Frau blickten sich lange in die Augen, doch beide besaßen genug Gespür, um es dabei zu belassen.

»Schön. Wie lauten deine Pläne, Addie? Wirst du dich der Rebellion anschließen?«

»Vielleicht«, erwiderte Adrienne. »Oben ist es jedenfalls ziemlich ungemütlich für mich geworden. Ich könnte ein neues Ziel und ein wenig mehr Sicherheit gebrauchen. Sag mir, Finlay: Bist du wirklich ein Arenakämpfer gewesen?«

»Er war der Maskierte Gladiator«, antwortete Evangeline für ihn, und beide lachten, als sie Adriennes Gesichtsausdruck bemerkten. Aber sie fing sich rasch wieder und brachte es sogar fertig, in das Lachen einzustimmen.

»Wer weiß«, sagte sie schließlich. »Vielleicht bringe ich Löwenstein ja dazu, Reformen durchzuführen, wenn ich mich genügend anstrenge.«

»Wenn jemand dazu imstande ist, dann du«, stimmte Finlay seiner Frau zu.

Finlay teleportierte mit dem Schwert in der Hand und grimmiger Entschlossenheit im Herzen in das Verhörzentrum. Er kam in einem düsteren Korridor heraus und sah sich einem halben Dutzend ziemlich überrascht dreinblickender Wachen gegenüber. Sie hielten ebenfalls ihre Schwerter in der Hand, doch es half ihnen nichts. Finlay stürzte sich auf sie, und bluterstickte Schreie erfüllten den Gang. Es dauerte weniger als eine Minute, bis der Kampf vorüber war. Finlay verharrte abwartend und lauschte, ob Verstärkungen im Anmarsch waren.

Zehn Sekunden vergingen, und niemand kam, um nachzusehen. Das Geräusch des einseitigen Gemetzels war anscheinend nicht weit gedrungen. Finlay schniefte geringschätzig und wischte sein Schwert ab. Das war zu leicht gewesen. Alles Amateure. Überhaupt keine Herausforderung. Wenn das die Vorstellung des Imperiums von einer Falle war, würde die Mission zu einem Spaziergang werden. Dann bemerkte Finlay die auf ihn gerichteten Kameras in der Decke und beschloß, daß es an der Zeit war, sich in Bewegung zu setzen. Wenn man bedachte, was die Kameras soeben beobachtet hatten, war mit Sicherheit eine große Anzahl gut bewaffneter Sicherheitsleute zusammen mit Wachhunden nach hier unterwegs. Finlay hatte Hunde noch nie gemocht.

Finlay blickte den Korridor hinauf und hinunter, und er verfluchte sich dafür, daß er vergessen hatte, eine Karte mitzunehmen. Die Wände bestanden aus nacktem, blankem Stahl, ohne jedes Hinweiszeichen. In regelmäßigen Abständen führten schmale Türen in Verhörzellen. Solide Stahltüren mit elektronisch gesicherten Schlössern. Zu den Seiten herrschte tiefe, undurchdringliche Finsternis, und in der Luft lag der unverkennbare Geruch von Desinfektionsmitteln, ohne den durchdringenden Gestank anderer, ekelhafterer Dinge ganz zu überdecken. Irgendwo hier befand sich Julian Skye, doch wo genau, das wußte niemand. Der Untergrund hatte sich richtige Mühe gegeben, Finlay nicht direkt neben das Signal Skyes zu teleportieren. Niemand hatte es für eine gute Idee gehalten, am wenigsten Finlay selbst, wenn er direkt in einer verschlossenen Zelle herausgekommen wäre, wo alles mögliche ihn erwarten konnte. Also hatten sie den am nächsten gelegenen freien Raum lokalisiert und ihn dort abgesetzt. Finlay blickte sich unsicher um, hob das Schwert, und weil ihm nichts Besseres einfiel, trat er zur nächstgelegenen Tür. Ein kleiner Bildschirm saß in dem massiven Stahl. Finlay aktivierte ihn, und auf dem Schirm erschien das Innere der Zelle.

Ein Mann lag mit ausgebreiteten Armen und Beinen auf einem Metallgestell. Er war von einem Fachmann gehäutet worden. Kein einziger Quadratzentimeter seiner Haut war geblieben, und trotzdem lebte er noch. Er bewegte sich zuckend und kämpfte gegen unsichtbare Fesseln. Rohes Muskelfleisch glänzte feucht, und nackte Augen quollen aus lidlosen Höhlen.

Der Mann blutete stark. Die Flüssigkeit wurde in Rinnen aufgefangen, die in das Metall eingelassen waren, und von dort in einen Eimer geleitet. Neues Blut kam aus einem intravenösen Tropf und verschwand in einer pulsierenden Ader. Finlay deaktivierte den Schirm und lehnte die Stirn gegen das kalte Metall der Zellentür.

Er konnte nichts unternehmen. Er konnte unmöglich alle zur gleichen Zeit retten. Dazu war keine Zeit. Finlay mußte Skye finden, bevor er irgend etwas Wichtiges verraten konnte. Finlay atmete tief ein und aus. Zur Hölle mit diesen Bastarden und zur Hölle mit dem gesamten Imperium! Er wollte verdammt sein, wenn er zuließ, daß derartige Obszönitäten ungestraft weitergingen. Finlay benutzte den Störmechanismus, den man ihm mitgegeben hatte, und öffnete die Verriegelung der Zellentür. Leise schwang sie auf, und Finlay schlüpfte hinein. Der Mann auf dem Tisch zuckte in Erwartung neuer Qualen winselnd zusammen. Finlay beugte sich über ihn und gab leise, beruhigende Worte von sich. Der Gefangene verstummte. Erst da bemerkte Finlay, daß der Gefolterte mit Hilfe von Stahlnägeln, die man ihm durch Arme und Beine getrieben hatte, förmlich an den Tisch genagelt worden war. Es gab Dutzende davon. Finlay hatte keine Möglichkeit, sie zu entfernen, außer einen nach dem anderen herauszuhebeln, und allein der Schock hätte das Leben des armen Schweins mit Sicherheit beendet.

Dennoch konnte Finlay den Mann nicht einfach so weiterleiden lassen. Finlay stand einen Augenblick still. Sein Verstand raste, als er nach Alternativen suchte, doch am Ende lief es immer wieder auf das gleiche hinaus. Er konnte nichts mehr für den Mann tun. Finlay lächelte den nackten, hoffnungsvollen Augen beruhigend zu und schob die Spitze seines Schwertes durch das freiliegende, schlagende Herz. Ein kurzes Aufspritzen von Blut, und der gehäutete Mann zuckte ein letztes Mal, bevor er die Augen verdrehte und zu atmen aufhörte. Finlay trat voller Frustration gegen den Tisch und verließ die Zelle.

Er stapfte durch den Korridor, öffnete eine Tür nach der anderen, befreite die Gefangenen, die er befreien konnte, und tötete den Rest. Einige von ihnen bettelten sogar darum, daß er sie endlich erlöste. Die Überlebenden strömten in den Korridor hinaus, drängten sich um ihn und versuchten mit Stimmen, die heiser vom Schreien waren, ihren Dank auszudrücken. Finlay bewaffnete einige der weniger stark Verletzten mit Waffen, die er den getöteten Wachen abgenommen hatte, und bedeutete ihnen, sich auf eigene Faust durchzuschlagen. Jedenfalls wollte er das.

Doch das Geräusch trampelnder Stiefel unterbrach ihn. Eine ganze Kompanie von Wachen bog um die Ecke am anderen Ende des Korridors. Als sie ihn sahen, stürmten sie vor. Finlay lächelte. Das war schon eher eine Aufgabe. Dann ertönte weiteres Stiefeltrampeln, und hinter ihm bog eine weitere Kompanie um die Ecke. Die befreiten Gefangenen drängten sich um Finlay zusammen. Er seufzte bedauernd. Es wäre ein interessanter Kampf geworden, aber er kannte seine Grenzen. Außerdem mußte er auf die Gefangenen Rücksicht nehmen. Finlay zog die Gedankenbombe aus der Tasche und drückte auf den großen roten Knopf.

Die Wachen vor und hinter ihm kamen stolpernd zum Stehen, rissen die Hände an die Köpfe und begannen zu schreien.

Von einem Augenblick zum anderen verwandelten sie sich von einer organisierten Truppe in einen von Panik erfüllten Mob, als die Bombe ihre Gedanken fragmentierte und ihr Bewußtsein erlosch. Finlay und die befreiten Gefangenen sahen beeindruckt zu. Die unmittelbare Nähe der Bombe schützte sie. Finlay drückte erneut den Knopf, schaltete das Ding ab, und die ehemaligen Gefangenen stürzten sich auf das, was von den Wachen übriggeblieben war. Lang ersehnte Rache wurde vollzogen, und Blut bespritzte die schimmernden Stahlwände, während Finlay sich erneut seiner Aufgabe zuwandte, Türen

öffnete und Gefangene befreite, bis er schließlich die Zelle erreichte, in der Julian Skye festgehalten wurde. Der Schock dessen, was er sah, war so groß, daß Finlay wie angewurzelt im Eingang stehenblieb.

Der junge Esper lag auf einem weiteren der verdammten Stahltische, festgehalten von starken Bändern. Die Rückseite seines Schädels war rasiert und ein Teil der Schädeldecke entfernt worden. Dutzende bunter Drähte verschwanden in seinem offenliegenden Gehirn und führten von dort zu einer häßlichen Maschine neben dem Tisch. Zwei Hirntechs in ihren vertrauten weißen Kitteln blickten von ihrer Arbeit auf und lächelten Finlay freundlich zu, der noch immer zögernd in der Tür stand.

Beide trugen Disruptoren in Halftern an der Hüfte, aber keiner machte Anstalten, seine Waffe zu ziehen. Langsam trat Finlay in die Zelle. Er ignorierte das wachsende Geschrei und Chaos draußen auf dem Gang. In dem Raum befanden sich keine Wachen, keine offensichtlichen Sicherheitseinrichtungen, keine Fallen, nichts bis auf den Gefangenen und seine beiden Folterer. Die Hirntechs blickten auf das Blut, das von Finlays Schwert tropfte, und grinsten sich an. Sie waren beide schlanke, großgewachsene Männer mit bleichen, asketischen Gesichtszügen wie Mönche, und der eine war deutlich älter als der andere. Der Ältere blickte zu Finlay und grinste erneut.

»Willkommen, mein lieber Freund. Wir haben Euch bereits erwartet. Oder jemanden wie Euch. Ich fürchte nur, Ihr seid ein wenig zu spät, falls Ihr gekommen seid, um den armen Julian zu retten. Jeder Versuch, ihn zu bewegen, würde ihn ganz ohne Zweifel umbringen. Wir benutzen einen ESP-Blocker, um sein Talent unter Kontrolle zu halten. Er schützt uns auch vor den Auswirkungen Eurer Gedankenbombe. Ein häßliches kleines Gerät, sehr wirkungsvoll, wie ich gestehen muß. Ihr könnt Euer Schwert ruhig einstecken. Ich muß nur die Kontrollen betätigen, die Ihr hier vor mir seht, und der arme Julian wird Schmerzen erleiden, die weit über alles hinausgehen, was Ihr Euch vorstellen könnt. Steckt das Schwert ein, bitte. Jetzt.«

Finlay schob das Schwert in die Scheide, die Augen unverrückbar auf Skye gerichtet. »Was habt Ihr mit ihm gemacht?« fragte er schließlich. Seine Stimme klang kalt und rauh und äußerst gefährlich. Der Hirntech lächelte ungerührt.

»Wir dringen in seine Gedanken ein. Vor gar nicht langer Zeit hätten wir eines der kleinen Schoßtierchen des Wurmwächters dazu benutzen können, doch dank Eurer Terroristenfreunde sind wir gezwungen, ältere, direktere Methoden anzuwenden. Im Grunde genommen handelt es sich um eine einfache, allerdings äußerst wirkungsvolle Gedankensonde, mit der wir die Gebiete seines Hirns stimulieren, die uns interessieren.

Dieser Draht hier zum Beispiel ist direkt mit dem Schmerzzentrum verbunden. Ratet mal, was uns daran interessiert. Ich kann mir vorstellen, daß er sich ein wenig unbehaglich fühlte, als wir sein Hirn freilegten, aber das Gehirn selbst besitzt keine Schmerzzellen. Es erleichtert unsere Arbeit ungemein, daß wir imstande sind, Schmerz nur dann zu erzeugen, wenn es nötig erscheint. Und der Schmerz, den er dann spürt…

Die anderen Drähte dort führen zu seinem Langzeit- und Kurzzeitgedächtnis. Wir können seine Erinnerungen in jeder erforderlichen Detailstufe auf dem Schirm an der Wand sichtbar machen. Bald haben wir alles, was wir brauchen, ob der Patient es will oder nicht. Die Prozedur ist auf Dauer gesehen leider recht destruktiv, was das Hirngewebe anbetrifft, doch Leben oder Gesundheit dieses speziellen Patienten hier sind nicht mehr von Bedeutung, sobald wir haben, was wir suchen.

Außer natürlich für Euch. Aber die Wachen werden schon bald hier sein und Euch mitnehmen. In der Zwischenzeit möchte ich Euch bitten, von jeder gewalttätigen Intervention abzusehen, oder Ihr hört Euren Freund schreien.«

Draußen auf dem Korridor war es inzwischen sehr still geworden. Finlay runzelte die Stirn. Entweder waren den Gefangenen die Wärter ausgegangen, die sie noch töten konnten, oder die Wachen hatten alles wieder unter Kontrolle. Es gab keinen Weg, das herauszufinden. Finlay hätte die Hirntechs einfach töten sollen, und anschließend Skye. Aber solange eine Chance bestand, den armen Hund lebend aus seinem Gefängnis zu bringen, konnte er ihn nicht umbringen. Finlay benötigte außerdem die Techs, um die Drähte zu entfernen, obwohl er nicht wußte, wie er sie dazu überreden konnte. Töte den einen, und der andere wird sich gemein an Skye rächen. Auf der anderen Seite konnte Finlay nicht untätig herumstehen und sich von den Hirntechs hinhalten lassen; früher oder später würden die Wachen auftauchen und ihn gefangennehmen. Er blickte in Skyes blasses, schwitzendes Gesicht, und die Augen des Espers trafen die seinen. Sein Mund bewegte sich.

»Bitte…«, sagte er kaum hörbar, und Finlay bemerkte, wie sehr Skye sich anstrengte.

»Seht Ihr?« erklärte der Hirntech. »Er versteht den Ernst der Lage.«

»Bitte«, wiederholte Julian Skye. »Tötet mich…«

Die Hirntechs sahen überrascht auf ihr Opfer hinunter. Finlay lachte leise, doch es lag keinerlei Humor in dem Geräusch. »Ihr habt recht, Doktor«, sagte er. »Er versteht seine Situation vollkommen. Mein Auftrag lautet, ihn aus Euren Fängen zu befreien, auf die eine oder andere Weise.«

Finlay zog mit einer fließenden Bewegung den Disruptor und schoß dem Techniker durch den Kopf, der seine Hände an den Kontrollen hatte. Der Jüngere sprang vor. Finlay zog einen Dolch aus dem Ärmel und warf ihn mit geübter Treffsicherheit.

Die Klinge durchbohrte das Auge des Technikers. Der Mann taumelte nach hinten, die Hände vor das Gesicht geschlagen, dann fiel er der Länge nach zu Boden und rührte sich nicht mehr. Finlay nickte, steckte den Disruptor wieder ein und trat vor. Er beugte sich über Skye, und der Esper blickte ihn an, den Versuch eines Lächelns um die Lippen. Sein Gesicht war geschwollen von den erst kürzlich erhaltenen Schlägen, doch sein Blick wirkte klar.

»Ich wußte, daß sie jemanden schicken würden. Ich mußte nur lange genug durchhalten.«

»Was mache ich jetzt?« fragte Finlay. »Ich habe keine Ahnung von diesem Apparat. Gibt es eine Möglichkeit, wie ich diese Drähte entfernen kann?«

»Nein, aber das kann ich jetzt selbst.«

Skye schloß die Augen und konzentrierte sich. Lange Zeit geschah überhaupt nichts, doch dann begann sich einer der bunten Drähte nach dem anderen zu winden und aus dem freiliegenden Hirngewebe zurückzuziehen. Sie fielen auf den Boden und rollten sich zu harmlosen Spiralen zusammen wie tote Schlangen. Als der letzte endlich entfernt war, schien Skye sich so sehr zu entspannen, daß Finlay für einen Augenblick glaubte, der Esper wäre gestorben. Er tastete nach Julians Halsschlagader. Der Puls war stark und regelmäßig. Also begann Finlay, so schnell es ging, die Fesseln zu lösen. Die Wachen mußten längst auf dem Weg nach hier sein. Er half Skye, sich auf dem Tisch aufzurichten, und Blut strömte aus der Hinterkopfwunde des Espers. Finlay zog vorsichtig die Hautlappen über dem freiliegenden Gehirn zusammen und bedeckte die Wunde mit einem sauberen Taschentuch, das er dem Esper um den kahlrasierten Kopf schlang. Plötzlich schlug Skye die Augen wieder auf, als hätte er nur einige Minuten nachgedacht. Er blickte sein Spiegelbild in der Metallwand an und grinste.

»Gute Arbeit. Ich sehe aus wie ein Pirat. Aber das ändert nichts, leider. Es gibt keine Möglichkeit, wie Ihr mich von hier fortschaffen könnt, und ich werde mich nicht wieder lebend gefangennehmen lassen. Also tötet mich.«

»Kommt nicht in Frage«, erwiderte Finlay.

»Erzählt mir nicht, daß das nicht Teil Eures Auftrags war. Ich weiß genau, wie der Untergrund arbeitet.«

»Sterben ist leicht. Jeder kann das. Aber wenn Ihr aufgebt, wenn Ihr lieber sterben wollt, anstatt um Euer Leben und Eure Freiheit zu kämpfen, dann haben die Hirntechs schon gewonnen. Sie haben Euch zerbrochen. Also bleibt am Leben, flieht und seht zu, daß Ihr Rache nehmt an den Bastarden, die für das verantwortlich sind, was man Euch angetan hat. Das ist genau der Grund, aus dem es einen Untergrund und eine Rebellion gibt. Was jetzt? Könnt Ihr einen Weg nach draußen finden, wenn ich Euch aus der Reichweite des ESP-Blockers schaffe?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht.« Julian grinste schwach. »Jedenfalls ist es einen Versuch wert. Sie mußten den ESP-Blocker ziemlich dämpfen, um mein Gehirn nicht zu zerstören, während sie an ihm herumpfuschten. Und die Nähe zu der Gedankenbombe hat den Blocker ziemlich beschädigt. Deswegen war ich auch imstande, die Drähte ohne Hilfe aus meinem Kopf zu entfernen. Wenn Ihr mich ein paar Korridore von hier wegschafft, dann sollten auch meine restlichen Fähigkeiten zurückkehren. Und dann, mein Freund, dann zeige ich Euch, was ein richtiges Feuerwerk ist.«

Finlay grinste. »Ein Mann nach meinem Geschmack. Also gehen wir.«

Finlay Feldglöck half dem jungen Esper vom Tisch und stützte ihn einen Augenblick, bis die Kraft in seine Beine zurückgekehrt war. Er tat zwar sein Bestes, um es zu verbergen, dennoch ängstigte Skyes Zustand Finlay. Die Imperialen Schergen hatten den jungen Esper ganz eindeutig windelweich geschlagen, bevor sie sich seinem Gehirn zugewandt hatten.

Falls es zu einem Kampf oder auch nur zu einer längeren Verfolgung kommen sollte, steckten sie in ziemlichen Schwierigkeiten. Finlay beschloß, erst dann darüber nachzudenken, wenn es unbedingt sein mußte, und trat aus der Zelle auf den Korridor. Skye folgte ihm auf dem Fuß. Überall lagen tote Wachen und Esper, doch alle anderen waren verschwunden. Der Kampf hatte sich tiefer ins Zentrum des verdammten Komplexes verlagert. Finlay fragte sich, wer wohl gewinnen würde. Skye blickte den Korridor entlang und setzte sich, die Führung übernehmend, in Bewegung.

»Der Grundriß dieser Anlagen ist ziemlich standardisiert«, erklärte Skye und stieg vorsichtig über die Leichen. »Vor einer Weile habe ich eine Studie über die Imperialen Verhörzentren angefertigt. Wir planten Rettungsmissionen unter Einsatz von Telepathen und Gedankenbomben. Aber das war, bevor wir uns zerstreuen mußten. Wenn ich mich richtig entsinne, sollten all diese Korridore irgendwann in eine zentrale Rotunde münden. Von dort aus müßte ich in der Lage sein, einen Weg in den Hangar zu finden, wo die Gravschlitten stationiert sind.

Anschließend müssen wir nur noch einige Dutzend Wachen außer Gefecht setzen, zahlreiche Fallen umgehen oder entschärfen, einen Flieger kurzschließen, ohne den Selbstzerstörungsmechanismus auszulösen, und zusehen, daß wir von hier verschwinden, als wäre der Teufel persönlich hinter uns her, bevor sie die ESP-Blocker wieder in Betrieb nehmen und meine Kräfte neutralisieren.«

»Kein Problem«, erwiderte Finlay.

»Wir werden es mit einer Menge Wachen zu tun bekommen.«

»Ich habe noch immer die Gedankenbombe.«

»Spart sie auf. Sie taugt nur zu einem halben Dutzend Ausbrüchen, bevor das Hirngewebe erschöpft ist.«

»Wir schaffen es auch ohne«, entgegnete Finlay. »Ihr habt mich.«

Skye blickte ihn an. »Strotzt Ihr immer so vor Selbstvertrauen?«

»Selbstverständlich. Warum glaubt Ihr, daß der Unter – grund mich für diese Mission ausgewählt hat? Hört endlich auf, Euch Gedanken zu machen. Ihr bekommt nur Magengeschwüre davon. Bleibt einfach bei mir, und ich schaffe Euch von hier fort.«

Zum ersten Mal lachte Skye richtig. »Vielleicht schafft Ihr das wirklich.«

Skye führte Finlay durch einen Korridor nach dem anderen, ohne ein einziges Mal an einer Biegung zu zögern oder in eine Sackgasse zu geraten. Für Finlay sah ein Korridor aus wie der andere, aber er vertraute Skye. Der junge Esper schien sich ein wenig erholt zu haben, und sein Gang war sicherer geworden, obwohl er bestimmt unter starken Kopfschmerzen litt. Julians Augen blickten klar, und auf seinen Wangen hatten sich zwei rote Flecken gebildet. Er sah zwar noch immer aus, als wäre er in einen starken Orkan geraten, aber sein Selbstvertrauen kehrt allmählich zurück. Schließlich kamen die beiden Rebellen um eine Biegung, und Skye blieb auf einmal wie angewurzelt stehen. Er neigte den Kopf leicht zur Seite, als würde er lauschen, und Finlay warf einen raschen Blick in die Runde. Doch der Korridor lag leer und verlassen vor ihnen.

»Redet schon, Mann. Was ist los?«

»Wir stecken in Schwierigkeiten.«

»Das habe ich mir gedacht. Könnt Ihr vielleicht ein wenig deutlicher werden?«

»Als man uns noch in Silo Neun einsperrte, gestattete der Wurmwächter Hirntechs und anderen Wissenschaftlern, Experimente an den Gefangenen durchzuführen. Die meisten Opfer starben. Sie waren die Glücklicheren. Die Überlebenden wurden zu Monstren. Man veränderte ihren Körper und ihr Bewußtsein, und sie waren nicht länger menschlich. Einige von ihnen entkamen während unseres Angriffs auf Silo Neun, doch die. meisten waren zu sicher eingesperrt. Nach dem Tod des Wurmwächters schaffte man die armen Kreaturen hierher, in der Hoffnung, einen neuen Weg zu finden, wie man sie kontrollieren konnte. Die Behörden scheinen wirklich unter allen Umständen unsere Flucht verhindern zu wollen. Sie haben ein ganzes Dutzend dieser Monster in die Korridore gelassen. Sie sind halb wahnsinnig vor Wut und Schmerz, und sie werden alles angreifen, was sich bewegt. Und sie sind auf dem Weg nach hier.«

Finlay blickte sich erneut um, doch noch immer schien alles ruhig. Im Augenblick jedenfalls. »Was ist mit Eurem ESP?

Könnt Ihr es wieder einsetzen?«

»Zum Teil. Aber selbst ein ausgewachsener psionischer Sturm würde Kreaturen wie diese nicht aufhalten.«

»Seht Ihr eine Möglichkeit, Euch mit dem Untergrund in Verbindung zu setzen, damit man uns hier herausholt?«

»Nein. Die gesamte Umgebung ist durch ESP-Blocker abgeriegelt. Ihr seid nur hereingekommen, weil sie es so wollten.

Wir finden entweder allein einen Weg nach draußen, oder die Bestien werden unsere Überreste aus ihren Backenzähnen pulen.«

Finlay dachte angestrengt nach. »Wie steht es mit Wartungsschächten, Lufteinlässen und dergleichen?«

»Alles sicher verriegelt und bewacht. Vergeßt nicht, wir befinden uns in einem Gefängnis. Macht Euch bereit. Sie kommen.«

Finlay nahm eine Position zwischen Skye und der Richtung ein, in die der junge Esper gedeutet hatte, das Schwert in der einen, den Disruptor in der anderen Hand. Das erste Geräusch sich nähernder Schritte drang an seine Ohren. Es war laut und unregelmäßig. Dann vernahm Finlay ein Brüllen und Heulen, das unmöglich einer menschlichen Kehle entstammen konnte.

Die Geräusche kamen näher, und Finlay hob seinen Disruptor. Dann umrundeten die Monstren die Biegung am Ende des Korridors, und Finlay starrte mit aufgerissenem Mund auf das, was er dort sah. Einige besaßen aufgequollene Gehirne, die ihre Schädeldecken von innen gesprengt hatten. Manche waren über und über mit knochigen Dornen bedeckt, die aus ihrem Fleisch wuchsen, und anderen schien das blasse weiße Fleisch am lebendigen Leib von den Knochen zu faulen. Technologie war in das Gewebe eingearbeitet oder umhüllte es und ersetzte oder verstärkte so zahlreiche Körperfunktionen, daß kaum noch eine Spur von den menschlichen Ursprüngen der Wesen zu erkennen war. Einfach nur Fleisch in metallenen Käfigen. Einige der Monstren machten einen halbwegs menschlichen Eindruck, doch als die Kreaturen an ihnen vorüberkamen, schienen die Wände des Korridors zu verschwimmen – als verböge sich die Realität selbst, um vor dem unkontrollierten ESP zurückzuweichen, das von ihnen ausging. Finlay atmete schwer. Es gab schlechte Chancen, und es gab schlechte Chancen. Das hier war beides. Finlay richtete seine Waffe von einem Ziel auf das nächste, doch auf welche Kreatur er auch schießen mochte – die anderen wären längst über ihm, bevor er einen weiteren Schuß abfeuern konnte. Und zum allerersten Mal spielte es überhaupt keine Rolle, wie gut er als Schwertkämpfer war.

Kalter Stahl konnte gegen ESP rein gar nichts ausrichten. Fragend warf er einen Blick zu Skye.

»Ihr kennt Euch besser in diesen Dingen aus als ich. Gibt es eine Möglichkeit, mit ihnen zu kommunizieren? Ihr seid ein Esper, verdammt! Ihr müßt doch etwas mit ihnen gemeinsam haben!«

»Ich versuche es«, entgegnete Skye. »Aber sie sind keine richtigen Esper. Nicht mehr. Sie haben eine Grenze überschritten.«

Skye tastete mit seinem ESP nach den Kreaturen, aber es war, als würde er in dunkler Nacht in grelle Scheinwerfer blicken. Nur Wut und Raserei, ohne jede Vernunft und ohne Ziel.

Falls sie Gedanken dachten, konnte Skye sie nicht verstehen.

Und so tat er das einzige, was ihm einfiel. Er sammelte die Wut und Raserei in ihren Köpfen und lenkte sie zurück, ließ sie denken, die anderen ringsum wären die Schuldigen an ihren Qualen. Die Monstren kreischten und schrien und fielen übereinander her, rissen und bissen und schlugen, und das weit spritzende Blut war keinesfalls immer rot. ESP prallte auf ESP, bis die Luft zu kochen begann, Funken sprühten, und die stählernen Wände unter der schieren Kraft zerflossen wie schmelzendes Eis. Skye wich langsam zurück, die Hände am Kopf, während er versuchte, den Ansturm abzublocken. Finlay schob den Disruptor fas Halfter und zog den jungen Esper weg von dem Gemetzel weiter vorn im Gang.

»Laßt nicht locker, Skye! Es muß einen anderen Weg nach draußen geben, und wir werden ihn finden!«

Zusammen rannten Finlay und Skye den Korridor hinunter.

Skye faßte sich immer wieder an den Kopf. Er versuchte, etwas zu Finlay zu sagen, doch er brachte kein Wort hervor. Finlay verstand trotzdem. Einige der Monster waren vielleicht Menschen gewesen, die der junge Esper gekannt hatte, bevor sie nach Silo Neun geschafft worden waren. Einige waren vielleicht sogar mit ihm befreundet gewesen. Aber…

Finlay umrundete eine Biegung und blieb wie angewurzelt stehen. Er packte Skye und hielt ihn fest. Eine volle Kompanie Wachen blockierte den Weg ein Stück weiter voraus. Sie hoben gerade ihre Waffen, um das Feuer zu eröffnen. Finlay zog Skye gerade noch rechtzeitig um die Biegung zurück in Deckung.

Ein paar Energieblitze zuckten an ihnen vorbei, doch die meisten Angreifer waren geistesgegenwärtig genug, nicht blindlings zu schießen. Einen Disruptor in einem beengten Raum abzufeuern war nicht ungefährlich. Man konnte nie wissen, ob der Strahl nicht reflektiert und auf einen selbst zurückgeworfen wurde. Finlay zog die Gedankenbombe aus der Tasche, doch Skye legte ihm eine mahnende Hand auf den Arm.

»Keine gute Idee, fürchte ich. Niemand vermag vorauszusagen, was mit den Monstren geschieht, wenn Ihr die Bombe benutzt. Vielleicht gehen sie wieder auf uns los, wenn die Verwirrung endet, die ich ihnen eingepflanzt habe. Und selbst wenn nicht – wollt Ihr allen Ernstes so viele Bewaffnete in so geringer Entfernung in den Wahnsinn treiben?«

»Ein Punkt für Euch«, erwiderte Finlay zögernd. »Monster hinter uns, Wachen vor uns. Verdammt, wenn wir es tun, und verdammt, wenn wir es nicht tun.« Er steckte die Bombe wieder ein. »Wie es aussieht, müssen wir auf die altmodische Tour vorgehen. Macht Euch keine Gedanken. Ich bin der beste Schwertkämpfer, den die Welt je gesehen hat, und jetzt werde ich es beweisen.«

Skye blickte Finlay seltsam an. »Das sind viel zu viele, und alle sind mit Disruptoren ausgerüstet. Einem Disruptor ist es egal, wie gut Ihr als Schwertkämpfer seid.«

»Wenn ich schnell genug mitten unter sie kommen kann, werden sie nicht mehr wagen, ihre Pistolen zu benutzen, weil sie sich gegenseitig treffen könnten. Sicher, die Chancen stehen nicht sonderlich gut, aber wann taten sie das jemals? Wichtig ist nur, daß man kämpft und, wenn es sein muß, kämpfend untergeht. Solange es überhaupt eine Chance gibt, und sei sie auch noch so gering, werden wir weiterkämpfen. Das ist es, was den Untergrund ausmacht, Skye! Und wer weiß, vielleicht haben wir ja Glück?«

»Ihr könntet Euch ergeben«, sagte Skye. »Sie wollen nur mich.«

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, entgegnete Finlay. »Ich habe mir geschworen, daß ich Euch hier heraushole oder bei dem Versuch sterben werde. Und jetzt haltet den Mund, ich muß mich konzentrieren. Es gibt einen Ausweg aus dieser Geschichte. Wenn ich ihn nur sehen könnte. Es gibt immer einen Ausweg.«

»Nein«, widersprach Skye. »Manchmal gibt es keinen Ausweg. Vor uns warten bewaffnete Streitkräfte, und hinter uns lauern Monster. Wir können nirgendwohin. Es war ein guter Versuch, Finlay Feldglöck, aber es ist vorbei.«

»Dann nehmen wir so viele von ihnen mit uns, wie wir können«, erwiderte Finlay. »Solange wir kämpfen, haben sie uns nicht besiegt.«

Skye grinste plötzlich. »Danke, daß Ihr gekommen seid. Ich hätte niemals jemanden wie Euch erwartet. Auf diese Weise sterbe ich wenigstens aufrecht stehend wie ein Mann.«

»Gebt noch nicht auf«, sagte Finlay. »Vielleicht haben wir Glück.«

Und genau in diesem Augenblick stürzte die Decke ein. Der Boden erzitterte und bebte und schien sich unter ihren Füßen aufzubäumen, und die Metallwände zerrissen mit einem kreischenden Geräusch. Die Wachen schrien verwirrt, und überall heulten mit ohrenbetäubendem Lärm Alarmsirenen auf. Skye und Finlay klammerten sich aneinander, um nicht hinzufallen, und Finlay versuchte, den geschwächten Esper mit seinem eigenen Körper abzuschirmen. Ein anhaltendes Rumpeln und Röhren von sich bewegendem, schwerem Metall dröhnte in ihren Köpfen, als das Gebäude unter ihnen immer und immer wieder erzitterte. Die Beleuchtung erlosch, und einen Augenblick lang herrschte vollkommene Dunkelheit, bevor die Notbeleuchtung zum Leben erwachte und ein düsteres rotes Licht verbreitete. In der Ferne erklangen schwere Explosionen, und von überallher waren Schreie und Stöhnen zu hören. Manche davon klangen überhaupt nicht nach einer menschlichen Kehle.

Der Boden wölbte sich langsam weiter nach oben, bevor er endlich zur Ruhe kam und das Poltern erstarb. Plötzlich herrschte vollkommene Stille. Dann wurden Befehle gebellt, und Menschen riefen nach Hilfe, aber alles klang ziemlich weit entfernt. Finlay straffte sich. Er stützte den Esper noch immer mit einem Arm. Ein langer Riß an Finlays Schläfe blutete heftig, doch er ignorierte die Wunde. Das Knistern von Feuer war zu hören, und in der Luft hing mit einemmal ein schwacher Geruch von Rauch.

»Was, zur Hölle, war das?« fragte Skye und starrte mit verschleiertem Blick in die rötliche Finsternis. »Vielleicht ein Erdbeben?«

»Das, mein Lieber, war ein Wunder«, erwiderte Finlay. »Und da Wunder nur selten vorkommen, schlage ich vor, wir machen, daß wir hier herauskommen, als wäre der leibhaftige Teufel hinter uns her…, bevor die Verantwortlichen ihr Vorgehen wieder koordinieren können und wir ein weiteres Wunder benötigen.«

Finlay führte den jungen Esper über den unebenen Flur. Skye hielt sich dicht neben seinem Begleiter. Die Wachen hinter der Biegung waren alle tot. Die Decke hatte sie unter sich begraben. Finlay umrundete vorsichtig die massiven Betonbrocken und vermied die gelegentlich vorspringenden scharfen Kanten zerrissenen Stahls. Einer der Soldaten bewegte sich noch, als die beiden Rebellen vorüberkamen. Finlay blieb gerade lange genug stehen, um die Kehle des Mannes durchzuschneiden.

»War das wirklich notwendig?« fragte Skye.

»Ja«, entgegnete Finlay. »Jetzt kann er niemandem mehr verraten, in welche Richtung wir geflohen sind. Gib dem Feind niemals etwas in die Hand, das er gegen dich verwenden könnte.«

Skye schüttelte bewundernd den Kopf. »Ihr seid ein wahrer Kämpfer, mein Freund. Ich habe jemanden wie Euch seit meinem Bruder Auric nicht mehr gesehen.«

»Was macht Euer Bruder?«

»Nichts mehr. Er starb in der Arena. Niedergemetzelt vom Maskierten Gladiator. Der Teufel soll diesen Schlächter holen!«

Finlay Feldglöck, der einst der Maskierte Gladiator gewesen war, erwiderte nichts. Gemeinsam mit Julian Skye suchte er einen Weg durch die zerstörten Korridore des Verhörzentrums, und niemand versperrte ihnen den Weg, um sie herauszufordern. Als sie eine ganze Weile später durch den Haupteingang ins Freie marschierten und erkannten, was mit der umliegenden Stadt geschehen war, da wußten sie den Grund.

Finlay Feldglöck und Julian Skye bahnten sich einen Weg durch die Ruinen des Raumhafens, ohne von irgend jemandem behelligt zu werden. Die Straßen waren von den Trümmern zerstörter Gebäude blockiert, doch Sicherheitstrupps waren nirgendwo zu sehen. Die Behörden schienen im Augenblick andere Sorgen zu haben. Skye fand eine Möglichkeit, in die größtenteils unbeschädigten Wartungstunnel hinunterzukommen, und von dort aus war der Weg zurück zum Zentrum des Untergrunds relativ einfach. Nur, daß dort jedermann viel zu beschäftigt war, um mit den beiden zu sprechen. Die ehemalige Werkstatt, in der die Versammlungen stattfanden, war ein einziges Chaos, voller Leute, die wild durcheinander liefen, Befehle brüllten und Informationen an Leute weitergaben, die nicht zuhörten.

Finlay packte sich den nächsten Mann und warf ihn gegen die Wand. Er brachte sein Gesicht dicht vor das des anderen und verlangte mit drohender Stimme zu wissen, was vorgefallen war. Sein Opfer starrte ihn ungläubig an.

»Wo, zur Hölle, seid Ihr gewesen? Golgatha wurde von einem Raumschiff einer fremden Rasse angegriffen! Vollkommen unbekannt, überhaupt keine Ähnlichkeit mit irgend etwas, das wir jemals gesehen haben. Es hat den Raumhafen zum größten Teil zerstört, bevor es vertrieben werden konnte.«

Finlay schnitt eine Grimasse. »Was ist mit den Verteidigungseinrichtungen geschehen?«

»Sie sind seit dem Angriff der Rebellen auf die Steuerbehörde noch nicht wieder einsatzfähig. Als das fremde Raumschiff eintraf, war nichts mehr da, um es aufzuhalten. In der Stadt hat es entsetzlich viele Tote und Verwundete gegeben. Die Schäden sind gewaltig. Hier unten haben wir nicht besonders viel abbekommen, aber oben scheint alles vor die Hunde gegangen zu sein, sowohl für das Imperium als auch für uns. Die meisten unserer Agenten an der Oberfläche sind tot. Unsere Kommunikationsverbindungen sind zerstört.«

Der Mann fing an zu stammeln, und Finlay schüttelte ihn heftig, damit er wieder zur Besinnung kam. »Was unternimmt der Untergrund jetzt? Können wir keinen Vorteil aus der Situation ziehen?«

»Das weiß Gott allein. Jeder hat eine andere Idee oder einen Plan, um zu retten, was zu retten ist, oder wenigstens die Schäden so gering wie möglich zu halten, doch keiner hört auf den anderen. Es gibt Dutzende von Plänen. Von Angriffen auf Imperiale Einrichtungen, solange sie noch verwundbar sind, bis hin zu einem Rückzug noch tiefer unter die Oberfläche, um den unweigerlichen Schlag des Imperiums zu vermeiden, wenn die Bevölkerung erst erkennt, daß der Angriff des fremden Raumschiffs nur möglich war, weil die Rebellen die Verteidigungseinrichtungen des Planeten außer Funktion gesetzt haben. Kann ich jetzt bitte gehen? Ich war auf dem Weg zur Toilette, und ich muß jetzt dringender als je zuvor.«

Finlay ließ den Mann gehen und führte Skye durch das Gedränge, während er so vielen Stimmen gleichzeitig lauschte, wie er nur konnte. Die Leute waren sich alle in einem Punkt einig: Die Schuld an der Katastrophe ging auf das Konto der neuen Rebellen. Eine Menge Vorschläge, was man mit ihnen machen sollte, wurden geäußert. Dann erschienen plötzlich die drei Anführer der Esper im Zentrum der großen Kammer und brachten das Chaos mit einem so lauten telepathischen Bellen zum Schweigen, daß selbst Finlay es hören konnte. Alles verstummte, hielt sich den Kopf und wimmerte. Mister Perfekt, das Mandala und der um seinen Baum gewickelte Drache blickten sich mit funkelnden Augen um, und nur wenige Leute, einschließlich Finlay, waren imstande, ihre Blicke zu erwidern.

»Wenn jetzt alle damit fertig sind, wie kopflose Hühner durcheinanderzurennen«, sagte Mister Perfekt eisig, »könnten wir die Situation vielleicht sachlich und intelligent und vor allen Dingen leise besprechen. Zuallererst: Die Dinge stehen nicht so schlecht, wie es im Augenblick aussehen mag. Die meisten von uns haben den Angriff der Fremden überlebt, weil wir zum Glück tief unter der Oberfläche leben. Unsere Stützpunkte an der Oberfläche können wiederaufgebaut werden, und die Kommunikation ist auch leicht wiederherzustellen. Allerdings sind wir nicht in der Lage, irgendwen oder irgend etwas anzugreifen. Ganz zu schweigen von Imperialen Einrichtungen, zu denen wir im augenblicklichen Chaos erst gar nicht vorstoßen könnten. Andererseits ist Finlay Feldglöck zusammen mit Julian Skye sicher zurückgekehrt. Finlay hat Julian entgegen aller Wahrscheinlichkeit befreit, bevor er reden konnte. Wenigstens etwas, worum wir uns keine Gedanken mehr machen müssen. Fühlt Euch frei, Finlay zu applaudieren, doch macht nicht so viel Krach dabei. Wir alle leiden an Kopfschmerzen.«

Vereinzelt wurde Beifall geklatscht, doch der größte Teil der Anwesenden verhielt sich abwartend. Einige Leute schienen sogar unzufrieden zu sein. Skye wirkte wegen der gedämpften Reaktion auf seine sichere Rückkehr enttäuscht, doch Finlay war es vollkommen egal. Er hatte es nicht wegen des Beifalls getan. Er blickte sich suchend nach Evangeline oder sogar Adrienne um, doch die Menge war einfach zu groß. Mister Perfekt begann von neuem zu reden, und ein Stirnrunzeln entstellte das klassisches Gesicht wie ein Graffiti auf einem berühmten Porträt.

»Es ist von allergrößter Bedeutung, daß wir mit der neuen Rebellengruppe so bald wie möglich in ständigen Kontakt treten. Wir haben Alexander Sturm und die drei Stevie Blues geschickt, um den Überfall auf die Steuerbehörde zu unterstützen und anschließend mit den Rebellen in ihr Hauptquartier zurückzukehren; aber uns ist vollkommen klar, daß wir in Zukunft einen kühleren, politisch weitsichtigeren Gesandten benötigen, um unsere Ansichten zu vertreten. Wir benötigen einen Botschafter, um uns mit den Rebellen zu verbünden. Es ist lebenswichtig, daß zukünftige Angriffe von beiden Gruppen gemeinsam beschlossen werden, um sicherzustellen, daß genau diese Art von Unglücksfällen nicht wieder vorkommt. Die wenige Sympathie, die unsere Bewegung in der Bevölkerung besaß, verschwand mit dem ersten Beschuß durch das fremde Schiff. Der Rat hat sich eingehend mit dieser Angelegenheit beschäftigt, und wir haben eine Freiwillige als Botschafterin gefunden. Evangeline Shreck.«

Finlays Mund formte das Wort NEIN!, doch seine Reaktion ging im donnernden Applaus der Menge unter. Plötzlich stand Evangeline vor den Anführern und beugte respektvoll den Kopf. Sie wandte sich zu der Menge um und bedankte sich für den Beifall. Ihre Augen fanden die Finlays, als hätte sie ihn genau dort erwartet, wo er stand. Sie wandte sich rasch wieder ab, doch in ihrem kalten, gefaßten Gesicht war kein Anzeichen von Schuld oder Schwäche zu erkennen. Finlay drängte durch die Menge nach vorn. Skye versuchte ihm zu folgen, doch er besaß nicht genügend Kraft, um sich einen Weg durch die dicht an dicht stehenden Leute zu bahnen. Er rief Finlays Namen, doch wenn Finlay ihn hörte, dann achtete er nicht darauf, und Skye blieb rasch allein zurück.

Finlay brach durch die letzten Reihen, ohne Rücksicht, ob er anderen weh tat oder sie brüskierte. Niemand empörte sich.

Finlays Ruf als Schwertkämpfer und verrückter Bastard war wohlbekannt. Schließlich stand er vor Evangeline. Sie erwiderte ungerührt seinen starren Blick. Finlay packte sie am Arm und zog sie ein wenig zur Seite. Evangeline folgte ihm ohne Widerstand. Ihr Gesichtsausdruck blieb die ganze Zeit über hart.

»Warum tust du das, Evie?« fragte Finlay schließlich. »Warum gehst du weg und läßt mich allein?«

»Ich verlasse dich nicht«, erwiderte Evangeline kühl. »Ich habe lediglich einen Auftrag angenommen. Ich werde zurück sein, bevor das Jahr zu Ende geht. Meine Position als Botschafterin ist nur vorübergehend, bis der Rat entschieden hat, wer von ihnen mich ersetzen wird.«

»Warum haben sie dich ausgewählt?«

»Weil ich sie darum gebeten habe. Ich wollte gehen. Ich muß für eine Weile von hier weg. Ich habe zuviel getan, war in zuviel Dinge zugleich verwickelt. Ich habe zu viele Verpflichtungen gegenüber zu vielen Leuten, und mir wächst langsam alles über den Kopf. Wenn ich Golgatha verlasse, gewinne ich Zeit zum Nachdenken. Es ist so lange her, daß ich nur ich selbst sein konnte, ohne jede Verantwortung außer gegenüber mir selbst.«

»Du darfst nicht fortgehen! Wir können den Untergrund verlassen, einfach Zusammensein, nur wir beide! Ich bin nur wegen dir hier unten!«

»Das mag früher einmal gestimmt haben, aber heute nicht mehr. Du hast selbst gesagt, daß du den Nervenkitzel brauchst, das Blut und das Gemetzel bei den Missionen, die sie dir geben.«

»Nichts davon bedeutet mir so viel wie du! Du bist das Herz, das in meiner Brust schlägt, die Luft, die ich zum Atmen brauche. Ich kann nicht ohne dich leben.«

»Doch, das kannst du. Für eine Weile zumindest. Ich brauche diese Zeit, Finlay. Ich brauche… Ich weiß nicht, was ich brauche, aber es ist nicht hier. Adrienne hat mir geholfen, das zu erkennen.«

Finlay nickte grimmig. »Ich hätte mir denken können, daß sie dahintersteckt. Sie ist einfach nicht glücklich, wenn sie mich nicht unglücklich machen kann.«

»Nein, Finlay. Das war meine eigene Entscheidung. Ich muß für eine Weile von hier weg. Mein Vater…«

»Und ich?«

»Auch du. Nichts ändert sich wirklich. Wir sehen uns so oder so nur selten. Ich habe meine Verpflichtungen, und du bist ständig in der einen oder anderen wichtigen Mission unterwegs…«

»Das kann sich ändern. Ich kann mich ändern. Was willst du von mir?«

»Dein Verständnis. Ich liebe dich noch immer, Finlay. Ich werde dich mein ganzes Leben lang lieben, ganz egal, wo du bist oder wo ich bin. Aber ich kann nicht weitermachen wie bisher. Es zerreißt mich innerlich, und ich halte es nicht mehr länger aus. Ich muß mein Leben wieder in den Griff bekommen. Versuch nicht, mich davon abzubringen, Finlay. Es ist sehr wichtig für mich.«

Finlay atmete tief ein und nickte abrupt. »Also gut. Dann ist es auch für mich wichtig. Geh. Ich werde schon zurechtkommen.« Er breitete die Arme aus, und Evangeline sank ihm entgegen. Lange standen sie so beieinander, blind für das, was um sie herum geschah. Finlay hielt Evangeline fest an sich gedrückt wie ein Ertrinkender, und wenn seine Kraft ihr auch weh tat, so sagte sie nichts. Er spürte, wie seine Augen brannten, doch er hielt die Tränen zurück. »Was mache ich nur ohne dich, Evie?« fragte er schließlich.

»Du wirst etwas finden, womit du dich beschäftigen kannst.

Du hast einen Eid auf deinen Namen und deine Ehre geschworen, vergiß das nicht. Du wolltest Rache nehmen für Johana Wahn und das, was man ihr angetan hat, und du wolltest Silo Neun und dem System, das dafür verantwortlich ist, ein Ende machen. Jetzt hat der Rat gesehen, wozu du imstande bist, und man wird dir wichtigere Aufgaben im Untergrund zuweisen…, wenn du danach fragst.«

»Vielleicht.« Finlay schob Evangeline sanft von sich und blickte prüfend in ihre Augen. »Tu, was du tun mußt, Evie. Das ist alles, was zählt. Trotzdem, ich wünschte, sie hätten jemand anderen ausgewählt.«

»Alle anderen waren zu wichtig. Zu wichtige Beziehungen oder zu viele drängende Aufgaben. Ich war nur von Bedeutung wegen meines Einflusses auf meinen Vater, und um dich bei der Stange zu halten. Mein Vater und ich… Wir haben uns entfremdet. Und ich versprach dem Rat, daß du keine Schwierigkeiten machen würdest. Stell mich nicht als Lügnerin bloß.

Ich wurde ausgewählt, weil ich diplomatisches Geschick bewiesen habe und weil ich entbehrlich bin. Ich war die perfekte Kandidatin.«

»Das Schicksal scheint nicht zu wollen, daß wir zusammen sind«, sagte Finlay. »Vielleicht eines Tages, wenn all das vorbei ist… vielleicht können wir dann ein ganz gewöhnliches Leben miteinander verbringen wie Millionen anderer Paare auch. Ich wünsche mir nichts sehnlicher.«

»Ja«, stimmte Evangeline zu. »Ich auch.«

Plötzlich bewegte sich hinter den beiden Liebenden etwas, und jedermann wandte sich nach einem Neuankömmling um, der soeben eingetreten war. Erregte Gespräche setzten ein, als die Menge erkannte, wer der Neuankömmling war. Hochrufe und Applaus erklangen, und ein Name machte die Runde, wurde lauter und lauter, wuchs von einem Sprechgesang zu einem Kampfruf. Johana Wahn! Johana Wahn! Johana Wahn! Johana Wahn!

»Verdammter Mist!« beschwerte sich Finlay. »Genau das, was uns noch gefehlt hat. Noch mehr Komplikationen.«

Johana Wahn war eine gedrungene blonde Frau mit einem bleichen Gesicht, das von scharfen blauen Augen beherrscht wurde. Sie besaß einen breiten Mund und trug ein Lächeln zur Schau, das mehr an Zähnefletschen als an Humor erinnerte.

Einst hatte sie nur schwaches ESP besessen, wie viele andere auch, aber dann hatte der Untergrund sie als Agentin ins berüchtigte Esper-Gefängnis Silo Neun eingeschleust, und der Überesper Mater Mundi hatte sich in Johana manifestiert, um das Gefängnis zu zerstören. Johana war mit etwas Großartigem in Berührung gekommen, war durch Mater Mundis schwebende Gegenwart verwandelt worden, und seit ihrer Flucht aus der Hölle des Wurmwächters war sie zu einer neuen, bedeutenden Macht im Untergrund herangewachsen. Sie hatte den Namen Mater Mundis für sich selbst in Anspruch genommen und eine Politik der Vergeltung begonnen. Wo auch immer Johana Wahn hinging, sie wurde von einer kleinen Gruppe fanatischer Anhänger begleitet, die jeden finster anblickten, der Mater Mundi zu nahe zu kommen wagte. Manchmal fragte sich Finlay, ob Mater Mundi eine politische Kraft oder eine Art religiöse Ikone war. Wahrscheinlich wußte sie es selbst nicht. Sicher war nur, daß ihre Popularität in der letzten Zeit über alle Grenzen gewachsen zu sein schien. Sonst hätte jemand mit so wenig Interesse an politischen Ereignissen wie Finlay es wohl kaum bemerkt.

Nachdem sie ihren üblichen, unerwarteten und hochdramatischen Auftritt hinter sich hatte, trat Johana zur Mitte der Kammer. Die Menge teilte sich vor ihr, als würde sie von der bloßen Kraft ihrer Persönlichkeit auseinandergetrieben. Johana war zu einem der mächtigsten Esper geworden, die der Untergrund je gekannt hatte. Man konnte das ESP in ihrer Gegenwart deutlich spüren. Es war, als würde die Luft um sie herum knistern, eine spürbare Kraft, die teilweise Charisma und teilweise Enigma zu sein schien. Aufwieglerin und kühne Politikerin zugleich, unermüdliche Kämpferin für die Rechte der Esper, wurde sie von allen respektiert, von vielen angebetet und bewundert – und von den Anführern der Esper mit großem Mißtrauen beobachtet. Johana Wahn war ein wenig verrückt, aber die Menschen sahen das Mater Mundi nach. Niemand erwartete von Heiligen, daß sie normal waren. Johana war von der Mutter Aller Seelen selbst berührt worden, und da die Mutter Aller Seelen selbst gegenwärtig unauffindbar schien, waren die Leute bereit, sich mit dem naheliegendsten Ersatz abzufinden. Johana blieb vor den Anführern stehen und lächelte böse, als könne sie durch die Illusionen hindurchblicken und die wirklichen Leute dahinter sehen. Wer weiß? Vielleicht konnte sie das wirklich.

Evangeline drückte sich enger an Finlay. »Wenn ich gewußt hätte, daß sie sich zu einer derartigen Landplage entwickelt, ich hätte mir sicher zweimal überlegt, ob wir sie aus Silo Neun befreien.«

Finlay zuckte die Schultern. »Sie predigt sofortige Aktion, und das kommt heutzutage an. Und sie war ein Fokus für die echte Mater Mundi

»Genau wie du und ich. Aber wir sind nicht verrückter als vorher. Obwohl das in deinem Fall zugegebenermaßen schwer festzustellen ist.«

Finlay mußte grinsen. Dann begann Johana Wahn zu sprechen, und er konzentrierte sich auf ihre Worte. Sie besaß eine rauhe, unangenehme Stimme. Ihre Stimmbänder waren beschädigt, als Folge der gequälten Schmerzensschreie in der Hölle des Wurmwächters. Es spielte keine Rolle. Wenn sie sprach, hörte man zu. Man mußte einfach.

»Ich bin wieder da, Leute. Macht das Beste daraus. Das Imperium hat mich nach Silo Neun verschleppt und mir einen Wurm in den Kopf gesetzt, um meine Gedanken zu kontrollieren, aber dank Mater Mundis Hilfe brach ich aus. Auch ihr könnt ausbrechen. Arbeitet mit mir zusammen, und wir können mehr erreichen als alles, was wir bis jetzt erreicht haben. Nun kann mich niemand mehr bezwingen, nicht einmal der Wurm, der immer noch in meinem Kopf lauert. Der Rat hat gesagt, ich würde sterben, wenn sie ihn entfernen, aber ich glaube nicht daran. Paßt auf – und lernt.«

Johana Wahn warf das blonde Haar über die Schultern nach hinten, so daß jeder deutlich ihr Gesicht sehen konnte. Dann legte sie eine Hand auf die Stirn und schnitt eine Grimasse, als würde sie angestrengt lauschen oder sich konzentrieren. Plötzlich beulte sich ihre linke Schläfe aus, und sie riß die Haut auseinander. Blut rann über Johanas Gesicht, doch sie ignorierte es. Ein scharfes, knackendes Geräusch, und der Schädelknochen an der linken Schläfe brach. Etwas Kleines, Graues, Blutbesudeltes kroch aus dem Riß und fiel in Johanas wartende Hand. Es pulsierte und zuckte krampfhaft, ein genetisch manipuliertes Horrorprodukt, dessen einziger Sinn darin bestand, gefangene Bewußtseine zu quälen und zu kontrollieren. Johana schloß die Hand um den Wurm und zerquetschte ihn. Blut und grauer Schleim quollen durch ihre Finger. Johana öffnete die Hand wieder und ließ die Überreste zu Boden fallen.

Die Menge tobte. Alles jubelte und schrie und stampfte mit den Füßen. Johana begann von neuem zu sprechen, doch diesmal hörte Finlay nicht mehr zu. Er hatte das Schauspiel zwar genossen, doch er mißtraute der Botschaft, die Johana Wahn verkündete. Der Aufruf zum Handeln war zwar gut und schön und populär, und er selbst hatte schon viele Male das gleiche gesagt, aber Johana besaß keinerlei Strategie oder Plan. Der Untergrund sollte ihr einfach nur vertrauen, ihr und der Weltenmutter, und alles würde gut werden. Und die Menge glaubte ihr, weil sie es glauben wollte. Johana versprach Stärke und Rache und Ruhm und alles, was die Geschlagenen, die Besiegten und Gequälten sich ersehnten. Finlay blickte über die jubelnde Menge hinweg, und er war in keiner Weise davon angetan.

Ertrinkende klammern sich an jeden Strohhalm.

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