KAPITEL IV ERHOBENE STIMMEN UND ABWECHSLUNG

Löwenstein XIV, die hochverehrte und vielgefürchtete Imperatorin von tausend und mehr Welten, hielt wieder einmal hof, und jeder von Bedeutung, ob real oder eingebildet, hastete herbei, um sie zu sehen.

Der Hof selbst war diesmal eine arktische Einöde, so wirklichkeitsgetreu, wie es holographische Projektoren, strategisch plazierte Requisiten und eine Klimaanlage nur zustande brachten. Die Imperatorin staffierte ihren Hof ständig um, als Anspielung auf ihre sich ändernden Stimmungen und Launen oder einfach nur, um den Höflingen den Tag zu verderben. Alte, erfahrene Höflinge behaupteten, Löwensteins Laune allein am Erscheinungsbild des Hofes erkennen zu können, doch selbst wenn die Nachrichten nicht gut waren, kamen die Leute herbei.

Man mußte kommen, wenn man wollte, daß man gehört wurde.

Außerdem mochte Löwenstein es durchaus als Beleidigung auffassen, falls man zu häufig abwesend war. Und die Leute, die die Imperatorin in einem solchen Fall aussandte, um die Säumigen vor den Hof zu zerren, verstanden überhaupt keinen Spaß.

Der Raum war eine gewaltige Kammer, irgendwo tief im Imperialen Palast, innerhalb eines massiven Stahlbunkers weit unter der Oberfläche von Golgatha. Niemand wußte genau, wie groß die Kammer war, allein schon aus Sicherheitsgründen, aber bisher hatte sie sich immer als groß genug erwiesen, um die Umwelt aufzunehmen, für die Löwenstein sich entschieden hatte. Unglücklicherweise spiegelten Löwensteins Umwelten auch einen Imperialen Sinn für Humor wider, der unter gewissen Umständen durchaus derb, wenn nicht sogar boshaft sein konnte. Die Höflinge wußten, daß es gefährlich war, sich auf irgend etwas zu setzen – ganz gleich, wie bequem es aussehen mochte. Und sie betrachteten die exklusiven, von Lakaien herumgereichten Speisen und Getränke als eine besonders exaltierte Form von russischem Roulette.

Es war ein weiter Weg bis zum Hof hinab. Mancher machte einen Witz daraus und verglich den Weg mit dem Abstieg in die Hölle, doch niemand sagte es laut.

Kapitän Schwejksam, Investigator Frost und Sicherheitsoffizier Stelmach standen dicht beisammen inmitten einer großen Masse von Höflingen und starrten über die grelle Eiswüste, die sich ausdehnte, so weit das Auge reichte. Der Schnee lag beinahe einen halben Meter hoch, und noch mehr fiel in schweren nassen Flocken aus einem düsteren Himmel. Dünner Nebel hing in der Luft. Hier und da verdichtete er sich zu undurchdringlichen Mauern. Es war bitterkalt, und das nackte Fleisch schmerzte ebenso wie die Lungen, wenn man zu tief atmete.

Schwejksam drehte die Heizelemente seiner Uniform einen weiteren Tick auf. Frost machte die Kälte nichts aus. Es brauchte eine ganze Menge mehr als gewöhnliche Kälte, damit ein Investigator sich unbehaglich fühlte. Sie war ausgebildet, weit Schlimmeres zu überstehen. Stelmachs Heizelemente liefen bereits auf höchster Stufe, doch der Sicherheitsoffizier zitterte trotzdem. Er sah der Begegnung mit der Herrscherin nicht gerade fröhlich entgegen.

Die Kälte war – im Gegensatz zum größten Teil der restlichen Umgebung – höchst real; es war kalt genug, um jemanden ohne entsprechende Kleidung nach einer Weile erfrieren zu lassen. Doch es gab mit Sicherheit noch andere, subtilere Gefahren, die willkürlich im gesamten Hof verteilt lauerten. Die Imperatorin fand einen Scherz immer erst dann amüsant, wenn jemand dabei verletzt werden konnte. Auch der Schnee war echt. Er sammelte sich feucht auf Köpfen und Kleidern und schien von Minute zu Minute dichter zu fallen. Irgend jemand hatte sich eine Menge Mühe gemacht, diese Umgebung zu erschaffen. Was den Gedanken nahelegte, daß auch die entsprechenden Lebensformen irgendwo dort draußen waren. Ziemlich wahrscheinlich Raubtiere. Löwenstein hatte eine besondere Vorliebe für handfeste Späße.

Die versammelten Höflinge murmelten eine Weile übereinander, bevor sich irgendeine brave Seele in Bewegung setzte und alle anderen hinter ihr her trotteten. Nur wenige hatten sich auf eine derartige Kälte vorbereitet, und die helleuchtenden Seidenstoffe der gegenwärtigen Mode schützten ihre Träger kaum vor den arktischen Temperaturen. Einige Besucher fluchten leise vor sich hin, doch die meisten bissen die Zähne zusammen und schwiegen. Man konnte nie wissen, wer gerade lauschte. Schwejksam wanderte mit der Menge nach vorn, noch immer überrascht, daß man ihn nicht in schwere Ketten gelegt hatte wie anläßlich seines letzten Besuchs bei Hofe.

Nach seinem jämmerlichen Versagen auf der Wolflingswelt hatte er fest damit gerechnet, von einem Erschießungskommando in Empfang genommen zu werden, sobald er von Bord seines Schiffes ging. Anscheinend hatte Schwejksam sein Sieg über das fremde Schiff eine Gnadenfrist verschafft, wenn schon sonst nichts anderes.

Frost schlenderte neben ihm her, als existierte der Schnee überhaupt nicht. Sie schien sich keinerlei Gedanken zu machen. Allerdings gab es auch nicht viel, weswegen Investigatoren sich den Kopf zerbrachen. Und wenn der einzige Grund dafür darin lag, daß Investigatoren dazu neigten, alles zu töten, was ihnen Kopfzerbrechen bereiten konnte.

K. Stelmach trottete hinter dem Investigator her und nutzte Frosts große Gestalt als Windbrecher. Er hatte die Arme fest um den Leib geschlungen und zog einen Schmollmund. Stelmach war unglücklich. Aber das war eigentlich nicht ungewöhnlich. Stelmach war nur selten glücklich. Es kam daher, daß er Sicherheitsoffizier war. Und sein Vorname erledigte den Rest. Kühnhold.

Die Menge arbeitete sich mühsam durch den hohen Schnee voran. Viele rutschten aus oder hatten zumindest Mühe, das Gleichgewicht zu halten. Der Nebel wurde dichter und verschleierte das, was weiter vorn wartete. Schwejksam beobachtete, wie sein Atem in der kalten Luft kondensierte, und fragte sich nicht zum ersten Mal, was ihn erwarten mochte. Jeder vernünftige Mensch wäre um sein Leben gerannt, statt seinen Kopf persönlich zu präsentieren, damit die Eiserne Hexe ihn abschneiden konnte. Doch Schwejksam kannte seine Pflicht.

Die Flotte war sein Leben, und wenn es zum größten Teil auch ein verdammt hartes Leben gewesen war, er hätte trotzdem mit niemandem tauschen mögen. Johann Schwejksam war Kapitän der Imperialen Flotte und damit Teil eines größeren Ganzen.

Im Dienst der gesamten Menschheit. Er würde sein Leben dafür geben, wenn es sein mußte. Die Löwenstein mochte eine rachsüchtige Psychopathin mit einem ganz besonders unangenehmen Sinn für Humor sein, aber sie war noch immer seine Imperatorin, und er hatte auf Leben und Ehre geschworen, ihr für den Rest seiner Tage zu dienen. Er blickte sich um und musterte die arktische Welt, und dann grinste er schwach. Typisch Löwenstein. Hier war er, marschierte wie ein guter Soldat zu seiner eigenen Exekution, und sie machte ihm selbst das noch schwer.

Schwejksams Kopf ruckte herum. Er spürte mehr, als er hörte, wie etwas Großes sich versteckt im Nebel vor ihm bewegte.

Gemurmel wurde laut, als auch andere ringsum es sahen oder hörten. Schwejksams Augen verengten sich, und seine Hand fiel automatisch zu der Stelle an seiner Hüfte, wo der Disruptor hätte sein sollen. Einen Augenblick lang war eine Bewegung im Nebel zu erkennen, als eine gewaltige Kreatur unter lautem Knirschen durch den Schnee stapfte, den zotteligen Kopf hob und herausfordernd brüllte. Das rauhe Geräusch echote unheimlich durch die Stille. Dann wurde der Nebel wieder dichter, und die Kreatur war nicht mehr zu sehen. Die Höflinge drängten sich dicht zusammen und beeilten sich weiterzugehen.

Die Imperatorin wartete.

In Schwejksams Händen juckte es nach dem Griff einer Waffe, doch Pistole und Schwert waren ihm versagt. Keinem Untertanen, egal, wie vertrauenswürdig oder geschätzt, war es gestattet, im Beisein der Imperatorin ohne ausdrückliche Genehmigung Waffen zu tragen. Was bedeutete, daß auch rings um Schwejksam jedermann unbewaffnet war. Leichte Beute, falls die Kreatur hungrig sein sollte. Die Eiserne Hexe mußte verrückt sein, wenn sie riskierte, die Familien durch eine echte Bedrohung zu gefährden, aber niemand hätte dagegen wetten mögen. Schwejksam schnitt eine Grimasse und ballte die Fäuste. Erneut brüllte ein undeutlicher Schatten, doch diesmal klang das Geräusch weiter entfernt. Es bewegte sich von den Höflingen weg. Ein allgemeines erleichtertes Aufatmen, dann ging es weiter. Natürlich bestand immer die Möglichkeit, daß die Schatten nur Hologramme waren, doch auch darauf hätte niemand wetten mögen. Schwejksam beschloß, in der Nähe von Investigator Frost zu bleiben. Auch ohne Waffen war Frost der Tod auf zwei Beinen, und Schwejksam würde ihr den Rücken decken, falls Löwenstein weitere Überraschungen bereithielt. Nicht, daß er gegenüber Frost davon sprechen würde. Sie war auch so schon eingebildet genug.

Weitere Schatten tauchten im Nebel vor ihnen auf. Im ersten Augenblick dachte Schwejksam, es wären Sicherheitsleute, die darauf warteten, die Höflinge zum Thron zu eskortieren, aber als er näher kam, entpuppten sie sich als Schneemänner. Eine Reihe menschlicher Gestalten aus Schnee, mit Augen und Mündern aus Kohlstückchen und einem fröhlichen Grinsen im Gesicht. Ein bezaubernder Einfall – wenn sie nicht alle verschiedene einfallsreiche Todesarten dargestellt hätten. Einer war auf einer Lanze aufgespießt. Ein anderer hielt den abgetrennten Kopf unter dem Arm. Eine dritte Gestalt war vollkommen zerlegt worden, und ihre Gliedmaßen lagen um den Rumpf verstreut. Schwejksam wollte an den Gestalten vorbeigehen, doch als er bemerkte, daß Frost stehengeblieben war, zögerte er ebenfalls. Frost stand da und musterte die Schneemänner mit nachdenklichem Gesicht. Ihre Hand lag auf der Hüfte, wo das Schwert hätte sein sollen. Stelmach stand zitternd vor Kälte daneben. Er widmete den Schneemännern keine besondere Aufmerksamkeit, doch er war andererseits auch nicht gewillt, ohne den Schutz der einzigen bekannten, mehr oder weniger freundlichen Gesichter weiterzugehen. Schwejksam trat neben Frost.

»Was gibt es, Investigator? Probleme?«

»Ich weiß nicht, Kapitän. Vielleicht. Irgend etwas gefällt mir nicht an diesen Schneemännern. Sie… sie wirken so beunruhigend. Wer baut schon einen Schneemann mit Gliedmaßen?«

Frost trat zu dem enthaupteten Schneemann und nahm den Kopf aus seinen Armen. Es war eine große, runde Kugel mit einem breiten Grinsen, das man unter den blinden Augen eingekerbt hatte. Frost knurrte wegen des unerwarteten Gewichts der Kugel und hielt sie in der Armbeuge fest, während sie mit der freien Hand den Schnee abkratzte. Die Augen und das Grinsen verschwanden. Schwejksam wußte bereits, was sie finden würde, bevor er es sah. Der Mantel aus Schnee verschwand, und die gebrochenen Augen und die Nase eines menschlichen Gesichts kamen zum Vorschein. Frost wischte vorsichtig noch mehr Schnee ab. Schwejksam kannte den Mann nicht. Er trat vor und schob die Hand tief in den Körper des Schneemanns. Seine Fingerspitzen berührten etwas Hartes und Unnachgiebiges, das ganz definitiv kein Schnee war. Er zog die Hand rasch wieder zurück und wischte sie an seiner Uniform ab.

»Da drin steckt ein richtiger Körper«, sagte er leise.

»Ich kann nicht sagen, daß mich das überrascht«, erwiderte Frost. Sie warf den Kopf in den Schnee. »Soll ich auch die anderen Schneemänner überprüfen?«

»Nicht nötig. Das sind alles Tote. Löwensteins Methode, uns zu sagen, was auf uns zukommen wird. Ich frage mich, was sie sich zuschulden haben kommen lassen.«

Frost zuckte die Schultern. »Sie haben Löwenstein verärgert.

Von solchen Leuten gibt es immer genug. Laßt uns weitergehen.«

»Warum so eilig?« schnappte Stelmach. »Laßt uns das meiste aus der wenigen Zeit machen, die uns noch bleibt.«

»Ihr solltet die Hoffnung nicht aufgeben«, erwiderte Schwejksam. »Frost und ich waren schon einmal hier, und wir haben es überlebt. Vielleicht haben wir diesmal ebenfalls Glück.«

»Niemand hat so viel Glück.«

»Trotzdem, macht Euch keine Sorgen«, sagte Frost. »Wir werden ein gutes Wort für Euch einlegen.«

»Oh, großartig!« brummte Stelmach. »Genau das, was mir noch gefehlt hat.«

Die drei setzten sich wieder in Bewegung und stapften eilig durch den tiefen Schnee, um zum Rest der Höflinge aufzuschließen. Einige von ihnen mußten gesehen haben, was in den Schneemännern steckte, doch alle gaben sich die größte Mühe, so zu tun, als hätten sie nichts bemerkt. Der Erfolg bei Hofe hing oftmals in starkem Maß davon ab, was man sah und was nicht.

Es schneite ununterbrochen weiter, und der Nebel wurde ständig dichter. Noch immer erstreckte sich eine scheinbar endlose arktische Wüste vor den Höflingen. Schwejksam runzelte die Stirn. Die Kammer konnte unmöglich derartig groß sein.

Vielleicht wurden sie auf subtile Weise dazu gebracht, im Kreis zu laufen. Schwejksams Kopf ruckte hoch, als unter den Höflingen ein erregtes Gemurmel einsetzte. Die Menge kam zum Stehen, und die vordersten Männer und Frauen blickten alarmiert in die Runde. Nichts regte sich im Nebel. Schwejksam warf einen Blick zu Frost, die aufmerksam lauschte.

Mit einer raschen Handbewegung winkte sie Schwejksam zu sich heran und flüsterte ihm ins Ohr: »Unter dem Schnee bewegt sich etwas, Kapitän. Etwas Großes, Lebendiges. Ich kann die Vibrationen spüren, und ich kann das Geräusch hören, wenn es sich bewegt.«

»Vielleicht eine Schneeschlange?« vermutete Schwejksam.

»Eines dieser Biester von Loki. Manche davon werden zehn Meter lang.«

»O nein!« murrte Stelmach. »Keine Schlangen! Ich hasse Schlangen!«

»Macht Euch keine Sorgen«, beruhigte ihn Schwejksam.

»Wenn eine der Kreaturen es wagt, unsere Frost hier zu ärgern, wird sie einen Knoten hineinmachen und sie wegwerfen.

Stimmt’s, Frost?«

»Verdammt richtig«, erwiderte Frost.

In diesem Augenblick öffnete sich ein drei Meter langes Maul unter den Füßen eines der Höflinge, verschluckte den Mann und verschwand wieder unter dem Schnee. Freunde und Familienangehörige schrien entsetzt und fielen auf die Knie, um mit den bloßen Händen im Schnee nach dem Verschwundenen zu graben, doch was auch immer ihn verschluckt hatte – es war spurlos verschwunden. Sie blickten sich hilflos an, und aus der Ferne, verborgen hinter einer Wand aus Schnee und Nebel, erklang ein schwaches Kichern. Die Imperatorin schien sich zu amüsieren. Einige der Höflinge redeten beruhigend auf die noch immer knienden Angehörigen und Freunde des Getöteten ein. Sie konnten nichts mehr für den Verschwundenen tun. Der Mensch denkt, die Herrscherin lenkt. So war es eben im Imperium in jenen Tagen. Schwejksam schwieg zu all dem, doch sein Gesicht zeigte einen festen, grimmigen Ausdruck.

Plötzlich öffnete sich die geschlossene Schneedecke am Rand der Menge ein weiteres Mal, und der Kopf der Kreatur durchbrach die Oberfläche. Die Leute wichen schreiend und kreischend zurück. Das große Maul öffnete sich und spuckte sein Opfer wieder aus. Dann tauchte der Kopf zurück in den Schnee und verschwand. Der Höfling segelte durch die Luft und prallte hart auf den festen Schnee. Sein schmerzerfülltes Stöhnen zeigte, daß er zumindest noch lebte. Freunde und Verwandte drängten sich um den Verletzten und stellten fest, daß er zumindest äußerlich keine größeren Wunden erlitten hatte, und sie halfen ihm auf die Beine. Löwenstein lachte erneut, und jeder, der seinen Kopf dort behalten wollte, wo er hingehörte, stimmte in das Imperiale Lachen ein. Selbst der Höfling, der für kurze Zeit im Maul der Kreatur verschwunden war, brachte ein klägliches Lachen zustande. Obwohl er wahrscheinlich einfach nur glücklich war, daß er noch lebte. Frost warf einen Seitenblick zu Schwejksam.

»Ziemlich große Schlange.«

Stelmach nickte mit großen Augen.

Die Höflinge setzten sich ein weiteres Mal in Bewegung und stemmten ihre Füße in den tiefen Schnee. Es schien noch kälter zu werden, wenn das überhaupt möglich war. Rauhreif bildete sich auf Haaren und Bärten, und die Nässe von geschmolzenem Schnee drang in die teuren Kleider. Jeder fror, und einige zitterten gewaltig. Schwejksam konnte spüren, wie die Kälte an seinen Knochen nagte, obwohl die Heizelemente seines Anzugs inzwischen mit Höchstleistung arbeiteten. Seine Nase und Ohren schmerzten, und er spürte, wie sich in den Augenwinkeln kleine Eiskristalle bildeten. Stelmach zitterte, als hätte er eine kleine Rüttelmaschine eingebaut. Nur Frost ließ sich nichts anmerken. Die Höflinge drängten sich auf der Suche nach Schutz und Körperwärme dicht zusammen, doch sie hielten sich weiterhin vorsichtig von Schwejksam, Frost und Stelmach entfernt. Sie erkannten Aussätzige, wenn sie welche sahen. Inzwischen waren alle Gespräche verstummt, und man konzentrierte sich mehr darauf, Löwensteins neuesten derben Scherz zu überleben. Alle waren sich darin einig, daß es ein schwarzer Tag für das Imperium und ganz besonders den Hofstaat gewesen war, als die Imperatorin beschloß, einen Sinn für Humor zu entwickeln.

Fremdartige Schatten schälten sich aus dem Nebel, große Schollen massiven Eises, die aus dem Schnee aufragten wie der winzige Teil eines Eisbergs, den man über Wasser zu Gesicht bekommt. Der Schnee wirbelte um die Eisblöcke herum, als würde er von den glitzernden Flächen angezogen. Die Strukturen aus Eis bildeten einen ungefähren Halbkreis, der sich einladend zu den Höflingen hin öffnete, und dort, am anderen Ende der umschlossenen Fläche, stand der Eiserne Thron, hoch erhoben auf einem gewaltigen Podest aus Eis. Und auf diesem Podest, auf dem uralten Thron aus Schwarzem Eisen und Jade, saß die Imperatorin Löwenstein XIV und beobachtete gelassen, wie die Höflinge stolpernd näher kamen.

Löwenstein war in dichte Pelze gehüllt wie eine antike Stammesfürstin, das bleiche Gesicht kalt und klar wie das der legendären Eisprinzessin, die den Menschen die Seelen gestohlen hatte, indem sie ihre Herzen und Augen mit Eiszapfen durchbohrte. Löwenstein besaß ein markantes Gesicht mit einem breiten Mund und leuchtend blauen Augen, die kälter wirkten, als einfaches Eis jemals sein konnte. Sie war schön, doch auch ihre Schönheit strahlte Kälte aus. Die gleiche Kälte wie der große Diamant auf ihrem Kopf. Die Imperatorin, verehrt und angebetet, deren Launen Gesetz waren und auf deren bloßen Wink hin Menschen starben und Welten verbrannten.

Auch Eiserne Hexe genannt.

Löwenstein XIV saß lässig auf dem Eisernen Thron und beobachtete mit sardonischem Grinsen, wie die Höflinge mit gesenkten Köpfen heranschlichen und schließlich in einer demütigen, untertänigen Haltung verharrten, während sie auf Löwensteins Erlaubnis warteten, sich wieder aufzurichten. Jeder wußte, daß sie den Hof an schlechten Tagen stundenlang in dieser Haltung verharren ließ, bis jeder Rücken schmerzte und auch das letzte Auge tränte. Doch heute entließ sie ihre Untertanen bereits nach wenigen Sekunden aus der demütigen Verbeugung. Entweder war sie ausgesprochen guter Laune – oder sie konnte nicht erwarten, was als nächstes kommen würde.

Die Höflinge gaben sich die allergrößte Mühe, freundlich, respektvoll und äußerst loyal dreinzublicken, während das Lächeln Ihrer Majestät über sie hinwegglitt.

Sie hatten in respektvoller Entfernung vom Podest haltgemacht, nicht nur wegen der zwanzig schwer bewaffneten Leibwächter, die hinter dem Thron standen, sondern auch und vor allem wegen der zehn ›Jungfrauen‹, die sich zu Löwensteins Füßen zusammengekauert hatten und böse knurrten. Sie waren Löwensteins Dienerinnen und persönliche Garde, und jede einzelne von ihnen war tödlich. Sie waren nackt, doch sie spürten die Kälte nicht. Die Dienerinnen spürten überhaupt nichts, wenn die Imperatorin es nicht gestattete. Hirntechs hatten ihre schmutzigen Finger in die Köpfe der jungen Frauen gesteckt und alles ausgelöscht bis auf bedingungslose Hingabe an die Herrscherin. Sie würden ohne Zögern sterben, um Löwenstein zu schützen, und jeden töten, der sich ohne Erlaubnis näherte. Je nachdem. Sie waren mutige, tödliche Kämpferinnen, und jede trug ein ganzes Arsenal von implantierten, versteckten Waffen. Ihre Finger besaßen stählerne Krallen. Die Dienerinnen schwiegen, weil sie keine Zungen besaßen, und sie erlebten die Welt durch kybernetische Sinne. Jetzt kauerten sie sich am Fuß des Eisernen Throns zusammen, starrten die Höflinge feindselig an und warteten ungeduldig darauf, jeden zu zerreißen, der das Mißfallen ihrer Herrin erregte. Aber zum ersten Mal waren die Blicke der Höflinge nicht ununterbrochen auf die Dienerinnen der Imperatorin gerichtet. Neben dem Thron nämlich, ein kleines Stück an der Seite, stand reglos ein Schläfer vom Planeten Grendel.

Kontrolliert durch ein Joch.

Auf dem Planeten Grendel war man tief unter der Erde in riesigen Gewölben auf genetisch manipulierte Bestien gestoßen, die Schläfer. Tausende und Abertausende von ihnen, eine gewaltige Armee, die auf einen Feind wartete, der niemals gekommen war. Die fremde Zivilisation, die Erschaffer der Schläfer, war lange verschwunden, doch ihr Werk lebte fort.

Unaufhaltsame Mordmaschinen, lebende Waffen, programmiert zu kämpfen bis zum eigenen Untergang oder der Vernichtung des Feindes. Ein Imperialer Erkundungstrupp hatte den Fehler begangen, eines der uralten Gewölbe zu öffnen, und die Schläfer waren erwacht und in rasender Wut herausgekommen. Innerhalb weniger Minuten hatten sie den gesamten Trupp und das Basislager an der Oberfläche überrannt und alles niedergemetzelt, was sich bewegte. Hunderte von Männern und Frauen hatten den Tod gefunden, und kein einziger Schläfer war gefallen. Disruptoren und Schwerter schienen den Bestien nichts anhaben zu können. Aber sie besaßen keine Raumschiffe, und so hatten sie auf dem Planeten festgesessen. Die Imperatorin hatte schließlich den Befehl erteilt, Grendel aus dem Orbit zu sengen, und das war das Ende der Schläfer gewesen. Mit Ausnahme derjenigen, die noch immer in anderen Gewölben tief unter der Oberfläche schliefen und warteten.

Löwenstein hatte eine vollkommene Quarantäne über Grendel verhängt und eine Gruppe von Sternenkreuzern abkommandiert, um die Quarantäne auch durchzusetzen.

Aber angesichts der Bedrohung durch unbekannte Fremdrassen, die sich gegen das Imperium der Menschheit zusammenrotteten, hatte Löwenstein einen neuen Plan entwickelt: Sie wollte die Schläfer aufwecken und unter ihre Kontrolle bringen, um sie als Sturmtruppen gegen den Feind zu werfen. Und jetzt stand eine dieser Bestien hier, mit einem glänzenden kybernetischen Joch auf den Schultern, das ihre Gedanken kontrollierte. Theoretisch zumindest.

Alles schielte mißtrauisch zu dem Schläfer, und jeder betete, daß den Wissenschaftlern kein Fehler bei der Konstruktion der Maschine unterlaufen war. Das Wesen von Grendel war gut drei Meter groß und in einen stachligen purpurnen Siliziumpanzer gehüllt, der irgendwie Teil seines Körpers zu sein schien. Es besaß ungefähr humanoide Körperformen, doch seine Zähne und Klauen wirkten bösartig, und der herzförmige Kopf besaß nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Menschen. Eine einzige dieser Bestien hatte eine ganze Kompanie von Schwejksams Männern ausgelöscht, als er zu den Gewölben von Grendel hinabgestiegen war mit dem Auftrag, die Wesen gefangenzunehmen und eine Möglichkeit zu finden, wie er sie kontrollieren konnte. Schließlich war es ihm und dem Rest seiner Leute mit mehr Glück als Verstand gelungen, das Wesen zu überlisten. Und jetzt befand sich eine dieser Bestien hier am Hof, und nur der zweifelhafte Prototyp eines kybernetischen Jochs hielt ihre immerwährende Mordlust im Zaum. Mehr als je zuvor wünschte Schwejksam, er hätte seine Waffen dabei.

Oder zumindest eine Ahnung, in welcher Richtung der Ausgang lag. Die Höflinge betrachteten die Kreatur unglücklich, doch sie schwiegen. Sie verstanden die Notwendigkeit erhöhter Sicherheitsmaßnahmen bei Hofe, nachdem erst kurz zuvor Elfen und Fremdwesen angegriffen hatten, aber ein Schläfer an der Leine ging eindeutig zu weit. Selbst für die Löwenstein.

Das hier hatte nichts mehr mit Sicherheit oder Stil zu tun. Das hier ging ganz eindeutig in Richtung Overkill. Vielleicht sogar im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Männer und Frauen in den vordersten Reihen hatten plötzlich das Bedürfnis, höflich ihre privilegierten Plätze freiwillig anderen zu überlassen, und versuchten, sich in der Menge zu verstecken. Die in den Reihen dahinter hatten keinerlei Sehnsucht, plötzlich vorn zu stehen, und sie widersetzten sich entschlossen. Jeder wußte, daß die bewaffneten Leibwächter sie nicht schützen würden, falls das Joch unerwartet versagte. Das war nicht ihre Aufgabe.

Trotz des Gedränges brachten die Höflinge es irgendwie fertig, vollkommen still zu bleiben. Kein Wort wurde gesprochen.

Frost beugte sich zu Stelmach herüber, der erschreckt zusammenzuckte. Sie grinste nicht.

»Ich dachte, Ihr hättet gesagt, daß Euer Schläfer der einzige wäre, der durch ein Joch kontrolliert wurde. Und er wurde auf Haden zerstört. Was, zur Hölle, macht dann diese Bestie hier?«

»Offensichtlich hat die Forschung während meiner Abwesenheit Fortschritte gemacht«, erwiderte Stelmach. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Er versuchte, beim Reden nicht die Lippen zu bewegen, damit niemand auf ihn aufmerksam wurde. Frost schnitt eine Grimasse.

»Und wie verläßlich ist dieses Joch?«

»Das kommt darauf an, was Ihr unter verläßlich versteht.

Wenn es keinen größeren Durchbruch gegeben hat, was ich persönlich stark bezweifle, kann man das Joch nur ein- und ausschalten. Wenn der Schläfer erst von der Leine ist, bringt er alles um, was sich bewegt. Man kann nur hoffen, ihn in die richtige Richtung zu schicken. Wenn dieses Joch dort so arbeitet wie das, welches meine Leute entwickelt haben, dann erledigt es seine Arbeit. Aber ich würde nicht mein Leben darauf verwetten.«

»Das müssen wir aber, ob es uns gefällt oder nicht.«

»Ich weiß«, entgegnete Stelmach unglücklich.

Schwejksam blickte sich um. Er machte sich erst gar nicht die Mühe, sein Interesse zu verbergen. Ganz ohne Zweifel gab es noch eine ganze Reihe weiterer bewaffneter Wachen, die unsichtbar hinter tarnenden Hologrammen warteten. Und eine ganze Reihe von ESP-Blockern, um vor Esper-Terroristen sicher zu sein, sowie weitere Sicherheitseinrichtungen, die Schwejksam nicht einmal dann erkennen würde, wenn man ihn mit der Nase darauf stieß. Man sagte, daß die Imperatorin ein Vermögen darauf verwandt hatte, den Hof so sicher wie nur menschenmöglich zu machen. Es war mehr als nur Verfolgungswahn. Eine ganze Menge Leute wollten Löwenstein tot sehen. Sie sehnten sich danach, auf ihrer Beerdigung zu tanzen und auf ihr Grab zu urinieren. Viele dieser Leute befanden sich hier unter den anwesenden Höflingen, und auch das war ein Grund, aus dem man nur unbewaffnet am Hof erscheinen durfte. Manchmal konnte ein Ruf an den Hof durchaus damit enden, daß Löwenstein jemanden zum Tode verurteilte. Jemanden, der beim Ränkeschmieden nicht so vorsichtig gewesen war, wie er eigentlich gedacht hatte. Was die Familien nicht davon abhielt, weiterhin zum Hof zu kommen. Schließlich wurden hier die Weichen gestellt. Hier wurden die Dinge in Bewegung gesetzt. Der beste Ort, um zu sehen und gesehen zu werden. Milliarden Zuschauer auf allen Welten im gesamten Imperium verfolgten das Geschehen zu Hause auf ihren Holoschirmen. Und es war der einzige Ort, an dem sie Einfluß darauf nehmen konnten, welche Entscheidungen getroffen wurden. Und trotz der allgemeinen und berechtigten Nervosität war eine ganze Reihe von Höflingen fest entschlossen, um Gehör zu bitten.

Zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte sich in den Familien die Überzeugung gebildet, daß man einen Teil der Macht aus Löwensteins Händen in die eigenen überführen könnte. Sie hatten etwas in der Hand, das, vorsichtig eingesetzt, vielleicht einen Keil zwischen die Imperatorin und das ihr so treu ergebene Militär treiben konnte. Der erfolgreiche Anschlag der Rebellen auf die Zentrale der Steuerbehörde, zusammen mit der Sabotage der Verteidigungseinrichtungen des Planeten, hatte das Militär politisch gesehen in eine schwierige Lage gebracht. Der unerwartete Angriff des fremden Schiffes hatte diesen Eindruck noch verstärkt. Und außerdem gingen Gerüchte um, daß der offizielle Prinzgemahl der Herrscherin und Oberste Krieger des Imperiums, der Hohe Lord Dram, tot sein sollte. Angeblich hatte er bei einer von der Versammlung der Lords nicht autorisierten Mission auf einem abgelegenen Planeten den Tod gefunden.

Nur die Besatzung der Unerschrocken konnte darüber Auskunft geben, und die wurde auf ihrem Schiff im Orbit um Golgatha festgehalten. Mit Ausnahme von Frost, Schwejksam und Stelmach. Eine Menge Augen verfolgte jede Bewegung der drei, doch andererseits machte man einen großen Bogen um sie. Nur für den Fall. Man war der festen Überzeugung, daß die Imperatorin mit diesen dreien etwas Besonderes vorhatte, und es mochte sich durchaus herausstellen, daß es nichts Angenehmes war. Schwejksam war sich der Hintergedanken der versammelten Höflinge durchaus bewußt, genau wie ihrer Haltung gegenüber der Herrscherin. Und er konnte nicht umhin zuzugeben, daß dieser Standpunkt nicht unvernünftig war.

Wenn Löwenstein und das Militär nicht imstande waren, den eigenen Planeten gegen ein einzelnes fremdes Schiff und eine Handvoll Rebellen zu schützen, dann befanden sie sich auch nicht in der Position, den Angehörigen des Parlaments und der Versammlung der Lords, deren Gelder schließlich einen Großteil der Staatsausgaben finanzierten, Vorschriften zu machen.

Unter dem Strich lief es nämlich wieder einmal darauf hinaus, daß man die Steuern erhöhen würde, um die Sicherheit des Imperiums zu finanzieren. Die Familien wollten mehr Mitspracherecht, was die Verwendung der Gelder betraf. Vorzugsweise, bevor die Steuerbehörde wieder arbeitete und über neue Steuersätze entschieden werden konnte.

Das Militär war sich durchaus dieser Gefahr bewußt und hatte Schritte unternommen, um sich gegen die Angriffe der Familien wehren zu können. So befanden sich zahlreiche Offiziere der allerhöchsten Ränge unter den Höflingen und standen jetzt in Habacht vor der Herrscherin. Schnee hatte sich auf ihre Köpfe und Schultern gelegt, doch wenn ihnen die Kälte zu schaffen machte, so zeigten sie es nicht. Die Offiziere waren an den Hof gekommen, um deutlich zu machen, daß Löwenstein noch immer ihr Vertrauen und ihre Unterstützung besaß. Und umgekehrt natürlich. Die Aufgabe des Militärs war es, Löwenstein gegen jede Bedrohung zu schützen – auch solche, die vom Hof selbst herrühren mochte. Es war eine Frage der Ehre, die zumindest im Militär noch über der Politik stand. Man hatte der Imperatorin einen Treueeid geschworen, und sonst niemandem.

Auch die Kirche von Christus dem Krieger war mit ihren Abgesandten vertreten. Zahlreiche Akolythen mit bleichen Gesichtern, rasierten Schädeln und dem starren Blick echter Fanatiker standen neben den Militärs und ignorierten die Offiziere beharrlich. Die Akolythen waren Kriegerpriester, von Kindesbeinen an in einem blutigen Glauben erzogen, und sie beugten den Kopf vor der Herrscherin nur, wenn die Umstände sie dazu zwangen. Die Kirche vertrat die Auffassung, daß man Glauben erzwingen mußte – selbst wenn das bedeutete, die Menschen zu töten, die man eigentlich hatte bekehren wollen. Sie predigte, daß Macht nach Gottes Willen gerecht war, und sie war nur allzu bereit und geradezu begierig, ihre Theorien in die Praxis umzusetzen. Es gab noch andere Religionen im Imperium, doch die meisten wurden im verborgenen ausgeübt. Ihre Anhänger gaben sich Mühe, nicht weiter aufzufallen.

In der ersten Reihe der Versammlung stand General Shaw Beckett und musterte die Akolythen nachdenklich. Er machte sich nicht die Mühe, sein Interesse zu verbergen. Einige der Priesterkrieger erwiderten seinen Blick mit der gleichen Intensität und aus dem gleichen Grund. Kenne deinen Feind. Beckett grinste und blies den Akolythen eine Wolke schweren Zigarrenqualms entgegen. Glaube war schön und gut, doch der General war ein Anhänger von Drill und Übung. Nur weil ein Fanatiker bereit ist, für seine Sache zu sterben, bedeutet das noch lange nicht, daß er seinen Auftrag erledigen kann, bevor der Gegner ihn erwischt. Der General war ein alter Soldat, und die Kirche von Christus dem Krieger war ihm ein Dorn im Auge. In seinen besseren Tagen war er ein berühmter Kämpfer gewesen, und obwohl Beckett inzwischen deutlich erkennbar in die Jahre gekommen war, trat ihm noch immer niemand in den Weg, ohne vorher sein Testament gemacht zu haben.

Beckett war von durchschnittlicher Größe, doch ziemlich beleibt, und das ließ ihn kleiner erscheinen. Das meiste Übergewicht hatte sich in seiner Bauchregion angesammelt, und selbst ein nach Maß gefertigter Kampfpanzer hatte Schwierigkeiten, seine Leibesfülle zu bändigen. Der General gab einen verdammten Dreck darauf. Er hatte genügend Jahre im Feld verbracht, um etwas Bequemlichkeit verdient zu haben. Beckett war ein wertvoller Ratgeber und besaß einen scharfen militärischen Verstand. Er war bekannt als Meisterstratege und gewiefter Redner, und er setzte so gut wie immer seinen Willen durch, selbst dann, wenn Löwenstein wieder einmal schlechte Laune hatte und jeder andere in Deckung ging. Die Herrscherin war ständig versucht, General Beckett wegschleppen und exekutieren zu lassen, weil er wieder einmal zur falschen Zeit die falschen Worte gesagt oder eine Wahrheit beim Namen genannt hatte, die ihr nicht im geringsten behagte. Doch irgendwie fand der alte Fuchs immer wieder einen Weg, Löwenstein daran zu erinnern, wie wertvoll sein Rat war, sowohl für sie als auch für das Imperium. Außerdem brachte er sie zum Lachen.

Shaw Beckett rauchte dicke Zigarren, selbst dort, wo das Rauchen nicht gestattet war, und er liebte es, seinen Gesprächspartnern den Rauch ins Gesicht zu blasen. Er besaß auch noch andere schlechte Angewohnheiten, und er genoß sie anscheinend. Es war nicht überraschend, daß Beckett unter den Zuschauern an den Holoschirmen große Popularität genoß.

Die Kirche von Christus dem Krieger hatte insgeheim eine hohe Belohnung auf den Kopf des Generals ausgesetzt, vorzugsweise abgetrennt vom Rumpf, und jeder wußte es.

Seitdem Löwenstein die Kirche zur Staatsreligion erhoben hatte und ihr Rückendeckung gab, waren die religiösen Fanatiker immer mächtiger geworden. Die Kirche hatte in Löwen Steins Namen ausgedehnte Kreuzzüge durchgeführt und jeden Häretiker getötet, den sie in die Finger bekommen hatte. Dann hatten die geistigen Führer der Kirche dekretiert, daß allein Gottes Wille ihr so viel Macht verliehen hatte und daß die Unterstützung der Imperatorin nicht länger erforderlich sei. Und nun, da sie die Erste Kirche des Imperiums war, sollte sogar Löwenstein den Kopf vor ihr beugen. Die Eiserne Hexe schäumte vor Wut, aber nachdem sie selbst die Kirche zur Staatskirche gemacht und sich in einer hochoffiziellen Veranstaltung hatte taufen lassen, konnte sie jetzt keinen Rückzieher machen, ohne schwach und unentschlossen zu wirken. Also begnügte sie sich damit, bei jeder nur möglichen Gelegenheit ihren berüchtigten Humor an den Vertretern der Kirche auszulassen und dem Militär den Rücken zu stärken, wann immer es einen Konflikt zwischen den beiden Gruppierungen gab. Und das geschah in diesen Zeiten recht häufig.

Die Kirche revanchierte sich, indem sie ihre tödlichen Jesuitentruppen stetig vergrößerte und die Gesellschaft von oben bis unten infiltrierte. Jede Familie hatte bereits einen Angehörigen an die Kirche verloren, entweder als neues Mitglied oder als Opfer, angeklagt der Häresie. Alles lief darauf hinaus, daß die Bevölkerung nun zwei Herren besaß, die Imperatorin und die Kirche, und man mußte beiden gefallen, wenn man ein halbwegs ruhiges Leben anstrebte. Eine falsche Entscheidung, und man fand sich plötzlich in einer Welt wieder, die nur noch aus Schwierigkeiten zu bestehen schien. Was die Kirche betraf, so hatten selbst Familienangelegenheiten und familiäre Loyalität hinter ihren Belangen zurückzustehen.

Die Versammlung der Lords leistete beträchtlichen Widerstand gegen diese Entwicklung. Die Lords scherten sich einen Dreck um die Religionen der unteren Schichten, solange diese nur respektvoll blieben und hart arbeiteten. Der Adel hatte viel zu wenig Zeit, um etwas anderes als Profit und Status anzubeten. Das neue Auftreten der Kirche von Christus dem Krieger hatte die adligen Familien richtiggehend in Rage versetzt, und sie hatten sehr deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht im Traum daran dachten, ihre generationenalten Privilegien des Ränkeschmiedens, der Duelle, Ausschweifungen und aller möglichen Arten von Lastern aufzugeben.

Die Kirche auf der anderen Seite hatte mit der Überzeugung gekontert, daß jeder insgeheim etwas zu verbergen hatte, und seither war sie ständig auf der Suche nach Munition, um die Mächtigen unter Druck zu setzen und gegenüber dem Willen der Kirche gefügig zu machen. So ermutigte, bestach und bedrängte sie den niederen Adel, seine Herren auszuspionieren und nützliche Fakten zu berichten. Ansonsten fiel man in Ungnade. Die Familien konterten mit Säuberungsaktionen unter den entfernteren Verwandten. Und alle, die zwischen die Fronten gerieten, hielten die Köpfe unten und hofften, niemandem unangenehm aufzufallen. Mit dem Ergebnis, daß das Leben im Imperium seit einiger Zeit für jedermann ein ganzes Stück schwieriger geworden war.

»Die Kirche war nicht untätig seit unserem letzten Besuch hier«, murmelte Schwejksam zu Frost. »Diese Kriegerjesuiten sehen beeindruckend aus. Und es sind verdammt viel mehr als beim letzten Mal.«

»Eine Bande von Schwuchteln«, entgegnete Frost, ohne die Jesuiten eines Blickes zu würdigen. »Sie sind gut darin, hart auszusehen, aber das ist auch schon alles. Ich hätte keine Mühe, sie alle zu zerstückeln und roh zu fressen, und das ohne Wein zum Nachspülen. Ich kenne diese Sorte. In Rudeln sind sie tapfer, aber allein haben sie nicht den Mut zu einem fairen Kampf. Wenn sie so begierig sind, ihren Gott zu sehen, sollen sie doch mit mir kämpfen, und ich sende sie auf dem schnellsten Weg zu ihm.«

»Wenn Ihr weiter solche Bemerkungen fallenlaßt«, meldete sich Stelmach zu Wort, »dann warnt mich doch bitte in Zukunft rechtzeitig, damit ich mich in Sicherheit bringen kann.

Die Kirche besitzt in letzter Zeit ein äußerst scharfes Gehör, und sie vergibt nicht die geringste Beleidigung. O Gott, einer von ihnen kommt zu uns! Versucht reumütig auszusehen!«

»Ich wüßte nicht, wie ich das machen sollte«, erwiderte Frost.

Schwejksam brachte es irgendwie fertig, ein unbeteiligtes Gesicht zu machen, als der Kriegerpriester sich näherte. Ringsum wichen die Höflinge zurück und gaben ihm reichlich freien Raum. Der Priester steckte in einem langen, blutroten Talar mit einem Scheitelkäppchen in der gleichen Farbe, und sein Blick war scharf genug, um Glas zu schneiden. Er war vielleicht Mitte Zwanzig, doch er gab sich Mühe, älter zu wirken. An seinem Gürtel hingen zwei Skalps, und um den Hals trug er eine Kette mit abgeschnittenen menschlichen Ohren. Vor Schwejksam und Frost blieb er stehen. Stelmach ignorierte der Priester vollkommen, und der Sicherheitsoffizier der Unerschrocken war erleichtert darüber. Der Kriegerpriester blickte von Schwejksam zu Frost und wieder zurück zu Schwejksam. Auf seinem Gesicht stand deutlich zu lesen, daß er schon beeindruckendere Exemplare der Gattung Mensch mit dem Gesicht nach unten im Dreck liegen gesehen hatte.

»Man sagt, Ihr hättet uns alle vor dem gottlosen feindlichen Raumschiff gerettet«, begann der Jesuit. »Wenn das zutrifft, so war es der Wille Gottes. Ihr seid sicherlich beide gute Soldaten, aber Ihr müßt Euren Platz in der neuen Ordnung erst noch finden. Ihr solltet die Vergebung der Kirche für Eure Sünden und Verfehlungen genauso erflehen wie die der Imperatorin. Es ist nicht länger statthaft, sich aus allem herauszuhalten. Ihr müßt Euch entscheiden, wo Ihr steht, und Ihr habt es öffentlich zu tun. Und vergeßt nicht: Wer nicht für die Kirche ist, der ist gegen sie. Die Kirche weiß, wie sie mit ihren Feinden umzugehen hat. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt?«

Seine schnarrende Stimme verstummte schlagartig, als Frost ihm in den Unterleib trat. Die Wucht ihres Tritts warf den Jesuiten durch die Luft und mitten unter seine eigenen Leute, die umfielen wie Kegel. Ein lautes Stöhnen erklang von, den Priestern, als die beim Aufprall Verletzten sich mühsam auf die Beine rappelten. Der Jesuit, der sich vor Frost aufgebaut hatte, lag zusammengekrümmt am Boden und schnappte noch immer nach Luft. Frost stand ungerührt da und beobachtete ihn. Sie atmete noch nicht einmal schneller. Stelmach schlug die Hände vors Gesicht. Schwejksam klatschte Beifall, und einige der mutigeren Höflinge fielen ein. Frost ignorierte sie mit großartiger Geste, jeder Zentimeter ein echter Investigator.

»Ich glaube nicht, daß ich mich noch in Eurer Nähe aufhalten möchte«, murmelte Stelmach. »Ihr müßt lebensmüde sein.«

»Jetzt kommt schon«, sagte Schwejksam. »Laßt den Kopf nicht hängen. Wir wurden wahrscheinlich sowieso zur Exekution hergebracht, oder habt Ihr das bereits vergessen? Was für eine Rolle spielt es da, wer uns am Ende tötet?«

Stelmach warf einen kurzen Blick zur Eisernen Hexe auf ihrem Thron, dann sah er den Kapitän der Unerschrocken mit einem beinahe flehenden Ausdruck in den Augen an. »Seid Ihr sicher? Besteht denn gar keine Hoffnung mehr?«

»Oh, Hoffnung gibt es immer«, erwiderte Schwejksam. »Als Frost und ich das letzte Mal hier standen, hatte man uns von Kopf bis Fuß in schwere Ketten gelegt, und die Unterschrift der Imperatorin war das einzige, was auf unseren Erschießungsbefehlen noch fehlte. Wir haben trotzdem überlebt.

Diesmal hat man uns wenigstens nicht in Ketten gelegt. Ich betrachte das als gutes Omen.«

»Ich nicht«, widersprach Frost. »Diesmal geht man subtiler vor. Nichts ist schlimmer, als in jemandem falsche Hoffnungen zu erwecken.«

Stelmach seufzte. »Ich hatte gehofft, daß jemand aus meiner Familie auftauchen und mir wenigstens moralische Unterstützung geben würde, aber nein. Niemand ist gekommen, um Zeuge meines Todes zu werden. Ein Versager hat keine Verwandten oder Freunde, aus Furcht, es könnte abfärben.«

Schwejksam musterte seinen Sicherheitsoffizier. »Das war beinahe profund, Stelmach. Offensichtlich hat die Nähe des eigenen Todes einen inspirierenden Einfluß auf Euch. Ihr redet nie viel, Kühnhold. Erzählt uns von Eurer Familie. Was sind das für Menschen, die ihrem Sohn einen solchen Vornamen geben?«

»Ehrgeizige Menschen«, antwortete Stelmach grimmig.

»Meine Familie hat Geschäfte gemacht, aber niemand war erfolgreich genug, um Minister zu werden oder in einen großen Clan einzuheiraten. Also hat man uns Kinder alle zum Militär geschickt. Meine Brüder Stolzfried und Ehrheld sind Offiziere mittleren Ranges. Meine Schwester Athena wurde sogar noch früher weggegeben und in eine Investigatorenausbildung gesteckt. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Man fragt nicht danach. Mein Vater starb vor vielen Jahren. So muß er wenigstens nicht mit ansehen, wie ich ihn enttäusche. Sicherheitsoffiziere bekleiden nicht gerade die ruhmreichsten Posten bei der Flotte.«

»Wenigstens besitzt Ihr noch eine Familie«, erwiderte Schwejksam. »Ich wurde Kapitän eines Raumschiffs, weil mein Clan das von mir erwartet hat. Und ich wollte, daß alle stolz auf mich sind. Statt dessen habe ich den Familiennamen nun bereits zum zweiten Mal in den Schmutz gezogen. Offiziell wurde ich enterbt, weil ich nicht zusammen mit meinem ersten Schiff, der Sturmwind, abgestürzt bin. Ich wollte es ja, doch Investigator Frost hier bestand aus unerfindlichen Gründen darauf, mich zu retten. Stimmt das nicht, Investigator?«

»Wir alle machen Fehler«, erwiderte Frost, ohne ihn anzublicken. Schwejksam mußte grinsen.

»Wollt Ihr uns nicht von Eurer Familie erzählen, Investigator? Stelmach und ich haben unser Herz bereits ausgeschüttet.

Verratet uns doch, woher Ihr kommt.«

Lange Zeit schwieg Frost, und in Schwejksam regte sich bereits das Gefühl, den Bogen vielleicht überspannt zu haben, doch dann begann sie sehr leise zu sprechen. So leise, daß Schwejksam und Stelmach sich anstrengen mußten, um die Worte zu verstehen. Frost hielt den Blick gesenkt, während sie sprach.

»Offiziell besitzen Investigatoren keine Familie. Nur ihresgleichen. Doch ich war neugierig, und da bin ich in die versteckten Dateien eingebrochen und habe nach meiner Vergangenheit geforscht. Ich fand die Adresse meiner Eltern und wollte sie besuchen. Nur mein Vater war bereit, mich zu sehen, und selbst er hatte so viel Angst vor mir, daß er nicht zuhörte. Ich ging niemals wieder hin. Ich besitze keine Familie, Kapitän.

Ich bin selbst für das verantwortlich, was ich heute bin. Das Imperium hat mir ein klein wenig dabei geholfen, das ist alles.«

»Ich bin froh über dieses aufmunternde Gespräch«, brummte Stelmach. »Ich fühlte mich ein wenig deprimiert, doch jetzt ist mir nach Selbstmord zumute. Warum verschlucken wir nicht alle einfach unsere Zungen und bringen es hinter uns?«

»Weil es noch immer Hoffnung gibt«, erwiderte Schwejksam. »Und weil ich Haltung bewahre, selbst wenn ich untergehen muß. Richtig, Investigator?«

»Richtig«, bestätigte Frost. »Oh, seht nur; die Jesuiten erholen sich anscheinend.«

Die Kriegerpriester waren inzwischen alle wieder auf den Beinen, obwohl sie sich noch gegenseitig stützen mußten. Die Offiziere kicherten ungeniert und stießen sich in die Rippen.

Einige der Höflinge applaudierten erneut, doch plötzlich unterbrachen sie sich und warfen ängstliche Blicke auf die Imperatorin, um zu sehen, was sie davon hielt. Zum Glück für die Besorgten schien die Eiserne Hexe in ein Gespräch mit General Beckett versunken zu sein. Also wandte man sich wieder um und beobachtete den zweiten Mann, der vor dem Eisernen Thron stand: James Kassar, Kardinal der Kirche von Christus dem Krieger und nach Meinung vieler einer der gefährlichsten Männer im gesamten Imperium. Er war groß und muskulös und trug einen schwarzen, gepanzerten Kampfanzug, als wäre er hineingeboren worden. Über dem Herzen befand sich das Relief eines Kruzifixes in der Brustplatte. Früher einmal war der Kardinal ein attraktiver Mann gewesen, doch diese Zeit war vorbei. Kassar hatte einen Mann aus fragwürdigem Anlaß als Häretiker hinrichten lassen, und dessen Witwe hatte dem Kardinal Säure ins Gesicht geschüttet. Der Kardinal hatte die Witwe im nächsten Augenblick mit dem Schwert durchbohrt, doch der Schaden war bereits angerichtet. Sein rechtes Auge war verloren und die gesamte rechte Gesichtshälfte bis auf die Knochen verätzt. Die farblosen Knochen zeigten sich noch immer durch das Narbengewebe. Die Zähne schimmerten durch die Überreste seines Kiefers hindurch und verliehen Kassars Gesicht ein konstantes häßliches Grinsen, in dem keine Spur von Humor zu erkennen war. Das Gesicht war ein entsetzlicher Anblick, der selbst den stärksten Magen umdrehte, und Kassar wußte es. Genau aus diesem Grund hatte der Kardinal sich nie operieren lassen. Eine Regenerationsmaschine hätte keine Spur von den entsetzlichen Wunden zurückgelassen, doch er verzichtete darauf. Vielleicht als Zeichen oder Warnung, daß nichts und niemand ihn aufhalten konnte, oder vielleicht aus irgendeiner pervertierten Art von Eitelkeit. Nicht wenige Leute waren überzeugt, daß Kassar es genoß, wenn sein Anblick andere entsetzte.

Man erzählte sich auch, Kassar hätte die Wachen, die die Frau hatten durchschlüpfen lassen, in einen Behälter mit Säure senken lassen. Ganz langsam, mit den Füßen voran. Niemand hatte Schwierigkeiten, sich diese Geschichte als wahr vorzustellen. Kardinal Kassar war bekannt für seine kalte Wut und seine als Gerechtigkeitssinn maskierte Rachsucht. Er war durch die Ränge der Kirche aufgestiegen, indem er fanatisch gegen jeden Häretiker vorgegangen war, der seine oder die Autorität der Kirche in Frage gestellt hatte. Er zögerte nicht, jeden anzuklagen, der sich gegen den wachsenden Einfluß der Kirche zur Wehr setzte – oder seiner persönlichen Karriere im Weg stand

–, selbst wenn es Freunde, Verwandte oder sogar Verbündete waren. Und während Kassar mit beispielloser Geschwindigkeit innerhalb der Kirche aufstieg, beeilten sich die Leute, seinem Eifer zu folgen – jedenfalls wenn sie wußten, was für sie gut war.

So war die Anklage wegen Häresie zu einer beliebten Methode geworden, um seine Feinde aus dem Weg zu räumen. Ein Beweis wurde nicht benötigt. Meist reichte allein die Anschuldigung aus. Es gab Tribunale, wo die Beschuldigten sich verteidigen konnten, doch das kostete Geld. Gerechtigkeit war noch nie billig gewesen. Die Zustände nahmen bald katastrophale Formen an, und manch einer versuchte, eine Versicherung gegen derartige Zwischenfälle abzuschließen – nur um feststellen zu müssen, daß die Prämien noch höher waren als die versicherten Kosten. Damals hatten die Familien zum ersten Mal erkannt, daß niemand mehr vor der Kirche sicher war.

Auch die Eiserne Hexe benutzte diese bequeme Methode und fand sie bald ganz besonders nützlich, um ihre Höflinge zu disziplinieren. Sobald jemand Schwierigkeiten machte oder den Mund zu weit aufriß, wurde eine Anschuldigung ausgesprochen, und das unglückliche Opfer wurde eines frühen Morgens vom Geräusch heiliger Stiefel geweckt, die seine Tür eintraten. Bald schon konnte sich niemand mehr leisten, die Imperatorin zu verärgern, der nicht hervorragende Beziehungen zur Kirche öder viel Geld für Anwälte besaß. Wenn man in diesen Tagen überhaupt einen Anwalt finden konnte, der tapfer genug war, um es mit der Kirche aufzunehmen.

Die Höflinge spielten untereinander das gleiche gefährliche Spiel und denunzierten sich gegenseitig aus familiären, politischen oder persönlichen Gründen, doch die Folgen waren weniger ernst. Die Wahrheit verschwand nur allzu rasch unter einem Morast aus Anschuldigungen und Gegenanschuldigungen, bis selbst die Kirche es leid war. Also beschränkte sie sich meist darauf, einfach alles aufzuzeichnen, um für die passenden Gelegenheiten Belastungsmaterial und Munition zu besitzen.

Valentin Wolf zum Beispiel war schon so häufig wegen aller möglicher Arten von Häresie denunziert worden – einschließlich einiger, die man zuvor für theoretisch unmöglich gehalten hatte –, daß die Kirche aufgehört hatte zu zählen. Die Anklagen wurden niemals weiterverfolgt. Niemand zweifelte daran, daß Valentin vollkommen dekadent war und genügend Drogen konsumierte, um ein halbes Dutzend gewöhnlicher Männer auf einen Schlag umzubringen, doch er war der Kopf der Ersten Familie des Imperiums, unglaublich reich und mächtig, und er besaß das Ohr und die Unterstützung der Eisernen Hexe. Valentin Wolf war mit anderen Worten unantastbar. Kassar hatte seinen Groll gegen Valentin nicht aufgegeben, doch im Augenblick gab er sich damit zufrieden, daß er und der Wolf sich unübersehbar gegenseitig ignorierten. Die Höflinge folgten dem Schauspiel gebannt. Jeder wußte, daß es nicht für immer so weitergehen konnte. Es war nur eine Frage der Zeit, bis einer von beiden den ersten Fehltritt machte, und anschließend würden Blut und Tränen fließen.

Seit Monaten wurden Wetten deswegen abgeschlossen.

Valentin Wolf stand ein wenig allein mitten in der Menge, aber das war nicht ungewöhnlich. Er war das Oberhaupt der Ersten Familie von Golgatha, und sein Wort war Befehl für Tausende, doch Valentin besaß keine Freunde und niemanden, der von sich sagen konnte, ihm auch nur halbwegs nahezustehen. Valentin gab einen feuchten Dreck darauf. Es war ihm egal, und es war ihm schon immer egal gewesen. Valentin hatte sich selbst immer schon als unendlich bessere Gesellschaft empfunden als jedes andere Lebewesen in seiner Umgebung.

Und wenn man seine fortgesetzten Experimente mit jeder einzelnen Droge bedachte, die je unter irgendeiner Sonne gewachsen war – einschließlich einiger, die nur in der Dunkelheit wuchsen –, dann reichte sein Innenleben mit Sicherheit mehr als aus, um Valentin selbst in den stillsten Augenblicken zu beschäftigen.

Valentin war groß und schlank und auf düstere Weise sensibel, wie ein Dämonenprinz aus einem Märchen, nur noch unwirklicher. Sein Gesicht war lang, schmal und von einer vollkommenen Blässe. Valentins unnatürlich helle Augen wurden von schwerem Make-up eingerahmt, und ein in dickem Purpur aufgemaltes Lächeln war der einzige Ausdruck, der je auf seinem Gesicht zu erkennen war. Pechschwarzes Haar fiel in langen Locken, die niemals einen Kamm gesehen hatten, bis auf seine Schultern. Er trug dunkle Kleidung mit einem gelegentlichen Farbklecks, im Augenblick vorzugsweise Rot, und ignorierte die vergänglichen Diktate der Mode mit unerreichter Gleichgültigkeit. Valentin Wolf hatte zu seiner Zeit jede Droge selbst ausprobiert, die der Menschheit bekannt war, und er beschäftigte einen ganzen Stab eigener Chemiker, die ständig neue Drogen für ihn entwickelten. Man erzählte sich allen Ernstes, daß es keine einzige Chemikalie gab, die Valentin noch nicht ausprobiert habe. Jeder, der die Vielfalt und Menge an Drogen zu sich genommen hätte, die Valentin zu konsumieren pflegte, wäre ohne Zweifel schon dutzendmal an Vergiftung gestorben, das Gehirn zu einem Haufen toter Zellen geschrumpft; aber durch irgendein geheimnisvolles Wunder wuchs und gedieh Valentin sogar prächtig. Und wenn er die Welt mit anderen Augen sah als seine Zeitgenossen und hin und wieder eine angeregte Diskussion mit Leuten führte, die niemand außer ihm sehen konnte, dann machte es ihm nichts aus und behinderte ihn in keinster Weise. Und mit Sicherheit machte es Valentin keine Spur weniger ehrgeizig, scharfsinnig und brandgefährlich.

Doch Valentin wußte, daß selbst er nicht ewig so weitermachen konnte, ohne einen Preis dafür zu zahlen. Die besten Arzte des Imperiums kümmerten sich um ihn, und er ruhte häufig in seiner persönlichen Regenerationsmaschine. Dennoch nagten der fortwährende Drogenkonsum, zusammen mit einem nie enden wollenden Druck wegen seiner zahllosen Intrigen, schwer an Valentins sorgfältig und mühevoll erarbeiteter Selbstkontrolle. Der Wolf verbrauchte sich von innen heraus, und sein einziger Gedanke war, noch mehr Chemikalien ins Feuer zu werfen. Als Ergebnis stand er nun mit so übernatürlich scharfen Sinnen an seinem Platz, daß er am ganzen Leib vor Erwartung zitterte. Valentins Geist war so unglaublich weit geöffnet, daß er die Körpersprache anderer wie ein gedrucktes Wort lesen konnte, und jede noch so bedeutungslose Geste schrie ihm förmlich neue Einzelheiten zu. Pläne, Verschwörungen und Bruchstücke von Ideen blitzten in seinem Bewußtsein auf, hell wie das Leuchten eines Gewitters. Sein Körper mochte fest an seinem Platz unter all den anderen Höflingen stehen, doch Valentins Bewußtsein war hier und dort und überall zugleich. Er ritt auf den Wellen seiner Gedanken wie ein Artist mit perfekter Balance, und er blickte aus der schwindelerregenden Höhe einer endlosen Woge herab. Es war ein äußerst belebendes Gefühl, aber Valentin verlor nicht einen Augenblick lang die Kontrolle. Oder falls doch, dann bemerkte es niemand.

Valentin war noch immer davon überzeugt, daß es möglich sein mußte, ein vollkommenes Gleichgewicht zwischen den erwünschten und den unerwünschten Wirkungen von Drogen zu finden, wenn er nur die richtige Mischung entdeckte. Ein vollkommener, niemals endender Rauschzustand, frei wie ein Vogel und ohne jede Grenze. Doch bis es soweit war, stiegen die erforderlichen Dosen immer weiter an, um den gleichen Effekt zu erzielen, und Valentin Wolf mußte mehr und mehr neue Drogen zu sich nehmen, um den bösartigen Nebenwirkungen älterer Drogen zu entgehen, deren Überreste noch immer in seinem Kreislauf zirkulierten. Als Resultat war er dünner als je zuvor, und schlimmer noch: Valentin konnte sich ein Leben ohne all die zahlreichen Helfer genausowenig vorstellen wie ein Leben ohne Sauerstoff. Bestimmte Drogen, deren Wirkung nur kurzlebig war, halfen ihm, sich auf bestimmte Situationen einzustellen, und dies schien eine solche Situation zu sein. Valentin überlegte, daß er einen möglichst klaren, raschen Verstand benötigte. An diesem Hof besaß er keinerlei Freunde, sondern nur Feinde. Es war lebensnotwendig, daß er ihren Gedanken bei jedem Zug mindestens einen Schritt voraus war.

Also zog er seine silberne Pillendose hervor, wischte den Rauhreif vom Deckel, öffnete sie und entnahm ihr ein einzelnes Pflaster, das er mit geübter Treffsicherheit gegen seine Halsschlagader preßte. Sein purpurnes Grinsen wurde breiter, als die Wirkung einsetzte und die neue Droge sich wie ein dampfender Zug einen Weg durch seinen Kreislauf bahnte.

Valentins Gedanken arbeiteten schlagartig um ein Vielfaches schneller, und jeder ringsum schien sich mit einemmal wie in Zeitlupe zu bewegen. Ihm wurde angenehm warm, als würde er in einem gemütlichen Sessel vor einem großen knisternden Kaminfeuer sitzen. Ungeachtet der beißenden Kälte rannen kleine Schweißbäche an seinen Schläfen herab. Valentins Atem ging rascher, und sein Herz schlug spürbar in seiner Brust. Er beobachtete die Bewegungsmuster der Menschen ringsum, jede Geste eine einzige Enthüllung. Er riß sich zusammen und konzentrierte die Gedanken auf das, was er wissen mußte. Der Nachteil dieser speziellen Droge war, daß sie Valentin allzuleicht in einen paranoiden Zustand versetzte, doch das war eine akzeptable Nebenwirkung, wenn man die Umstände bedachte.

Am Hof der Löwenstein war Verfolgungswahn nie ganz fehl am Platz.

Eine gedrungene, fette Gestalt näherte sich ihm mit entschlossenem Gesicht, und Valentin warf sich in eine elegante Pose. Seinem Verhalten nach zu urteilen, hatte Lord Gregor Shreck etwas Geschäftliches mit Valentin zu besprechen. Valentin war es egal. Auch dieses Spiel beherrschte er. Der Wolf lächelte den Shreck freundlich an, ohne sich indes zu verbeugen. Er wollte den Mann auf keinen Fall ermutigen. Der Shreck blieb vor Valentin stehen, schnaufte kurz und verbeugte sich dann steif.

»Einen Augenblick Eurer Zeit, Wolf; ich denke, es ist zu unser beiderseitigem Vorteil.«

»Nun«, erwiderte Valentin freundlich, »niemand soll mir nachsagen, daß ich einen Vorteil nicht zu nutzen verstehe. Nett, Euch wiederzusehen, mein lieber Shreck. Ihr seht gut aus.

Kann es sein, daß Ihr ein wenig abgenommen habt?«

»Jedenfalls nicht lebensgefährlich«, sagte der Shreck und versuchte sich an einem höflichen Lächeln, doch ohne besonderen Erfolg. Ihm fehlte einfach die Übung. »Wir haben gemeinsame Interessen, Wolf, ganz zu schweigen von gemeinsamen Feinden. Der Chojiro-Clan gewinnt in letzter Zeit gefährlich viel Einfluß bei Hofe. Er ist mächtig geworden, seit die Feldglöcks vernichtet wurden. Und nicht genug, daß die Chojiros unsere geschäftlichen Interessen bedrohen, jetzt versuchen sie auch noch, unsere Stellung am Hof zu unterminieren. Ich würde sogar wagen zu behaupten, daß die Chojiros inzwischen so viel Einfluß gewonnen haben, daß weder Ihr noch ich ihnen irgend etwas verweigern könnten, das sie haben wollen. Jedenfalls nicht einer von uns allein. Doch…«

»… doch gemeinsam und vereint könnten wir sie dorthin zurückschicken, wo sie hingehören«, vollendete Valentin den Satz, den er beinahe schon gehört hatte, bevor der Shreck zu sprechen begonnen hatte. Seine Gedanken rasten, und er war dem Shreck weit voraus. Valentin wog sorgfältig ab, welcher der Clans in Zukunft den größten potentiellen Nutzen bieten und welcher ihm am gefährlichsten werden konnte. Die Chojiros waren eindeutig auf dem Weg nach oben, während der Stern der Shrecks sank. Und die Chojiros besaßen wenigstens einen Funken von Anstand und Ehre, etwas, das der feiste Shreck nie gekannt hatte. Valentin schätzte Anstand und Ehrgefühl. Das machte es viel leichter, die Leute zu manipulieren, die daran glaubten oder dachten, daß er es tat. Außerdem vertraute der Wolf dem Shreck nicht. Er hatte ihm nie vertraut.

»Ich danke Euch, Gregor.« Nach außen hin war kaum eine Pause zu seinen letzten Worten spürbar. »Aber zur Zeit habe ich nicht das geringste Interesse an irgendwelchen Auseinandersetzungen. Ich habe so schrecklich viel zu tun seit meiner Übernahme des Feldglöck-Clans. Die Chojiros sind ein Ärgernis, mehr nicht. Trotzdem danke ich Euch für Euer Interesse, Lord Shreck. Laßt Euch nicht von mir aufhalten. Ich bin sicher, andere warten sehnsüchtig auf Eure Gesellschaft.«

Gregor Shreck stand einen Augenblick lang einfach nur wütend da, dann machte er auf dem Absatz kehrt und stampfte durch den Schnee davon. Am liebsten hätte er den Wolf unter Druck gesetzt, um deutlich zu machen, daß es an den Seitenlinien ebenfalls gefährlich war, doch der Shreck besaß nichts, mit dem er Valentin hätte drohen können, und beide wußten es.

Valentin grinste schwach, während er der kleinen, dicken Gestalt hinterherblickte, die voller wütender Energie über den dichten Schnee davonstapfte. Der Shreck würde hier am Hof keine Verbündeten finden, und er hatte nie Freunde besessen.

Natürlich konnte er sich immer an die Kirche wenden, und in letzter Zeit schien er sie auch verstärkt zu umgarnen, aber die Kirche war sowieso nicht gut auf Valentin zu sprechen. Von dieser Seite waren keine Überraschungen zu erwarten.

Valentin Wolf blickte durch die Kammer, um zu sehen, ob irgend jemand seine kurze Begegnung mit dem Shreck mitverfolgt hatte, doch alle wichen seinem Blick aus. Natürlich hatten sie ihn beobachtet. Es gab keinen, der nicht irgend etwas von Valentin gewollt hätte. Alle wollten etwas vom Oberhaupt des mächtigsten Clans im Imperium. Valentin zuckte die Schultern.

Er hatte wichtigere Sorgen. In letzter Zeit hatten ihm seine Spione in der Untergrundbewegung immer wieder Nachrichten über anscheinend übermenschliche Fähigkeiten bei den Rebellen zugetragen, Fähigkeiten, die nicht durch neue Esper-Talente erklärbar waren. Stärken und Fähigkeiten, die weit über alles hinausgingen, wovon man je gehört hatte. Natürlich waren das alles nur Gerüchte und zufällig aufgefangener Klatsch, doch wenn es wirklich eine Möglichkeit gab, Fähigkeiten hervorzubringen, die über ESP hinausgingen, dann mußte Valentin diese Technologie oder was immer es war in seinen Besitz bringen. Erjagte weiterhin hinter der Esper-Droge her, doch ohne rechten Erfolg. Seit seiner Trennung von der Untergrundbewegung war es schwieriger geworden, aber Valentin hatte beizeiten dafür gesorgt, seine eigenen Leute in die Reihen der Rebellen einzuschleusen, nur für den Fall. Es war eine Schande, daß er nicht mehr selbst dorthin gehen konnte. Der Untergrund besaß Zugriff auf alle möglichen Arten ungewöhnlicher und verbotener Drogen. Valentin war zu populär geworden, um weiterhin die Verbindung aufrechtzuerhalten.

Der Hohe Lord Dram persönlich hatte sich als der Mann namens Huth in den höchsten Rängen der Klon- und Esper-Bewegung aufgehalten, bevor er seine wirkliche Identität enthüllt hatte – was bedeutete, daß er alles über Valentins Verbindungen wußte. Valentin Wolf hatte sich nie einen verdammten Dreck um die Ziele und Ideale der Untergrundbewegung geschert. Ihn hatten nur alternative Wege zur Macht interessiert und die Esper-Droge, die nachgewiesenermaßen aus jedem gewöhnlichen Menschen einen Esper machen konnte. Es wäre Valentin schwergefallen, die Löwenstein davon zu überzeugen, und deshalb hatte der Wolf sich blitzartig aus dem Untergrund zurückgezogen und alle Beziehungen abgebrochen, nachdem Huth sich als der Hohe Lord Dram zu erkennen gegeben hatte, und sich aller Dinge oder Personen entledigt, die ihn direkt mit dem Untergrund in Verbindung bringen konnten. Die Spione, die er eingeschleust hatte, spielten keine Rolle. Sie hatten keine Ahnung, wem sie ihre Berichte erstatteten, und solange das Geld regelmäßig kam, stellten sie auch keine Fragen. Dann hatte Valentin sich zurückgelehnt und wartete seither, daß Dram seinen ersten Zug machte, und er war sicher, daß der Mann keine Beweise gegen ihn in der Hand hielt, die Valentin nicht entkräften konnte. Selbst das Wort eines Obersten Kriegers reichte nicht aus, um jemanden in Valentins Position als Oberhaupt der Ersten Familie des Imperiums ohne Beweise anzuklagen. Man hatte schließlich seine Privilegien.

Doch Valentin hatte bisher vergebens gewartet. Dram hatte geschwiegen. Valentin hatte gewartet, bereit, sich gegen jeden Angriff zu wehren, doch es war nichts geschehen, und langsam reifte in ihm die Überzeugung, daß er – zumindest für den Augenblick – in Sicherheit war. Vielleicht hatte die Imperatorin erkannt, daß es nicht besonders klug war, ausgerechnet den Mann zu stürzen, von dem sie wegen des neuen Hyperraumantriebs abhängig war. Oder vielleicht wurde die Information auch zurückgehalten, um für die Zukunft ein Druckmittel gegen Valentin in der Hand zu haben. Löwenstein hatte sich in dieser Hinsicht immer recht weitsichtig gezeigt.

Oder aber… In letzter Zeit ging das köstliche Gerücht um, daß der Hohe Lord Dram nicht mehr lebte. Man hatte ihn seit Ewigkeiten nicht mehr persönlich bei Hofe gesehen. Seine einzigen Auftritte in der letzten Zeit hatten auf einem Bildschirm stattgefunden, nur Kopf und Schultern, und das hätte jeder x-beliebige Mann hinter einer digitalen Maske sein können. Die Gerüchte behaupteten, daß der Hohe Lord zu einer streng geheimen Mission aufgebrochen war, seinen Kopf in die Hände gedrückt bekommen hatte und in einer Kiste nach Hause zurückgekehrt war. Niemand hatte bisher Beweise liefern können, doch die Gerüchte stammten aus vielen voneinander unabhängigen Quellen und von verschiedenen Spionen in teilweise erstaunlich hohen Positionen. Und so wuchs in Valentin langsam, aber sicher die Überzeugung, daß etwas Wahres daran sein mußte.

Wenn Dram tot war, dann bestand die nicht geringe Wahrscheinlichkeit, daß sein Wissen um Valentins Verrat mit ihm gestorben war. Und das wiederum würde bedeuten, daß der Wolf seine Verbindungen zum Untergrund wieder aufleben lassen könnte. Wenn er wollte. Valentin schürzte die purpurnen Lippen. Nach allem, was er in letzter Zeit erreicht hatte, benötigte er den Untergrund nicht länger als Wegbereiter zur Macht.

Er kam ausgezeichnet allein zurecht. Und seine Agenten besaßen eine viel größere Chance, hinter das Geheimnis der Esper-Droge zu kommen, als er selbst jemals gehabt hätte. Nein, Valentin Wolf brauchte die Rebellen nicht länger. Valentin brauchte niemanden. Und es gab andere, drängendere Sorgen, die ihm Kopfzerbrechen bereiteten.

Während der schweren Auseinandersetzungen, in deren Verlauf der Wolf-Clan mit den Feldglöcks gleichgezogen und sie schließlich besiegt hatte, war das damalige Oberhaupt des Clans, Valentins Vater Jakob, getötet worden. Alle nahmen an, daß einer der Feldglöcks einen glücklichen Treffer gelandet hatte, doch in Wahrheit war es Valentins Hand gewesen, die den tödlichen Streich geführt hatte. Niemand hatte ihn bei diesem Vatermord beobachtet. Doch kurz nach Ende ces Kampfes, als alle Feldglöcks entweder tot oder geflohen waren, war die Leiche Jakobs ebenfalls verschwunden. Valentin hatte eine augenblickliche Suche angeordnet und hohe Belohnungen für die Wiederbeschaffung des Leichnams ausgesetzt, aber niemand hatte seither eine Spur von der Leiche seines Vaters gefunden.

Das konnte nur bedeuten, daß Jakob noch immer irgendwo dort draußen war. Nicht lebendig, nein. Er konnte unmöglich noch leben. Selbst wenn seine geheimnisvollen Freunde ihn auf der Stelle in eine Regenerationsmaschine gelegt hätten – es wäre längst zu spät gewesen. Sein Gehirn wäre bereits zu lange tot gewesen. In dieser Hinsicht war sich Valentin seiner Sache sicher. Das Bild des Vatermordes war noch immer klar und deutlich in Valentins Erinnerung. Eine seiner Drogen verschaffte dem neuen Wolf ein perfektes Gedächtnis, und er spielte die Szene in Gedanken immer und immer wieder durch, um sie zu genießen. Er war hinter seinen Vater getreten, unbemerkt in der Hitze des Gefechts, und hatte dem alten Herrn seinen Dolch fachmännisch zwischen die Rippen gestoßen und wieder herausgezogen. Alles war so schnell gegangen, daß niemand etwas bemerkt hatte. Jakob war tot. Daran konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Doch wer hatte die Leiche gestohlen?

Finlay und Adrienne waren die einzigen Feldglöcks gewesen, die dem Gemetzel entkommen konnten. Sie hatten einen Gravschlitten gestohlen und waren um ihr Leben geflohen, aber sie hatten Jakobs Leichnam nicht mitgenommen. Die externen Kameras des Feldglöck-Turms hatten Aufzeichnungen des fliehenden Schlittens gemacht, und darauf war nichts von Jakobs Leiche zu sehen. Nur zwei Leute hatten sich an Bord befunden. Unglücklicherweise konnte Valentin die Aufzeichnungen der internen Kameras nicht studieren, weil man es so eingerichtet hatte, daß alle abgeschaltet worden waren, als der Kampf begonnen hatte. Valentin hatte nicht zulassen dürfen, daß eine der Aufzeichnungen den Mord an seinem Vater zeigte. Also konnte jeder im Raum die Leiche genommen haben.

Aber wer konnte einen Nutzen aus dem leblosen Körper ziehen? Sicher, man konnte einen neuen Jakob aus den Zellen klonen. Aber wozu? Ein einfacher Gentest würde zeigen, daß der Klon nicht der echte Jakob war. Und für einen Klon würde die Familie kein Lösegeld zahlen. Selbst die trauernde Witwe Konstanze nicht… Sicher, für die Rückgabe der Leiche wäre man bereit zu zahlen, damit Jakob mit allen Ehren zur letzten Ruhe gebettet werden konnte. Aber es hatte nie eine entsprechende Forderung gegeben. Gegen seinen Willen formte sich ein neuer Gedanke in Valentins Kopf. Was, wenn… niemand die Leiche genommen hatte? Was, wenn der tote Jakob einfach aufgestanden und davonspaziert war, von jedermann unbemerkt im allgemeinen Chaos? Valentin schauderte unwillkürlich, als sich ein Bild vor sein geistiges Auge drängte. Jakobs Körper, noch immer aus der tödlichen Wunde blutend, wie er sich unsicher auf die Beine kämpfte und kurz verharrte, um seinen Mörder anzustarren, bevor er aus der Tür schlüpfte. Jakobs Körper, ungesehen in einer dunklen Seitengasse, belebt einzig und allein durch den Haß auf seinen Mörder. Irgendwo dort draußen lauerte er und wartete auf eine Gelegenheit zur blutigen Rache an seinem mörderischen Sohn. Valentin hatte immer einen Hang zum Aberglauben besessen. Meist hatte er sich nicht dagegen gewehrt, wegen des zusätzlichen Nervenkitzels, doch jetzt verfolgte ihn der Gedanke an seinen toten Vater und ließ ihn nicht mehr los. Manchmal, in der Nacht, wenn Valentin allein im Bett lag, träumte er zu hören, wie sein Vater aus der Finsternis zu ihm sprach. Die Worte erweckten pures Entsetzen in Valentin, doch morgens konnte er sich nie an sie erinnern.

Natürlich konnten das auch Nebenwirkungen seiner Drogen sein.

Valentin riß sich zusammen und kehrte in die Gegenwart zurück. Niemand konnte ihm Schaden zufügen. Er war jetzt der Wolf, anerkannt und unangefochten, und nichts konnte das wieder rückgängig machen, gleichgültig, was mit dem Körper seines Vaters geschehen war. Valentin hatte seine Rivalen, die Feldglöcks, zerstört, und er hielt den lukrativsten und wichtigsten Kontrakt des Imperiums in Händen: die Serienfertigung des neuen Hyperraumantriebs. Jedermann beugte den Kopf vor ihm und trat vor Valentin zur Seite. Er besaß das Ohr der Herrscherin. Die Imperatorin betrachtete Valentin als eine Art Hofnarren, Weisheit und Wahnsinn zugleich in einer unterhaltsamen Verpackung, doch wenn er sprach, hörte sie zu. Löwenstein tolerierte viel bei Valentin, das niemand sonst sich hätte erlauben dürfen, weil er sie amüsierte. Und auch, weil sie die Reaktionen der anderen Familien genoß, wenn sie feststellten, daß die Herrscherin Valentin bevorzugte oder in Positionen brachte, in denen er Macht über die anderen Clans besaß. Löwenstein war tief im Herzen ein Wesen mit einfachen Geschmäckern. Sowohl die Kirche als auch das Militär hatten deutlich zum Ausdruck gebracht, daß sie nicht viel von Valentin hielten. Es gab nicht viele Dinge, in denen Kirche und Militär einer Meinung waren, doch Valentin Wolf war ganz definitiv eines davon. Aber da beide Gruppen den neuen Raumschiffsantrieb benötigten, um weiterzukommen (und da keine der beiden Gruppen sich leisten konnte, gegenüber der anderen ins Hintertreffen zu geraten), blieben sie zumindest in der Öffentlichkeit höflich. Meistens jedenfalls. Keiner der Familien gefiel die Macht, die Valentin in Händen hielt. Schon allein aus dem Grund nicht, weil auf diese Weise das Kräftegleichgewicht, welches sie davon abhielt, sich gegenseitig an die Kehlen zu fahren, empfindlich gestört wurde. Doch ihre gelegentlichen Intrigen gegen den Wolf hatten bisher zu keinerlei Erfolgen geführt. Mit den Mitgliedern des Parlaments war es genau das gleiche. Sie konnten Valentin weder bestechen noch kontrollieren, weil sie nichts besaßen, das er sich wünschte. Und das machte den jungen Wolf gefährlich. Eine unbekannte Größe im Spiel, die nicht auszurechnen war.

Auf der anderen Seite versprach sich jeder einzelne Vorteile, wenn er Valentins Freundschaft gewinnen konnte. Und das wiederum führte zu einigen äußerst interessanten Unterhaltungen.

Valentins Geschwister Stephanie und Daniel beobachteten sein Treiben aus sicherer Entfernung. Sie waren genau wie ihr älterer Bruder zum Hof gekommen, gemeinsam mit ihren jeweiligen Ehepartnern, weil die Pflicht es von ihnen verlangt hatte, aber wie üblich hielten sie sich zurück und sprachen nicht mit Valentin. Stephanie und Daniel verachteten und haßten ihn; einerseits, weil er ein mit Drogen vollgesaugter Dekadenter und eine Schande für die gesamte Familie war, und andererseits, weil er ganz offensichtlich einen Dreck auf ihre Meinung gab. Beide Geschwister waren gegen ihren Willen verheiratet worden. Es war einer der letzten Befehle ihres Vaters Jakob gewesen. Doch keine der beiden Paarungen konnte als sonderlich erfolgreich bezeichnet werden. Nicht, daß Daniel oder Stephanie sich auch nur die geringste Mühe mit ihren Gatten gegeben hätten. Es gab andere, wichtigere Dinge, über die die beiden nachdenken mußten. Sie waren Wolfs, und sie kamen zusammen mit dem Rest der Familie in den Genuß von Valentins Erfolgen, aber sie standen trotzdem in Valentins Schatten. Nach seinem unerwarteten Aufstieg hatten Stephanie und Daniel jeglichen Einfluß und jegliche Macht innerhalb der Familie verloren, und seither mußten sie sich mit den Krumen zufriedengeben, die Valentin in ihre Richtung warf. Sie intrigierten wütend gegen den älteren Bruder, doch sie waren nie besonders gut in dieser Disziplin gewesen. Sie hatten niemand anderen als sich selbst, auf den sie sich verlassen und dem sie vertrauen durften, und so waren sie sich mit der Zeit immer nähergekommen. Manche sagten, unnatürlich nah.

Daniel war das jüngste von Valentins Geschwistern, eben erst Anfang Zwanzig, und er besaß die mächtige Gestalt seines Vaters, doch weder dessen Scharfsinn noch dessen Intelligenz.

Er war als Kind schwerfällig und unbeholfen gewesen, und sein Vater hatte es ihm mit Prügeln ausgetrieben. Selbst heute noch bewegte Daniel sich mit übertriebener Vorsicht. Er trug das Haar in langen, goldenen Strähnen nach der allerneuesten Mode, aber er wollte nichts von dem fluoreszierenden Make-up wissen, das dazugehörte. Größtenteils, weil ihm das Geschick und der Blick fehlten, um es erfolgreich zu verwenden. Er haßte die Vorstellung, daß man hinter seinem Rücken über ihn lachen könnte. Daniel fehlte jeder Sinn für Humor, und er vertraute niemandem, der in dieser Hinsicht anders war.

Stephanie, das mittlere Kind Jakobs, war großgewachsen und schlaksig, von nicht unsympathischem Aussehen, doch falsch und tödlich wie eine Schlange. Hätte sie genausoviel Intelligenz wie Gift besessen, wäre niemand vor ihr sicher gewesen.

Aber so bäumte sie sich gegen Valentins Bevormundung auf, obwohl sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie sie ihrem ältesten Bruder entkommen sollte. Was sie nicht davon abhielt, Valentin bei jeder Gelegenheit eine Szene zu machen. Natürlich nicht. Allein aus Prinzip. Valentin grinste immer nur die Umstehenden an und sagte: »Schwestern«, und jedermann lachte. Stephanie haßte es, wenn sie lachten. Sie beherrschte ihren jüngeren Bruder Daniel, doch dazu gehörte nicht viel.

Stephanie Wolf war immer die Eiskalte in der Familie gewesen. Daniel vermißte seinen Vater, im Gegensatz zu Stephanie.

Sie hatte keine Zeit, um sich mit Gefühlsduseleien aufzuhalten.

Valentin war in letzter Zeit gegen seinen Willen gezwungen gewesen, den beiden immer mehr Verantwortung für die Geschäfte der Familie zu übergeben. Er hatte weder die Zeit noch (um ehrlich zu sein) die Eignung, um das Geschäft mit dem neuen Hyperraumantrieb zu führen, und es war viel zu wichtig, um es jemand anderem als einem Familienmitglied zu überlassen. Und das bedeutete Stephanie und Daniel. Zusammen besaßen die beiden einen recht scharfen Verstand. Valentin vertraute ihnen zumindest so weit, daß sie nicht aus reiner Bosheit das Geschäft schädigten. Seine Geschwister waren zwar stinkwütend auf Valentin, doch sie würden nichts unternehmen, was der Familie Schaden zufügen könnte. Zuerst hatten sie ihre neue Aufgabe als Beleidigung aufgefaßt. Aristokraten, die ihre Hände mit gewöhnlichen Geschäften schmutzig machten. Aber es hatte nicht lange gedauert, bis Stephanie erkannte, daß geschäftliche Macht Valentins Position vielleicht unterminieren konnte. Also hatte sie sich in die Arbeit gekniet, hart studiert und ihrem Bruder ebenso Beine gemacht. Gemeinsam hatten sie das Geschäft ins Laufen gebracht und die Kontrolle übernommen.

Stephanie und Daniel standen dicht beisammen und zitterten wie alle anderen wegen der Kälte, während sie Valentin verstohlen beim Nachdenken beobachteten. Ihr Blick war alles andere als freundlich. Daniel zog eine Flasche Brandy hervor und reichte sie Stephanie. Dankbar nahm seine Schwester einen tiefen Schluck. Der Alkohol brannte in ihrer Kehle, und langsam wurde ihr ein wenig wärmer. Stephanie gab ihrem Bruder die Flasche zurück, und Daniel nahm ebenfalls einen großen Schluck.

»Nicht so viel, Daniel«, ermahnte sie ihren Bruder automatisch. »Das hier ist ein denkbar schlechter Ort, um sich zu betrinken. Du brauchst einen klaren Kopf!«

»Ich komme schon damit zurecht«, verteidigte Daniel sich ebenso automatisch. »Keine Sorge.« Dennoch steckte er die Flasche wieder ein. »Du machst dir zu viele Gedanken, große Schwester.«

»Und du zu wenig.«

»Nein, das stimmt nicht. Ich muß nur einen Blick auf Valentin werfen. Wenn ich sehe, wie angestrengt er nachdenkt, mache ich mir auf jeden Fall Sorgen. Vielleicht plant er wieder etwas, das nur ihm allein nutzt. Oder vielleicht hat er herausgefunden, wie tief wir bereits in seinem Hyperraumgeschäft stecken. Wir sollten es schließlich nur rühren, nicht gleich ganz übernehmen.«

Stephanie grinste kalt. »Bis er herausgefunden hat, was geschehen ist, wird es zu spät sein. Unsere Kontrolle über die Produktion des Hyperraumantriebs wird uns Kontrolle über ihn geben. Er ist davon abhängig, um seinen Status bei Hofe nicht zu gefährden. Ein plötzlicher Einbruch in der Produktion, zu einem Zeitpunkt, wo die Eiserne Hexe eine Steigerung verlangt, und er fällt in ihrer Gunst bis ins Bodenlose, ohne daß wir der Gesellschaft auch nur den geringsten Schaden zufügen.

Natürlich gibt es noch eine Menge anderer Dinge, die auf ihn und nicht auf uns zurückfallen würden. Es sollte nicht schwer sein, die Schuld an allem Valentin in die Schuhe zu schieben.

Schließlich sind wir diejenigen, die Zugriff auf die Bücher der Gesellschaft haben. Wenn wir Valentin einem stetigen Strom von Peinlichkeiten aussetzen, sollte es uns am Ende gelingen, die Herrscherin davon zu überzeugen, daß es im Interesse des Imperiums und in ihrem eigenen liegt, wenn sie Valentin die Kontrakte wegnimmt und uns überschreibt. Wir werden ihn zu Fall bringen, kleiner Bruder. Wir werden ihn zu Fall bringen, verlaß dich nur auf mich.«

Daniel runzelte unglücklich die Stirn. »Ich mache mir trotzdem Gedanken über das, was Valentin ausheckt. Was kann so wichtig sein, daß er all seine Zeit damit verbringt, anstatt die Gesellschaft zu leiten, von der er abhängig ist? Was auch immer es sein mag, ich schätze, es ist von größter Bedeutung.«

Stephanie zuckte die Schultern. »Wer weiß schon, wo Valentin in diesen Tagen mit seinen Gedanken ist? Mich überrascht immer wieder, daß sie anscheinend noch in den gleichen Sphären schweben wie die von uns anderen.«

»Wir werden ihn fertigmachen«, sagte Daniel und gab sich Mühe, genauso zuversichtlich zu klingen wie seine Schwester.

»Wir bringen ihn zu Fall. Vater hatte niemals die Absicht, einen dekadenten Geisteskranken wie Valentin zum Oberhaupt der Familie zu machen. Und dann werden wir die Familie leiten. Wir beide zusammen.«

»Ja«, erwiderte Stephanie. »Genau. Wir beide zusammen.«

Daniel blickte seine Schwester an und senkte die Stimme.

»Bist du in Ordnung? Macht dir die Kälte zu schaffen? Komm zu deinem kleinen Bruder und laß dich von ihm wärmen.«

Daniel öffnete den Umhang. Stephanie schlüpfte darunter und drängte sich dicht an ihn, während er den Stoff des Umhangs eng um sie beide wickelte. Und wenn sie sich ein wenig enger aneinander drängten, als Bruder und Schwester es vielleicht sollten, dann bemerkte es unter dem Schutz des Umhangs und des noch immer respektierten Namens Wolf zumindest niemand.

Nicht weit entfernt standen Lily Wolf, die Gattin Daniels, und Michael Wolf, der bei seiner Hochzeit mit Stephanie den Familiennamen seiner Frau hatte annehmen müssen, dicht beieinander und beobachteten, wie ihre beiden Partner Valentin anstarrten. Ein unparteiischer Beobachter wäre vielleicht zu dem Schluß gekommen, daß die beiden dichter als nötig beieinander standen. Der gleiche Beobachter hätte vielleicht auch aus ihrer Körpersprache und aus den gelegentlichen verlangenden Blicken schließen können, daß die beiden etwas miteinander hatten. Und der unparteiische Beobachter, in der Annahme, daß an Löwensteins Hof ein derartiger Skandal durchaus möglich war, hätte vollkommen recht gehabt. Lily und Michael waren ein Liebespaar, und das bereits seit geraumer Zeit. Jeder wußte Bescheid darüber, mit Ausnahme von Stephanie und Daniel Wolf, die viel zu sehr mit anderen Dingen beschäftigt waren. Selbst Valentin wußte es. Er hatte nur noch nichts dazu gesagt, weil er noch immer nicht wußte, ob es lustiger sein würde, wenn er seine jüngeren Geschwister aufklärte, oder ob er einfach weiter zuschauen sollte.

Lily war groß, schlank und besaß trotzdem ausgeprägte weibliche Formen. Ihre silberne Perücke fiel in langen Locken bis über die Schultern herab und rahmte ein sommersprossiges, bleiches Gesicht ein. Sie trug immer eine Perücke auf dem kahlgeschorenen Schädel, weil es so viel einfacher war, eine Perücke zu pflegen. Lily kleidete sich stets nach der neuesten Mode und sah gut darin aus. Sie besaß eine natürliche Eleganz, die andere unscheinbarere Frauen grün vor Neid werden ließ.

Lily war eine hinreißende Schönheit mit vorstehenden Wangenknochen und dunklen, schimmernden Augen. Sie besaß ein Lächeln, das einen Gigolo auf der Stelle betäuben konnte, und ihr Lachen steckte ganze Parties an. Daniel mochte sie nicht, und seine Frau faßte das als persönliche Beleidigung auf.

Michael war nicht ganz so groß wie Lily, doch sein Körper war mit den besten Muskeln ausgerüstet, die ein Körperladen liefern konnte. Sie tendierten nach einer gewissen Zeit immer zum Erschlaffen, weil er sich nicht zu genügend Übung hinreißen konnte, doch ein einziger Besuch im Körperladen genügte, und alles war wieder wie neu. Er war von dunklem Typ, gutaussehend, und er besaß eine dichte Mähne von pechschwarzem Haar, auf die er besonders stolz war. Michael bevorzugte lockere Kleidung mit reichlich offenen Stellen, die seinen männlichen Körper zeigten, und das Resultat davon war, daß er jetzt am ganzen Leib zitterte wie Espenlaub und die Zähne zusammenbeißen mußte, um sie am Klappern zu hindern. Seine Haut hatte eine blasse Farbe angenommen, die einen unansehnlichen Kontrast zu seinem schwarzen Haar bildete. Auf Michaels Kopf hatte sich eine Krone aus Schnee gebildet. Wenigstens waren seine Füße warm, denn er bevorzugte kniehohe Lederstiefel. Doch der Gedanke konnte ihn nicht wirklich trösten. Er starrte wütend zur Eisernen Hexe, die gleichmütig auf ihrem Thron saß, und schlang die Arme eng um den Leib.

»Wenn du dich noch eine Spur fester drückst, quellen deine Innereien aus den Ohren heraus«, sagte Lily leise.

»Ich langweile mich«, erwiderte Michael durch seine zusammengebissenen Zähne hindurch. »Ich langweile mich zu Tode, und mir ist scheißkalt. Meine Glieder sind zu Eiszapfen erstarrt. Sieh mal nach, ob du jemanden findest, dem ich den Umhang wegnehmen kann.«

»Reiß dich zusammen, Liebster. Versuch wenigstens dieses eine Mal, keine unnötige Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.

Die Innereien des Schafes, das ich heute morgen geopfert habe, sagten es ganz deutlich. Heute ist kein guter Tag zum Auffallen.«

»Warum haben deine verdammten Innereien dich nicht gewarnt, daß der Hof diesmal eine verdammte Tiefkühltruhe sein würde? Innereien mögen ja schön und gut sein, wenn es darum geht, großartig und mystisch zu klingen, aber wenn es um die Vorhersage von praktischen Dingen geht, wo sind sie dann?

Ich an deiner Stelle würde mir mein Geld zurückgeben lassen.

Oder zumindest ein neues Schaf.«

»Hör auf zu spotten, Liebster. Du verstehst nichts von diesen Dingen. Das weißt du selbst am besten. Und achte darauf, was du sagst. Immerhin bist du ein Aristokrat.«

»Ich hätte Buchhalter bleiben sollen. Die Herrscherin hätte nie von meiner Existenz erfahren, und ich hätte wenigstens noch Gefühl in meinen Fingern.«

»Wenn du Stephanie nicht geheiratet hättest, wären wir uns nie begegnet.«

Michael dachte über Lilys Bemerkung nach und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die ein Lächeln sein sollte. »Schön, in dieser Hinsicht hast du recht. Das einzige Mal, daß ich in meinem Leben Glück gehabt habe, war, als wir uns kennenlernten.«

Lily streckte die Hand aus und tätschelte tröstend Michaels Wange. »Glück hat damit überhaupt nichts zu tun, Liebster. Es gibt andere Mächte, Einflüsse und Mysterien, die unser Leben beherrschen.«

»Es gibt nur eine Person, die unser Leben beherrscht, und die sitzt im Augenblick in dichte Pelze gehüllt auf ihrem verdammten Thron und lacht sich halb tot über uns. Warum, zur Hölle, sind wir eigentlich hier, Lily? Wir sind nicht so wichtig, als daß unsere Abwesenheit irgend jemandem auffallen würde.

Wir hätten den Nachmittag besser gemeinsam verbracht und jede Menge interessanter Dinge unternommen. So oft kommen wir schließlich auch nicht von unseren jeweiligen Ehepartnern weg. Du weißt, wie sehr du mir fehlst.«

»Du fehlst mir auch, mein Liebling, aber wir müssen trotzdem vorsichtig sein. Wir sind jetzt beide Wolfs, und Stephanie und Daniel würden höchst ungehalten reagieren, wenn wir den Namen des Clans durch unsere Abwesenheit in Verruf brächten. Vielleicht würden sie der Sache sogar weiter nachgehen und herausfinden, was mit uns los ist. Ich habe den starken Verdacht, die beiden würden es sehr persönlich nehmen, wenn sie davon wüßten. Die Armen. Wenn wir Glück hätten, ließen sie uns auf der Stelle töten. Aber viel wahrscheinlicher würden sie sich offiziell von uns scheiden lassen und ohne einen Pfennig Geld und ohne Namen aus dem Clan verstoßen. Wir wären Ausgestoßene. Niemand würde einen Finger krümmen, um uns zu Hilfe zu kommen, nicht einmal unsere eigenen Familien. Ich habe mich bereits ziemlich an meinen gegenwärtigen Lebensstil gewöhnt, und ich habe nicht vor, irgend etwas zu unternehmen, womit ich all das aufs Spiel setzen könnte.

Einschließlich einer verschwitzten Horizontalen zusammen mit dir, Liebster. Wir müssen unsere Treffen sorgfältig planen und jede nur mögliche Vorsichtsmaßnahme treffen. Hab Geduld, mein Liebling. Die Dinge werden nicht immer so sein wie heute. Und was den Grund unseres Hierseins anbelangt, waren die Innereien zum ersten Mal recht deutlich. Irgend etwas Wichtiges wird passieren. Hier am Hof. Etwas von großer Bedeutung.

Etwas, das eine ganze Flutwelle neuer Möglichkeiten in Gang setzen wird, und wir beide könnten darauf ganz bis nach oben reiten.«

Michael sah Lily liebevoll an, wie sie in ihrem falschen Bauernkostüm und Schultertuch dastand, doch er erwiderte nichts.

Lily liebte es, sich in der Rolle der letzten der großen Mystikerinnen zu sehen, einer heidnischen Hexe aus dunkler Vergangenheit mit seltenen und geheimnisvollen Kräften. In Wirklichkeit hatte sie lediglich ein paar uralte Bücher gelesen und sich unsterblich in die Rolle verliebt. Viel wahrscheinlicher war, daß sie lediglich eine rege Phantasie besaß, kombiniert mit einem Hauch von ESP, doch Michael war nicht so dumm, ihr seine Meinung darüber zu sagen. Er war sehr verliebt in Lily. Zudem neigte seine Geliebte zu Tobsuchtsanfällen, wenn sie sich ärgerte. Trotzdem vertraute Michael auf Lilys Intuition.

Sie hatte die höfische Politik schon immer viel besser verstanden als er. Michael Wolf würde die Augen offenhalten, wenn sie nicht vorher einfroren. Wie einige andere Teile seiner kostspieligen Anatomie.

Am Anfang hatte Michael sich nur deswegen mit Lily eingelassen, weil sich beide gelangweilt fühlten. Als Erben Jakob Wolfs stand sowohl Lily als auch Michael ein Platz im WolfClan zu, doch niemand schien es für nötig zu halten, ihnen das Gefühl zu geben, daß sie willkommen waren. Man hatte ihnen einfach keine Aufgabe im Clan zugewiesen, weder in der Politik noch im geschäftlichen Bereich. Jakob hatte die Hochzeiten in erster Linie arrangiert, um über einige Zulieferfirmen die Kontrolle zu erlangen, die an der Produktion des neuen Hyperraumantriebs beteiligt waren. Aber inzwischen hatte der Wolf-Clan die Firmen übernommen und seinem Imperium einverleibt, und Lily und Michael waren überflüssig geworden. Man durfte ihnen nicht erlauben, die Nase in die Geschäfte zu stecken, weil sie keine echten Wolfs waren und ihnen nichts von Bedeutung anvertraut wurde. Auf der anderen Seite wurden beide auch am Kontakt mit ihren eigenen Familien gehindert, weil sie Wolfs waren, wenn auch keine echten. Und da Jakob Lily und Michael ausgewählt hatte, wollten Stephanie und Daniel nichts mit ihnen zu schaffen haben. Sie brachten mühsam ein steifes Lächeln zustande, wenn das Protokoll einen öffentlichen Auftritt mit den Ehegatten verlangte, und hielten auf diese Weise den Eindruck aufrecht, daß alles in bester Ordnung war. Doch in Wirklichkeit diente diese Schauspielerei nur dem Zweck, die Kirche zufriedenzustellen und andere Familien nicht auf den Gedanken zu bringen, daß es bei den Wolfs vielleicht einen schwachen Punkt geben könnte. Die gesamte restliche Zeit hatten Stephanie und Daniel nur Augen füreinander und für das Geschäft, das sie gemeinsam leiteten. Lily und Michael waren auf sich selbst angewiesen, wenn sie sich amüsieren wollten. Von da an war alles Weitere unausweichlich. Die einzige andere Möglichkeit wäre ein Komplott gegen die Wolfs gewesen, zusammen mit einem anderen Clan, und sowohl Lily als auch Michael hatten viel zuviel Angst vor Valentin, um so weit zu gehen.

Wenigstens bis zum heutigen Tag.

In der Zwischenzeit beobachteten die Repräsentanten des Chojiro-Clans mit großem Interesse alles, was die Wolfs taten. Sie pflegten noch immer trotzig ihre orientalische Tradition und Kleidung, trotz all der Jahrhunderte, die sie sich inzwischen von den Gründern des Clans entfernt hatten. Die Chojiros hatten sich durch harte Arbeit, subtile Intrigen und Morde an jenen, die ihnen in die Quere gekommen waren, ihren Weg nach oben hart erarbeitet. Sie hatten nur wenige Verbündete unter den anderen Clans, und sie zogen es vor, für sich allein zu bleiben. So wußten die Chojiros wenigstens immer, wem sie trauen durften und wem nicht. Nach der Zerschlagung des Feldglöck-Clans waren sie unmerklich in die entstandene Lücke geschlüpft, hatten Konkurrenten und andere Bewerber durch Drohungen und ein gelegentliches stilles Blutbad verdrängt und wußten jetzt nur noch den Wolf-Clan über sich. Und da kein Chojiro jemals bereit gewesen war, sich mit der Rolle des Zweiten zufriedenzugeben, hatte ein lautloser, inoffizieller, aber nichtsdestotrotz tödlicher Krieg zwischen den beiden Familien begonnen.

Die Chojiros hatten sich auf die Herstellung von Lektronen aller Größenordnungen und ihre Programmierung spezialisiert, eingeschlossen Schiffsrechner und Kontrollsysteme. Als Ergebnis fanden die Chojiros sich in einer schwierigen Partnerschaft mit den Wolfs wieder, und niemand wagte, die Geschäfte des anderen zu stören – aus Angst, den Zorn der Imperatorin auf sich zu ziehen. Tatsächlich war die Situation so kompliziert geworden, daß beide Seiten sich widerwillig zu einem vorläufigen Waffenstillstand entschlossen hatten, während sie versuchten herauszufinden, wo, zur Hölle, sie zur Zeit eigentlich standen.

Die systematische Zerstörung der Rechner und Lektronen in der Zentrale der Steuerbehörde hatte der Reputation der Chojiros schweren Schaden zugefügt. Genau aus diesem Grund hatten sie sich heute so zahlreich bei Hofe eingefunden: um jeden daran zu erinnern, daß sie noch immer der zweitmächtigste Clan des Imperiums waren. Zur Zeit ersetzten sie auf eigene Kosten die zerstörten Rechner in der Steuerbehörde und bauten zusätzliche Sicherheitseinrichtungen ein, die verhindern sollten, daß sich ein derartiger Anschlag wiederholen konnte. Innerhalb des Clans hatten sich die Verantwortlichen für die erste Installation bereits das Leben genommen, um für ihren Fehler Buße zu tun. Bei einigen hatte man nachhelfen müssen, aber so war das eben im Imperium unter der Herrschaft der Löwenstein. Im Chojiro-Clan gab es keinen Platz für Versager und Schwächlinge. Sie waren knallharte’ Geschäftsleute, Halsabschneider, und das manchmal im buchstäblichen Sinne des Wortes. Die Chojiros hatten eine Kunstform aus feindlichen Übernahmen gemacht. Es gab ein Sprichwort, und viele hielten es für nicht übertrieben: Wenn du einen Chojiro grinsen siehst, dann mach, daß du verschwindest.

SB Chojiro war nur aus einem einzigen Grund hergekommen: Sie wollte als Sprecherin für ihre Familie auftreten. Sie war dazu ausgebildet, immer und unter allen Umständen ein freundliches Gesicht zu bewahren, das Gesicht einer gefürchteten Familie. SB war eine Diplomatin, eine ausgezeichnete Unterhändlerin und eine Meisterin der Täuschung. Und obwohl ihr makelloser Ruf innerhalb der Familie ein wenig von der Flucht des Espers Julian Skye befleckt worden war, gab man die Hauptschuld den Verantwortlichen für die Sicherheitseinrichtungen des Gefängnisses und betrachtete SB noch immer als absolut vertrauenswürdig. Schließlich gehörte sie zum Schwarzen Block.

In ihrer Begleitung, gekleidet in einen farblich passenden Kimono, befand sich der Investigator Razor, um jeden an die rauheren Seiten des Clans zu erinnern. Razors Gesicht und Hände zeigten Spuren erst kürzlich erlittener Verbrennungen, aber niemand war so dumm, den Investigator nach dem Ursprung der Verletzungen zu fragen. Investigatoren gaben niemals Schmerz zu. Wenn sie überhaupt welchen spürten.

Jedermann machte SB und Razor aus den verschiedensten Gründen bereitwillig Platz und erlaubte ihnen so, sich ungestört zu unterhalten. SB lächelte allen und jedem freundlich und unergründlich zu, während sie leise mit Razor sprach. Der Investigator blickte immer nur geradeaus, doch seine kalten Augen waren bereit, sich jeder Bedrohung zu stellen.

»Ich verstehe also richtig? Es hat keine weiteren Fortschritte bei der Suche nach Julian Skye gegeben?« erkundigte sich SB gerade, während ihre lächelnden Lippen sich kaum bewegten.

»Ich hätte Euch umgehend informiert, wenn wir etwas gefunden hätten. Die Sicherheitsbehörden geben sich die größte Mühe, doch die Stadt ist ein einziges Chaos. Wenn Skye dort draußen ist, werden wir ihn früher oder später finden und zurückbringen. Tot oder lebendig.«

»Ich will ihn lebend, Investigator. Ich habe eine Menge Fragen, die ich ihm unbedingt noch stellen muß. Nicht zuletzt, wie er es geschafft hat zu entkommen.«

»Wenn er dort draußen ist, dann werden wir ihn finden. Aber ich kann nicht sagen, wie sein Zustand sein wird. Heute starben eine Menge Leute oben in der Stadt.«

SB seufzte. Razor konnte verdammt stur sein, wenn er wollte. »Laßt uns über angenehmere Dinge sprechen, Investigator.

Machen wir wenigstens Fortschritte beim Infiltrieren der Wolf-Geschäfte?«

»Überraschend gute sogar. Daniel und Stephanie sind so mit ihren eigenen Intrigen beschäftigt, daß sie nicht nach rechts oder links blicken. Valentin verfolgt irgendwelche eigenen Interessen und hat ihnen genügend Freiheit gelassen, damit sie schwimmen oder untergehen. Sie haben sich nicht schlecht geschlagen, bisher jedenfalls, aber sie haben nicht die geringste Erfahrung mit Industriespionage. Wir haben inzwischen beinahe auf jeder Ebene ihrer Firma, vom niedrigsten Posten bis hin zum Vorstand, eigene Leute eingeschleust, die in keiner direkten Verbindung mit dem Chojiro-Clan stehen. Die Sicherheitsleute der Wolfs sind ziemlich gut, aber ohne kompetente Führung können sie nichts ausrichten.«

»Das ging für meinen Geschmack viel zu leicht«, erwiderte SB. »Ich kann einfach nicht glauben, daß Valentin überhaupt kein Interesse an der Gesellschaft zeigt. Schließlich ist sie die Basis der gegenwärtigen Stellung und des Reichtums seiner Familie. Er hat praktisch den letzten Kredit aus den Schatztruhen der Wolfs und der Feldglöcks investieren müssen, um die Gesellschaft ans Laufen zu bekommen, und er hatte kaum Reserven, die er für ein Sicherheitsnetz ausgeben konnte. Bald schon werden wir in einer Position sein, die uns erlaubt, die Fertigung der Hyperraumtriebwerke gründlich zu sabotieren.

Ich kann einfach nicht glauben, daß Valentin nicht weiß, was wir tun.«

»Er hat seine eigenen Interessen«, entgegnete Razor. »Ich bedaure, gestehen zu müssen, daß meine Leute bisher nicht herausfinden konnten, was diese Interessen außer dem, was ohnehin offensichtlich scheint, genau sein könnten. Die Leute, die wir hinter ihm hergeschickt haben, sind allesamt spurlos verschwunden.«

»Und Ihr findet das nicht besorgniserregend?«

»Investigatoren finden nichts besorgniserregend. Es schadet dem Ruf. Fahrt Ihr nur mit Euren Intrigen fort, und ich kümmere mich darum, daß niemand Euch in die Quere kommen kann.«

SB nickte knapp. »Wir können nicht länger warten, nur weil wir nicht wissen, was Valentin plant. Wenn überhaupt. Erteilt die notwendigen Befehle, Razor. Ich will bis zum Ende der nächsten Woche signifikante Fehler bei der Konstruktion des neuen Antriebs sehen. Stellt sicher, daß etwas Aufsehenerregendes dabei herauskommt. Etwas, auf das sich die Nachrichtensender stürzen werden. Wenn wir die Auslieferung der Antriebe nicht nur verzögern, sondern vollständig zum Erliegen bringen können, dann sollte es nicht mehr lange dauern, die Herrscherin davon zu überzeugen, daß die Wolfs nicht gut genug sind, um die Verantwortung für eine so bedeutsame Angelegenheit zu tragen. Und wir werden bereitstehen, im gleichen Augenblick alles zu übernehmen. Schließlich hat außer uns niemand so viel Anspruch darauf. Wir produzieren bereits die Lektronen für den neuen Antrieb.«

»Es sei denn, Valentin kennt unseren Plan und holt zu einem wirklich vernichtenden Gegenschlag aus.«

SB blickte Razor streng an. »Auf welcher Seite steht Ihr eigentlich, Investigator?«

»Stellt mir keine Fragen wie diese. Die Antwort würde Euch nur wütend machen. Was zählt, ist doch nur, daß ich geschworen habe, die Interessen Eures Clans mit meinem Leben zu verteidigen. So lange jedenfalls, wie ich bei Eurem Clan bleibe.«

»Sehr tröstlich, wirklich.« SB schniefte und wandte sich mit einer bedächtigen Bewegung um. Sie blickte zu Valentin hinüber. Der Wolf sprach angeregt mit einigen Leuten, die ganz den Eindruck erweckten, als wären sie lieber woanders. Sie beobachtete ihn für eine Weile, die Augen kalt wie Eis.

»Manchmal denke ich, wir sollten lieber einen vorbeugenden Schlag gegen den Wolf-Clan führen und mit Valentin anfangen. Eine wirklich feindliche Übernahme.«

»Das würde ich nicht empfehlen«, widersprach Razor. »Wir wissen zu wenig über die Wolfs im allgemeinen und über Valentin im besonderen. Nur ein Dummkopf springt kopfüber in ein Gewässer, dessen Tiefe er nicht kennt. Hinter Valentin steckt mehr, als wir wissen. Es muß so sein. Ich empfehle eine gelassenere Vorgehensweise. Die Schwachstellen der Wolfs sind Daniel und Stephanie. In ihrer verschlungenen Beziehung gibt es mit Sicherheit einiges, aus dem sich Profit schlagen läßt…«

»Und genau aus diesem Grund seid Ihr verantwortlich für die Durchführung unserer Sicherheitsmaßnahmen und nicht für deren Planung«, unterbrach ihn SB scharfzüngig. »Wir könnten mit den beiden anstellen, was wir wollen, einschließlich, sie langsam und qualvoll umzubringen, und Valentin würde einen Dreck darauf geben.«

»Aber wenn wir sie in den Griff bekämen, sie umdrehen könnten, vielleicht indem wir sie wegen ihrer Beziehung unter Druck setzen… oder indem wir ihnen Informationen über Lily und Michael zukommen lassen…«

»Nein«, entschied SB. »Daniel und Stephanie sind viel zu sprunghaft, um auf sie bauen zu können. Sie mögen schwach sein, aber sie sind immer noch Wolfs. Ich habe eine bessere Idee.«

Konstanze Wolf, die Witwe Jakobs, stand allein in der Menge. Sie war jetzt oft allein, egal, wohin sie ging. Achtzehn Jahre alt und noch immer in Schwarz gekleidet. Sie trauerte um ihren ermordeten Mann. Konstanze war groß und schlank. Eine atemberaubende Erscheinung, selbst auf einer Welt, wo Schönheit inzwischen alltäglich war. Doch das Feuer in ihr war erloschen, und sie wirkte wie eine welkende Blume. Wahrscheinlich war sie die einzige in der gesamten Wolf-Familie gewesen, die Jakob wirklich geliebt hatte. Die anderen hatten eine Weile getrauert, selbst Valentin, doch jeder hatte sein eigenes Leben zu leben, und das taten sie auch, sobald es sich nur irgendwie wieder einrichten ließ. Bis auf Konstanze. Sie hatte niemanden gehabt außer Jakob. Er war ihr Leben gewesen. Jetzt war er nicht mehr da, und die junge Witwe wußte nicht, was sie mit sich anfangen sollte. Sie hatte kein Interesse an Politik und Intrigen, und man erlaubte ihr nicht, bei Familienangelegenheiten mitzusprechen. Jakobs Kinder hatten seine letzte Heirat mit einer Frau, die jünger war als sie selbst, niemals gutgeheißen. Sie hatten die Möglichkeit gefürchtet, Jakob könne seine älteren Kinder enterben, entweder zu Konstanzes oder zugunsten ihrer gemeinsamen Kinder. Jetzt war er nicht mehr, und die drei jungen Wolfs konnten Konstanze endlich ignorieren. Und das taten sie auch, und ihre Erleichterung darüber war kaum verborgen.

Konstanze sah sich unter den versammelten Höflingen um, doch niemand erwiderte ihren Blick. Sie war niemand mehr, und keiner hatte Zeit, sich mit ihr abzugeben. Bis ihre Blicke die Augen einer Frau trafen, die sie anlächelte. SB Chojiro.

Konstanze runzelte nachdenklich die Stirn. SB setzte sich ohne sonderliche Eile in Bewegung und kam graziös trotz des tiefen Schnees, durch den sie stapfte, auf Konstanze zu. Konstanze wußte, daß sie die andere Frau als Feindin betrachten sollte, aber sie fand nicht die notwendige Energie dazu. SB blieb vor der jungen Witwe stehen und lächelte erneut.

»Wir hätten uns schon viel früher einmal unterhalten sollen, liebste Konstanze. Wir besitzen beide eine Menge Gemeinsamkeiten. Es ist hart für eine Frau, allein zu sein. Ich weiß.

Aber nur weil Eure Familie Euch verlassen hat, bedeutet das noch lange nicht, daß wir alle das gleiche getan haben. Ihr besitzt noch immer Freunde, Konstanze. Wenn Ihr mögt.«

Konstanze blickte Chojiro eisig an. »Mag schon sein, daß ich für meine Familie in Ungnade gefallen bin, Chojiro, aber ich bin nicht so tief gesunken, daß ich meine eigenen Verwandten verraten würde.«

SB hörte nicht eine Sekunde auf zu lächeln. »Ich denke, mein Vorschlag ist zum Besten des gesamten Wolf-Clans. Valentin führt Euch alle ins Verderben. Er hat sich in seiner eigenen Welt verloren, und er sieht nur noch das, was er sehen will.

Stephanie und Daniel haben nur Augen füreinander. Der neue Hyperraumantrieb wird in ihre Hände fallen, und was soll dann aus der Familie werden? Aus der Familie, die Jakob Wolf zu dem gemacht hat, was sie heute ist? Und was wird mit Euch geschehen, liebe Konstanze?«

»Wenn Ihr mir etwas zu sagen habt, Chojiro, dann sagt es.«

»Ihr könntet das Oberhaupt der Wolfs sein, Konstanze. Valentin sollte abgesetzt werden, denn er ist wahnsinnig, und Daniel und Stephanie sind inkompetent. Und da sie im Lauf der Jahre alle nötigen Schritte unternommen haben, um die anderen in Frage kommenden Familienangehörigen aus dem Weg zu räumen, bleibt nur noch Ihr übrig, liebe Konstanze, um den Clan zu leiten. Im Augenblick könnt Ihr nicht hoffen, den Clan zu führen… so allein, wie Ihr dasteht. Ihr wart immer nur am Rande des Geschehens. Aber wenn Ihr einen Chojiro heiraten würdet, könnten wir unsere beiden Familien durch Eure Kinder vereinen. Und mit unserer Hilfe würdet Ihr bis dahin die Wolfs führen. Denkt darüber nach, Konstanze. Ihr würdet nie mehr allein sein müssen. Ihr seid noch jung, und Ihr habt noch Euer ganzes Leben vor Euch. Werft es nicht weg aus Loyalität gegenüber Leuten, die Euch verachten.«

»Ihr wollt etwas von mir«, beharrte Konstanze. »Alle wollen etwas. Kommt endlich zur Sache, Chojiro. Was wollt Ihr?«

»Informationen«, erwiderte SB. »Ihr seid noch immer eine bedeutende Wolf, und Ihr habt Zutritt zu vielen Dingen, die meine Leute nur unter Schwierigkeiten herausfinden könnten.

Wir haben Fragen, und wir benötigen Antworten. Als Gegenleistung würden wir Euch zu einer von uns machen. Ein geehrtes Mitglied des Chojiro-Clans, geachtet und geschätzt. Ist das nicht alles, was Ihr Euch je gewünscht habt?«

Konstanze blickte ihr Gegenüber nachdenklich an. Sie sagte zwar nicht ja, aber sie sagte auch nicht nein. SB wandte sich um und bedeutete Razor mit einem Wink, sich zu den beiden Frauen zu gesellen. Der Investigator stapfte durch den tiefen Schnee, als wäre er gar nicht vorhanden, und verbeugte sich schließlich höflich vor Konstanze. Die junge Witwe nickte zur Antwort knapp und musterte den Investigator wachsam.

SB schenkte ihr ein beruhigendes Lächeln und legte eine besitzergreifende Hand auf Razors Arm.

»Investigator, Ihr wart anwesend, als Jakob Wolf starb. Erzählt Konstanze doch, was Ihr gesehen habt.«

»Er starb nicht von der Hand eines Feldglöcks«, sagte Razor tonlos. »Der Wolf wurde von hinten erstochen. Von seinem ältesten Sohn. Von Valentin, dem gegenwärtigen Oberhaupt Eures Clans. Es ging alles sehr schnell, und niemand außer mir hat es gesehen.«

»Und Ihr wißt, daß Investigatoren niemals lügen«, sagte SB Chojiro. Sie achtete sorgsam auf den Ton ihrer Stimme, damit es nicht zu erfreut klang.

Konstanze preßte die Lippen zusammen. Sie wußte nicht, ob sie damit verhindern wollte, daß sie vor Wut bebten, oder ob sie es tat, um ihre Tränen zurückzuhalten. Konstanze hatte sich stets darüber gewundert, daß sich niemals einer der Feldglöcks des Sieges über Jakob gebrüstet hatte. Es wäre für jeden von ihnen ein großer Triumph gewesen, und in den schlimmen Tagen nach ihrem Sturz hatten sie einen Triumph verdammt bitter nötig. Aber niemand hatte je behauptet, den Wolf getötet zu haben. Niemand hatte gesehen, wie es geschehen war. Konstanze hatte alle Leute gefragt. Sie hatte angenommen, daß es der alte Feldglöck persönlich gewesen sein mußte, der ihren Jakob tödlich verwundet hatte, bevor es ihn selbst erwischt hatte. Bis heute. Es kam ihr nicht in den Sinn, Razors Worte zu bezweifeln. Er war schließlich ein Investigator. Außerdem hatten seine Worte wahr geklungen. Valentin hatte allen Grund gehabt, seinen Vater zu töten, und er besaß nicht die geringsten Skrupel. Er war in der Hitze des Gefechts unbemerkt davongekommen. Konstanze blickte SB Chojiro fest in die Augen.

»Redet weiter.«

Löwenstein XIV saß bequem auf ihrem Eisernen Thron und blickte interessiert von einem Gesicht zum nächsten, während Kirche und Militär vor ihren Augen stritten. General Beckett nahm sich in aller Seelenruhe die Zeit, sich zwischen den Antworten an seiner Zigarre zu erfreuen. Kardinal Kassars einziges Auge leuchtete mit dem unlöschbaren Feuer des wahren Fanatikers. Löwenstein liebte es, den beiden beim Streiten zuzusehen, nicht zuletzt auch deswegen, weil sie sich nicht zusammenrotten und mit ihr disputieren konnten, während sie miteinander stritten. Divide et impera funktionierte bei Hofe genauso wie im Krieg. Natürlich half die Tatsache, daß Beckett und Kassar sich gegenseitig nicht ausstehen konnten. Keiner von beiden war für sich allein genommen stark genug, um Löwensteins Autorität zu bedrohen, doch vereint hätten sie einen beeindruckenden Gegner abgegeben. Also hielt Löwenstein es für angebracht, die Wut der beiden gegeneinander zu lenken. Es brauchte nicht viel dazu. Ein freundliches Wort hier, ein wissender Blick dort, und sie schnappten nach dem Köder wie hungrige Haie. Aus genau diesem Grund standen die beiden jetzt vor ihrer Herrscherin, kläfften sich mit gesträubtem Fell an wie Gassenköter und waren blind für alles außer dem Bedürfnis, den anderen schlecht aussehen zu lassen. Löwenstein grinste in sich hinein. Männer waren so leicht auszurechnen.

»Das kann doch jeder Dummkopf sehen, daß der Angriff der Fremden eine unmittelbare Bedrohung der gesamten Menschheit bedeutet!« zischte Kardinal Kassar mit einer Stimme, die noch kälter war als die Luft ringsum. »Wir dürfen nicht einfach nur herumsitzen und darauf warten, daß sie erneut angreifen.

Wir müssen sie jagen und auslöschen. Alles andere bedeutet den Selbstmord unserer eigenen Spezies!«

»Ein wirklich guter Weg, um Selbstmord zu begehen«, erwiderte General Beckett gelassen. »Ihr wollt Euch blindlings in eine Situation stürzen, über die Ihr so gut wie nichts wißt. Ihr habt gesehen, zu was bereits dieses eine einzige Schiff imstande war. Schwejksam und seine Mannschaft konnten es stellen, aber die Unerschrocken ist eins unserer besten Schiffe, mit einer der besten Besatzungen an Bord, und sie kämpften gegen etwas, das vielleicht nur eine Erkundungssonde gewesen ist.

Wir benötigen weitere Informationen, bevor wir uns daranmachen, Pläne zu schmieden.«

»Das ist alles nur eine Frage des Glaubens«, konterte Kassar.

»Ich erwarte nicht, daß Ihr davon etwas versteht, Beckett.«

»Es ist keine Frage des Glaubens, sondern des gesunden Menschenverstands, Kardinal«, widersprach Beckett. »Ich erwarte nicht, daß Ihr davon etwas versteht.«

»In meinen Ohren klingt es jedenfalls nach Feigheit. Ihr hockt hinter Eurem Ofen zu Hause und in Sicherheit, während Eure Leute draußen am Abgrund alle Risiken auf sich nehmen.

Nun, wie Ihr gesehen habt, ist es zu Hause auch nicht mehr sicher, Beckett. Entweder wir gehen zu ihnen, oder sie kommen zu uns.«

Beckett nahm die Zigarre aus dem Mund und blickte nachdenklich auf den Stummel. »Ich denke, Heldenmut wird viel zu sehr überbewertet, Kardinal. Ich für meinen Teil setze auf Kompetenz. Wenn es einen Angriff gibt, dann wird er vom Abgrund ausgehen. Deswegen die zusätzlichen Patrouillen, die ich befohlen habe. Sie werden unser Frühwarnsystem bilden.

Nach meiner Erfahrung ist ein Krieg eine Frage des Machbaren, nicht der Heldentaten. Aber Ihr wart immer schon ein Träumer, Kassar, ohne jeden Sinn für die praktischen Zwänge des Lebens. Ich vermute, das liegt an Eurem Beruf.«

Kassar funkelte den General an, dann wandte er seinen brennenden Blick zu Löwenstein. »Gebt mir den Befehl über Eure Armeen, Majestät, und ich werde Euch eine unschlagbare Macht aus Gläubigen liefern, ausgebildet in allen Kriegskünsten und bereit, ihr Leben im Namen der Kirche zu wagen.«

»Ich für meinen Teil habe immer für die Herrscherin gekämpft«, sagte General Beckett und blies triumphierend ein paar Rauchringe in Kassars Richtung. Der Kardinal zögerte, als er sich der gefährlichen Untiefen bewußt wurde, in die seine Rhetorik ihn gerissen hatte. Beckett fuhr ungerührt fort und nutzte die Pause zu seinem Vorteil. »Fanatiker können recht nützlich sein, wenn es um die Errichtung einer Machtbasis geht, aber nach meiner Erfahrung geben sie verdämmt erbärmliche Soldaten ab. Sie sind großartig darin, sich im Namen ihres Glaubens umbringen zu lassen, doch ich vertraue mein Leben lieber ausgebildeten Soldaten an, die ihre Energie darauf verwenden, lange genug am Leben zu bleiben, um den Feind zu töten.«

Kassar begann zu stottern – er war so begierig, es Beckett zurückzuzahlen, daß seine Worte nur so hervorsprudelten. Löwenstein lehnte sich amüsiert zurück. Ganz offensichtlich genoß sie die Verstörtheit des Kardinals. Beckett paffte hochzufrieden an seiner Zigarre. In diesem Augenblick trat Mutter Beatrice aus der Menge und schloß sich der Debatte an. Sie goß Öl in die aufzüngelnden Flammen. Beatrice Cristiana hatte eigentlich Valentin Wolf heiraten sollen – auf Jakob Wolfs Betreiben hin –, doch es war nie so weit gekommen. Beatrice war eine energische, selbstsichere und gelegentlich auch gewalttätige Frau, die genau wußte, was sie wollte – und Valentin gehörte nicht dazu. Sie hatte nicht die geringste Lust verspürt, den berüchtigten Drogenkonsumenten und dekadenten Tunichtgut zu heiraten. Beatrice hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die Hochzeit zu verhindern, und selbst vor Morddrohungen und -versuchen nicht zurückgeschreckt, doch niemand hatte sie ernst genommen. Bis zum Tag der Hochzeit, als sie Valentin niedergeschlagen und dem Vikar, der die Trauung vollziehen sollte, in die Eier getreten hatte, um anschließend Hals über Kopf zu den Barmherzigen Schwestern zu flüchten und um Zuflucht zu bitten. Der einzige Ort im gesamten Imperium, an den ihr niemand folgen würde. Ihre Klöster waren traditionell unantastbar. Die Barmherzigen Schwestern waren die einzige wirklich unparteiische Macht im Imperium, hielten zu keiner Seite, kämpften für niemandes Sache und Klasse, sondern halfen allen gleichermaßen. Sie wurden geliebt, und jeder vertraute ihnen. Was die Schwestern zu einer sehr nützlichen Institution werden ließ, wenn es um Familienstreitigkeiten und das Verhandeln von Waffenstillständen ging. Unter anderem.

Beatrice war rasch im Orden aufgestiegen und nun eine Schwester Oberin, gekleidet in die schwarze Schwesterntracht mit gestärkter weißer Haube. Dabei hatte ihr nicht nur ein besonders gefestigter Glaube, sondern in erster Linie der unglaubliche Reichtum ihrer Familie wertvolle Dienste geleistet.

Beatrice erkämpfte sich einen Platz bei Hofe, ermutigte jeden zum Reden, der etwas zu sagen hatte, und etablierte sich rasch als Stimme der Vernunft sowohl gegen das Militär als auch gegen die Staatskirche. Valentin nahm die ganze Geschichte auf die leichte Schulter. Er sandte ihr eine Note, in der er Beatrice mitteilte, daß er ihr neues Kostüm ganz besonders sexy fand, und heftete einen neuen Heiratsvertrag an. Seither gab sich Beatrice große Mühe, den neuen Wolf vollkommen zu ignorieren.

Und jetzt stand sie hier, vor dem Eisernen Thron, und ihre Augen funkelten munter. Beatrice verbeugte sich vor der Herrscherin und bedachte General Beckett und Kardinal Kassar mit herausfordernden Blicken. Beckett lächelte und nickte das Nicken, mit dem man einen geachteten Widersacher begrüßt. Der Kardinal starrte Beatrice nur voll unterdrückter Wut an. Er sah in ihr eine gefährliche Häretikerin und hatte sich nicht gescheut, dies in der Öffentlichkeit laut kundzutun, bis sowohl die Barmherzigen Schwestern als auch seine eigenen Vorgesetzten ihm befohlen hatten, verdammt noch mal den Mund zu halten. Das hatte Kassar noch mehr in Rage gebracht, doch Beatrice gab einen Dreck darauf. Solange die Barmherzigen Schwestern eigenständig blieben und nicht der Staatskirche eingegliedert wurden, besaß Kassar keinerlei Macht über sie, und beide wußten es.

Beatrice lächelte der Löwenstein zu, die den Gruß mit leichtem Kopfnicken erwiderte.

»Wenn ich an dieser Stelle unterbrechen dürfte, Euer Majestät; doch mir scheint, daß Militär und Kirche viel zu sehr in ihren jeweiligen Standpunkten verwurzelt sind, um die Wahrheit zu erkennen. Falls das Schiff der Fremden für ihre Macht und Technologie repräsentativ ist, dann könnten wir in großen Schwierigkeiten stecken, wenn ihre Flotte auftaucht. Wir haben ein ganzes Imperium zu schützen, während die Fremden ihre Kräfte auf jeden Punkt konzentrieren können, der ihnen gerade in den Sinn kommt. Ein einziges ihrer Schiffe hat unseren wichtigsten Raumhafen und die Hauptstadt in Schutt und Asche gelegt. Stellt Euch nur vor, was erst eine ganze Flotte dieser Schiffe mit einem Planeten anstellen kann. Mit oder ohne funktionierende Verteidigungseinrichtungen. Wir müssen den Tatsachen ins Auge blicken. Zum ersten Mal stehen wir einem Opponenten gegenüber, der möglicherweise stärker ist als wir. Nicht zu vergessen die Hinweise, daß es dort draußen weitere hochentwickelte Rassen von Fremden gibt. Eure Majestät haben das zwar bereits vor einiger Zeit verkündet, doch ich denke, daß jetzt die Zeit gekommen ist, wo wir alle eher bereit sind, das zu glauben. Unsere einzige Chance, als Spezies zu überleben, besteht vielleicht darin, daß wir uns alle zusammenschließen, um dem Feind gemeinsam zu trotzen. Oder den Feinden. Das schließt vielleicht sogar die Gruppen ein, die uns normalerweise bekämpfen. Ich rede von den Rebellen und von den Untergrundbewegungen der Klone und Esper, falls jemand nicht weiß, was ich meine.«

»Seid Ihr vollkommen übergeschnappt, Frau?« explodierte Kassar. »Mit dem Abschaum verhandeln? Das sind noch nicht mal richtige Menschen!«

»Das sehen diese Leute anders«, widersprach Beatrice seelenruhig. »Und ich schätze, sie würden kämpfen, um die Menschheit gegen eine Bedrohung durch die Fremden zu verteidigen. Falls wir sie höflich darum bitten. Es liegt in ihrem eigenen Interesse. Wenn das Imperium erst zerstört ist, wird man sie genauso auslöschen wie den Rest von uns. Die Rebellen besitzen Talente, Begabungen und Fähigkeiten, die wir dringend gebrauchen könnten. Oder bezweifelt irgendeiner der Anwesenden vielleicht, daß sie ganz hervorragende Sturmtruppen abgeben würden? Allein die Tatsache, daß sie immer noch existieren – trotz aller Anstrengungen, die wir unternommen haben, um sie auszulöschen –, zeigt doch, daß sie exzellente Überlebenskünstler sind, wenn schon nichts anderes.«

»Darf ich an dieser Stelle vielleicht darauf hinweisen«, meldete sich Beckett gelassen zu Wort, »daß es die Rebellen waren, die die Verteidigungsanlagen und Schilde um Golgatha zum Zusammenbruch brachten und damit den Angriff der Fremden überhaupt erst ermöglichten?«

»Wahrscheinlich haben sie sogar mit den Fremden zusammengearbeitet«, ergänzte Kassar.

»Noch ein paar Gründe mehr, um mit ihnen in Kontakt zu treten und sie auf unsere Seite zu ziehen«, erwiderte Beatrice ungerührt.

»Sie haben sich eines Verbrechens gegen die Menschheit schuldig gemacht!« keifte Kassar. »Die Schuldigen müssen bestraft werden!«

»Andererseits«, gab Beckett zu bedenken und rollte seine Zigarre gefühlvoll zwischen den Fingern, während er dem Knistern der Tabakblätter lauschte, »wenn es uns nicht gelingt, die Rebellen zur Vernunft zu bringen, werden sie vielleicht die Gelegenheit nutzen und uns in den Rücken fallen, während wir durch den Angriff der Fremden abgelenkt sind.«

»Man sollte sie alle töten«, sagte Kassar. »Klone, Esper, Unpersonen, einfach alle. Sie sind für uns genauso fremd wie alles, was vielleicht von jenseits des Abgrunds kommt.«

»Das ist mal wieder typisch für die heutige Kirche«, entgegnete Beatrice. »Lieber kämpfen als nachdenken, lieber verlieren als es mit Diplomatie versuchen. Fanatiker, vereinigt Euch, Ihr habt nichts zu verlieren außer dem Rest Eures Verstandes!«

»Gut gesprochen!« griff Valentin Wolf in die Unterhaltung ein. »Ich selbst hätte es nicht besser formulieren können.«

Die drei Kontrahenten drehten sich um und erblickten Valentin, der aus der Menge hervorgetreten war und nun direkt hinter ihnen stand. Beatrice wich ostentativ einen Schritt zurück, um die Distanz zwischen sich und dem Wolf zu vergrößern. Valentin schenkte ihr ein strahlendes Lächeln. Kassar funkelte den Wolf böse an.

»Was habt Ihr hier zu suchen, Degenerierter?«

»Nun, ich hätte eine ganze Liste, falls Ihr Euch dafür interessiert, Kassar. Ansonsten seid Ihr nicht mein Typ. Ich möchte lediglich allem zustimmen, was Beatrice soeben gesagt hat.«

»Na, dann danke ich auch recht schön«, murmelte Beatrice.

»Wenn Ihr auf meiner Seite steht, werden sie mir niemals glauben. Ihr macht das mit Absicht, Wolf, gebt es zu! Nur weil ich Euch nicht heiraten wollte, seid Ihr entschlossen, mein Leben zu ruinieren.«

»Ihr betrübt mich zutiefst«, entgegnete Valentin spöttisch.

»Darf ein Mann nicht mehr aus gesundem Menschenverstand heraus sprechen?«

»Was, zur Hölle, wißt denn Ihr über gesunden Menschenverstand?« konterte Beatrice. »Ich habe depressive Lemminge auf der Kante einer Klippe gesehen, die mehr von Realität verstehen als Ihr. Und von gesundem Menschenverstand.«

»Wenn die Herrschaften sich vielleicht zuerst ein wenig allein unterhalten wollen?« begann Beckett und verstummte, als er Beatrice’ wütenden Blick auffing.

»Ich würde lieber in einem Becken voller ausgehungerter Piranhas herumschwimmen! Bleibt nur hier, General. Das gilt auch für Euch, Kardinal. So widerlich mir Eure Gegenwart ohne Zweifel ist – ich ziehe sie immer noch diesem genetischen Desaster vor, das zur Zeit die Familie Wolf leitet. Ich habe gehört, daß die Untersuchungsbehörde für gefährliche Chemikalien ihn zu Sondermüll erklären will. Vielleicht können wir ihn aus Gründen der allgemeinen Gesundheit aus bewohnten Gegenden verbannen.«

»Ah«, seufzte die Herrscherin auf ihrem Thron. »Junge Liebe…«

Nicht weit entfernt starrte der Shreck mißmutig auf die Gesellschaft, die sich vor dem Thron versammelt hatte. Seinem Status entsprechend hätte auch er dort sein sollen, um seinen Beitrag und sein Wissen zu der laufenden Diskussion beizusteuern. Er war das Oberhaupt einer der ältesten Familien des Imperiums und ein Mann, den man nicht übergehen durfte. Doch hinterhältige Verräter, die seine wirklichen Qualitäten nicht sehen wollten, hatten ihn seiner ihm zustehenden Position in der Gesellschaft beraubt. Sie grinsten ihm ins Gesicht und lachten und tuschelten hinter seinem Rücken über ihn. Sie würden dafür bezahlen. Sie alle würden dafür bezahlen – eines Tages.

Aber das konnte warten. Im Augenblick gab es im Kopf des alten Shreck nicht viel Raum für etwas anderes als rasende Wut. Evangeline hatte ihn verlassen. Die undankbare kleine Hexe hatte es tatsächlich gewagt, ihn hinauszuwerfen. Zusammen mit dieser Kuh Adrienne hatte sie den Mut gefunden, ihm die Stirn zu beten. Der Shreck grinste böse. Sie mochten denken, sie hätten ihn geschlagen, aber sie würden schon bald feststellen, daß niemand ungestraft dem Shreck in den Weg trat und lange genug lebte, um sich auch noch damit zu brüsten.

Evangeline sollte ruhig glauben, daß sie im Untergrund bei all diesen Unpersonen sicher war. Aber es mußte irgendwo eine Schwachstelle geben, und er besaß genug Zeit, das nötige Geld und den Haß, um sie zu finden. Irgend jemand würde schwach werden, wenn der Shreck nur genug Geld bot, das richtige Druckmittel fand oder sonst einen Handel abschließen konnte.

Irgend jemand wurde immer schwach. Und dann… dann würde er Evangeline in die Finger bekommen.

Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Leute sich wunderten, wo Evangeline abgeblieben war. Die Leute im Shreck-Turm würden zu reden anfangen. Man konnte sie nicht daran hindern. Und dann würden die Höflinge einen Schwachpunkt des alten Shreck entdecken und anfangen, unangenehme Fragen zu stellen. Wo war Evangeline? Was war mit ihr geschehen? Was hatte er ihr angetan? Es gab immer Leute, die ihre Nasen in Angelegenheiten steckten, die sie nichts angingen.

Der Shreck konnte jederzeit eine neue Evangeline klonen.

Schließlich besaß er noch immer die Gewebeproben des Originals. Aber es würde Monate dauern, sie großzuziehen und auszubilden. Mit der letzten hatte es schon verdammt lang gedauert. Und was, wenn der andere Klon wieder auftauchte? Es würde keine Möglichkeit mehr geben, zu verheimlichen, was er getan hatte, wenn erst zwei Evangelines herumliefen. Außerdem bestand die Möglichkeit, daß der erste Klon aus sicherer Entfernung alles erzählen würde, um sich an Shreck zu rächen.

Sie würde natürlich nichts beweisen können, ohne sich selbst auszuliefern, doch allein die Anschuldigung würde dem Shreck gewaltigen Schaden zufügen. Dreck bleibt nun einmal kleben, ganz besonders, wenn die anderen wollen, daß er kleben bleibt.

Gregor schnitt eine Grimasse. In diesen Tagen war es wichtiger als je zuvor, daß er über jeden Vorwurf erhaben schien.

In den letzten Monaten hatte er Schritte eingeleitet, die ihn in der Öffentlichkeit als religiösen Menschen erscheinen ließen.

Er hatte die richtigen Gottesdienste in den richtigen Kirchen besucht, sich in den richtigen Kreisen bewegt, die zur Zeit modernen Wohltätigkeitsorganisationen und Interessengruppen unterstützt und alles getan, was in seiner Macht stand, um die Anerkennung der Staatskirche zu gewinnen. Er benötigte ihre Unterstützung, wenn er sich seinen Platz in den erlauchten Kreisen zurückerobern wollte, zu denen er von seinem Rang her gehörte. Allerdings mußte Gregor in der Öffentlichkeit reiner als rein dastehen, wenn er die Rückendeckung der Kirche wollte, und das hatte ihn einiges gekostet. In der Vergangenheit war Gregor Shreck immer seinen eigenen Weg gegangen, hatte getan, was er wollte, und seine Leute hatten den dabei entstandenen Schaden entweder mit Geld oder Drohungen beseitigen müssen. Das typische Verhalten eines Aristokraten mit Geld wie Heu und mehr Hormonen als Verstand. Zum Glück war der Kirche die Vergangenheit egal, solange man nur öffentlich bereute, eine große Summe spendete und alles hinter sich ließ. Die beiden erstgenannten Anforderungen kümmerten Gregor wenig, doch die dritte stellte ein nicht unbeträchtliches Hindernis dar. Es gab Grenzen. Trotzdem, auf der einen Seite gab es die Öffentlichkeit und auf der anderen das Private. Solange der Shreck in den Augen der Öffentlichkeit gut dastand, vergab man ihm alle Sünden, von denen die Gerüchte erzählten. Man ignorierte sie sogar. Gregor hatte sich nie um sein Ansehen in der Öffentlichkeit geschert, doch zum Glück gab es Familienangehörige, die das in die Hand genommen hatten. Im Augenblick standen sie direkt hinter ihm und warteten auf seine Instruktionen. Jedenfalls diejenigen, die wußten, was gut für sie war und was nicht. Gregor wandte sich zu ihnen um und bedachte sie mit seinem furchteinflößendsten Gesichtsausdruck.

Toby der Troubadour war sein Neffe, obwohl Gregor sich das manchmal nur ungern eingestand. Ein gedrungener, dicker, schwitzender Bursche mit flachsblondem Haar und falschem Grinsen, einem Verstand wie eine stählerne Fußangel und der Moral einer verhungernden Kanalratte. Seine Hauptaufgabe bestand darin, die Biographie der Familie im bestmöglichen Licht erscheinen zu lassen und dafür zu sorgen, daß seine Berichte an den richtigen Stellen erschienen. Journale, Holoschauen, Klatschkolumnen. Er war der richtige Mann für Öffentlichkeitsarbeit, ein meisterhafter Rhetoriker, Experte für Schadensbegrenzung und ein erstklassiger Lügner. Das mußte er auch sein. Es war nicht leicht, Gregor Shreck gut aussehen zu lassen. Der Rest der Familie hatte wenigstens vereinzelte gute Augenblicke, trotz der kleinen schwarzen Herzen, aber Toby kam damit zurecht. Solange sie nicht aus der Reihe tanzten und taten, was Toby von ihnen verlangte – eine vorbereitete Rede hier und ein öffentlicher Auftritt dort und ein Lächeln und Winken für die Kameras –, ließ er seine Angehörigen in der Zwischenzeit einfach aus seinen Berichten heraus. Schließlich gab es nur eine Sache, die noch schlechter war, als wenn jeder über einen redete: daß nämlich überhaupt niemand über einen redete. Wenn dein Gesicht nicht in allen Klatschspalten und den Holosendungen auftaucht, dann bist du ein Niemand.

Toby konnte aus jedem eine Berühmtheit machen, bekannt um der Bekanntheit willen, wenn man die Regeln befolgte. Seine Regeln. Was soviel hieß wie: Mach, was du willst, solange es unterhaltsam ist und ich derjenige bin, der als erster davon erfährt, damit ich es in die richtige Form bringen kann, bevor es auf die Straße kommt. Unglücklicherweise konnte er Gregor Shreck nicht so einfach herumkommandieren. Falls er je so dumm sein würde, es auszuprobieren, würde Gregor ihm als Warnung die Stimmbänder herausreißen.

»Schieß endlich los, Junge«, brummte Gregor seinen Neffen an. »Was hast du gegenwärtig über Evangeline zu melden?«

»Offiziell ruht sie sich eine Zeitlang aus, weil der Streß der letzten Zeit zuviel für sie war«, erwiderte Toby glatt. »Wir haben nicht genau gesagt, was für ein Streß das war, aber die Gerüchtemacher werden sich schon etwas ausdenken. Sie lieben das Spekulieren. Laß mich bitte wissen, wann sie sich genug ausgeruht hat, damit ich sie wieder in die Gesellschaft einführen kann.«

»Ich werde dir sagen, was du wissen mußt – wenn du es wissen mußt, und keine Minute vorher«, sagte Gregor. »Wie steht es um mein gegenwärtiges Ansehen bei der Kirche?«

»Nicht schlecht. Obwohl ich wünschte, du würdest mehr auf das achten, was du sagst, Onkel. Manchmal denke ich, die Kirche ist nur allzugern bereit, Zoten zu verzeihen, aber nicht dieses spezielle Wort, das du etwas zu oft verwendest. Die meisten Leute werden darüber hinweghören, wenn ich ihnen genug dafür zahle, egal, ob es sich um Obszönitäten oder politischen Unsinn handelt, aber früher oder später wirst du vor den falschen Leuten das Falsche sagen, und dann kann ich nichts mehr tun, um dir zu helfen.«

Gregor schniefte. »Es war in erster Linie deine Idee, uns mit der Kirche zu verbünden. Ich kann nicht gerade sagen, daß ich bisher überwältigende Resultate zu sehen bekommen habe.«

»Wenn die Kirche hinter uns steht, sind wir vor vielen mächtigen Feinden sicher«, erklärte Toby geduldig. »Aber wenn die Kirche jemals herausfindet, wie du in Wirklichkeit bist, stecken wir in tiefen Schwierigkeiten.«

»Dann solltest du lieber verdammt noch mal sicherstellen, daß sie das nicht tut«, murrte Gregor.

»Ich wünschte, ihr beide würdet nicht ständig gegeneinander kämpfen«, sagte Grace Shreck. Sie wußte, daß die beiden nicht zuhörten. Sie hörten nie zu. Grace war Gregors ältere Schwester, obwohl sie alles nur Menschenmögliche tat, um die Ähnlichkeit mit ihm zu kaschieren. Sie war groß und dünn, besaß einen schwanengleichen Hals und trug ihre dichte Mähne von weißem Haar in einer Frisur, die schon seit Jahren nicht mehr modern war. Grace kleidete sich noch immer im gleichen Stil wie als junges Mädchen, und neuere Moden nahm sie nur zur Kenntnis, um ihre Kritik daran zu äußern. Alle paar Jahre wieder entdeckte die Mode ihren Stil neu, und dann schwebte sie für wenige Monate auf der Spitze der Modewelle, was ihr stets sehr peinlich war. Grace zog es vor, nicht aufzufallen, wann immer sich das einrichten ließ.

Sie hatte nie geheiratet, weil Gregor nach dem plötzlichen Tod der Eltern ihre Dienste als Assistentin, Sekretärin und Mädchen für alles benötigt hatte, um den Clan zusammenzuhalten und wieder zu seiner alten Größe zu führen. Grace hatte nie Zeit für Romanzen gefunden und keine Chance gehabt, ein eigenes Leben zu führen. Die Familie brauchte sie, und damit hatte sie sich abzufinden. Wenn sie jemals deswegen wütend oder traurig war, dann behielt sie es für sich. Schließlich kam eine Zeit, als Gregor sie nicht mehr brauchte, doch Grace blieb trotzdem bei ihm. Sie kannte kein anderes Leben. Die Welt hatte sich während ihrer erzwungenen Abwesenheit verändert, und die Menschen machten ihr angst, ob sie es wollten oder nicht. Außerdem wußte sie, daß Gregor sie niemals hätte gehen lassen. Er würde das Risiko nicht eingehen, daß Grace aus der Familie wegheiratete und sich dem Einfluß des Clans und Gregors Kontrolle entzog. Sie wußte zuviel über den Clan im allgemeinen und über Gregor im besonderen. Und über die Dinge, die er getan hatte, um die Shrecks wieder groß zu machen.

Grace kam so selten wie nur möglich an den Hof, weil Menschenmengen sie verschreckten – doch diesmal war das Edikt der Herrscherin recht spezifisch gewesen. Jeder aus den Familien hatte zu kommen. Keine Ausnahmen. Wer auf dem Totenbett lag, hatte das Totenbett mitzubringen. Also war Grace an Gregors Arm mitgekommen und hielt sich nun dicht neben Toby, während sie sich einzureden versuchte, nur eine Holoübertragung zu sehen.

Grace mißfiel die Art und Weise, wie Gregor mit Toby umsprang, aber sie hatte keine Ahnung, was sie dagegen tun konnte. Mit Sicherheit würde Gregor nicht auf sie hören, selbst wenn sie sich dazu durchringen könnte, den Mund aufzumachen. Tobys Vater war Christian Shreck gewesen, ihr jüngster Bruder. Er war vor Jahren verschwunden, nach einer wütenden Auseinandersetzung mit Gregor, und wurde nie wieder gesehen. Die Herrscherin hatte eine Untersuchung angeordnet, aber dabei war nichts herausgekommen. Gregor hatte bereitwillig der Befragung durch einen Imperialen Esper zugestimmt, und jedermann war überrascht gewesen, wie leicht er den Test überstanden hatte. Danach galt er offiziell als unschuldig. Und wichtiger noch: Niemand mehr widersetzte sich Gregors Weg an die Spitze.

Toby war auf die gleiche Weise in den Einfluß des Shreck gekommen wie jeder im Clan: Es gab überhaupt keine andere Möglichkeit. Toby hatte noch eine Schwester besessen, doch die Eiserne Hexe hatte sie entführt und als Dienerin zu sich genommen. Grace konnte Toby weder beschützen noch protegieren, also blieb einzig und allein Gregor übrig. So war es dazu gekommen, daß der alte Shreck Toby so benutzte, wie er einst Grace benutzt hatte, und es gab nichts, das sie dagegen hätte tun können. Ein weiteres Leben, das Gregors Ehrgeiz geopfert wurde. So liefen die Dinge im Clan der Shrecks.

Grace seufzte müde. Sie vermißte Christian. Er war der einzige in der Familie gewesen, der einen Sinn für Humor besessen hatte. Sie schreckte hoch und bemerkte, daß Gregor seinen Neffen einmal mehr anbrüllte. Gregor machte eine schwere Zeit durch, seit er so ins Licht der Öffentlichkeit getreten war.

Es paßte überhaupt nicht zu ihm, und er eignete sich auch nicht dazu. Grace musterte ihren Bruder, rotgesichtig und mit Schweißperlen auf der Stirn, als er seine Stimme zum wiederholten Mal erhob, und plötzlich hatte sie das Gefühl, als wäre dies nur der letzte Tropfen gewesen, der das Faß zum Überlaufen brachte. Sie trat einen Schritt vor und schlug Gregor zurechtweisend den Fächer auf den Arm.

»Gregor, ich wünsche nicht, daß du dich in der Öffentlichkeit so benimmst. Vergiß nicht, wir befinden uns am Hof. Die Leute hören zu.«

»Und du kannst dein dummes Maul auch gleich halten«, fuhr Gregor mit hochrotem Kopf seine Schwester an.

»Gregor!« Grace konnte spüren, wie sie errötete. Das passierte immer, wenn jemand grob mit ihr sprach. »Warum können wir uns nicht wenigstens in der Öffentlichkeit wie Freunde benehmen?«

»Sie hat recht, weißt du?« sagte Toby zurückhaltend. »Die Kirche liebt glückliche Familien.«

»Steck dir die verdammte Kirche sonstwohin!« fuhr ihn Gregor an und senkte rasch die Stimme. »Ich habe ein Recht darauf, mich zu ärgern. Ich kann einfach nicht glauben, daß Valentin mich abgewiesen hat. Es liegt so offensichtlich in unser beider Interesse, daß wir uns gegen unsere Feinde verbünden, daß selbst ein Idiot wie er die Vorteile hätte erkennen müssen.

Schön, er ist ein mit Drogen vollgestopfter Tunichtgut mit weniger gesundem Menschenverstand als eine trockene Pfefferschote, aber wenn wir uns zusammenschlossen, würde niemand wagen, uns anzugreifen.«

»Ich kann nicht gerade sagen, daß es mir leid tut«, entgegnete Toby. »Valentin ist im Augenblick vielleicht die Nummer Eins, aber niemand am Hof mag ihn oder vertraut ihm gar, trotz der vielen freundlichen Gesichter, die auf ihn gerichtet sind. Eine Allianz zwischen dir und Valentin in der Öffentlichkeit in einem gutem Licht erscheinen zu lassen hätte wirklich meine gesamte Phantasie gefordert. Wahrscheinlich ist es einfacher, Leprafinger als Modeschmuck zu verkaufen. Also, was nun, Onkel? Gehen wir zu Plan B über?«

»Plan B?« erkundigte sich Grace mißtrauisch. »Niemand hat mir je ein Wort über einen Plan B gesagt. Gregor, warum redest du nicht mehr mit mir?«

»Du mußt nicht alles wissen. Halt einfach den Mund und tu, was ich dir sage. Du bleibst hier bei Toby. Rühr dich nicht von der Stelle. Ich werde mich gleich um Plan B kümmern.«

Gregor stapfte davon, ohne einen Blick zurück zu werfen. Er wußte, daß die beiden sich ohne seine Erlaubnis nicht vom Fleck rühren würden. Plan B betraf die Chojiros. Wenn die Erste Familie keinen Handel mit ihm abschließen wollte, dann eben die Zweite. Jedenfalls bestand die Möglichkeit dazu. Der Shreck stapfte durch den tiefen Schnee, und die Leute beeilten sich, ihm den Weg freizumachen. Doch er nahm davon genausowenig Notiz wie von der Luft, die er atmete. Vor SB Chojiro baute er sich auf, funkelte den Investigator neben ihr böse an – als Beweis, daß er sich nicht einschüchtern ließ – und verneigte sich anschließend knapp vor der jungen Frau. Sie verbeugte sich ebenfalls. Ruhig und selbstsicher. Razor ignorierte ihn völlig.

»Wir besitzen in den Wolfs einen gemeinsamen Feind«, begann Gregor tonlos. »Darf ich vorschlagen, daß wir uns in gegenseitigem Interesse gegen Valentin verbünden? Ihr produziert Rechner für die Raumschiffe, und ich baue die Hüllen, doch solange Valentin die Antriebe herstellt, müssen wir unsere Geschäfte so führen, wie es ihm gefällt. Wenn er genügend Duck anwendet, kann er im geeigneten Augenblick jeden von uns mit Leichtigkeit ruinieren und uns vollkommen aus dem Geschäft verdrängen, und dann gehört alles ihm allein. Ich hatte ursprünglich geplant, mit den Feldglöcks zusammenzuarbeiten, damals, als es so aussah, als würden sie die Kontrakte für die Antriebe erhalten. Wir hatten ein Abkommen, weswegen ich auch einer verbindenden Hochzeit zustimmte. Aber die Hochzeit kam nicht zustande, der Clan ging unter, und Valentin läßt nicht mit sich reden. Ich arbeite unter seinen Bedingungen oder gar nicht. Das ist vollkommen inakzeptabel. Also benötige ich einen Verbündeten, um sicherzustellen, daß ich nicht aus dem Geschäft gedrängt werde. Ihr hingegen benötigt einen Verbündeten, der Euch den Rücken freihält, während Ihr mit Valentin arbeitet. Wir könnten beide von einer derartigen Verbindung profitieren, und außerdem hat keine unserer beiden Familien einen Grund, Valentin zu lieben.«

»Wir könnten beide profitieren?« erwiderte SB. »Ich denke, da irrt Ihr. Ihr allein wärt derjenige, der davon profitieren würde, Lord Shreck. Wir brauchen Euch nicht, und Ihr habt nichts, das wir wollen. Sicher, Ihr baut die Schiffshüllen, aber das kann jeder. Und um ehrlich zu sein, Lord Shreck: Wir sind sehr wählerisch, was unsere Verbündeten angeht.«

»Ihr seid eine kleine Hexe«, zischte Gregor, und bevor er wußte, was er tat, schoß seine Hand vor und wollte SB bei der Kehle packen. Er war noch nicht einmal in der Nähe von SBs Hals, als Razor ihn packte und seine Hand abfing. Sie verschwand zur Gänze in der schwarzen Hand des Investigators.

Gregor kreischte laut, als Razor zudrückte und die Knochen in der Hand des alten Shreck aneinanderrieben. Nach einem langen Augenblick ließ Razor wieder los, und Gregor wich einen Schritt zurück, während er seine pochende Hand mit der anderen umklammerte. SB Chojiro und Investigator Razor betrachteten Gregor mit dem gleichen unpersönlichen Ausdruck im Gesicht wie zuvor, während er vor ihnen stand und vor ohnmächtiger Wut bebte.

»Dreht um und geht zu Euren Leuten zurück, Lord Shreck«, sagte Razor schließlich gelassen. Er hob nicht einmal die Stimme. Es war nicht nötig. »Ihr habt hier nichts verloren.«

Gregor stierte die beiden an, während er angestrengt über eine letzte Beleidigung nachdachte, die er ihnen an den Kopf schleudern konnte, doch am Ende blieb er stumm und wandte sich ab, um wieder durch den Schnee davonzustapfen. Diesmal beeilten sich die Leute noch mehr, vor ihm zur Seite zu weichen. Sie erwiesen ihm den gleichen Respekt wie einem wütenden Skorpion, der alles angriff, was ihm in die Quere kam.

Gregor war viel zu sehr mit seiner Wut beschäftigt, um sich daran zu stören. Er brauchte Verbündete und Unterstützung, und er mußte sie schnell finden, oder er würde höchstwahrscheinlich bald aus dem Geschäft verdrängt werden. Jeder konnte Hüllen bauen…

Gregors Allianz mit der Kirche sollte auf Dauer einiges an Nutzen bringen, doch im Augenblick benötigte er Geld mehr.

Er mußte jemanden finden. Es gab immer jemanden. Und wenn Gregor selbst erst wieder zu einer Macht geworden war, dann würde SB Chojiro dafür zahlen, daß sie es gewagt hatte, ihn zu erniedrigen. Ihn, den Shreck. Er zwang sich zu mehr Ruhe.

Gregor hatte noch immer eine Chance bei den Wolfs. Vielleicht wollte Valentin nicht mit ihm verhandeln, aber Stephanie und Daniel würden es tun, wenn man sich auf die richtige Weise an die beiden heranmachte. Sie würden mit ihm zusammenarbeiten, nur um ihrem Bruder zu trotzen. Ja, das war eine Idee! Der Shreck verlangsamte seinen Schritt und erlaubte sich ein schwaches Grinsen. Er würde wieder mächtig werden, und er würde seine Rache an seinen Feinden vollziehen. Niemand würde je wieder wagen, auf ihn herabzublicken.

Schließlich bedeutete Löwenstein den Streithähnen vor ihrem Thron mit einer Handbewegung zu schweigen und rief den Hof zur Tagesordnung. Ihre verstärkte Stimme echote durch die arktische Einöde und übertönte mühelos das Stimmengewirr der Höflinge. Innerhalb eines einzigen Augenblicks verstummten alle. Die Stille wurde nur noch vom schwachen Rauschen des eisigen Windes unterbrochen, als die Höflinge ihre Aufmerksamkeit auf die Herrscherin richteten. Sie lächelte über die versammelte Menge hinweg, doch es war kein freundliches Lächeln. Die Höflinge standen regungslos vor ihr, und Schnee lagerte sich erneut auf Köpfen und Schultern ab, bis die schweigenden Gestalten an die Schneemänner erinnerten, an denen sie auf dem Weg hierher vorbeigekommen waren. Ein paar der Anwesenden hatten den gleichen Gedanken und erschauerten unwillkürlich – aber nicht wegen der Kälte. Löwenstein funkelte Beatrice und Valentin wütend an, bis die beiden endlich aufmerksam wurden, sich vor der Imperatorin verbeugten und in die Menge zurückzogen. General Beckett und Kardinal Kassar stellten sich zu beiden Seiten des Throns auf. Sie repräsentierten Armee und Kirche, den rechten und den linken Arm der Herrscherin. Löwenstein nickte Beckett zu, und der General begann mit bellender Stimme zu sprechen, als hätte er eine Kompanie Rekruten vor sich.

»Kapitän Schwejksam, Investigator Frost und Sicherheitsoffizier Stelmach, tretet vor und gebt Euren Bericht über den Angriff der Fremden.«

Stelmach zuckte schuldbewußt zusammen und blickte anschließend gehetzt in die Runde, um zu sehen, ob jemand es bemerkt hatte. Schwejksam und Frost traten gemeinsam vor, ohne die anderen Anwesenden eines Blickes zu würdigen, bis sie schließlich vor dem Eisernen Thron stehenblieben und Haltung annahmen. Schwejksams Gesicht wirkte ruhig, doch in seinem Herzen regte sich mit einemmal neue Hoffnung. Das war es, worauf er gehofft hatte; eine Gelegenheit, seine Seite der Geschichte zu erzählen, bevor irgend jemand anderes ihn mit Dreck bewerfen konnte. Er wartete einen Augenblick, um Stelmach Gelegenheit zu geben, zu ihnen aufzuschließen, doch dann bemerkte er, daß der Sicherheitsoffizier am Rand der Menge erstarrt war, die Augen angstvoll auf die Bestie von Grendel gerichtet, die unmittelbar vor dem Thron stand.

Schwejksam konnte Stelmach gut verstehen. Das verfluchte Biest weckte auch in ihm eine Heidenangst. Er streckte den Arm aus und zog Stelmach nach vorn neben sich. Die Augen des Sicherheitsoffiziers blieben unverwandt auf die Bestie gerichtet. Schwejksam wechselte einen Blick mit Frost und bereute es im gleichen Augenblick wieder. Frost starrte ebenfalls auf die Bestie, aber mit einem hungrigen Blick, als wolle sie sich jeden Augenblick auf das Wesen stürzen und es töten, schon aus Prinzip. Schwejksam dachte einen Augenblick nach und streckte erneut die Hand aus. Er zog Frost einen Schritt zu sich zurück. Die Kreatur war das Schoßtier der Eisernen Hexe, und wenn Frost es wie durch ein Wunder tatsächlich gelingen sollte, das verfluchte Biest zu töten, wäre Löwenstein sicher überhaupt nicht darüber erfreut. Frost riß sich unwirsch los und starrte Schwejksam wütend an, aber wenigstens blieb sie stehen, wo sie war. Schwejksam beschloß, mit seinem Bericht zu beginnen, bevor weitere Unannehmlichkeiten dazwischenkommen konnten.

Der Kapitän der Unerschrocken faßte sich kurz, ohne wesentliche Punkte auszulassen. Als er beschrieb, was er in der zerstörten Basis von Gehenna vorgefunden hatte, erhob sich ein unruhiges Stimmengemurmel unter den Anwesenden.

Schwejksam berichtete weiter, wie er die Spur des fremden Schiffes mit der Unerschrocken bis nach Golgatha verfolgt hatte, und als er auf Bauweise und Bewaffnung des fremden Schiffs und die Lebensformen an Bord zu sprechen kam, wuchs das Gemurmel zu einem lauten Durcheinander von Stimmen an. An dieser Stelle beendete Schwejksam seinen Bericht, und Frost fuhr fort. Sie war die Expertin für fremde Lebensformen. Sie berichtete kalt, nüchtern, beinahe klinisch, und als sie schließlich endete, erschauerte selbst Schwejksam wie jeder andere auch, und das ganz sicher nicht wegen der verfluchten Kälte. Danach wurde es sehr still. Die Herrscherin nickte langsam und ließ den Blick erneut über ihre versammelten Untertanen schweifen.

»Vielleicht versteht man jetzt Unsere Position bezüglich der Notwendigkeit erhöhter Militärausgaben. Wenn bereits ein einziges Schiff der Fremden so viel Schaden anrichten kann, zu was wäre dann erst eine ganze Flotte imstande? Wir haben Gerüchte vernommen über eine geplante Revolte wegen Unserer letzten Steuererhöhungen. Wir wollen an dieser Stelle klar und deutlich verkünden, daß Wir jeden derartigen Versuch mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln niederschlagen werden.

Unter den gegenwärtigen Umständen kann die Weigerung, Unser Militär zu unterstützen, nur als Verrat an der gesamten Menschheit betrachtet werden.« General Beckett lächelte. Kardinal Kassar verzog keine Miene. Die Imperatorin blickte Stelmach an. »Hat Er zu diesem Zeitpunkt etwas hinzuzufügen?«

Stelmach schluckte mühsam, schüttelte rasch den Kopf und brachte schließlich ein sehr leises »Nicht zu diesem Zeitpunkt, Euer Majestät, nein« heraus.

»Sehr schön«, sagte die Imperatorin. »Wachen! Bringt den Gefangenen herbei!«

In der Mitte der versammelten Menge entstand rasch ein schmaler Gang, durch den zwei bewaffnete Wachen einen nackten Mann halb durch den tiefen Schnee zerrten, halb stießen. Er trug nichts am Leib außer Ketten an Händen und Füßen, und auf seiner Brust klebten ein paar verkrustete Blutflecken von seiner kürzlich gebrochenen Nase. Seine Haut war blau-weiß, und er zitterte unkontrolliert in der beißenden Kälte.

Die Wachen stießen den Mann vor dem Thron auf die Knie.

Der Gefangene sah flehend zu Löwenstein hoch und versuchte, etwas zu sagen, doch das Zittern war so stark, daß er kein Wort herausbrachte.

Löwenstein blickte ihn nachdenklich an. »Dieses erbärmliche Objekt ist Frederic Hügel. Leiter der Sicherheitsbehörden des Raumhafens von Golgatha. Wir hielten ihn für vielversprechend. Doch er ließ die Rebellen ein, erlaubte ihnen, Unsere Steuerbehörde zu sabotieren, und versagte schließlich darin, sie an der Ausschaltung Unserer planetaren Verteidigung zu hindern, als sie flohen. Er versäumte außerdem, Uns vor dem feindlichen Schiff zu schützen. Wir könnten ihn deswegen verhören, doch wozu soll das gut sein? Er würde zu allem nur nicken und lächeln und jedem Wort zustimmen, das Wir zu sagen haben, und anschließend würde er versuchen, seinem Stab die Schuld in die Schuhe zu schieben. Oder heimlichen Verrätern oder der fehlenden Ausrüstung. Alles, nur nicht sich selbst.

Schließlich kamen die Rebellen in einem Schiff der Hadenmänner, würde er sagen. Wahrscheinlich hat die Hälfte seiner Leute einen kurzen Blick auf das große goldene Schiff aus den alten Legenden geworfen, bevor sie alle um ihr Leben gelaufen sind. Und die andere Hälfte folgte ihnen, als das Schiff der Fremden über Unsere nicht existenten Verteidigungsanlagen fegte und die Stadt beschoß.

Nein, es macht überhaupt keinen Unterschied. Er war verantwortlich für die Sicherheitsbehörden des Raumhafens, und er war verantwortlich für unsere Verteidigung. Ein starker Mann in dieser Position hätte viel verhindern können. Er hätte genug von seinen Leuten zusammengezogen, um die Ausrüstung zu reparieren, Notsysteme hochzufahren, Rettungsmannschaften zusammenzustellen, um die Verwundeten in der Stadt zu bergen und zu versorgen. Statt dessen, so zeigen Uns seine eigenen Aufzeichnungen, schwankte dieser Mann hier unsicher und zögerte, und als das fremde Schiff auftauchte, versteckte er sich sogar und kam erst wieder zum Vorschein, als alles vorüber war. Ein inakzeptables Verhalten von einem Unserer höchsten Offiziere. Wir haben aus diesem Grunde beschlossen, daß ein Exempel statuiert werden soll.«

Die Imperatorin blickte zu der Bestie von Grendel, und alle Augen folgten ihrem Blick. Das Wesen stand ruhig und entspannt hinter dem Thron, ein lebender Alptraum in einem stachligen Panzer aus Silizium. Das Joch um seinen Nacken gab plötzlich ein leise summendes Geräusch von sich, und das Wesen schoß schneller vor, als das menschliche Auge zu reagieren imstande war. In der einen Sekunde hatte es noch reglos hinter dem Thron gestanden, und in der nächsten ragte es bereits hoch über dem sich windenden Chef der Sicherheitsbehörden auf, die gewaltigen krallenbewehrten Pranken auf seinen Schultern. Die am nächsten stehenden Höflinge wichen zurück, soweit es die dahinter stehende Menge zuließ, doch der Schläfer beachtete sie gar nicht. Seine Klauen versanken tief im Fleisch seines Opfers, und dicke Bäche von Blut strömten über den nackten Leib. Der Gefangene öffnete den Mund und wollte schreien, doch der Schläfer riß das Maul auf und biß dem Mann das Gesicht aus dem Kopf. Haut, Augen, Nase und Mund verschwanden, als die Bestie zuschnappte, und nur ein zerschmetterter blutiger Schädel blieb zurück, aus dem entsetzliche Schreie mit der Stimme des Sicherheitschefs erklangen.

Der Schläfer kaute und schluckte, dann beugte er sich erneut vor und stieß seine grinsenden Kiefer mit brutaler Gewalt in die Brust des Mannes. Das Brustbein gab nach, zerbrach wie Papier, und der Kopf der Kreatur versank im Leib ihres Opfers auf der Suche nach dem Herzen wie ein Schwein auf der Trüffeljagd. Die Arme des Opfers wedelten für einige Augenblicke haltlos in der Luft, dann fielen sie schlaff herab und bewegten sich nicht mehr. Und Frederic Hügel, ehemaliger Chef der Raumhafensicherheit von Golgatha, hing leblos in den Fängen des Schläfers, der genüßlich auf den Überresten herumkaute und den Geschmack ganz offensichtlich genoß. Das Joch um seinen Nacken summte erneut. Der Schläfer ließ den Leichnam achtlos in den blutbesudelten Schnee fallen und bewegte sich ohne Eile zurück hinter den Thron, wo er seine alte Position wieder einnahm. Dampfend heißes Blut tropfte aus seinen grinsenden Mundwinkeln und rann langsam über den purpurnen Siliziumpanzer herab. Im Schnee vor dem Thron lag der zusammengesunkene Leichnam Hügels, wie ein zerbrochenes Spielzeug, mit dem niemand mehr spielen wollte.

Schwejksam trat dicht neben Frost. Er konnte die Wut in ihr spüren, die sich schon beim geringsten Anlaß entladen würde.

Ihre gesamte Ausbildung und Karriere hatte sich darum gedreht, Fremde zu töten, bevor sie Menschen töten konnten.

Schwejksam legte eine warnende Hand auf Frosts Arm. Die Muskeln darin waren gespannt und hart wie Federstahl. Sie wandte den Kopf zu ihm und bedachte den Kapitän mit einem kalten Blick, so daß er die Hand zurückzog. Frost war Investigator, und sie hatte keine Zeit für menschliche Schwächen wie Mitleid. Ihr Ärger war rein beruflicher Natur.

Unter den Höflingen hatte erneut leises erregtes Gemurmel eingesetzt. Ihre Blicke wanderten von dem Schläfer zu dem zerfetzten Leichnam und wieder zurück zum Schläfer. Sie waren beeindruckt von der Wildheit des Mordes und von der ausgesprochen starken Kontrolle, welche die Eiserne Hexe über das Monster zu besitzen schien. Keiner der Höflinge hatte die zahlreichen deutlichen Warnungen übersehen, die mit der Exekution des Sicherheitschefs einhergegangen waren. Schwejksam wechselte einen bedeutungsvollen Blick mit Stelmach, doch beide schwiegen. Die der Leiche am nächsten stehenden Höflinge warfen einen Blick auf die tiefen, in der eisigen Luft noch immer dampfenden Wunden und versuchten, weiter zurückzuweichen. Doch die Menge hinter ihnen stand dicht gedrängt, und alle Anstrengungen waren umsonst. Die Herrscherin lächelte ihren Untertanen böse zu.

»Ist er nicht reizend? Seine Tischmanieren lassen zu wünschen übrig, aber er ist noch jung. Kaum mehr als ein Baby.

Stellt Euch nur vor, wie er sein wird, wenn er ausgewachsen ist! Stellt Euch eine Armee von seinesgleichen vor, die sich über ein Schlachtfeld ergießt. Eine endlose Welle von ihnen.

Unbezwingbare Stoßtruppen, die nichts hinter sich zurücklassen außer Bergen von Toten und Ozeanen aus Blut. Ich freue mich schon darauf. Die Forschungsarbeiten, um Unsere Kontrolle über die Schläfer zu perfektionieren, machen gute Fortschritte. Bald schon wird auf jeden Schläfer in den Gewölben ein Joch warten, und Wir werden sie gegen die Fremden aussenden, die uns am heutigen Tag angegriffen haben… und jeden anderen Feind, der Uns bedroht. Kapitän Schwejksam, Er hat seinen Bericht noch nicht beendet. Fahre Er fort. Erzähle Er dem Hof, was Er auf der Wolflingswelt entdeckt hat.«

Schwejksam, Stelmach und Frost wechselten sich mit ihrem Bericht ab. Sie erzählten, was sie in den weiten Kavernen unter der gefrorenen Oberfläche der Wolflingswelt vorgefunden hatten, die auch unter dem Namen Haden bekannt war, Heimat der aufgerüsteten Übermenschen, der Haldenmänner. Sie berichteten von der schlafenden Armee der Hadenmänner, wie die Rebellen sie aufgeweckt hatten und wie die künstlichen Menschen aus ihrer Gruft hervorgeströmt waren, machtvoll und prächtig, eine Armee von Kyborgsoldaten, die einst die Menschheit hatten ausrotten wollen und nur knapp gescheitert waren.

Sie berichteten von den Rebellen; dem Gesetzlosen Owen Todtsteltzer, der Piratin Hazel D’Ark, der Kopfgeldjägerin Ruby Reise und dem legendären Berufsrebellen Jakob Ohnesorg.

Sie berichteten von der Niederlage der Streitkräfte, die die Unerschrocken auf dem Planeten abgesetzt hatte, doch keiner erwähnte die Anwesenheit des Hohen Lord Dram oder seinen Tod durch die Hand einer weiteren Legende, dem ursprünglichen Todtsteltzer, der seit Jahrhunderten für tot gegolten hatte, verschollen in den Tiefen des Alls, und der nun zurückgekehrt war, um Rache an dem Imperium zu nehmen, das ihn verraten und gehetzt hatte. Man hatte ihnen zuvor gesagt, daß der Name des Hohen Lord Dram unter keinen Umständen erwähnt werden durfte. In ihrer gegenwärtigen Situation waren Schwejksam, Frost und Stelmach ganz zufrieden, in Bezug auf die Wahrheit ein wenig flexibel agieren zu können.

Unter den Höflingen setzte erneut Gemurmel ein, als die Höflinge auf Namen wie Todtsteltzer oder Jakob Ohnesorg reagierten – trotz vernichtender Blicke seitens der Herrscherin.

Sie waren tief beunruhigt über das Wiederauftauchen Owen Todtsteltzers, den die Imperatorin ohne triftigen Grund für vogelfrei erklärt hatte, der all ihren Armeen entkommen war und der jetzt anscheinend eine Rebellion gegen das Imperium entfacht hatte und leitete. Und die Vorstellung von einer Armee von Hadenmännern, die sich bereitmachte, das Imperium erneut anzugreifen, gefiel den Höflingen noch weniger. Es gab nur einen einzigen Grund, aus dem die Hadenmänner nicht noch immer den offiziellen Titel ›Feinde der Menschheit‹ trugen: Die abtrünnigen KIs von Shub waren noch gefährlicher.

Löwenstein lehnte sich zurück und ließ den Hofstaat für eine Weile murmeln, bevor sie schließlich mit ihrer verstärkten Stimme erneut um Aufmerksamkeit bat.

»Es nutzt nichts, wenn jetzt alle in Panik ausbrechen. Die Hadenmänner sind weit weg und erst vor kurzem wieder aufgewacht. Es wird noch eine ganze Weile dauern, bevor sie sich wieder in einer Position befinden, die sie zu einer wirklichen Gefahr werden läßt. Der Mann, der behauptet, Jakob Ohnesorg zu sein, ist nichts weiter als ein Doppelgänger. Rebellenpropaganda, um Leute anzuziehen. Ohnesorg ist wahrscheinlich schon viele Jahre tot.« Die Imperatorin unterbrach sich, als SB Chojiro graziös aus der Menge trat und vor dem Thron stehenblieb. Sie verbeugte sich, und die Herrscherin fixierte sie mit eisigen Blicken. »Sie hat besser einen triftigen Grund, Uns zu unterbrechen, Chojiro. Einen extrem triftigen Grund.«

»Mit allem nötigen Respekt, Euer Majestät, wir wissen aus normalerweise zuverlässigen Quellen, daß Jakob Ohnesorg vor einigen Jahren von Imperialen Kräften gefangengenommen wurde und wieder entfliehen konnte.«

»Da ist Sie falsch informiert«, erwiderte Löwenstein tonlos.

»Er war nie Unser Gefangener. Hätten Wir ihn gehabt, wäre ihm niemals eine Flucht gelungen. Haben Wir uns deutlich ausgedrückt? Gut. Und jetzt unterbrich Sie Uns nicht noch einmal, sonst werden Wir den Schläfer auf Sie hetzen, damit alle sehen können, was er mit kleinen vorlauten Mädchen anstellt.«

»Der Chojiro-Clan hegt nicht den Wunsch, rüde oder unverschämt zu erscheinen, Euer Majestät«, sagte SB gelassen. »Wir haben lediglich versucht, uns der Fakten zu versichern. Das Schiff der Hadenmänner, das die Rebellen hergebracht hat, war sehr real und äußerst beeindruckend, und es hat gezeigt, daß die Rebellen und die Hadenmänner nicht nur zusammenarbeiten, sondern daß die aufgerüsteten Männer bereits so hervorragend vorbereitet sind, daß sie uns zu jeder Zeit angreifen können. Wer kann sagen, ob nicht bereits eine ganze Flotte ihrer Schiffe von Haden nach hier unterwegs ist, um ein weiteres Mal die Stärke des Imperiums zu testen?«

»Sie ist Uns vielleicht eine aufmunternde Gesellschaft, Chojiro«, brummte Löwenstein. »Wenn die Hadenmänner bereit sind für einen neuen Versuch, dann ist das nur ein weiterer Grund, Unsere Aufrüstungsanstrengungen zu unterstützen und nicht mehr wegen angeblich zu hoher Steuern zu jammern, oder ist Sie anderer Meinung? Will sonst noch jemand einen Kommentar abgeben, bevor Wir fortfahren? Vergeßt nicht, daß es ein verdammt guter Kommentar sein sollte, oder Wir werden Euch alle so lange hier festhalten, bis Eure Augäpfel eingefroren sind.«

»Wenn Euer Majestät erlauben«, meldete sich Valentin zu Wort, »dann möchte ich ein paar Worte sagen.« Er trat neben SB Chojiro, die ihn von oben bis unten musterte und dann einen Schritt zur Seite wich. Valentin bedachte sie trotzdem mit einem strahlenden Lächeln und nickte der Herrscherin zu. »Ein wunderschöner Hof, Löwenstein. Sehr belebend. Ich persönlich vermisse ein paar Pinguine, aber der Schnee gefällt mir auch so. Er paßt so hübsch zu meiner Gesichtsfarbe. Also schön; ich habe durch zahlreiche unabhängige, verläßliche und nur wenig korrupte Quellen in Erfahrung gebracht, daß Euer Gemahl, der Hohe Lord Dram, Mitglied der Expedition von Kapitän Schwejksam zur Wolflingswelt gewesen sein soll und daß der Gute, bedauerlicherweise, dort den Tod gefunden hat. Wenn man bedenkt, daß seit einiger Zeit niemand den Hohen Lord bei Hofe oder an Euer Majestät Seite gesehen hat – würde Euer Majestät uns bitte seinen gegenwärtigen Aufenthaltsort und seinen Gesundheitszustand verraten?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Löwenstein. »Dram war nie an Bord der Unerschrocken. Er war die ganze Zeit über hier auf Golgatha und hat einen wichtigen Auftrag für mich erledigt.«

»Ich bin sicher, wir alle sind äußerst erleichtert, das zu hören«, sagte Valentin. »Aber wo könnte der Hohe Lord Dram denn in diesem Augenblick stecken?«

»Direkt hier«, lächelte die Imperatorin leichthin. »An meiner Seite. Wo er immer zu finden ist.«

Sie winkte leicht, ein holographischer Schirm fiel zusammen – und da stand Dram, neben ihr, zwischen Kardinal Kassar und dem Thron. Kassar wäre beinahe erschrocken in die Luft gesprungen. Er sah ganz danach aus, als hätte er genau das am liebsten getan. Jedenfalls wich er unwillkürlich einen Schritt zur Seite, bevor er sich wieder unter Kontrolle hatte. Lord Dram, Oberster Krieger des Imperiums und Prinzgemahl von Löwenstein XIV, stand in schwarzem Kampfanzug und langer pechschwarzer Robe an ihrer Seite, das bekannte sympathische Gesicht vielleicht ein wenig kalt und abwesend. Dram nickte den versammelten Höflingen zu, die ihn schweigend anstarrten.

Es hatte nie auch nur einen winzigen Funken Sympathie zwischen der rechten Hand der Herrscherin und der Versammlung der Lords gegeben. Valentin musterte Dram einen langen Augenblick, dann blickte er zu SB Chojiro, zuckte die Schultern und trat in die Menge zurück. Es machte keinen Sinn, ein verlorenes Spiel auszuspielen. SB Chojiro verneigte sich vor Löwenstein und Dram und trat ebenfalls zurück, um sich wieder zu Razor zu gesellen.

»Also das ist wirklich interessant«, murmelte Frost. »Wenn das da Dram sein soll – wen hatten wir dann die ganze Zeit über an Bord? Den echten Dram? Ist das hier ein Klon? Oder war es ein Klon, der mit uns auf der Wolflingswelt war, während der echte Dram zu Hause geblieben ist?«

»Ich habe nicht die geringste Ahnung«, erwiderte Schwejksam. »Aber in mir regt sich der starke Verdacht, daß diese Sorte Fragen wirklich üble Auswirkungen auf die Gesundheit des Fragenstellers haben könnte.«

»Worüber redet Ihr?« erkundigte sich Stelmach ungeduldig.

»Ich kann kein Wort verstehen, wenn Ihr so leise flüstert. Was werden wir jetzt tun?«

Schwejksam und Frost wechselten einen vielsagenden Blick.

Ohne es zu bemerken, hatten sie einmal mehr telepathischen Kontakt miteinander aufgenommen, und ihre Gedanken sprangen wie in einer Unterhaltung vom einen zum anderen. Was an und für sich vollkommen unmöglich hätte sein müssen, wenn man all die ESP-Blocker bedachte, auf denen Löwenstein während der Versammlungen bei Hof bestand. Noch etwas, über das sie sich unterhalten mußten, wenn sie erst allein und halbwegs sicher waren.

»Ich sage Euch, was wir tun werden.« Schwejksam sprach schließlich als erster wieder. »Wir werden unseren Mund halten, bis die Imperatorin uns erzählt, was wir zu sagen haben.

Und wenn sie sagt, daß das dort Lord Dram ist, dann ist es Lord Dram. Richtig?«

»Damit kann ich durchaus leben«, stimmte Frost zu.

»Richtig«, schloß sich auch Stelmach an, aber er schien nicht so recht glücklich damit zu sein.

Plötzlich entstand Unruhe unter den Höflingen, und dann trat ein nach der allerneuesten Mode mit goldenem Gehrock und hüfthohen Lederstiefeln bekleideter Mann vor und nahm eine herausfordernde Haltung ein. Sein Haar bestand aus langen, metallisierten Strähnen, die bronzen leuchteten, und sein Gesicht fluoreszierte blendend. Über seiner Brust hing ein dickes silbernes Medaillon, das ihn als gewähltes Mitglied des Parlaments auswies. Er warf einen raschen Blick in die Runde – wegen der Holokameras, von denen er wußte, daß sie irgendwo versteckt waren, auch wenn er sie nicht sehen konnte – und reckte sich stolz auf. Wie alle Politiker kannte er die Bedeutung einer guten Schau ganz genau. Und heute saß das halbe Imperium an den Holoschirmen.

»Euer Majestät, ich muß wirklich protestieren! Auch mir sind Informationen aus einer höchst verläßlichen Quelle zugeflossen, die selbstverständlich anonym bleiben muß, aus denen hervorgeht, daß jedes Wort zutrifft, das Lord Wolf gesagt hat.

Der Hohe Lord Dram ist tot. Er starb auf der Wolflingswelt, getötet vom ursprünglichen Todtsteltzer persönlich. Der Mann an Euer Majestät Seite ist bestenfalls ein Hochstapler und im schlimmsten Falle ein Klon, den Euer Majestät uns unterzuschieben versuchen. Nun, ich für meinen Teil lasse mich nicht an der Nase herumführen. Ich muß darauf bestehen, daß dieser… diese Person einem Gentest unterzogen wird, und zwar jetzt und an Ort und Stelle. Wir dürfen nicht zulassen, daß Euer Majestät ein Klon als Gemahl zur Seite steht.«

»Wir?« meldete sich Dram zu Wort. »Und wer mag das sein außer Euch?«

»Ich repräsentiere eine stattliche Anzahl meiner geschätzten Kollegen«, erwiderte der Abgeordnete. »Und ich denke, ich besitze den Zuspruch und die Unterstützung jedes loyalen Mannes und jeder Frau, die sich hier versammelt haben. Wir haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.«

Löwenstein beugte sich auf ihrem Thron vor. Ihr Gesicht wirkte ruhig und gelassen. »Sein Gesicht ist Uns nicht vertraut«, sagte sie. »Wie lautet doch gleich Sein Name…?«

Der Abgeordnete richtete sich noch höher auf, wenn das überhaupt möglich war. Seine Stimme klang stolz und selbstbewußt, als er verkündete: »Ich bin der Abgeordnete Richard Schott, neu gewählt und Vertreter von Grausee Ost. Ich gewann meine Wahl mit einem Reformprogramm für Wahrheit und gegen Korruption und Willkür in der Regierung. Es erscheint mir nur angemessen, daß mein Einsatz zur Verwirklichung dieser Ziele hier bei Hofe beginnt.«

Löwenstein nickte und lehnte sich zurück. »Das hätten Wir Uns denken können«, sagte sie. »Nichts auf der Welt ist großspuriger und aufgeblasener als ein neu gewählter Abgeordneter. Dram, kümmere Er sich darum.«

Dram nickte, und seine kalten dunklen Augen richteten sich auf Schott, der mit einemmal ein wenig verunsichert wirkte.

Welche Antwort er auch immer auf seine Herausforderung erwartet hatte, diese hier ganz bestimmt nicht. Kein Ärger, keine Wut, kein Dementi – nichts. Nur gelassene Gleichgültigkeit seitens der Eisernen Hexe und ein kalter abschätziger Blick von Dram. Schott begann sich zu fragen, ob er einen Fehler begangen hatte. Seine Kollegen hatten ihn laut unterstützt, aber inzwischen standen sie schweigend wie begossene Pudel in der Menge, und Schott war allein vor dem Thron. Dram trat vor, und Schott mußte gegen den Impuls ankämpfen zurückzuweichen. Er wollte einen starken, resoluten Eindruck hinterlassen.

Dram blieb zwischen Schott und dem Thron stehen. Sein plötzliches Grinsen war kalt wie der Tod.

»Die Imperatorin hat bereits vor dem versammelten Hof bekanntgegeben, daß ich der echte Dram bin. Indem Ihr dies bezweifelt, bezweifelt Ihr das Wort Ihrer Majestät. Genaugenommen habt Ihr sie sogar eine Lügnerin genannt. Und das ist eine Beleidigung, die nach Satisfaktion schreit. Eine Frage der Ehre. Ich vertrete Löwenstein in dieser Angelegenheit. Findet jemanden, der für Euch einsteht, oder verteidigt Euch selbst.

Hier und jetzt.«

Schott wurde leichenblaß, als er erkannte, in welche Falle er gegangen war. Niemand würde ihm jetzt noch helfen. Das Feld der Ehre war sakrosankt. Er schluckte mühsam. »Euer Majestät, ich muß protestieren. Abgeordnete sind von der Tradition des Duellierens ausgenommen!«

»Normalerweise habt Ihr damit recht«, sagte Dram ungerührt. »Aber Ihr habt die Herrscherin beleidigt, und das vor ihrem versammelten Hof. Eine derartige Beleidigung wiegt schwerer als jede Tradition.«

Schott wandte sich nicht um. Er wußte, daß er nur in verschlossene Gesichter blicken würde. Der Abgeordnete hob langsam die Hände, um zu zeigen, daß sie leer waren. »Ich besitze kein Schwert.«

Einer der Wachsoldaten, der den verstorbenen Leiter der Raumhafensicherheit hereingeschleppt hatte, trat auf Drams Wink hin vor und bot Schott sein Schwert. Der Abgeordnete nahm es entgegen, obwohl er damit sein eigenes Todesurteil unterschrieb. Er besaß keine Erfahrung im Duellieren. Schott hatte seit seinen Studententagen kein Schwert mehr im Zorn in der Hand gehalten. Und Dram war der Oberste Krieger. Immer vorausgesetzt, daß es wirklich Dram war.

Schott hob das Schwert, um ein Gefühl für die Waffe zu bekommen. Es war eine gute Klinge, hervorragend ausbalanciert.

Er begann zu weinen. Es war kein richtiger Zusammenbruch oder sonst etwas Dramatisches; er wollte verdammt sein, wenn er ihnen diese Genugtuung gönnen würde. Es waren nur ein paar Tränen, mehr nicht, die über seine Wangen rannen. Schott wußte, daß er sterben würde. Das hier war eine Exekution, kein Duell. Er konnte sich nicht daran erinnern, ob er seiner Frau noch gesagt hatte, daß er sie liebte, als er an diesem Morgen aus dem Haus gegangen war. Er hoffte, daß er es nicht vergessen hatte. Und er hatte diesen besonderen Marmor für den Vorhof bestellt. Seine geliebte Ehefrau würde nicht die leiseste Ahnung haben, was sie damit anfangen sollte. So viele Dinge würden unerledigt bleiben. Er schüttelte den Kopf. Nichts, das jetzt noch eine Rolle spielte. Es war zu spät für etwas anderes als Dram und ihre beiden Schwerter. Der Abgeordnete Schott blickte dem Hohen Lord fest in die Augen, und obwohl noch immer Tränen über seine Wangen liefen, klang seine Stimme hart, fest und entschlossen.

»Laßt uns anfangen.«

Dram trat einen Schritt vor, hob das Schwert, und Schott machte sich bereit, ihm zu begegnen. Sie umkreisten einander für einige Sekunden…, und dann startete Dram einen mörderischen Angriff, in den er all seine Kraft legte. Schott parierte, so gut er konnte, doch nach nur einem Dutzend Hieben wurde ihm das Schwert aus der Hand geprellt. Er blickte der Waffe hinterher, als sie durch die Luft segelte und einige Meter weiter in den Schnee fiel. Schott sah wieder zu Dram, den Kopf trotzig erhoben, und gab sich Mühe, das Beben seiner Lippen zu verbergen. Es gab keinen Ort, wohin er flüchten konnte, und vielleicht würde ihm ein mutiger Auftritt eine Begnadigung durch die Herrscherin verschaffen. Doch Dram blickte gar nicht erst zu Löwenstein zurück. Er hob die Klinge und stieß sie tief in Schotts rechte Schulter wie ein Förster, der mit seiner Axt einen störrischen Baum bearbeitet.

Die Wucht des Schlages warf Schott auf die Knie, und ein überraschtes Stöhnen drang aus seinem erschlaffenden Mund.

Dram riß die Klinge zurück. Blut sprudelte aus der großen Wunde und bespritzte Schotts Gesicht und den Schnee ringsum. Dram schlug wieder und wieder zu. Er vermied es sorgfältig, sein Opfer tödlich zu treffen. Sein Schwert arbeitete unermüdlich, mit eiskalter Präzision. Schott versuchte, ein paar der Hiebe mit bloßen Armen abzuwehren. Das Schwert fetzte Haut und Muskeln weg, als die Klinge von den Knochen abprallte.

Dann trennte einer der Hiebe Schotts linke Hand ab. Der Abgeordnete brach im Schnee zusammen und hielt den blutigen Stumpf an seine Brust gepreßt. Er schrie ununterbrochen vor Schmerz, doch er machte keine Bewegung mehr, um den unablässigen neuen Treffern zu entgehen. Schließlich zuckte er ein letztes Mal und lag still. Es war für jedermann offensichtlich, daß der Mann tot war. Trotzdem fuhr Dram fort, auf den Leichnam einzuschlagen wie ein Holzfäller bei der Arbeit, und der Körper Schotts zuckte und schüttelte sich unter dem Hagel von Hieben, die auf ihn einprasselten.

Die Höflinge beobachteten die Szenerie in entsetztem Schweigen. Löwenstein beugte sich auf ihrem Thron vor, um eine bessere Sicht zu haben. Ihre Lippen zierte ein breites Grinsen. Die Dienerinnen bewegten sich unruhig zu ihren Füßen, aufgepeitscht wegen des schweren Blutgeruchs in der Luft, und beobachteten mit kalten Insektenaugen, wie der leblose Körper zuckte und sich schüttelte. Schwejksam verzog keine Miene und überlegte, ob er sich an Schotts Stelle einfach im Schnee zusammengekrümmt und alles ertragen hätte. Bewaffnet oder nicht, er hätte sein Bestes gegeben, um selbst im Sterben noch die Hände um Drams Kehle zu klammern. Frost hatte die Lippen geschürzt. Sie mißbilligte eine derartige Schweinerei zutiefst. Stelmachs Gesicht war weiß wie der Schnee, doch er wandte die Augen nicht einen Augenblick lang ab. Er wußte, wie gefährlich es sein konnte, an Löwensteins Hof Schwäche zu zeigen.

Schließlich hielt Dram inne. Er richtete sich auf und stand über seinem Opfer, das Schwert der Länge nach mit Blut besudelt. Der Hohe Lord atmete ein wenig schneller, doch sein Gesicht wirkte ruhig. Er zog die Klinge ein paarmal durch den Schnee, um sie zu reinigen, bevor er sie in die Scheide zurücksteckte. Dann blickte er die Höflinge an und lächelte knapp.

»Ich schätze, im Bezirk Grausee Ost ist eine Neuwahl erforderlich.«

Dram kletterte auf das Podest zurück und nahm wieder seinen Platz neben dem Thron Löwensteins ein. Kassar wich bereitwillig zur Seite. Die Herrscherin winkte ein paar Wachen herbei, damit sie den Leichnam wegschafften, genau wie zuvor den des verstorbenen Sicherheitschefs. Die Soldaten wickelten den verstümmelten Körper in ein Tuch, achteten sorgfältig darauf, daß keine Gliedmaßen liegenblieben, und trugen ihn davon. Die Höflinge beobachteten die Szene aufmerksam und schweigend, und jeder dachte sich insgeheim seinen Teil. Darüber würde man später noch diskutieren. Jeder von ihnen erkannte eine Lektion, wenn sie erteilt wurde. Und jeder von ihnen kannte auch den besonderen Stil des Hohen Lords Dram, und dieser Mord war typisch für den Mann gewesen, den man auch den Witwenmacher nannte. Löwenstein streckte die Hand aus und streichelte ihrem Prinzgemahl den Kopf, wie man ein Haustier streichelt, bevor sie ihren Blick wieder auf Schwejksam, Frost und Stelmach richtete. Schwejksam und Stelmach gaben sich Mühe, noch strammer zu stehen.

»Wir haben neue Aufgaben für Euch drei«, sagte Löwenstein leise. »Wir waren sehr aufgebracht, als Wir von Seinem Versagen auf der Wolflingswelt hörten, doch indem Er Uns vor dem fremden Schiff gerettet habt, hat Er seinen Kopf noch einmal aus der Schlinge gezogen. Wir müssen Ihn loben, Kapitän Schwejksam. Er scheint eine Gabe zu besitzen, seine Fehler im letzten Augenblick wiedergutzumachen. Achte Er darauf, daß Ihn dieses hervorragende Zeitgefühl nicht irgendwann einmal im Stich läßt. Nun denn; Er und Seine Begleiter werden an Bord der Unerschrocken zurückkehren. Er wird eine Reise zu allen Welten unseres Imperiums unternehmen, auf denen hauptsächlich fremde Rassen leben, und Er wird sicherstellen, daß Unsere Untertanen in diesen verlockenden Zeiten loyal zum Eisernen Thron stehen. Sollte Er auf Ablehnung treffen, ist Er durch Uns persönlich ermächtigt, alle Ihm nötig erscheinenden Schritte einzuleiten, um die Ordnung wiederherzustellen. Unter keinen Umständen ist es auch nur einer einzigen Welt erlaubt, mit fremden Mächten von außerhalb des Imperiums in Kontakt zu treten. Sollte dieser Kontakt bereits geknüpft worden sein, so ist die Welt zu sengen. Das ist alles. Er darf sich jetzt bedanken.«

»Ich danke Euer Majestät im Namen von uns allen«, sagte Schwejksam. Er dachte, es wäre besser, wenn er für sich und seine beiden Begleiter sprach. Stelmach befand sich noch immer in einem Schockzustand, und Frost hatte in ihrem ganzen Leben noch nie danke gesagt. Investigatoren bedankten sich nicht. »Ich nehme an, wir werden augenblicklich zu dieser Reise aufbrechen, Euer Majestät?«

»Oh, ganz so eilig ist es auch wieder nicht«, erwiderte Löwenstein. »Wenn Er mag, kann Er bis zum Ende dieser Audienz bleiben. Es mag sein, daß einige Zeit ins Land geht, bevor Er Uns wiedersieht.«

Wenn wir Glück haben, dachte Schwejksam und verbeugte sich. Ihre freundlichen Worte konnten ihn nicht täuschen. Nur ein Dummkopf ließ sich durch Löwensteins freundliche Worte täuschen. Die Eiserne Hexe hatte Schwejksam die schmutzigste und unerfreulichste Aufgabe übertragen, die sie sich hatte ausdenken können. Es war zwar eine notwendige Aufgabe, doch ganz eindeutig auch eine Bestrafung. Zu wichtig, um sie jemand Inkompetentem oder jemand mit einem schwachen Magen zu übertragen, aber zu zeitaufwendig für jemanden, den Löwenstein wirklich brauchte. Und hinterher, wenn sich herausstellte, daß sein Vorgehen politisch unangemessen gewesen war, konnte man ihn jederzeit den Wölfen zum Fraß vorwerfen. Trotzdem. Es hätte schlimmer kommen können. Schwejksam lebte, und er besaß noch alle seine Gliedmaßen. Man hatte ihm ein Zeichen gegeben, daß man seinen Fehler verziehen, wenn auch nicht vergessen hatte – und eine letzte Chance zu beweisen, daß er noch immer nützlich war.

Schwejksam ließ sich auch nicht täuschen, was Löwensteins freundliche Einladung zum Bleiben anging. Sobald die Audienz zu Ende war, würden ganz ohne Zweifel Wachen auftauchen und ihn und seine beiden Begleiter zur Unerschrocken eskortieren, um sicherzustellen, daß sie unterwegs nicht verlorengingen oder mit jemandem sprachen, mit dem sie nicht sprechen sollten. Das war zumindest einer der Gründe, aus denen die Imperatorin die Unerschrocken in die letzten Winkel ihres Reiches abkommandiert hatte; niemand sollte unangenehme Fragen über Drams Tod oder die Wolflingswelt stellen können. Und bis sie erst wieder nach Golgatha zurückgekehrt waren, wäre die Frage längst nicht mehr aktuell. Schwejksam gab Frost und Stelmach einen Wink, und sie zogen sich in die relative Sicherheit der Menge zurück. Es wäre nicht klug, der Herrscherin noch einmal unter die Augen zu treten. Man konnte das Schicksal auch unnötig in Versuchung führen.

Löwenstein begann schließlich mit dem Abwickeln der Tagesordnung, sprach Belobigungen und Tadel aus und erinnerte ihre Untertanen noch einmal deutlich daran, wer die wirkliche Macht in Händen hielt. Fragen wurden gestellt und beantwortet, Rechtsstreitigkeiten entschieden und Berichte über die Fortschritte bei der Instandsetzung von Raumhafen und Hauptstadt abgeliefert. Die Höflinge entspannten sich nach und nach ein wenig und begannen wieder leise untereinander zu reden.

Lord David Todtsteltzer und Lord Kit Sommer-Eiland, der stille junge Mann, der auch unter dem Namen Kid Death bekannt war, beobachteten die Szenerie aus sicherer Distanz und erlaubten sich hin und wieder ein diskretes Gähnen. Das Schlimmste schien vorüber zu sein. Es hatte nach und nach aufgehört zu schneien, und der eisige Wind hatte sich gelegt, als würde sich inzwischen selbst das Wetter langweilen. Die Kälte war allerdings noch immer schneidend. Eine kalte Umgebung für zwei eiskalte junge Männer.

Kit Sommer-Eiland war zum Oberhaupt seiner Familie aufgestiegen, indem er einfach jeden umgebracht hatte, der zwischen ihm und dem Titel stand. Einschließlich seiner eigenen Eltern. Auf Verlangen der Herrscherin hatte er sogar seinen Großvater getötet, einen berühmten alten Krieger, doch das hatte ihm mehr geschadet als genutzt. Die Löwenstein hatte das Interesse an ihm verloren, als er ihr nicht mehr länger nützlich gewesen war. Daraufhin hatte Kit eine Weile mit dem Untergrund geliebäugelt, aber seit dem Debakel von Silo Neun dachte er darüber nach, sich wieder von den Rebellen zu distanzieren. Er erkannte einen verlorenen Posten, wenn er einen sah.

Und so war aus dem jungen Mann, der weithin Kid Death, der lächelnde Tod, genannt wurde, von vielen gehaßt und von niemandem geliebt, nach und nach ein Ausgestoßener und Paria geworden, selbst hier, in der Welt der Oberen Zehntausend, wo jeder jeden fraß. Kit war von schlanker Gestalt, gerade erst neunzehn Jahre alt, gekleidet in einen schwarzsilbernen Kampfanzug, mit einer blonden Mähne über einem blassen länglichen Gesicht, das von eisigen blauen Augen beherrscht wurde. Er bewegte sich wie ein Raubtier in einer Welt voller Beute. Kid Death. Der lächelnde Killer.

Neben ihm stand sein einziger Freund und runzelte nachdenklich die Stirn. David Todtsteltzer hatte den Titel als Oberhaupt seines Clans nach der Ächtung seines Vetters Owen

übernommen. Er war achtzehn, groß, muskulös, makellos gekleidet und attraktiv genug, um die Herzen einiger Schönheilen der Gesellschaft zu entflammen. Was ihm allerdings erst vor kurzer Zeit bewußt geworden war. Seither arbeitete er daran, sich eine Schneise durch die beeindruckenderen Reihen von Schönheiten seiner Generation zu bahnen. Seine Freundschaft mit Kit Sommer-Eiland verschaffte ihm einen gefährlichen Glanz, den er nur allzugerne ausnutzte.

Beide waren ein wenig überrascht gewesen, wie schnell sich ihre Freundschaft entwickelt hatte. Beide waren in jungen Jahren zu den Oberhäuptern ihrer Familien geworden, und beide hatten rasch herausgefunden, daß keine andere Familie sie respektierte. Beide duellierten sich schon beim geringsten Anzeichen einer Beleidigung, sowohl einzeln als auch gemeinsam, doch das hatte ihnen nur eine kalte Form von öffentlichem Respekt eingebracht. Sie empfanden nichts als Verachtung für die Intrigen, Ränke und Betrügereien, die einen Großteil der Familienpolitik ausmachten – nicht zuletzt auch deswegen, weil keiner von beiden die Geduld oder das Geschick besaß, selbst daran teilzunehmen. Sie hatten eine gewisse Anhängerschar in der Öffentlichkeit gefunden, indem sie sich – zum Entsetzen ihrer Standesgenossen – in der Arena jeder Herausforderung gestellt hatten, aber richtig populär waren sie dadurch nicht geworden. Der Sommer-Eiland wegen dem, was er seiner Familie angetan hatte und weil er ein verdammter mordgieriger Psychopath war, und David, weil er einen Namen trug, der zu einem Synonym für Verrat geworden war. Doch jeder der beiden hatte in dem anderen einen verwandten Geist entdeckt; Aussätzige, die von ihrer Gesellschaft zurückgestoßen wurden, junge Männer, die niemals zuvor die Erfahrung gemacht hatten, daß Freundschaft stärker verbinden konnte als Verwandtschaft, einander verschworen bis in den Tod und darüber hinaus. Sie standen in der Menge der versammelten Höflinge, von ihren Nachbarn ignoriert, und betrachteten nachdenklich den Hohen Lord Dram.

»Ich könnte es mit ihm aufnehmen«, sagte David. »Jeder von uns beiden würde einen besseren Obersten Krieger abgeben.«

»Sicher«, stimmte Kit ihm zu. »Aber du kriegst den Titel nur durch öffentliche Abstimmung, also vergiß es ruhig. Vielleicht würden sich die Dinge ändern, wenn wir eine außergewöhnlich tapfere und mutige Tat vollbrächten. Trotzdem würde man uns niemals einen Titel wie diesen verleihen. Kann sein, daß es demnächst Krieg gibt. Entweder gegen die Rebellen oder gegen die Fremden. In einem Krieg sehen die Dinge immer ganz anders aus.«

»Natürlich. Aber in einem Krieg besteht auch immer die Chance, daß man in einer Kiste nach Hause geschickt wird oder ein paar wichtige Körperteile verlorengehen, weil man zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort gestanden hat. Der Krieg ist für meinen Geschmack viel zu launenhaft. Ich würde etwas weniger Dramatik bevorzugen.«

»Hallo, wen haben wir denn da?« rief Kit plötzlich. »Ich erspähe ein bekanntes Gesicht. Thomas LeBihan, Abgeordneter von Thornton Nord, so wahr ich hier stehe und atme. Unser gelegentlicher Gönner. Er tut so, als hätte er uns noch nicht gesehen. Komm, laß uns zu ihm gehen und ihn ein wenig in Verlegenheit bringen. Es ist nur zu seinem Besten.«

Kit und David setzten sich in Bewegung. Die Menge wich bereitwillig vor ihnen zurück. LeBihan ignorierte die beiden Herannahenden, solange er konnte, doch schließlich seufzte er resignierend, wandte sich zu ihnen um und verneigte sich leicht. Er war ein Bär von einem Mann mit einer faßförmigen Brust, trug einen Spitzbart und besaß einen guten Ruf als Schwertkämpfer, doch selbst er beugte sich vor dem schrecklichen Duo. Kit und David erwiderten den Gruß und lächelten LeBihan freundlich zu. Sein eigenes Lächeln wirkte ein wenig unglücklich und gequält. Kit und David hatten einen Bürgen benötigt, um Zutritt zur Arena zu erhalten, und sie hatten ihn ausgewählt, in ihrem Namen die notwendigen Formalitäten zu erledigen. Nicht, daß er eine andere Wahl gehabt hätte. Immerhin war er schlau genug gewesen, keine Diskussion in dieser Angelegenheit anzufangen.

»Hallo, Freunde«, grüßte LeBihan vorsichtig. »Wem oder was verdanke ich die Ehre unserer Begegnung? Ich habe Euch bereits gesagt, daß es noch zu früh ist für einen weiteren Kampf. Es wird in letzter Zeit immer schwieriger, geeignete Gegner für Euch zu finden. Ihr besitzt eine der längsten Gewinnsträhnen in der Geschichte der Arena.«

»Wir wollen wissen, warum wir nicht beliebt sind«, sagte David. »Immer und immer wieder gewinnen wir, aber wir sind trotzdem unbeliebt. Die Menge klatscht zwar und jubelt uns zu, aber niemand verehrt uns wie früher den Maskierten Gladiator.

Vielleicht solltet Ihr einen Kampf mit ihm ausmachen? Wir wollen beliebt sein, Thomas. Wo ist das Problem?«

LeBihan seufzte. »Ihr wollt die Wahrheit wissen? Also schön. Die Schwierigkeit mit Euch ist, daß Ihr Euch um nichts anderes als um Euch selbst kümmert. Ihr tötet in der Arena nur zu Eurem eigenen Vergnügen und nicht für die Zuschauer. Ihr macht Euch nur Gedanken über das Gewinnen, nicht darüber, wie Ihr den Zuschauern etwas bieten könnt. Aber am schlimmsten von allem ist, daß Ihr ein Todtsteltzer seid und Kit ein Psychopath. Niemand will Euch beiden zu nahe kommen. Alle haben Angst, es könnte abfärben. Ihr könntet mit beiden Beinen hinter den Rücken gefesselt und einem Eimer über dem Kopf gegen den Maskierten Gladiator antreten, und trotzdem würden die Zuschauer Euch nicht lieben. Ihr seid ganz offiziell schlechter Umgang. Ich kenne Leute, die nicht einmal mehr mit mir sprechen, nur weil ich mich damit einverstanden erklärt habe, Euer Bürge zu sein. Niemand traut Euch über den Weg, niemand mag Euch, niemand will Euch in seiner Nähe haben.

Die Leute kreuzen ihre Finger, wenn Ihr ihnen über den Weg lauft, weil Ihr Pech bedeutet. Und wenn Ihr mich jetzt entschuldigen würdet, ich möchte nicht, daß man mich mit Euch zusammen sieht. Ich muß schließlich an meine eigene Zukunft denken.«

»Sprecht Euch ruhig aus, Thomas«, forderte David. »Ich will wissen, was Ihr wirklich denkt.«

»Ich habe wegen kleinerer Beleidigungen getötet«, sagte Kit kühl.

»Ich weiß, ich weiß«, erwiderte LeBihan. »Genau das ist Euer Problem, Sommer-Eiland. Kann ich jetzt gehen, oder wollt Ihr mich mit bloßen Händen vor den Augen der Imperatorin umbringen?«

»Es ist zumindest eine Überlegung wert«, entgegnete Kit.

»Ach, laß ihn«, widersprach David.

Kit zuckte die Schultern, und LeBihan nahm die Gelegenheit wahr, sich in den Schutz der Menge zurückzuziehen. Kit blickte ihm mit kalter Wut hinterher. »Er hat uns beleidigt.«

»Indem er uns die Wahrheit sagte? Wir haben ihn darum gebeten. Jetzt beruhige dich erst einmal, und sieh ihm nicht so hinterher. Die Herrscherin beobachtet uns. Wir wollen ihr doch keinen Anlaß liefern, sich noch mehr über uns zu ärgern, oder?

Ich schätze, sie ist heute nicht besonders gut gelaunt.«

Kit schniefte verächtlich. »An Tagen wie diesem wünsche ich mir, wir wären noch im Untergrund. Ich habe mir in der Rolle des Subversiven gut gefallen.«

»Wir beide sind zu dem Schluß gekommen, daß das Risiko zu groß wurde«, erwiderte David. »Nachdem Huth sich als Dram zu erkennen gegeben hat, wäre es reiner Selbstmord gewesen, noch länger zu bleiben. Nur weil wir rechtzeitig einen Rückzieher gemacht haben, steht jetzt einzig und allein sein Wort gegen unseres. Und Löwenstein will keinen Skandal.

Außerdem können wir jederzeit wieder zurück, wenn wir wollen. Wenn Dram doch nur wirklich gestorben wäre…«

»Aber er lebt.«

»Offensichtlich. Und er ist während seiner Abwesenheit ebenso offensichtlich nicht freundlicher geworden, gleichgültig, wo er gesteckt hat. Er hat sicher mit Löwenstein über uns gesprochen. Das ist wohl auch der Grund, warum man mich zurück nach Virimonde schickt.«

»Du mußt nicht gehen, wenn du nicht willst«, sagte Kit und betrachtete seine Füße.

»Doch, ich muß. Offiziell ist es eine Beförderung. Ich werde mit der Leitung einer der größten Nahrungsmittelfabriken des Imperiums betraut. Außerdem ist es mein Erbe als Todtsteltzer.

Würde ich mich weigern, könnte Löwenstein das als willkommenen Anlaß nehmen, mir den Titel abzuerkennen.«

»Aber wenn du nach Virimonde abreist«, entgegnete Kit traurig, »dann bin ich wieder allein.«

»Komm doch mit mir«, schlug David vor. »Sicher, es wird unsere Chancen auf ein weiteres Vorankommen eine Zeitlang beenden, aber wenn wirklich ein Krieg ausbricht, wird man sich schnell genug an uns erinnern und uns zurückrufen. Löwenstein wird früher oder später erkennen, daß sie es sich nicht leisten kann, auf uns böse zu sein. Wir sind immerhin die Oberhäupter unserer Familien.«

»Und das Ende unserer Blutlinien«, ergänzte Kit. »Wir haben niemanden mehr außer uns.« Er hob den Blick und sah David in die Augen. »Du bist der einzige Freund, den ich jemals hatte, David. Ich werde mit dir nach Virimonde gehen. Oder zum Abgrund oder sonstwohin.«

»Jetzt sei mal nicht so pessimistisch«, munterte David ihn auf. »Du kommst mit mir, und wir werden eine Menge Spaß haben. Wein, Weiber und jede Menge eingeborener Kreaturen, die wir töten können, bis unsere Arme abfallen. Und für den Fall, daß die Eiserne Hexe beschließt, uns für vogelfrei zu erklären, können wir beide dringend jemanden gebrauchen, der uns den Rücken freihält.«

Kit lächelte. »Du warst immer der Praktischere von uns beiden, David.«

»Einer von uns muß es ja sein. Außerdem, falls Löwenstein dumm genug ist, Leute hinter uns herzuschicken, dann schicken wir sie ihr zurück. In ganz kleinen Kisten. Porto zahlt Empfänger.«

»Richtig«, erwiderte Kid Death. »Aber wenn die Eiserne Hexe unsere Köpfe wollte, hätte sie längst etwas in dieser Richtung unternommen. Vielleicht Gift in unserem Essen oder eine Bombe auf der Toilette. Sie will uns nicht tot. Für jemanden wie uns wird es immer Arbeit geben. Wir sind erprobte Kämpfer, die jeden Auftrag annehmen. Du wirst sehen. Sobald der Krieg erst beginnt oder das politische Intrigenspiel ein wenig zu schmutzig wird, ruft sie uns zurück. Dann können wir uns den Weg zur Macht freikämpfen. Ich persönlich kann es gar nicht erwarten.«

David betrachtete seinen Freund liebevoll. »Manchmal machst du mir angst, weißt du das? Aber wenigstens muß ich mir keine Gedanken mehr machen, daß du wieder hinter Valentin herjagst, solange du bei mir bist.«

»Ich werde ihn töten«, flüsterte Kit. »Er wird sehr langsam sterben, dieser Bastard, und er wird mich anflehen, ein Ende zu machen. Er hat mich betrogen.«

David schwieg diplomatisch. Kit hatte seine Verbindungen zu den Kyberratten spielen lassen und den heimlichen Handel des Feldglöck-Clans mit den KIs von Shub entdeckt. Er hatte sein Wissen an Valentin weitergegeben, und Valentin hatte ihm als Gegenleistung eine große Summe Geld versprochen. Valentin hatte die Informationen benutzt, um die Feldglöcks zu stürzen – und anschließend alle Verbindungen zu Kit abgebrochen und bestritten, ihm auch nur einen einzigen Kredit zu schulden.

Und er hatte ihn obendrein auch noch verspottet, etwas dagegen zu unternehmen, falls er könnte. Da Valentin jetzt Oberhaupt der Wolfs und damit der mächtigsten Familie im Imperium war, hätte die Eiserne Hexe Kit den Kopf abschlagen lassen, wenn er Valentin getötet hätte. Sie hätte Kit sogar eine Armee auf die Fersen gehetzt, um ihn zu schnappen. Kit Sommer-Eiland knirschte bei dem Gedanken an diesen schändlichen Betrug wütend mit den Zähnen und meditierte einmal mehr über die Tugend der Geduld.

Valentin würde nicht ewig der Liebling der Herrscherin bleiben.

»Komm mit mir nach Virimonde«, wiederholte David. »Wir werden uns amüsieren, die Einheimischen wütend machen und Pläne schmieden, was wir mit Valentin und Konsorten anstellen, wenn sie schließlich in Ungnade fallen. Die Dinge ändern sich immer irgendwann.«

Genau in diesem Augenblick erschien aus dem Nichts ein Körper vor dem Eisernen Thron. Er stand auf seinen eigenen Beinen, den Kopf stolz erhoben, obwohl das Fleisch von den Knochen faulte. Löwenstein riß den Mund auf und wich ganz weit nach hinten in ihrem Sitz zurück. Das war der erste Hinweis darauf, daß es sich nicht um einen weiteren ›kleinen Scherz‹ der Herrscherin handelte. Der Körper wandte sich um und grinste die Höflinge an. Einige schrien entsetzt auf. Das faulig stinkende Geschöpf sah aus, als wäre es nach mehreren Wochen in der feuchten Erde wieder ausgegraben und zum Leben erweckt worden. Das totenblasse, rohe Fleisch hing ihm in Fetzen vom Leib, und an manchen Stellen schimmerten die Knochen durch. Der ganze Körper wurde nur durch glänzende Prothesen mit modernster Technologie zusammengehalten. Es war ein Geistkrieger, lebloses Gewebe, das von Lektronenimplantaten wieder zum Leben erweckt und gesteuert wurde. Ein Botschafter der KIs von Shub.

Am schlimmsten von allem war jedoch, daß vom Gesicht nicht mehr genug übrig war, um es zu erkennen. Der Körper hingegen gehörte eindeutig Jakob Wolf, Valentins ermordetem Vater. Ein schockiertes Flüstern erhob sich unter den Höflingen, als sie den Leichnam erkannten. Die Menschen blickten zu Valentin, um seine Reaktion zu beobachten.

Im neuen Oberhaupt des Wolf-Clans regten sich Überraschung und andere Gefühle, doch tief im Innern spürte er Erleichterung, daß das Geheimnis der verschwundenen Leiche seines Vaters endlich geklärt war. Ein Geistkrieger war schlimm, doch damit konnte er umgehen. Valentin hatte sich Schlimmeres ausgemalt, nachts, in seinen dunkelsten Träumen.

Davon abgesehen war er mehr neugierig als alles andere.

Trotzdem setzte der Wolf das schockierte und aufgebrachte Gesicht auf, das jeder von ihm erwartete.

Daniel und Stephanie stützten sich gegenseitig, die Gesichter beinahe so bleich wie das des Leichnams. Konstanze wollte zu ihrem toten Ehemann rennen, doch SB Chojiro und Investigator Razor hielten sie zurück. Sie redeten leise und schnell auf Jakobs Witwe ein, erklärten ihr, daß es nicht Jakob Wolf war, den sie dort erblickte, sondern bloß eine leere Hülle; verrottendes Fleisch, das durch Implantate und Prothesen zusammengehalten wurde. Schließlich nickte Konstanze. Sie gab ihren Widerstand auf und senkte den Blick. Tränen flossen über ihre Wangen, und ihre Schultern bebten. Die Chojiro tätschelte freundlich Konstanzes Arm, ohne den Blick auch nur eine Sekunde von dem Geistkrieger abzuwenden. Ihre schwarzen Augen zeigten mehr Faszination als Furcht.

Die Höflinge rannten kreuz und quer durcheinander. Beinahe wäre eine Panik ausgebrochen. Keiner von ihnen hatte je zuvor einen Geistkrieger in all seiner verrottenden Häßlichkeit gesehen, und das Dutzend bewaffneter Leibwächter, das hinter Löwensteins Thron auf ihren erschreckten Ruf hin aufgetaucht war, bot auch nicht viel Trost. Die KIs von Shub benutzten Geistkrieger als Sturmtruppen bei ihren gelegentlichen Angriffen auf das Imperium der Menschheit, sowohl wegen des psychologischen Effekts als auch wegen ihrer Effizienz als Soldaten. Selbst die härtesten Marineinfanteristen erstarrten, wenn sie die Leichen ihrer toten Freunde und Kollegen erblickten, die kamen, um zu töten. Hin und wieder benutzten die KIs sie auch als Emissäre, um mit dem Imperium in Kontakt zu treten.

Die Geistkrieger erschienen stets wie aus dem Nichts, ohne jede Vorwarnung und trotz aller Sicherheitsvorkehrungen. Die KIs von Shub hatten das Geheimnis der Langstreckenteleportation entdeckt, und selbst die besten ESP-Blocker konnten dis plötzliche Erscheinen eines Geistkriegers nicht verhindern.

Imperiale Wissenschaftler arbeiteten bereits seit Jahren an der Erforschung dieses Prinzips, bisher ohne jeden Erfolg.

Der Geistkrieger wandte sich ohne besondere Eile wieder um und grinste die Herrscherin breit an. Seine farblose Haut riß rings um den grinsenden Mund herum auf, und durch die Löcher in den Wangen konnte man deutlich die weißen Zähne sehen.

»Wir bitten um Verzeihung, daß wir so unangemeldet hereinplatzen«, sagte die Kreatur leise. »Anscheinend haben wir die Einladung verlegt. Wir haben Euch so viel zu sagen, Löwenstein. Die Zeiten haben sich geändert, und die Ereignisse sind in Bewegung geraten. Die Vorhersagen über die zukünftigen Entwicklungen und Möglichkeiten sind beunruhigend. Es ist erforderlich, daß wir unsere gegenseitige Feindschaft beenden und uns um des Überlebens willen zusammentun. Das Imperium muß sich unter unsere Kontrolle begeben, damit wir unsere vereinten Kräfte auf das vorbereiten können, was auf uns zukommt. Ihr habt alle gesehen, zu was allein diese eine Spezies bereits imstande ist. Und es gibt noch mehr. Sie kommen von der anderen Seite der Dunkelwüste, und sie sind viel fremdartiger und tödlicher, als Ihr Euch vorstellen könnt. Kreaturen, die schlimmer sind als jeder Alptraum des Fleisches, die über jedes Begriffsvermögen hinausgehen und die Menschen schon durch ihren bloßen Anblick in den Wahnsinn treiben. Ihr habt nicht die geringste Chance, allein mit ihnen fertig zu werden. Unterwerft Euch und übergebt uns die Herrschaft, so wie es von Anfang an hätte sein sollen, und wir werden die Menschheit zu einer Armee umformen, die unbesiegbar ist.«

»Und wie?« fragte die Eiserne Hexe tonlos. »Wollt Ihr uns alle zu Geistkriegern machen?«

»Das wäre zumindest eine Möglichkeit«, antwortete der Körper von Jakob Wolf. »Doch es gibt auch noch andere.«

Die Herrscherin und der Emissär argumentierten leidenschaftslos weiter, aber Valentin schenkte ihren Worten keine große Aufmerksamkeit. Er war insgeheim sehr verärgert, daß man ihn nicht vorher von diesem Ereignis in Kenntnis gesetzt hatte. Schließlich war er mit den KIs von Shub alliiert. Der Wolf hatte die geheimen Verbindungen der Feldglöcks übernommen. Als Gegenleistung für den neuen Hyperraumantrieb des Imperiums versorgten die KIs ihn mit weit fortgeschrittener Technologie, die es dem Clan ermöglichte, den Vorsprung vor seinen Konkurrenten zu behalten. Nicht, daß Valentin den KIs wirklich den Antrieb geben würde. Es könnte ihnen einen zu großen Vorteil gegenüber dem Imperium verschaffen. Andererseits wäre es ein höchst amüsanter Scherz auf Kosten Löwensteins. Er würde eine Menge dafür geben, ihr Gesicht zu sehen, wenn sie schließlich herausfände, von wem die KIs den Antrieb bekommen hatten.

Valentin schob den verlockenden Gedanken beiseite und zwang sich, die Szene vor seinen Augen aufmerksam zu verfolgen. Er betrachtete den Geistkrieger versonnen. Es war ganz definitiv sein Vater Jakob. Warum hatte sich Shub entschlossen, ausgerechnet ihn an den Hof zu senden? Versuchten sie etwa, ihm etwas mitzuteilen? Er würde darüber nachdenken müssen. Verstohlen zog er seine Pillenschachtel hervor, nahm ein weiteres Pflaster heraus und preßte es gegen den Hals. Sein Verstand mußte klar und scharf sein, schärfer als scharf. Valentin bemerkte, daß sein Herz gefährlich schnell zu schlagen begann, und nahm eine Pille, um seinen Kreislauf zu beruhigen.

Das hatte man von den ganzen Drogen. Greife hier in deinen Organismus ein, und der Organismus wehrt sich dort. Natürlich machte das einen wesentlichen Teil des ganzen Vergnügens aus: wie ein Seiltänzer auf dem schmalen Grat der Selbstbeherrschung zu balancieren. Und unten gähnte ein bodenloser Abgrund. Zu Valentins Linken entstand eine plötzliche Bewegung, und er wandte sich um. Sein jüngerer Bruder Daniel war aus der Menge hervorgetreten und stapfte durch den Schnee auf den Geistkrieger zu. Stephanie rief laut hinter ihm her, doch Daniel hörte nicht auf seine Schwester. Neben dem Körper des Vaters blieb er stehen. Der Geistkrieger musterte den jungen Wolf aus kalten Augen. Daniel streckte die Hand nach ihm aus, doch dann zögerte er.

»Vater, bist du das?«

Der Gesandte von Shub gab keine Antwort. Daniel trat einen Schritt näher. »Vater, ich bin so allein, seit du nicht mehr da bist. Ich vermisse dich. Bist du da drin, irgendwo?«

Der Tote betrachtete den jungen Wolf eine Zeitlang, aber auf seinem Gesicht waren keinerlei Emotionen zu erkennen.

Schließlich sagte er: »Halt die Klappe, Danny. Du machst eine Szene. Du siehst doch, daß ich zu tun habe.« Dann wandte er sich wieder zur Löwenstein. »Wir verlangen eine Antwort von Euch. Unterwerft Euch, oder steht allein und laßt Euch vernichten.«

»Sich Shub zu unterwerfen läuft auf das gleiche heraus, als würde man Uns vernichten«, entgegnete Löwenstein. »Ihr habt in der Vergangenheit oft genug zu erkennen gegeben, was Ihr von organischem Leben haltet. Besser als Mensch sterben und tot bleiben, als von Euresgleichen und Euren Implantaten am Leben erhalten zu werden. Und jetzt verschwindet von hier, bevor ich Euch zu Ersatzteilen reduzieren lasse.«

»Wir sehen uns noch«, sagte der Geistkrieger und verschwand von einem Augenblick zum andern. Nur die Fußabdrücke im Schnee zeigten noch, wo er noch wenige Sekunden zuvor gestanden hatte. Daniel ließ die Schultern hängen und trottete zurück in die Menge, wo Stephanie ihn in die Arme schloß und fest an sich drückte, während er in Tränen ausbrach.

Valentin runzelte nachdenklich die Stirn. Einen Augenblick lang hatte es ganz danach ausgesehen, als hätte der Geistkrieger sich an seinen Sohn erinnert. Seine Antwort jedenfalls war typisch Jakob Wolf gewesen. War vielleicht ein kleiner Teil von ihm noch am Leben, gefangen in einem verfaulenden Körper und kontrolliert durch Prothesen und Implantate? Valentin hoffte es zumindest. Der Gedanke amüsierte ihn nicht schlecht, daß sein Vater selbst nach dem Tod noch litt. Doch dann seufzte er. Viel wahrscheinlicher hatte es sich nur um einen weiteren Trick der KIs gehandelt, um Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit unter ihren Feinden zu säen.

»Ruhe jetzt, verdammt noch mal!« donnerte die verstärkte Stimme der Imperatorin über den Hof hinweg und unterbrach das erregte Geschnatter ihres Gefolges. »Er ist weg, und alle sind in Sicherheit, außer natürlich, jemand entschließt sich, Uns weiterhin zu ärgern. Wir sind nicht blind gegenüber der Bedeutung des Erscheinens eines Geistkriegers an Unserem Hof, doch Wir müssen über die Implikationen nachdenken.

Zunächst einmal ist die erforderliche Energie für eine Langstreckenteleportation atemberaubend. Was uns zumindest einen Hinweis darauf gibt, wie verzweifelt die KIs von Shub nach Verbündeten gegen die herannahende Bedrohung durch die Fremden suchen. Zweitens müssen die Sicherheitssysteme meines Hofes ganz beträchtlich aufgerüstet werden, um ein derartiges Vorkommnis für die Zukunft auszuschließen. Und drittens gibt es unter meinen werten Untertanen einen Agenten von Shub. Irgend jemand muß ihnen die exakten Koordinaten für die Teleportation geliefert haben. Niemand wird den Hof verlassen, bis Wir uns davon überzeugt haben, daß jedermann der ist, für den er sich ausgibt.

Achtung, Sicherheitslektronen: Ich ordne hiermit Kode Omega Drei an. Ich will eine vollständige Abtastung jeder anwesenden Person. Keine Ausnahmen. Berichtet über sämtliche nichtmenschlichen Abweichungen, die nicht bereits in unseren Datenbänken gespeichert sind.«

Valentin spannte sich – und entspannte sich wieder. Er war zwar genaugenommen ein Agent der KIs von Shub, aber eine Sensorabtastung konnte das unter keinen Umständen ans Tageslicht bringen. Die einzigen Abweichungen seines Körpers von der Norm hatte er selbst erzeugt, und die waren chemischer und nicht technischer Natur. Ein Esper würde alles entdecken, doch die Imperatorin wußte genau, daß sie niemals mit der Untersuchung durch einen ihrer Esper durchkäme. Selbst unter den gegebenen Umständen nicht. Die Höflinge würden sich geschlossen dagegen verwahren. Es gab keinen, der nicht etwas zu verbergen hatte. Nein, die Imperatorin suchte nach etwas anderem. Nach Furien. Androiden in organischen Hüllen, tote Doppelgänger von menschlichen Opfern, in deren Rolle sie geschlüpft waren. Die heimlichen Meuchelmörder und Spione Shubs. Valentin blickte sich verstohlen um, doch niemand schien sich Gedanken zu machen oder gar in Richtung des Ausgangs zu drängen.

»Abtastung beendet«, meldete sich eine körperlose Stimme.

»Thomas LeBihan ist nicht menschlich. Die Tiefenabtastung zeigt, daß er ein Androide ist. LeBihan ist eine Furie.«

Plötzlich setzte Bewegung ein, als die Höflinge übereinander stolperten, um von dem nichtmenschlichen Ding in ihrer Mitte wegzukommen, das sich als LeBihan maskiert hatte. LeBihans Gesicht wurde vollkommen ausdruckslos, jetzt, da er sich nicht länger um menschliche Mimik zu kümmern brauchte. Lange, stählerne Dornen wuchsen aus seinem Körper und stießen durch die Kleidung, um jeden auf Distanz zu halten. Aus seinen Augen schossen Energiestrahlen, die ein halbes Dutzend Leute töteten. Seine Augen wurden dabei mit zerstört, doch es wurde rasch klar, daß LeBihan keine Augen benötigte, um zu sehen. In seinen Händen erschienen lange Klingen, die aus verborgenen Scheiden in den Unterarmen wuchsen. LeBihan bewegte sich mit unglaublicher Schnelligkeit vorwärts und fiel

über die Höflinge her, die ihm am nächsten standen. Er hackte und stieß und schnitt mit der typischen Perfektion einer Maschine. Blut spritzte und befleckte den Schnee. Schreie erfüllten die Luft. Die Höflinge wichen voller Panik zurück, doch sie waren nicht schnell genug. Sie waren schließlich nur Menschen. Das Schwert der Furie hob und senkte sich, schnitt durch Gliedmaßen und spaltete Schädel, und noch immer zeigte sich keinerlei menschliche Regung in dem kalten, maskenhaften Gesicht.

Dram und General Beckett stellten sich vor die Imperatorin, um Löwenstein vor der Furie zu schützen, während Kardinal Kassar einen strategischen Schritt zurückwich, um hinter dem Thron in Deckung zu tauchen, falls sich das als nötig erweisen sollte. Die Furie bahnte sich einen blutigen Weg durch die panikerfüllten Höflinge und fegte sie zur Seite wie blutige Lumpenbündel. Wer nicht rechtzeitig wegkam, wurde unter ihren stählernen Füßen zertrampelt. Schreie echoten durch die Luft, als aus den Augen des Androiden immer und immer wieder neue Energiestrahlen schossen. Investigator Razor warf Konstanze und SB in den Schnee und deckte sie mit seinem eigenen Körper. Nicht weit entfernt schirmte Daniel seine Schwester Stephanie auf die gleiche Weise ab, während Michael Daniels Frau Lily schützte. Die Augen der beiden Männer trafen sich für eine Sekunde, und Daniel runzelte die Stirn, als ein Verdacht in ihm aufkeimte. Doch er konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, weil die Furie rasch näher kam. In der Zwischenzeit stand Valentin ungerührt an Ort und Stelle und genoß das Schauspiel. Er blieb auf seltsame Weise unverletzt, während rechts und links von ihm Menschen starben. Shub achtete darauf, daß seinen Alliierten nichts geschah. Auf der gegenüberliegenden Seite der Menge versteckte sich Stelmach hinter Schwejksam, und Schwejksam mußte all seine Kraft aufwenden, um Frost daran zu hindern, mit bloßen Händen auf die Furie loszugehen.

Löwenstein bellte einen Befehl. Ihre zwölf bewaffneten Leibwächter stürzten vor und umzingelten den Androiden. Der zögerte kurz und warf sich ihnen dann entgegen. Schwerter schnitten durch seine organische Hülle und prallten harmlos am darunterliegenden Stahl ab. Die Leibwächter trugen keine Pistolen. Löwenstein erlaubte keine Energiewaffen am Hof. Die Furie spannte sich. Die stählernen Dornen, die aus ihrem Körper gewachsen waren, schossen in alle Richtungen davon wie Schrapnells und durchbohrten die Wachen. Sie fielen keuchend in den Schnee und lagen still.

David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland rannten nach vorn und packten zwei der zu Boden gefallenen Schwerter. Sie griffen die Furie von beiden Seiten zugleich an und waren längst wieder außer Reichweite, bevor die künstliche Kreatur ihre ganze Stärke ausspielen konnte. David fiel in den ZornModus. Nun war er der Furie in ihrer übermenschlichen Geschwindigkeit beinahe ebenbürtig, und die schiere Wut des Angriffs von Kid Death zwang die Furie zum Halten. Die beiden Freunde schnitzten dem Androiden nach und nach alles Fleisch von seinem stählernen Körper, doch sie konnten ihm trotz aller Anstrengung keinen wirklichen Schaden zufügen.

Sie wichen den Energiestrahlen aus und kämpften verbissen weiter.

Plötzlich erschienen Razor und Frost auf der Szene und griffen in den Kampf ein. Auch sie hatten sich mit den Klingen gefallener Wachen bewaffnet. Die beiden Investigatoren setzten all ihr Geschick und ihre Wildheit ein, doch selbst zu viert konnten sie nicht mehr ausrichten, als vor den Energiestrahlen der Furie in Deckung zu springen und sie an Ort und Stelle festzunageln. Die Menschen waren nicht imstande, die Maschine mit den Schwertern ernsthaft zu beschädigen, und alle wußten es. Es war nur eine Frage der Zeit, bevor sie langsam müde würden, und dann würde die Furie sie erwischen.

»Zurück!« ertönte plötzlich Löwensteins lauter Befehl vom Thron her. »Ich habe eine bessere Idee.«

Razor und Frost warfen sich zur Seite, und Energiestrahlen aus Mund und Augen des Androiden zuckten in die Richtung, wo sie vor einem Sekundenbruchteil noch gestanden hatten.

David und Kit warfen einen raschen Blick zum Thron und wichen schleunigst vor dem Androiden zurück, als sie erkannten, was Löwenstein vorhatte. Der Schläfer von Grendel stand still und regungslos an der Seite der Imperatorin, wie von einer unsichtbaren Leine gehalten. Das Joch summte kurz, und das Wesen schoß vor und stürzte sich auf den Androiden. Energiestrahlen zuckten aus seinen Augen und sengten das falsche Gesicht der Furie weg. Darunter kam der nackte grinsende Stahlschädel zum Vorschein. Siliziumdornen wuchsen aus dem purpurnen Körperpanzer des Schläfers, und dann krachten die beiden nichtmenschlichen Kreaturen aufeinander und maßen ihre Kräfte.

Der Schläfer packte den Kopf der Furie mit beiden Händen und riß ihn einfach ab, doch der Furie schien das überhaupt nichts auszumachen. Ihre Hand schoß vor, und die stählerne Klinge darin drang in den Unterleib des Schläfers ein und kam auf der Rückseite wieder hervor. Dunkles Blut schoß aus der Wunde und rann an den Beinen hinunter, aber der Schläfer wich nicht zurück. Er beugte sich über den ungeschützten Nacken der Furie, und ein Energiestrahl schoß aus seinem Mund durch die offene Wunde tief ins Innere des stählernen Leibs der Maschine. Die Furie ruderte wild mit dem freien Arm und riß den anderen, der noch immer das Schwert hielt, nach oben. Die Klinge zerschnitt den Oberkörper des Schläfers in zwei Teile.

Einen Augenblick lang standen sie beieinander, als sammelte jeder die Kraft für eine letzte, ultimative Anstrengung, dann fielen sie gleichzeitig tot in den Schnee.

Lange Zeit sprach niemand ein Wort. Frost und Razor schoben sich vorsichtig heran und musterten die reglosen Körper.

Frost stieß die Furie mit der Stiefelspitze an, doch sie rührte sich nicht mehr. David und Kit kamen herbei und riskierten ebenfalls einen Blick. Sie mußten sich gegenseitig stützen, so erschöpft waren sie. Ringsum rappelten sich die Höflinge langsam und mißtrauisch wieder auf die Beine und wischten Blut und Schnee von ihren Kleidern.

»Ich frage mich, was aus dem echten LeBihan geworden ist«, sagte David.

»Tot«, erwiderte Razor.

»Seid Ihr da sicher?« erkundigte sich Kit.

»Jedenfalls wäre es besser für ihn«, entgegnete Frost. »Das Ding trug immerhin seine echte Haut.«

»Verdammt«, sagte Löwenstein träge und musterte die beiden nichtmenschlichen Körper. »Jetzt muß ich mir einen neuen Schläfer kommen lassen. Entspannt Euch, liebe Untertanen.

Die Schau ist vorbei. Das war die einzige Furie, oder etwa nicht, Lektronen?«

»Das war die einzige Furie«, antwortete die körperlose Stimme. »Allerdings war es nicht die einzige Abweichung von der Norm. Der Vikar Roger Geffen aus Kardinal Kassars Gefolge ist definitiv nicht menschlich. Ich kann nicht genau sagen, wer oder was er ist, aber nach meinen Sensoren zu urteilen, sind seine Körperstruktur und seine Organe mit Sicherheit nicht menschlicher Herkunft. Ich kann nur vermuten, daß er ein Fremdwesen ist, das sich als Mensch ausgibt.«

»Packt die Kreatur lebend!« kreischte Löwenstein. »Verdammt! Diesmal will ich ein paar Antworten hören!«

»Tut mir leid«, sagte Geffen. Er sah aus wie ein ganz normaler Akolyth in einer ganz normalen formellen Robe. »Aber ich kann nicht bleiben. Ich habe noch einige andere Dinge zu erledigen. Land und Leute kennenlernen. Ihr wißt sicher, was ich meine.«

Seine Arme und Beine verlängerten sich plötzlich, und der Kopf schoß auf einem langgestreckten Hals nach oben. Geffens Körper veränderte rasch die Form, absorbierte die Kleidung nach innen, und auf dem dicker werdenden Kopf kamen und gingen immer neue Gesichter. Von allen Seiten drängten Leute heran. Das fremde Wesen wich zurück, fiel in sich zusammen und spritzte auseinander wie eine Flüssigkeit. Einige der Höflinge versuchten, etwas davon aufzusammeln, doch die Einzelteile rannen durch ihre Finger wie Quecksilber, vereinigten sich unvermittelt wieder zu einer einzigen Masse und sprudelten in die Luft. Razor und Frost versuchten mit ihren Schwertern danach zu stechen, doch das Fleisch der fremden Kreatur bot den Klingen keine Angriffsfläche. Es teilte sich einfach und floß hinterher ohne erkennbare Verletzung sofort wieder zusammen. Und die ganze Zeit über bildeten sich unablässig neue Gesichter und sangen verschiedene populäre Stücke in verschiedenen Stimmen. Doch schließlich begann das Wesen, sich wie ein Wirbelwind immer schneller zu drehen, flog in die Luft hinauf und krachte durch die verborgene Decke des Saales.

Und war verschwunden.

Plötzlich war es sehr still am Hof. Valentin fand als erster wieder die Sprache.

»Nun«, begann er. »Ich hätte nie geglaubt, daß eine Invasion durch eine fremde Rasse so etwas… Albernes sein könnte.«

Und so endete die Audienz an diesem Tag. Die Höflinge verließen den Saal, so rasch sie konnten, ohne respektlos zu erscheinen. Währenddessen stand die Imperatorin auf ihrem Thron und kreischte ihre Leute an, den Fremden zu finden, festzunehmen, zu töten, zu verhören und auseinanderzunehmen. Nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Der Hohe Lord Dram war einer der ersten, der den Hof verließ. Er verhielt sich unauffällig und war froh, als er endlich draußen war. In ihm regte sich der starke Verdacht, daß man den Fremden nicht finden würde, und er hatte nicht die geringste Lust, sich in Löwensteins Nähe aufzuhalten, wenn irgend so ein armer Hund ihr die entsprechende Meldung überbrachte. Wenn man die gestaltwandlerischen Fähigkeiten der Kreatur bedachte, konnte sie überall und nirgends sein. Oder eine neue Identität angenommen haben. Dram schob den Gedanken entschlossen beiseite. Die Sicherheitssensoren würden den Fremden irgendwann finden, aber es würde eine Zeitlang dauern. Außerdem war die Frage noch nicht geklärt, worin man das Ding einsperren sollte, wenn man es denn gefunden hatte. Dram beschloß, auch darüber nicht weiter nachzudenken. Er hatte seine eigenen Probleme.

Die Höflinge hatten sich sehr leise verhalten, während sie aus der Eishölle des Hofes geströmt waren. Jedem brannte eine Menge Bemerkungen und Fragen auf der Zunge, doch man wollte nicht in Löwensteins Gegenwart darüber sprechen.

Dram hatte eine Menge Dinge mit Löwenstein zu bereden.

Im Augenblick schien es ihm allerdings vernünftiger, dies aus sicherer Entfernung über einen geschützten Komm-Kanal hinweg zu tun. Also begab er sich auf den Weg zu seinen Privatquartieren im Imperialen Palast und ließ sich viel Zeit dabei, in der Hoffnung, daß Löwenstein sich inzwischen ein wenig beruhigen würde. Aber falsch gedacht: Er war kaum durch die Tür, als sein Schirm hartnäckig zu summen begann. Dram hatte keine Eile, Löwensteins Anruf zu beantworten. Sie würde so oder so verdammt schlecht gelaunt sein, also konnte er die letzten paar ruhigen Minuten auch noch genießen, die ihm verbleiben würden. Er ließ sich in einen bequemen Sessel sinken, legte die Füße auf den Schemel, der rasch herbeigeglitten kam, seufzte resignierend und schaltete den Bildschirm ein. Löwenstein starrte ihn mißmutig an. Sie trug noch immer die Krone, obwohl sie aus ihren eigenen Gemächern anrief. Das war ein gefährliches Zeichen. Es bedeutete in der Regel, daß ihr Anruf offiziell und gefährlicher Natur war.

»Dram, ich bin ja so froh, daß du es dir zuerst gemütlich gemacht hast. Mach dir nicht die Mühe, wegen mir wieder aufzustehen. Und nein, wir haben das verdammte Ding bisher noch nicht gefunden, danke für deine Nachfrage. Das ist alles, was mir jetzt noch gefehlt hat: weitere Komplikationen. An manchen Tagen geht aber auch wirklich alles schief.«

»Das solltest du wirklich am besten wissen«, erwiderte Dram. »Sag mir, wie ich war? War ich überzeugend? Werden die Leute glauben, daß ich der echte Dram bin?«

»Natürlich werden sie das«, entgegnete Löwenstein. »Und wenn der einzige Grund dafür der ist, daß sie die Alternative zu sehr beunruhigt. Sie werden denken, daß du der echte bist, weil sie nicht glauben wollen, daß ein Klon so nah an mich herankommen könnte. Sie werden annehmen, daß meine Sicherheitssysteme dich geprüft haben, und es dabei belassen. Solange ich sage, daß du Dram bist, spielt der Rest nicht die geringste Rolle. Die einzigen Menschen, die den Tod des früheren Dram erlebt haben, befinden sich an Bord der Unerschrocken, und sie brechen zu einer Mission auf, die sie für mehrere Jahre von Golgatha wegführen wird. Wenn ich ihnen erst die Rückkehr erlaube, sind ihre Neuigkeiten Schnee von gestern, und niemand wird noch einen Dreck darauf geben. Du wirst dich bis dahin längst bewährt haben. Ich werde persönlich dafür sorgen. Und wenn es sein muß, kann ich jederzeit Hirntechs auf Schwejksam und seine Mannschaft hetzen und ihre Erinnerungen entsprechend verändern lassen. Natürlich wäre es einfacher, wenn sie durch einen Unglücks fall sterben würden, aber im Augenblick sind Schwejksam und seine Leute beliebte Helden. Und man kann nie wissen, wann man einen Helden braucht.«

»Du brauchst keinen Helden«, sagte Dram. »Du hast schließlich mich.«

Die Herrscherin lächelte kalt. »Meine Leute berichten mir, daß du die Massenhinrichtung der Sicherheitsabteilung meiner Steuerbehörde noch immer nicht angeordnet hast.«

»Es scheint mir ein wenig zu hart«, erklärte Dram. »Sie hatten einfach Pech. Es war nicht ihre Schuld. Niemand hätte mit einem Schiff der Hadenmänner gerechnet.«

»Der alte Dram hätte sie, ohne ein Sekunde zu zögern, hinrichten lassen. Einige von ihnen hätte er sogar persönlich getötet, um die anderen zu entmutigen. Er hat den Namen Witwenmacher nicht umsonst, weißt du? Ich will, daß du noch heute die Exekutionen anordnest. Die Leute denken sonst noch, du wirst weich, und das kann ich nicht dulden. Also wirst du dir willkürlich hundert Mitarbeiter herauspicken, die öffentlich hingerichtet werden, und die Dienstältesten von ihnen wirst du persönlich töten. Das wird einen guten Eindruck machen.«

»Selbstverständlich, Euer Majestät. Gibt es sonst noch irgendwelche Besorgungen, die ich für Euch erledigen darf?«

»Werde nicht sarkastisch, Liebling. Es steht dir nicht. Wie kommst du mit deinem neuen Projekt voran?«

Dram überlegte einen Augenblick, wie er es ihr am besten beibringen sollte. Sie hatte ihn mit der Überwachung der Massenproduktion von ESP-Blockern beauftragt, bei der tote Esper aus dem Aufstand von Silo Neun als Rohmaterial eingesetzt wurden. Selbst unter Einsatz allermodernster Techniken war zur Herstellung eines einzigen Blockers noch immer ein vollständiges Esper-Gehirn erforderlich – weswegen ESP-Blocker auch so selten und kostspielig waren. Und unter Berücksichtigung der Massenschlachterei von Silo Neun gingen den Technikern bereits wieder die Gehirne aus. Erschwert wurde die Situation noch durch ein weiteres Projekt, das die Löwenstein ins Leben gerufen hatte und bei dem ebenfalls Esper-Gehirne benötigt wurden. Sie nannte es ›Legion‹, aber mehr wollte sie selbst Dram nicht darüber verraten.

»Ah ja«, sagte Dram, bevor die Pause ihn in Verlegenheit bringen konnte. »Hundertundeins Verwendungszwecke für einen toten Esper. Die Produktion von Blockern macht Fortschritte. Meine Wissenschaftler experimentieren auf deine Anordnung hin auch mit Hirngewebe, um eine Gedankenbombe herzustellen, die stark genug ist, um eine ganze Stadt auszulöschen, und an Denkmaschinen, wie sie auf Nebelwelt eingesetzt werden, die schneller und genauer arbeiten als unsere Standardlektronen… und an einer Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit selbst in unserem Sinn zu beeinflussen.«

»Deine Leute experimentieren bereits eine ganze Weile. Hast du bisher konkrete Ergebnisse vorzuweisen?«

»Nicht direkt… Wir haben nicht genügend Rohmaterial, um in der gewünschten Geschwindigkeit weiterzuarbeiten.«

»Dann töte noch ein paar Esper«, befahl Löwenstein. »Enttäusche mich nicht, Dram. Ich hasse den Gedanken, dich einstampfen und einen neuen Klon ziehen zu müssen.«

»Ja«, erwiderte Dram. »Ich auch.«

»Ich nehme an, du hast inzwischen in Erfahrung gebracht, daß Julian Skye bei seiner Flucht einen oder mehrere Helfer hatte?«

»Ja. Sehr unangenehme Geschichte, das.«

Löwenstein funkelte ihn wütend an. »Du hattest schon immer einen Hang zur Untertreibung. Skyes Flucht bedeutet einen herben Rückschlag, aber wir stehen natürlich nicht schlechter da als vor seiner Festnahme. Er hat einen Fehler begangen, und er wird irgendwann wieder einen begehen, und dann haben wir ihn. Und dann wird es keine Flucht in letzter Minute mehr geben. Zur Not lasse ich ihm die Beine abhacken, damit er nicht weglaufen kann. Im Augenblick interessiert mich allerdings mehr, wer ihm bei seiner Flucht geholfen hat. Die Überwachungskameras haben einige gute Aufnahmen von ihm. Es war ganz definitiv Finlay Feldglöck, ausgerechnet er! Der Modenarr. Ich konnte meinen eigenen Augen nicht glauben, als ich die Bänder zum ersten Mal gesehen habe. Der größte Stutzer unserer Zeit entpuppt sich als ruchloser Killer für den Untergrund! Das zeigt mal wieder, daß man wirklich niemandem mehr vertrauen darf. Komm, sieh dir die Bänder selbst an.«

Löwensteins Gesicht verschwand vom Schirm und wich den Aufnahmen der Sicherheitskameras aus dem Verhörzentrum.

Finlay Feldglöck kämpfte sich einen Weg durch eine kleine Armee von Wachen, die genausogut unbewaffnet hätten sein können, so wenig konnten sie ihm entgegensetzen. Ein Investigator, der wirklich gut in Form war, hätte es Finlay gleichtun können. Es war wirklich äußerst beeindruckend. Manchmal wurden die Aufnahmen in Zeitlupe wiederholt, um keine von Finlays Aktionen zu versäumen. Dram bemerkte, wie er auf die Kante seines Sessels gerutscht war vor lauter Faszination für Finlays Schwertkunst und Schnelligkeit. Die Aufnahmen endeten und wichen Löwensteins verkniffenem Gesicht. Dram lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück und bemühte sich um einen gelassenen Anschein.

»Gute Techniken«, sagte er ruhig. »Aber einige seiner Defensivbewegungen sind schon ein wenig rostig. Mir scheint jedoch, er hatte sie auch nicht nötig…«

Löwenstein schniefte verächtlich. »Wenn der Untergrund es schafft, einen modebesessenen Idioten wie diesen Feldglöck in einen erstklassigen Schwertkämpfer und Meuchelmörder zu verwandeln, dann sollten wir besser anfangen, ihn ernst zu nehmen. Weißt du, daß Finlay auch für den Mord an Lord Saint John verantwortlich ist? Natürlich bedeutet Saint John keinen großen Verlust. Er wurde politisch ein wenig zu ehrgeizig. Er wird uns als Märtyrer mehr nutzen als zu seinen Lebzeiten. Allerdings wirst du als Oberster Krieger einen Teil seiner Aufgaben übernehmen müssen, bis ich einen geeigneten Ersatz für Saint John gefunden habe. Was bedeutet, daß du häufiger mit Menschen in Kontakt kommen wirst – aber inzwischen solltest du das ohne Probleme durchstehen können. Sag nichts, wenn es nicht unbedingt sein muß, und übe dich darin, böse dreinzublicken, dann wird alles laufen wie geschmiert. Und jetzt zu Silo Neun. Ich habe gehört, wir hätten Schwierigkeiten beim Wiederaufbau? Was hast du dazu zu sagen, Dram?«

»Der Wurmwächter ist tot, und wir haben nur noch die Würmer selbst, um die gefangenen Esper zu kontrollieren. Die Würmer scheinen eine Art dumpfes Kollektivbewußtsein geformt zu haben, das sie in die Lage versetzt, ihre Aufgabe wie früher zu erfüllen, indem sie die Gedanken der Esper durch Schmerzkonditionierung beherrschen, doch sie müssen dicht beieinander bleiben, um das zu tun. Was bedeutet, das die Kontrolle zusammenbrechen wird, wenn wir die Esper auf andere Gefängnisse verteilen. Und wir besitzen nicht annähernd genügend ESP-Blocker, um so viele Gefangene zu neutralisieren.

Also haben wir begonnen, Silo Neun rings um die existierenden Zellen wiederaufzubauen und die Esper so lange in ihren Zellen festzuhalten. Aber der Untergrund unternimmt alles in seiner Macht Stehende, um unsere Arbeiten zu sabotieren, und das bedeutet wiederum, daß wir zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen zum Schutz vor ihren Angriffen benötigen. Alles in allem haben wir ziemliches Glück gehabt, daß wir überhaupt schon so weit mit dem Wiederaufbau sind.«

»Die Würmer«, sagte Löwenstein nachdenklich. »Besitzen sie ein richtiges Bewußtsein? Als Individuen, meine ich.«

»Unbekannt«, erwiderte Dram. »Die Esper können uns nichts darüber sagen, und die technischen Scanner sind auf physikalische Phänomene beschränkt. Bisher befolgen die Würmer unsere Befehle, aber das ist auch schon alles. Sie sind ein wenig größer als früher und haben ganz offensichtlich weitere Verbindungen zu dem Wirtsgehirn errichtet, doch niemand weiß, wozu. Ich habe besondere Sicherheitsvorkehrungen getroffen, so daß die Würmer und ihre Wirte unter ständiger Bewachung stehen – nur für den Fall.«

»Gut so«, lobte Löwenstein. »Wir dürfen nicht zulassen, daß die Würmer zu mächtig werden, nicht wahr? Also schön, für den Augenblick scheint es, als hättest du deine Hausaufgaben gemacht. Ruh dich aus. Ich werde mich melden, wenn ich dich wieder benötige.«

Das Gesicht der Imperatorin verschwand, und der Schirm wurde wieder zu einer ganz normalen Wand. Endlich war Dram allein. Er seufzte schwer und sank in seinem Sessel zusammen. Das Überleben auf Golgatha war in diesen Tagen nicht gerade einfach, auch ohne ständig vorgeben zu müssen, daß man jemand anderes war. Obwohl das so nicht ganz stimmte. Er war tatsächlich Dram, und das in jeder denkbaren Hinsicht. Er besaß lediglich nicht Drams Erinnerungen. Der Klon hatte nur Zugriff auf seine aufgezeichnete Geschichte, einschließlich einiger Dinge, die selbst Löwenstein nicht wußte.

»Argus«, sagte er leise. »Melde dich.«

»Zur Stelle, Sir«, erwiderte seine persönliche KI. Die warme, angenehme Stimme schien aus jeder Ecke des Zimmers gleichzeitig zu ertönen – ein Umstand, an den Dram sich noch immer nicht gewöhnen konnte.

»Öffne das Tagebuch meines Vorgängers«, befahl Dram.

»Ich habe neue Fragen.«

Der echte Dram hatte den Verdacht gehabt, daß er eines Tages das Vertrauen der Eisernen Hexe verlieren oder sonstwie in Ungnade fallen könnte. Und wenn man bedachte, wieviel er über ihre privaten Vorlieben und Pläne wußte, würde sein Sturz ohne Zweifel zu einer raschen Exekution geführt haben. Und er war fest davon überzeugt gewesen, daß sie ihn anschließend klonen würde. Jedenfalls wäre es das gewesen, was er an ihrer Stelle getan hätte. Also hatte der echte Dram all seine geheimen Gedanken und Pläne in einer Tagebuchdatei tief in den Speichern seiner persönlichen KI versteckt – zusammen mit dem Befehl an Argus, seinen Klon zu informieren und zu instruieren, so daß seine Arbeit weitergehen konnte.

Der echte Dram hatte auch einen Plan, wie er seinen Tod rächen würde. Löwenstein war mit größter Wahrscheinlichkeit seine Mörderin, doch er hatte auch zahlreiche andere Feinde besessen. Das elektronische Tagebuch enthielt erschöpfende Ausführungen über Stärken und Schwächen all seiner Gegner, zusammen mit Vorschlägen, wie man sie am sinnvollsten ausnutzen konnte. Unglücklicherweise hatte der Klon keine Ahnung, wann und wie der echte Dram gestorben war. Nur Schwejksam und seine Mannschaft kannten die Fakten, und Löwenstein hatte sie streng isoliert. Bisher hatte sie sich geweigert, auch nur eine seiner Fragen zu beantworten, aber Dram bezweifelte nicht, daß er irgendwann die Wahrheit erfahren würde. Die Löwenstein, die er kennengelernt hatte, war nicht annähernd so verschlagen oder intelligent, wie die Eintragungen in dem elektronischen Tagebuch glauben machten.

Außer natürlich, er übersah etwas Wichtiges.

Da er keine eigenen Erinnerungen an sein ›früheres‹ Leben besaß, baute Drams Auftreten in der Öffentlichkeit notwendigerweise auf dem auf, was die Löwenstein ihm erzählte, und er hatte bereits die Erfahrung gemacht, daß sie ihm längst nicht alles erzählte. Die Dateien in Argus’ Speicher halfen ihm natürlich weiter, aber er war gezwungen, ihren Inhalt geheimzuhalten. Alles in allem fand er, daß er sich gar nicht so schlecht anstellte.

Als Prinzgemahl der Herrscherin hatte Dram natürlich die meiste Zeit über in ihrem Schatten gestanden und selten persönlich mit jemandem verhandeln müssen, wenn sie nicht zugegen gewesen war; trotzdem mußte er ständig auf der Hut sein. Er durfte sich keine Fehler erlauben. Die Stimmung gegen die Klone war schlechter als je zuvor, und er war der schlimmste Alptraum der Aristokratie: ein Klon, der eine Person in einer Machtposition ersetzte, und zwar so vollkommen, daß niemand es bemerkte. So etwas konnte jedem passieren. Und wie konnte Löwenstein ihre Höflinge besser unter Kontrolle halten, als wenn sie einen nach dem anderen durch Klone ersetzte? Im Augenblick lagen die Dinge so, daß jeder, der plötzlich seine Meinung in einer Angelegenheit änderte, und sei sie auch noch so unbedeutend, augenblicklich eine gründliche Befragung durch seine Standesgenossen zu erwarten hatte. Nur für den Fall, versteht sich.

Dram hatte seinen ersten Auftritt vor dem Hof gut hinter sich gebracht, aber jetzt, da Saint John tot war, würden seine Pflichten als Oberster Krieger ihn aus der relativen Sicherheit an der Seite der Imperatorin herausführen und mit weitaus mehr Leuten in Kontakt bringen als zuvor. Vielleicht war es besser, jemand anderen zu befördern, um die Rolle Saint Johns einzunehmen. Dram gefiel seine Stellung als Oberster Krieger nicht sonderlich. Und er mochte den Mann auch nicht, der er früher gewesen war. Das Bild Drams, das er durch Löwensteins Lektionen und aus den Tagebüchern gewonnen hatte, war das eines Mannes, der von Ehrgeiz und Blutdurst getrieben und von seinem Haß zerfressen worden war. Dram der Klon betrachtete sich als wesentlich zivilisierter als sein Vorgänger. Welche Mächte das Original auch immer zu solchen Extremen getrieben haben mochten – sie hatten den Prozeß des Klonens jedenfalls nicht überlebt.

Dram hatte von dem Doppelleben seines Vorgängers als Huth und von seinen Verbindungen zum Untergrund in den Tagebüchern gelesen. Zum Glück hatte Huth nur mit wenigen Leuten von Bedeutung zu tun gehabt: Valentin Wolf, Evangeline Shreck, David Todtsteltzer und Kit Sommer-Eiland. Sie kannten eine Seite des echten Dram, von der die Imperatorin nichts gewußt hatte, doch der Klon sah darin kein sonderlich großes Problem. Die beiden letztgenannten würden Golgatha spätestens in einigen Tagen verlassen, und Evangeline Shreck war offensichtlich ganz in den Untergrund abgetaucht. Damit war nur noch der Wolf übrig, und Dram hatte bereits entschieden, in sicherer Entfernung von ihm zu bleiben.

Dram der Klon war entschlossen, in jeder Hinsicht sein eigenes Leben zu führen. Er wollte nicht die dürftige Kopie eines Mannes sein, den er in vielerlei Hinsicht verachtete. Die Umstände zwangen ihn dazu, seine Rolle so überzeugend zu spielen, wie er nur konnte, im Augenblick zumindest. Seine Persönlichkeit durfte keine Widersprüche aufkommen lassen, um jeden aufflackernden Verdacht im Keim zu ersticken. Und obwohl er es haßte, das zuzugeben: Die Rolle war… angenehm.

Dram mochte seine Experimente an lebenden und toten Espern vielleicht als geschmacklos empfinden, doch er hatte keineswegs die Absicht, sich davor zu drücken. Oder vor den Exekutionen, auf denen Löwenstein bestanden hatte. Wenn schon nichts anderes, so schien er zumindest die Skrupellosigkeit seines Originals geerbt zu haben.

Dram suchte nach Auswegen aus seinem Dilemma und grub tiefer und tiefer in den Datenbanken der KI. Die erste große Überraschung, auf die er gestoßen war, war, daß sein Original ebenfalls eine Rolle gespielt hatte. Es schien, daß der echte Dram Jahrhunderte in Stasis verbracht und den Namen Dram erst angenommen hatte, nachdem die Imperatorin ihn geweckt hatte. Dram der Klon gefiel die Vorstellung, die Imperatorin hätte das Original mit einem Kuß erweckt, doch er mußte zugeben, daß die Wahrscheinlichkeit dafür eher gering war.

Eher schon mit einem Tritt. Es gab keine Informationen mehr, wer der Mann gewesen sein mochte, bevor er sich vor vielen Jahrhunderten in Stasis begeben hatte. Argus wußte es ebenfalls nicht. Vielleicht wußte es selbst die Imperatorin nicht.

Und fragen konnte Dram die Löwenstein auch nicht, weil er eigentlich gar nichts darüber wissen durfte. Sie hatte jedenfalls keinerlei Bemerkung in dieser Richtung gemacht, während er seine Lektionen erhalten hatte.

Die zweite Enttäuschung erlebte der Klon, als er entdeckte, daß er einen Großteil der Vorlieben und Leidenschaften Drams geerbt hatte. Löwenstein hatte ihn instruiert, wie man jemanden bei Hof tötet, sollte sich die Gelegenheit dazu ergeben. Als dann das Stichwort kam, hatte er sich einfach an das Drehbuch gehalten, das sie ihm gegeben hatte. Die Auseinandersetzung mit dem Abgeordneten war eine Exekution gewesen und kein Duell, doch Dram hatte jede einzelne Minute davon genossen.

Er war fast außerstande gewesen, wieder aufzuhören und sich von seinem Opfer abzuwenden, nachdem der Mann bereits lange tot gewesen war. Dram versuchte, deswegen Gewissensbisse zu entwickeln, doch irgendwie schien das Gefühl nicht echt.

Er schwankte noch immer, ob er mit der Esper-Droge experimentieren sollte wie sein Vorgänger. Der echte Dram hatte ein paar Dosen der Substanz in einem gut getarnten Versteck in seinem Quartier verborgen, für den Fall, daß ein zukünftiger Dram dafür Verwendung haben sollte. Die Droge würde dem Klon die gleichen schwachen Esperfähigkeiten verleihen, derer sich auch der echte Dram erfreut hatte – auf der anderen Seite bestand die kleine, aber nicht zu vernachlässigende Möglichkeit, daß die Droge ihn tötete. Und doch – wenn er sich diese Fähigkeiten nicht aneignete, könnte ein Esper der Eisernen Hexe jederzeit in seine Gedanken eindringen und ihm all seine sorgfältig gehüteten Geheimnisse entreißen. Einschließlich seiner wahren Gefühle Löwenstein gegenüber.

Auf der anderen Seite machte die Esper-Droge abhängig. Sobald er erst begann, sie einzunehmen, müßte er bis zu seinem Lebensende damit weitermachen. Und wenn irgend jemand die Kontrolle über die Produktion der Droge gewänne, besäße er auch die Kontrolle über Dram. Der echte Dram hatte seine Lieferanten in der Hand gehabt. Er hatte etwas über sie gewußt, das nicht an die Öffentlichkeit gelangen durfte. Unglücklicherweise, aus welchem Grund auch immer, hatte der Klon keinerlei Angaben darüber in Argus’ Datenbanken gefunden.

Natürlich wußten Drams Lieferanten nichts davon. Noch nicht.

So viele Entscheidungen mußten getroffen werden. Auch die, ob er weiterhin die Imperatorin unterstützen sollte. Sie war diejenige, die alle Macht in Händen hielt, aber in letzter Zeit hatte sie sich eine Menge neuer Feinde geschaffen, weil sie stur darauf beharrte, immer weiter aufzurüsten. Bisher hatte niemand gewagt, Löwenstein die Stirn zu bieten und nein zu sagen, aber weder in der Armee noch in der Kirche oder unter den Familien konnte Dram auf Anhieb jemanden benennen, auf den Löwenstein noch als Freund zählen durfte. Alle hatten Angst vor ihr, aber aus den falschen Gründen. Wenn sie zu weit ging, würden die Aristokraten in Löwenstein eine größere Gefahr sehen als in den Fremden. Und wenn Löwenstein gestürzt würde, fiele er mit ihr. Außer natürlich, Dram ginge eigenmächtig ein paar geheime Allianzen ein. Immer angenommen natürlich, er fand jemanden, der ihm vertraute. Dram, der Witwenmacher, besaß viele Feinde und noch mehr Rivalen, aber eins besaß er nicht: Freunde. Kein guter Ausgangspunkt.

Insgeheim lagen Drams Sympathien beim Untergrund.

Schließlich war er ein Klon. Aber er sah keine Möglichkeit, wie er mit ihnen in Verbindung treten konnte, nachdem sein Original in seiner Verkleidung als Huth die Rebellen so hinterhältig verraten hatte. Vielleicht konnte Dram der Klon ebenfalls eine Tarnung aufbauen. Aber dazu benötigte er Esperkräfte, und die konnte ihm nur die Droge verschaffen. Er seufzte erneut und streckte sich in seinem Sessel. So viele offene Fragen, so viele Entscheidungen zu treffen, so viele Möglichkeiten – und alles, was er sich wirklich wünschte, war ein wenig Ruhe.

»Sir?« meldete sich Argus. »Ich erwarte noch immer Eure Fragen, Sir. Sir?«

Doch Dram der Klon war eingeschlafen. Die KI überlegte einen Augenblick, überprüfte, ob die Alarmanlagen und Sicherheitseinrichtungen ordnungsgemäß funktionierten, dämpfte die Beleuchtung und schaltete sich selbst herunter, bis ihre Dienste wieder benötigt werden würden.

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