7 DER GROSSE SCHATZ

Noch nie waren ihr die Rituale so lang, so endlos, so leer vorgekommen. Die kleinen Mädchen mit ihren bleichen Gesichtern und verstohlenen Gebärden, die unzufriedenen Novizen und die Priesterinnen, die so streng und kühl dreinschauten, deren Leben aber eine verborgene Hölle voll Neid und Leid, voll lächerlichem Ehrgeiz und vergeudeter Leidenschaft war — all diese Frauen, unter denen sie ihr Leben verbracht hatte, und die schlechthin die Welt für sie verkörperten, sie kamen ihr jetzt so bemitleidenswert, so langweilig vor.

Sie, Arha, die den großen Mächten diente, sie, die Priesterin der finsteren Nacht, war dieser bedrückenden Enge enthoben. Sie mußte sich nicht um die belanglosen Kleinlichkeiten dieses gemeinschaftlichen Lebens kümmern, wo der Höhepunkt eines Tages darin bestehen konnte, daß man einen größeren Schlag Hammelfett über die Linsen geschüttet bekam als die Nachbarin … Tage hatten sowieso ihre Bedeutung für sie verloren. Unter der Erde gab es keine Tage. Dort war es immer und fortwährend Nacht.

Und in dieser endlosen Nacht befand sich der Gefangene: der dunkle Mann, der die Schwarzen Künste beherrschte, der in Eisen geschmiedet und an Stein gekettet auf sie wartete, zu dem sie gehen oder nicht gehen konnte, wie es ihr gefiel, dem sie Leben in der Form von Brot und Wasser bringen konnte oder den Tod, ein Messer und eine Metzgerwanne. In ihrer Handlag es, sie konnte tun, was sie wollte.

Sie hatte nur Kossil von dem Mann erzählt, und Kossil hatte mit keinem darüber geredet. Er war jetzt schon drei Tage und Nächte in dem Bemalten Raum, doch sie hatte Arha noch nicht nach ihm gefragt. Vielleicht nahmsie an, daß er tot war und daß Arha Manan veranlaßt hatte, ihn in den Knochenraum zu schleifen, wo er zwischen den Gebeinen früherer Gefangener vermodern konnte. Es lag sonst nicht in Kossils Art, ruhig zu sein und etwas als gegeben hinzunehmen. Doch Arha redete sich ein, daßKossils Schweigen nicht ungewöhnlich war. Kossil wollte immer alles geheimhalten und haßte es, Fragen stellen zu müssen. Und außerdem hatte Arha ihr erklärt, sich nicht in ihre Angelegenheiten zu mischen. Kossil gehorchte ihr ganz einfach.

Wenn der Mann jedoch als tot galt, dann konnte Arha nicht um Nahrung für ihn bitten. Und so, abgesehen von einigen gestohlenen Äpfeln und getrockneten Zwiebeln aus dem Keller des Großhauses, aß Arha einfach nichts. Sie ließ sich ihre Morgen- und Abendmahlzeiten ins Kleinhaus schicken und gab vor, daß sie allein essen wollte. In der Nacht trug sie alles, außer den Suppen, hinunter in den Bemalten Raum im Labyrinth. Sie war daran gewöhnt, tagelang, manchmal vier Tage lang, zu fasten, und es machte ihr nichts aus. Der Geselle dort unten im Labyrinth aß ihre schmalen Portionen aus Brot, Käse und Bohnen wie eine Kröte eine Fliege: schwapp!, fort war es. Es war ganz klar, daß er fünf- oder sechsmal so viel hätte essen können, aber er dankte ihr immer sehr ernsthaft und höflich, als ob er ein Gast sei und sie die Gastgeberin an einer Tafel, wie sie ihr aus Geschichten von den Festen im Palast des Gottkönigs bekannt war, wo es geröstetes Fleisch, Brot mit Butter und Wein in Kristallgläsern gab. Er war wirklich seltsam.

»Wie sehen die Innenländer aus?«

Sie hatte einen kleinen Faltschemel aus Elfenbein mitgebracht, damit sie nicht stehen und auch nicht auf dem Boden — auf einer Höhe mit ihm — sitzen mußte, während sie ihn ausfragte.

»Sie bestehen aus vielen Inseln. Im Inselreich allein, so sagt man, gibt es vierzig mal vierzig Inseln, und dann gibt es noch die Außenbereiche; keiner hat alle Außenbereiche befahren, oder gar die Inseln und Länder gezählt. Und jede Insel ist anders. Aber die schönste von allen ist doch Havnor, im Zentrum der Welt. Inmitten von Havnor, an einer großen Bucht, voll mit Schiffen, liegt die Stadt Havnor. Die Türme der Stadt sind aus weißem Marmor gebaut. Jedes Haus, das einem Prinzen oder einem Kaufmann gehört, hat einen Turm, und ein Turm überragt den andern. Die Dächer der Häuser haben rote Ziegel, und alle Brücken, die über die Kanäle führen, sind mit rotem, blauem und grünem Mosaik eingelegt. Und die Fahnen der Prinzen sind ganz bunt und flattern auf jedem Turm. Auf dem höchsten der Türme aber erhebt sich das Schwert von Erreth-Akbe, wie ein hoher, spitzer Gipfel ragt es in den Himmel. Wenn sich die Sonne über Havnor erhebt, so fallen ihre ersten Strahlen auf diese Klinge und lassen sie erglänzen, und wenn sie untergeht, so bleibt das Schwert noch eine Weile golden vom Abendlicht in der Dämmerung ringsum.«

»Wer war Erreth-Akbe?« fragte sie schlau.

Er blickte zu ihr auf. Er sagte nichts, aber er lachte ein bißchen. Dann, als ob er sich etwas überlegt hätte, sagte er: »Es ist wahr, hier weiß man wenig von ihm. Wahrscheinlich nur, daß er einst ins Kargadreich gekommen ist. Und wieviel von der Geschichte kennen Sie?«

»Ich weiß, daß er seinen Hexenmeisterstab, sein Amulett und seine Macht hier verloren hat — genau wie du«, antwortete sie. »Er floh vor dem Hohepriester in den Westen, wo ihn Drachen verschlungen haben. Aber wenn er hierher zu den Gräbern gekommen wäre, hätte er sich die Drachen ersparen können.«

»Stimmt«, sagte der Gefangene.

Sie wollte nicht weiter nach Erreth-Akbe fragen, sie spürte, daß hier eine Gefahr lauerte. »Man sagt, daß er ein Drachenfürst gewesen sei. Du behauptest, auch einer zu sein. Sag mir, was bedeutet das, Drachenfürst zu sein?«

Ihr Ton war immer herrisch, aber er antwortete direkt und einfach, so als hätte sie ihm eine schlichte Frage gestellt.

»Einer, der mit den Drachen sprechen kann«, sagte er, »wird als Drachenfürst bezeichnet, das ist jedenfalls das Hauptsächlichste. Es bedeutet nicht, daß er den Drachen gebieten kann. Drachen haben keine Gebieter. Bei einem Drachen handelt es sich immer um das gleiche: wird er mit dir reden oder wird er dich verschlingen? Tut er das erstere und nicht das letztere, nun, dann ist man Drachenfürst.«

»Können Drachen reden?«

»Oh, gewiß! Sie reden in der ältesten Sprache, in der Sprache, die wir Menschen so mühsam erlernen müssen und doch immer nur ungenügend beherrschen, in der wir unsere magischen Zaubersprüche und unsere Worte der Formgebung aussprechen. Kein Mensch kann die ganze Sprache oder auch nur ein Zehntel davon lernen. Ein Menschenleben ist nicht lang genug, um sie zu erlernen. Drachen leben tausend Jahre … Es lohnt sich, mit ihnen zu reden, das können Sie sich sicher vorstellen.«

»Gibt es hier in Atuan auch Drachen?«

»Schon seit Jahrhunderten nicht mehr, glaube ich. Auch nicht in Karego- At. Aber auf Ihrer allernördlichsten Insel, auf Hur-at-Hur, dort, so wird behauptet, gibt es noch große Drachenhorste in den Bergen. Im Innenreich findet man sie nur noch im äußersten Westen, auf Inseln, wo keine Menschen wohnen und nur ganz wenige hinkommen. Wenn sie hungrig werden, dann gehen die Drachen auf Raubzüge im Osten aus, doch das kommt selten vor. Ich habe die Insel gesehen, auf der sie zum Tanz zusammenkommen. Sie fliegen in Spiralen mit ihren großen Flügeln, immer höher und höher, über dem Meer im Westen, wie ein Sturm gelber Blätter im Herbst.« Von der Vision gepackt, blickten seine Augen durch die schwarzen Gemälde an der Wand, durch die Steinwände, die Erde und die Dunkelheit, und er sah das weite Meer vor sich, das sich gegen die Sonne hin erstreckte, und die goldenen Drachen im goldenen Wind.

»Du lügst«, sagte Arha heftig, »du erfindest das alles.«

Er blickte sie an, bestürzt. »Warum sollte ich lügen, Arha?«

»Damit ich mir ganz blöd vorkomme, ganz dumm, und Angst habe. Und du stehst klug und weise und tapfer und mächtig da, und bist ein Drachenfürst und dies und jenes. Du hast Drachen tanzen sehen und die Türme von Havnor, und du scheinst alles zu wissen. Und ich weiß nichts und war nirgends. Lügen! Nichts als Lügen! Ein Dieb bist du, ein Gefangener, und du hast keine Seele, und diese Stätte wirst du nie wieder verlassen. Hörst du? Es ist ganz gleich, ob es Meere gibt und Drachen und weiße Türme und all das, denn du wirst es nie mehr sehen, selbst das Licht der Sonne wirst du nicht mehr sehen. Ich, ich kenne nur die Dunkelheit, die unterirdische Nacht. Die aber ist wirklich und wahr. Und das ist schließlich und letzten Endes alles, was man kennen muß, das Schweigen und die Dunkelheit. Du weißt alles, Zauberer. Ich weiß nur eines — die einzige Wahrheit!«

Er neigte den Kopf. Seine langen Hände ruhten unbeweglich auf seinen Knien. Sie sah die vierfache Narbe auf seiner Wange. Er war weiter als sie in die Dunkelheit gegangen; er kannte den Tod besser als sie, den Tod selbst … Heiß stieg es in ihr hoch und saß würgend in ihrer Kehle. Warum saß er so da, so wehrlos, so stark? Warum konnte sie ihn nicht bezwingen?

»Und der Grund, warum ich dich am Leben lasse«, sagte sie plötzlich, ohne im geringsten vorher darüber nachgedacht zu haben, »ist, weil ich will, daß du mir zeigst, wie die Kunststücke der Hexenmeister gemacht werden. So lange du mir Kunststücke zeigen kannst, so lange wirst du am Leben bleiben. Wenn du keine kannst, wenn alles nur Lüge und Narretei ist, dann — dann will ich nichts mehr mit dir zu schaffen haben. Hast du das verstanden?«

»Ja.«

»Also gut, fang an.«

Er legte die Stirn auf seine Hände und änderte seine Lage.

Der eiserne Gürtel erlaubte keine richtig bequeme Stellung, nur wenn er sich ganz flach ausstreckte.

Schließlich hob er sein Gesicht hoch und blickte sie ernst an. »Arha, hören Sie mich an! Ich bin ein Magier, ein Hexenmeister, wie Sie es nennen. Ich besitze eine gewisse Macht und verfüge über bestimmte Künste. Das stimmt. Es stimmt aber auch, daß hier, an dieser Stätte, wo die Urmächte walten, meine Kraft gering ist und meine Künste mir nur wenig nutzen. Ja, ich könnte Illusionszaubereien für Sie wirken, und Ihnen alles mögliche Wunderbare zeigen. Aber das ist nur ein geringer Teil der Magie. Ich konnte Illusionszaubereien wirken, als ich noch ein Kind war, ich kann sie selbst hier wirken. Aber wenn Sie daran glauben, dann kann es gut sein, daß Sie sich davor fürchten. Und es ist gut möglich, daß Sie mich dann töten lassen, denn Furcht macht ärgerlich. Und wenn Sie nicht daran glauben, dann sehen Sie es als Lügen und Narretei an, wie Sie sagen, und ich setze mein Leben wieder aufs Spiel. Und mein Ziel, mein Wunsch in diesem Augenblick, ist, am Leben zu bleiben.«

Sie mußte lachen und sagte: »Oh, du wirst noch eine Weile am Leben bleiben, verstehst du das nicht? Bist du dumm! Also gut, zeig mir die Illusionen. Ich weiß, daß sie nicht wahr sind, und ich werde keine Angst davor haben. Ich hätte übrigens auch keine Angst davor, wenn sie wahr wären. Aber fang schon an. Deine dir so werte Haut ist heute nacht nicht gefährdet.«

Als sie das sagte, mußte auch er lachen. Sie spielte mit seinem Leben, warf es hin und her wie einen Ball.

»Was soll ich Ihnen zeigen?«

»Was kannst du mir denn zeigen?«

»Alles mögliche.«

»Wie du dauernd aufschneidest!«

»Nein«, sagte er, offensichtlich etwas gekränkt. »Es lag jedenfalls nicht in meiner Absicht.«

Er neigte den Kopf und schaute eine Weile auf seine Hände. Nichts geschah. Die Talgkerze brannte schwach und gleichmäßig in der Laterne. Die schwarzen Gemälde an der Wand, die unbeweglichen vogelflügeltragenden Gestalten mit ihren in stumpfem Rot und Weiß gemalten Augen ragten über ihm und über ihr auf. Kein Laut war zu hören. Sie seufzte, enttäuscht und irgendwie betrübt. Er war schwach; er redete groß, aber er konnte nichts tun. Er war nur ein guter Lügner, sonst nichts, nicht einmal ein guter Dieb war er. »Na ja«, sagte sie endlich und raffte ihre Röcke zusammen, um aufzustehen. Die Wolle raschelte ungewöhnlich, als sie sich bewegte. Sie blickte an sich hinunter und stand überrascht auf.

Das schwere schwarze Gewand, das sie jahrelang getragen hatte, war verschwunden; sie trug ein Kleid aus türkisfarbener Seide, weich und so hell wie der Abendhimmel. Es bauschte sich zu einer Glocke um ihre Hüften, und der Rock war mit dünnen Silberfäden und mit kleinen Perlen und winzigen Kristallen bestickt und glitzerte wie Regen im April.

Sie blickte den Zauberer sprachlos an.

»Gefällt es Ihnen?«

»Wo …?«

»Es ist wie das Gewand, das ich einst an einer Prinzessin gesehen habe, beim Fest der Sonnenwende im Neuen Palast in Havnor«, sagte er und blickte befriedigt auf sein Werk. »Sie baten mich, Ihnen etwas zu zeigen, das sehenswert ist. Ich zeige Ihnen — Sie selbst.«

»Laß es — laß es verschwinden!«

»Sie gaben mir Ihren Umhang«, sagte er vorwurfsvoll. »Darf ich Ihnen nichts geben? Aber haben Sie keine Angst, es ist nur Illusion, sehen Sie?«

Er schien keinen Finger zu heben, er sagte bestimmt kein einziges Wort, doch die blaue Seidenpracht war verschwunden, und sie stand wieder in ihrem groben schwarzen Gewand vor ihm.

Sie stand eine Weile bewegungslos da.

»Wie kann ich wissen«, sagte sie schließlich, »daß du der bist, für den ich dich halte?«

»Sie können es nicht wissen«, sagte er. »Ich weiß nicht, wofür Sie mich halten.«

Sie grübelte lange darüber nach. »Du könntest mich täuschen, du könntest mir etwas vorspiegeln, dich als …« Sie verstummte, denn er hatte eine Hand bewegt, nur ganz kurz, und nach oben gedeutet. Es war nur die Andeutung eines Zeichens gewesen. Sie dachte, daß er im Begriff sei, einen Bann zu wirken, und zog sich schnell zur Tür zurück, aber seiner Geste folgend sah sie hoch über sich, in dem dunklen Rund der Decke, das kleine Viereck, das Guckloch in der Schatzkammer des Zwillingsgöttertempels.

Kein Licht fiel durch das Guckloch, sie sah nichts, hörte nichts von oben, aber er hatte gedeutet, und sein fragender Blick lag auf ihr.

Beide rührten sich nicht.

»Deine Zauberei ist bloß Narrenspielerei, höchstens für Kinder geeignet«, sagte sie klar und deutlich. »Sie ist Betrügerei und Lüge. Ich habe genug gesehen. Du wirst den Namenlosen übergeben werden. Ich werde nicht mehr kommen.«

Sie nahm ihre Laterne und ging hinaus und schob den Eisenriegel laut krachend zu. Dann blieb sie außen an der Tür stehen, unsicher und verwirrt. Was sollte sie jetzt tun?

Wieviel hatte Kossil gehört, wieviel gesehen? Worüber hatten sie gesprochen? Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Sie schien nie das zu dem Gefangenen zu sagen, was sie eigentlich hatte sagen wollen. Er brachte immer alles durcheinander mit seinem Gerede von Drachen und Türmen, und Namen für die Namenlosen, und mit seinem Wunsch, am Leben bleiben zu wollen, und mit seiner Dankbarkeit für ihren Umhang. Nie sagte er das, was sie von ihm erwartete.

Sie hatte ihn nicht einmal nach dem Talisman ausgefragt, den sie an einer Kette, an ihrer Brust verborgen, um den Hals trug.

Aber das war vielleicht gut so, wenn Kossil zugehört hatte.

Nun, was machte das schon aus, was konnte Kossil schon tun? Noch während sie sich diese Frage stellte, wußte sie die Antwort: Nichts ist leichter zu töten als ein gefangener Falke. Der Mann war hilflos, angekettet in diesem Steinkäfig. Die Priesterin des Gottkönigs brauchte nur ihren Wärter Duby heute nacht herunterzuschicken, um ihn zu erwürgen; oder, wenn sie und Duby sich nicht so tief im Labyrinth auskannten, brauchte sie nur Giftstaub durch das Guckloch in den Bemalten Raum zu blasen. Sie besaß Schachteln und Gläser voll unheimlicher Giftstoffe für alle Gelegenheiten: manche zum Vergiften der Nahrung und des Wassers, andere zum Verbreiten in der Luft, die, wenn sie lange genug eingeatmet wurden, zum Tod führten. Und morgen früh würde er tot sein, und alles wäre vorbei. Und sie würde nie mehr ein Licht unter den Gräbern brennen sehen.

Arha eilte durch die engen Steingänge zum Eingang in das Untergrab, wo Manan geduldig wie eine Kröte in der Dunkelheit hockte und auf sie wartete. Die Besuche bei dem Gefangenen beunruhigten ihn. Sie ließ nicht zu, daß er sie den ganzen Weg begleitete, und so hatten sie diesen Kompromiß geschlossen. Jetzt war sie froh, daß er hier bei der Hand war. Ihm konnte sie wenigstens vertrauen.

»Manan, hör zu! Du gehst jetzt zum Bemalten Raum und sagst zu dem Mann, daß du ihn unter die Gräber führst, wo er lebendig begraben wird.« Manans kleine Augen glitzerten. »Sag das laut! Schließ die Kette auf und führ ihn …« Sie hielt inne, denn sie hatte noch nicht darüber nachgedacht, wo sie den Gefangenen am besten verbergen konnte.

»… zum Untergrab«, sagte Manan, eifrig mit dem Kopf nickend.

»Nein, du Dummkopf. Ich habe gesagt, daß du das sagen sollst, nicht tun. Warte …« Wo wäre er sicher vor Kossil und ihren Spionen? Nirgends, außer an den allertiefsten, allerheiligsten unterirdischen Orten, an den verstecktesten Plätzen im Bereich der Namenlosen, wohin sie sich nicht zu gehen getraute. Doch würde sich Kossil nicht fast überallhin zu gehen getrauen? Angst hatte sie bestimmt vor den finsteren Orten, große Angst sogar, aber sie war in der Lage, ihre Angst zu überwinden, um ihre Zwecke zu erreichen. Es war unmöglich, festzustellen, wie gut sie den Plan des Labyrinths gelernt hatte, von Thar oder von der vorhergehenden Arha, oder vielleicht von ihren eigenen geheimen Untersuchungen in den vergangenen Jahren. Arha vermutete, daß sie mehr wußte, als sie zugab. Aber einen Weg konnte sie nicht gelernt haben, dieser Weg war ein Geheimnis, das tiefste, bestgehütetste.

»Du mußt den Mann dorthin bringen, wo ich dich hinführe, und es muß im Dunkeln geschehen. Und wenn ich dich zurückgebracht habe, mußt du hier, im Untergrab, ein Grab schaufeln und einen Sarg dafür machen, ihn leer in das Grab tun und dann das Grab wieder mit Erde zuwerfen, damit etwas da ist, wenn jemand danach sucht. Mach ein tiefes Grab! Hast du alles verstanden?«

»Nein«, sagte Manan, mißmutig und verdrießlich. »Kleines, diese Betrügerei ist nicht klug, gar nicht klug. Ein Mann hat hier nichts verloren! Ein Strafgericht wird hereinbrechen …«

»Einem alten Narren wird die Zunge herausgeschnitten, ja! Du wagst mir zu sagen, was klug ist? Ich beuge mich dem Willen der Dunklen Mächte. Folge mir jetzt!«

»Es tut mir leid, kleine Herrin, es tut mir leid …«

»Schweig!«

Sie kehrten zum Bemalten Raum zurück. Dort wartete sie im Gang, während Manan eintrat und die Kette von dem Ring an der Wand losmachte. Sie hörte die tiefe Stimme fragen: »Wohin jetzt, Manan?«, und die rauhe Altstimme antwortete mürrisch: »Du sollst lebendig begraben werden, so gebietet meine Herrin. Unter den Grabsteinen. Steh auf!« Sie hörte die schwere Kette knallen wie eine Peitsche.

Der Gefangene kam heraus, seine Arme waren mit Manans Lederriemen gefesselt. Manan kam hinterher und hielt ihn wie einen Hund an der Leine fest, aber das Band führte um seine Taille und die Leine war aus Eisen. Seine Augen wandten sich ihr zu, doch sie blies ihre Kerze aus, und ohne ein Wort zu sagen, begann sie in die Dunkelheit hineinzuschreiten. Sie nahm sofort die Gangart an, die sie sich im Labyrinth angewöhnt hatte, wenn sie kein Licht dabei hatte: langsame, aber ziemlich gleichmäßige Schritte, mit ihren Fingerspitzen leicht und fast ohne abzusetzen, die Wände links und rechts berührend. Manan und der Gefangene kamen schlurfend und stolpernd hinterher; sie bewegten sich viel schwerfälliger wegen der Kette. Aber es mußte dunkel bleiben, denn sie wollte nicht, daß einer von ihnen den Weg lernte.

Links aus dem Bemalten Raum hinaus, an zwei Öffnungen vorbei, rechts an der Viererkreuzung, eine Öffnung rechts liegen lassen, dann einen langen, geschwungenen Gang entlang und eine Treppe hinunter, eine lange Treppe mit schlüpfrigen Stufen, viel zu schmal für menschliche Füße. Weiter als diese Stufen war sie noch nie gekommen.

Die Luft war schlechter hier, abgestandener, und hatte einen durchdringenden Geruch. Die Anweisungen waren ihr ganz gegenwärtig, sie glaubte, Thars Stimme zu vernehmen, die sie ihr vorsagte. Immer weiter die Stufen hinunter (sie hörte, wie hinter ihr der Gefangene in der Finsternis stolperte und stöhnte, als ihn Manan mit einem kräftigen Ruck wieder auf die Füße stellte) und unten sofort nach links abbiegen. Halte dich links, an drei Öffnungen vorbei, dann die erste rechts und ganz rechts gehen. Die Gänge waren verwinkelt und gekrümmt, keiner verlief gerade. »Dann mußt du um den Schacht gehen«, hörte sie Thar in der Dunkelheit ihres Gehirns sprechen, »und der Weg ist ganz schmal.«

Sie verlangsamte ihre Schritte, beugte sich nach vorne und fühlte mit ihrer Hand am Boden entlang. Der Gang lief jetzt gerade, um den Wanderer in Sicherheit zu wiegen. Plötzlich fühlte ihre Hand, die unaufhörlich getastet und hin- und hergefegt war, nichts mehr. Ein Steinrand, eine Rundung und hinter dem Rand nur Leere. Die Wand rechts fiel steil ab in den Schacht. Links davon war ein Vorsprung, ein Sims, nicht viel breiter als eine Hand.

»Hier ist ein Schacht. Dreht euch gegen die Wand links, lehnt euch dagegen, geht seitlich, schiebt eure Füße. Halte die Kette, Manan … Seid ihr auf dem Sims? Er wird schmaler. Verlagert euer Gewicht nicht auf die Fersen. So, ich bin am Schacht vorbei. Gebt mir die Hand. Hier …«

Der Gang lief jetzt im Zickzack, mit vielen seitlichen Öffnungen. Aus einigen tönte das Echo ihrer Schritte auf eine seltsam hohle Weise, und noch seltsamer war ein leichter Zug, der nach innen wehte. Diese Gänge mußten in Schächten enden wie der, an dem sie gerade vorbeigegangen waren. Vielleicht lag hier, unter dem tiefsten Teil des Labyrinths, eine Höhle, ein Gewölbe, das so tief, so riesig war, daß das Untergrab daneben klein erschien, eine immense schwarze innerliche Leere. Aber über diesem Abgrund, in den dunklen Gängen, durch die sie sich bewegten, wurde es immer enger und niedriger, daß selbst Arha sich bücken mußte. Hörte das denn nie auf?

Das Ende kam plötzlich: eine verschlossene Tür. Vornübergebeugt, etwas schneller als gewöhnlich gehend, stieß Arha mit dem Kopf und den Händen dagegen. Sie tastete nach dem Schlüsselloch, dann nach dem kleinen Schlüssel mit dem Drachen am Griff, der an ihrem Ring hing und den sie noch nie benutzt hatte. Er paßte und drehte sich im Schlüsselloch. Sie öffnete die Tür zum Großen Schatz der Gräber von Atuan. Stickige, verbrauchte Luft schlug ihr entgegen.

»Manan, du kannst hier nicht eintreten. Warte hier draußen!«

»Er kann, und ich nicht?«

»Wenn du diesen Raum betrittst, Manan, wirst du ihn nicht wieder lebendig verlassen. So lautet das Gesetz, und es gilt für alle, außer für mich. Kein Sterblicher, außer mir, hat je diesen Raum lebendig wieder verlassen. Willst du hereinkommen?«

»Ich warte hier draußen«, sagte die melancholische Stimme aus der Finsternis. »Herrin, Herrin, mach die Tür nicht zu!«

Seine Angst machte sie so nervös, daß sie die Tür offenließ. Dieser ganze Ort erfüllte sie mit geheimem Grauen, und sie fühlte Mißtrauen gegen den Gefangenen in sich aufsteigen, obgleich er eingezwängt war in Eisen. Als sie drinnen war, zündete sie ihr Licht an. Ihre Hände zitterten. Die Kerze in der Laterne wollte nicht brennen. Die Luft war verbraucht und alt. Im gelben, trüben Schein des Lichtes, das nach der langen Dunkelheit hell erschien, war die Schatzkammer voll unruhiger Schatten undeutlich zu erkennen.

Sechs große Truhen befanden sich darin, alle aus Stein, alle mit dickem Staub bedeckt wie Schimmel auf Brot. Die Wände waren uneben, die Decke niedrig. Der Raum war kalt, eine tiefe, luftleere Kälte, die das Blut im Herzen zum Stocken brachte. Keine Spinnweben, nur Staub war zu sehen. Hier unten war nichts Lebendiges, nicht einmal die seltenen kleinen weißen Spinnen des Labyrinths gab es hier. Der Staub war dick, so dick, ein Staubkorn für jeden Tag, der hier vergangen war, hier, wo die Zeit stillstand, wo kein Licht je hinfiel: Tage, Monate, Jahre, Jahrhunderte, zu Staub zerfallen.

»Dies hier ist der Platz, den dugesucht hast«, sagte Arha, und ihre Stimme war ausdruckslos. »Hier ist der Große Schatz der Gräber. Du bist angelangt. Du wirst ihn nie wieder verlassen können.«

Er gab keine Antwort, und sein Gesicht war ruhig, doch in seinen Augen lag etwas, das sie berührte: eine Verzweiflung, der Blick eines Mannes, der sich betrogen fühlte.

»Du hast gesagt, daß du am Leben bleiben willst. Dies hier ist der einzige Ort, an dem du sicher bist. Kossil würde dich töten oder mich zwingen, daß ich dich töte, Sperber. Hierher kann sie nicht kommen.«

Er sagte noch immer nichts.

»Du hättest die Gräber so oder so nie verlassen können, siehst du das nicht ein? Das hier ist nicht viel anders. Du bist wenigstens ans … ans Ende deiner Reise gelangt. Was du suchst, ist hier.«

Er setzte sich auf eine der großen Truhen. Er sah erschöpft aus. Die Kette, die er hinter sich herschleifte, schlug klirrend an den Stein. Er ließ den Blick über die grauen Wände schweifen, sah die Schatten und blickte dann sie an.

Sie wandte die Augen ab und schaute auf die Steintruhen. Sie hatte keine Lust, sie zu öffnen. Es war ihr gleichgültig, welche Schätze darin verrotteten.

»Hier drinnen brauchst du keine Ketten tragen.« Sie ging zu ihm hin, schloß den Eisengürtel auf und machte Manans Ledergürtel los, der seine Arme festgehalten hatte. »Ich muß die Tür verschließen, aber wenn ich komme, dann muß ich dir trauen können. Du weißt, daß du nicht fort kannst — daß du es nicht versuchen darfst! Ich bin ihre Priesterin, ich führe ihren Willen aus, und wenn ich versage — wenn du mein Vertrauen mißbrauchst —, dann rächen sie sich. Du darfst mir nicht weh tun oder mich betrügen, wenn ich komme, und versuchen, den Raum zu verlassen. Du mußt mir gehorchen.«

»Ich werde tun, was Sie sagen«, sagte er leise.

»Ich bringe dir Essen und Wasser, wenn ich kann. Es wird nicht viel sein. Genug Wasser, aber nicht viel zum Essen in der nächsten Zeit; ich werde selbst hungrig, weißt du. Aber es wird genug sein, um nicht zu verhungern. Vielleicht kann ich erst in zwei Tagen zurückkehren, vielleicht dauert es noch länger. Ich muß Kossil abschütteln, denn sie spioniert mir nach. Aber ich werde wiederkommen. Ich verspreche es dir. Hier ist Wasser. Teile es ein, ich kann nicht bald kommen. Aber ich werde zurückkommen.«

Er blickte auf und sah sie an. Ein seltsamer Ausdruck lag auf seinen Zügen. »Sei vorsichtig, Tenar«, sagte er.

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