5 LICHT UNTER DEM HÜGEL

Als das Jahr sich seinem Ende zu neigte, starb Thar. Im Sommer hatte sie begonnen, über eine Schwäche zu klagen, die nicht weichen wollte und an ihrer Gesundheit zehrte. Sie, die stets hager gewesen war, magerte nun zum Skelett ab; sie, die früher verschlossen gewesen war, redete nun überhaupt nicht mehr. Nur mit Arha sprach sie noch gelegentlich, wenn sie allein miteinander waren, und dann hörte selbst das auf, und schweigend ging sie in das Land der ewigen Dunkelheit ein. Als sie für immer gegangen war, merkte Arha, wie sehr sie ihr fehlte. Wohl war sie streng gewesen, aber weh getan hatte sie keinem. Sie hatte sich bemüht, in Arha Stolz zu erwecken, und ließ keine Furcht aufkommen.

Jetzt war nur noch Kossil übrig.

Im Frühling sollte eine neue Hohepriesterin aus Awabad in den Tempel der Zwillingsgötter kommen; bis dahin teilten sich Kossil und Arha die Leitung und Verwaltung der Stätte. Die Frauen nannten das Mädchen »Herrin« und führten aus, was Arha befahl. Doch Arha lernte bald, Kossil keine Anweisungen zu erteilen. Zwar hatte sie das Recht dazu, doch fehlte ihr die Macht. Viel Stärke wäre nötig gewesen, um Kossil herumzukommandieren, denn sie war neidisch auf jeden, der höher stand als sie, und sie haßte alles, was sie nicht unter ihrer Fuchtel hatte.

Seit Arha (von der sanften Penthe) gelernt hatte, daß Unglauben existiert, und seitdem sie es als Möglichkeit akzeptiert hatte — obwohl sie dies tief beunruhigte —, sah sie Kossil in einem neuen Licht und verstand sie besser. Kossil huldigte den Namenlosen und den Göttern nicht aus voller innerer Überzeugung. Nur Macht war ihr heilig, sonst nichts. Die Herrscher des Kargadreiches hielten diese Macht in ihren Händen und waren deshalb, in Kossils Augen, wahre Gottkönige und ihres, Kossil, Dienstes gewiß. Die Tempel jedoch waren für sie nichts als Äußerlichkeiten, die Grabsteine bloße Felsen und die Gräber von Atuan nichts als Löcher im Boden, die zwarerschreckend, doch sonst leer waren. Läge es in ihrer Macht, so würde sie die Verehrung des Leeren Thrones abschaffen. Und wenn sie könnte, so würde sie die Erste Priesterin ebenfalls verschwinden lassen.

Es dauerte eine geraume Zeit, aber schließlich war Arha so weit, daß sie all diese Vermutungen als gegeben hinnahm. Vielleicht hatte ihr Thar geholfen, dies zu erkennen, obwohl sie nie direkt darüber gesprochen hatte. Als ihre Krankheit noch im ersten Stadium war, hatte sie Arha gebeten, alle paar Tage zu ihr zu kommen und mit ihr zu reden. Sie hatte ihr viel über den Gottkönig und seine Vorgänger erzählt, und was in Awabad vor sich ging — Dinge, die sie als Hohepriesterin wissen mußte, die aber nicht immer schmeichelhaft für den Gottkönig und seinen Hof waren. Manchmal erzählte sie auch aus ihrem eignen Leben und beschrieb, wie die vorherige Arha ausgesehen und was sie alles unternommen hatte. Manchmal — nicht oft — verweilte sie bei den Gefahren und Schwierigkeiten, die Arha in ihrem jetzigen Leben erwarten würden. Nie erwähnte sie Kossil mit Namen, aber Arha war elf Jahre lang Thars Schülerin gewesen, und ein Blick, ein Ton genügten, um den tieferen Sinn ihrer Worte zu begreifen und im Gedächtnis zu behalten.

Nachdem die bedrückenden Rituale der Trauer abgeschlossen waren, versuchte Arha, Kossil aus dem Wege zu gehen. Wenn die langen Arbeiten und Rituale des Tages vorbei waren, zog sich Arha in ihr Haus zurück, und wenn sie Zeit übrig hatte, ging sie in das Zimmer hinter dem Thron, öffnete die Falltür und stieg hinunter in die Dunkelheit. Es war gleich, ob es draußen Tag oder Nacht war, dort unten war es immer dunkel. Sie hatte begonnen, ihr unterirdisches Reich systematisch zu erforschen. Das Untergrab, das heiligste der Heiligtümer, war jedem verboten, nur Priesterinnen und ihre vertrautesten Eunuchen durften hier eintreten. Jeder andere, ob Mann oder Frau, würde vom Fluch der Namenlosen niedergeschmettert werden. Aber unter all den Regeln fand sie keine, die den Zutritt zum Labyrinth untersagte. Das war auch nicht nötig. Es konnte nur vom Untergrab aus betreten werden. Und außerdem — war es nötig, einer Fliege zu verbieten, ins Netz einer Spinne zu fliegen?

Diese Überlegungen führten sie dazu, Manan öfter mit hinunter ins Labyrinth zu nehmen, damit er lerne, sich wenigstens in den näherliegenden Gängen auszukennen. Er hatte überhaupt keine Lust dazu, dorthin mitzugehen, aber wie in allem, so gehorchte er ihr auch darin. Sie vergewisserte sich auch, ob Duby und Uahto, Kossils Eunuchen, ebenfalls den Weg in den Kettenraum und den Weg aus dem Untergrab heraus wußten, aber mehr zeigte sie ihnen nicht. Sie wollte nicht, daß irgend jemand, außer Manan, der ihr treu ergeben war, die geheimen Gänge kannte. Denn die waren ihr Eigentum in alle Ewigkeit. Sie hatte mit der Gesamterforschung des Labyrinths begonnen. Den ganzen Herbst verbrachte sie damit, und manche Tage lang durchmaß sie diese endlosen Gänge, und noch immer stieß sie auf gewisse Abschnitte, die ihr neu und fremd waren. Es war ermüdend, dieses ganze, riesige, nutzlose Gewirr von Gängen zu erforschen, ihre Beine taten ihr weh und ihr Geist langweilte sich von dem dauernden Zählen der Ecken und Durchgänge, die bereits hinter und noch vor einem lagen. Es war im Grunde eine meisterhafte Anlage, die sich durch das Felsgestein wie das Straßennetz einer großen Stadt zog, aber es war so angelegt, daß es jeden Sterblichen ermüden und verwirren würde, und selbst die Priesterin mußte am Ende zur Erkenntnis gelangen, daß es nichts weiter war als eine Riesenfalle.

Im Verlauf des Winters wandte sie sich daher immer mehr der Erforschung der Thronhalle zu, den Altären, den Nischen hinter und unter den Altären, den Zimmern voller Truhen und Kästen, und dem Inhalt dieser Truhen und Kästen; sie erforschte die Flure und Speichergewölbe, das staubige Rund unter der Kuppel, in dem Hunderte von Fledermäusen hausten, die Kellergewölbe, die untereinander lagen und ihr wie die Vorgemächer der Dunkelheit selbst erschienen.

Ihre Hände und Ärmel von süßlich riechendem Moschus parfümiert, der acht Jahrhunderte lang in einer eisernen Truhe gelagert und zu Staub zerfallen war, ihre Stirn von dunklen Spinnweben umflort, die sich nicht wegwischen ließen, so kniete sie oft stundenlang und betrachtete die wunderbaren Schnitzereien an einer Truhe aus Zedernholz, die vor langer Zeit als Gabe für die Namenlosen von irgendeinem König hierhergebracht worden waren. Hier konnte man den König erkennen, eine kleine, steife Gestalt mit einer großen Nase, und dort war die Thronhalle mit der flachen Kuppel und dem Portal mit den Säulen, das in kunstvollen Reliefs von einem Künstler geschnitzt worden war, der schon seit Hunderten von Jahren zu Staub zerfallen war. Und hier konnte man die Eine Priesterin erkennen, die den betäubenden Duft der Kräuter einatmete, die in den Bronzeschalen brannten, und die einen König beriet oder ihm etwas prophezeite, dessen Nase auf diesem Bild abgebrochen war. Das Gesicht der Priesterin war zu klein, um ihre Züge zu erkennen, aber Arha stellte sich vor, daß es ihre eigenen Gesichtszüge waren. Sie versuchte sich zu erinnern, was sie dem König mit der großen Nase gesagt hatte, und ob er dankbar gewesen war.

Sie hatte Lieblingsplätze in der Thronhalle, wie man Lieblingsplätze in einem sonnigen Haus haben konnte. Oft begab sie sich in einen der kleinen, halbhohen Speicher im hinteren Teil der Halle. Dort befanden sich uralte Gewänder und Kostüme noch aus der Zeit, da mächtige Könige und Fürsten hierher an die Gräberstätte gekommen waren, um ihre Ehrfurcht zu bezeugen und um darzutun, daß dies eine Stätte war, die größer war als ihr eigenes Reich, größer als jedes Menschenreich. Manchmal waren Prinzessinnen mitgekommen, die weiche, weiße, mit Topas und Amethyst bestickte Seidengewänder trugen und mit der Priesterin der Gräber tanzten. Unter einem der Schätze befanden sich kleine, bemalte Tischchen aus Elfenbein, die solch einen Tanz darstellten, und außerhalb des Saales warteten Fürsten und Könige, denn damals wie heute war es keinem Mann gestattet, die Thronhalle zu betreten. Doch die Mädchen durften hereinkommen, und in weiße Seide gehüllt tanzten sie mit der Priesterin. Die Priesterin trug ein grobgewebtes, schwarzes Gewand, auch das war gleich geblieben. Doch es gefiel Arha, den süßlich duftenden, weichen Stoff, der halb zerfallen war vom Alter, anzufassen und die Juwelen, gleichbleibend in ihrer Schönheit, zu betrachten, die, zu schwer geworden längst für das brüchige Gewebe, zum Teil abgefallen waren. Von diesen Gewändern ging ein anderer Geruch aus als der Moschus- und Weihrauchduft, der in den Tempeln hing: er war frischer, jünger, weniger stark.

In den Schatzkammern konnte sie ganze Nächte verweilen und sich mit dem Inhalt einer einzigen Truhe vertraut machen. Sie betrachteteEdelstein nach Edelstein, die verrosteten Rüstungen, die brüchigen Federbüsche der Helme, die Gürtelschnallen, Broschen und Nadeln, manche aus Bronze, andere aus Silber und andere aus reinem Gold.

Die Eulen, die sich durch sie nicht stören ließen, blieben auf den Dachbalken hocken und öffneten und schlossen ihre gelben Augen. Schwaches Sternenlicht schimmerte zwischen den Ziegeln des Daches, und Schnee fand seinen Weg durch das beschädigte Dach und fiel als feiner Staub herab, wie die uralte Seide, die in ihrer Hand zu nichts zerfiel.

Es war in einer Nacht im späten Winter, als es ihr zu kalt wurde im Thronsaalgebäude. Sie ging zu der Falltür, hob sie hoch, schwang sich auf die Stufen und schloß sie wieder über sich. Geräuschlos machte sie sich auf den Weg, den sie so gut kannte, den Zugang zum Untergrab. Dorthin nahm sie selbstverständlich nie ein Licht mit. Wenn sie eine Laterne mit sich trug, die sie im Labyrinth angezündet hatte, oder die ihr den Weg durch die Nacht außerhalb gewiesen hatte, so versäumte sie nie, diese auszulöschen, bevor sie das Untergrab betrat. Noch nie, in all den Generationen ihrer Priesterwürde, hatte sie dieses Gewölbe gesehen. Als sie sich jetzt im Gang zum Untergrab befand, blies sie ihre Kerze in der Laterne aus, die sie mit sich trug, und ohne ihre Schritte zu verzögern, ging sie in die pechrabenschwarze Finsternis hinein, so sicher wie ein kleiner Fisch im dunklen Wasser. Ob Winter oder Sommer, hier gab es weder Hitze noch Kälte: es war immer gleich kühl, immer gleich feucht, jahraus, jahrein. Draußen, über ihr, fegten die großen, kalten Winterstürme feinen Schnee über die Wüste, hier drunten spürte man keinen Wind, keine Jahreszeit, alles war nahe, ruhig und sicher.

Sie war auf dem Weg zum Bemalten Raum. Manchmal hatte sie Lust, dorthin zu gehen und die Wandbilder zu betrachten, die beim Schein ihrer Laterne aus der Dunkelheit plötzlich ins Auge sprangen: sie zeigten Männer mit langen Flügeln und großen Augen, die nachdenklich und tiefernst dreinblickten. Kein Mensch konnte ihr sagen, was sie darstellten, nirgends an der Stätte sah man ähnliche Bilder, aber sie bildete sich ein, daß sie es wußte: das waren die Geister der Verdammten, die Geister derjenigen, die nicht wiedergeboren wurden. Da der Bemalte Raum sich im Labyrinth befand, mußte sie das große Gewölbe unter den Gräbern durchqueren. Als sie sich ihm, den abfallenden Gang entlang schreitend, näherte, sah sie ein schwaches Grau, die zaghafte Andeutung, das Echo eines Echos, eines fernen Lichtes.

Sie glaubte erst, daß ihre Augen sie narrten, wie sie es öfters in der absoluten Dunkelheit taten. Sie schloß sie, und das schwache Licht verschwand. Sie öffnete sie, und es war wieder da.

Sie hielt an und blieb stehen. Grau, nicht Schwärze, umgab sie. Ein feiner Schimmer, kaum wahrnehmbar, dort, wo nichts wahrnehmbar hätte sein dürfen, wo alles schwarz sein mußte.

Sie machte ein paar Schritte vorwärts und griff mit ihrer Hand nach der Ecke des unterirdischen Gangs: und, ganz undeutlich, sah sie die Bewegung ihrer eigenen Hand.

Sie ging weiter. Dies war so unglaublich, daß es undenkbar war, daß es die Furcht selbst erstickte, dieses schwächste aller Lichter dort, wohin noch nie ein Lichtstrahl gefallen war, im innersten Grab der Dunkelheit. Bei der letzten Krümmung des Gangs hielt sie inne, dann, ganz langsam, machte sie den letzten Schritt und schaute, und sah …

… sah das, was sie noch nie gesehen hatte, noch nie, obgleich sie schon in Hunderten von Leben hiergewesen war: die große, geschwungene Höhlung unterhalb der Gräber, nicht von Menschenhand geschaffen, sondern von den Mächten dieser Erde selbst. Der Raum war mit Juwelen aus Kristall bedeckt und mit Spitzen geschmückt, ein Filigran aus silberweißem Kalkstein, geschaffen von den Wassern, die seit Äonen hier gewirkt hatten — riesig, mit glitzerndem Dach und Wänden, schimmernd, zerbrechlich, verschlungen, ein Palast aus Diamanten, ein Haus aus Amethyst und Kristall, aus dem die uralte, ewig lastende Dunkelheit von der überwältigenden Pracht vertrieben worden war.

Nicht hell war dieses Licht, doch überwältigend für das an Dunkelheit gewöhnte Auge. Es war ein sanftes Leuchten, wie ein Licht, das über dem Moor liegt, das sich langsam dem Gewölbe entlang bewegte und in tausend glitzernden Funken das juwelengeschmückte Dach entlangsprühte, das tausend phantastische Schatten entlang der gemeißelten Wände warf.

Das Licht brannte am Ende eines hölzernen Stabes, ohne zu rauchen, ohne etwas zu verzehren. Der Stab wurde von einer Menschenhand gehalten. Arha sah ein Gesicht neben dem Licht, ein dunkles Gesicht: das Gesicht eines Mannes.

Sie rührte sich nicht.

Wiederholt durchquerte er das riesige Gewölbe. Er bewegte sich so, als ob er etwas suche, schaute hinter die mit Spitzen verzierten, steinernen Wasserfälle und betrachtete die verschiedenen Passagen, die aus dem Untergrab hinausführten, doch er betrat sie nicht. Noch immer stand die Priesterin der Gräber in dem schwarzen Schatten des Gangs, wartend, ohne sich zu rühren.

Das Schwerste für sie war vielleicht, daß sie einen Fremden sah. Sie hatte sehr wenige Fremde in ihrem Leben gesehen. Sie vermutete, daß dies einer der Wärter sein mußte — nein, wahrscheinlich war es einer der Männer von jenseits der Mauer, ein Ziegenhirte, oder einer der Posten, ein Sklave der Stätte, und er war gekommen, um die Geheimnisse der Namenlosen auszukundschaften, vielleicht, um etwas von den Gräbern zu stehlen.

… um etwas zu stehlen; um die Dunklen Mächte zu berauben; die Stätte zu entweihen, ein Sakrileg zu begehen. Sakrileg — das Wort nahm allmählich Form an in Arhas Gehirn. Dies war ein Mann, und keines Mannes Fuß durfte den Boden der Gräber, diesen geheiligten Ort, berühren. Und doch war er hierhergekommen in diesen ausgehöhlten Raum, hierher, in das Herz der Gräberstätte. Er hatte es betreten. Er hatte Licht angezündet, hier, wo es verboten war, Licht zu machen, wo nie, seit Beginn der Welt, Licht geschienen hatte. Warum blieben die Namenlosen stumm, warum zermalmten, zerschmetterten sie ihn nicht auf der Stelle?

Er war stehengeblieben und schaute auf den felsigen Boden zu seinen Füßen, wo er aufgebrochen und umgeschichtet worden war. Man konnte sehen, daß man hier gegraben und wieder zugeschüttet hatte. Die sauer riechenden, unfruchtbaren Erdschollen, die man für das Grab aufgeworfen hatte, waren nicht alle wieder festgestampft worden.

Ihre Gebieter hatten jene drei verzehrt. Warum verzehrten sie diesen hier nicht? Worauf warteten sie?

Ihren Händen oblag es, zu handeln, ihrer Zunge oblag es, zu reden …

»Geh! Geh! Verschwinde!« schrie sie plötzlich, von Erregung gepackt, laut aus. Mächtige Echos dröhnten und rollten durch das Gewölbe, schienen das erschrockene, dunkle Gesicht zu verwischen, das sich ihr zugewandt hatte, und das sie einen Augenblick lang quer über die aufgestörte Pracht der Höhlung hinweg wahrnahm. Dann erlosch das Licht. Die Pracht war verschwunden. Dunkelheit und Stille kehrten zurück.

Jetzt konnte sie wieder denken. Der Bann, durch das Licht auferlegt, war gebrochen.

Er mußte durch die Tür zwischen den roten Felsen, durch die Gefangenentür, hereingekommen sein, und er würde versuchen, durch die Tür wieder zu entfliehen. Behende und so lautlos wie eine leichtbeflügelte Eule eilte sie den Halbkreis des Gewölbes entlang zu dem niederen Gang, der zu der Tür führte, die sich nur nach innen öffnen ließ. Sie spürte keinen Luftzug, der von außen hereindrang. Er hatte die Tür nicht offenstehen lassen hinter sich. Sie war geschlossen, und wenn er sich im Gang befand, dann war er gefangen.

Aber er war nicht in dem Gang. Sie war sich dessen gewiß. Es war hier so eng, daß sie seinen Atem vernommen, daß sie die Wärme, den Puls seines Lebens, gespürt hätte. Niemand war hier. Sie richtete sich voll auf und lauschte. Wo war er hingegangen?

Die Dunkelheit legte sich ihr wie eine Binde über die Augen. Der Anblick des Untergrabes hatte sie verstört, sie war verwirrt. Sie kannte das Gewölbe nur durchs Gehör, durch den Tastsinn, von den schwachen Luftströmungen des Riesenraumes, der ein Geheimnis war und dem Auge für immer verschlossen bleiben sollte. Und sie hatte ihn gesehen! Das Geheimnis war gelüftet und kein Entsetzen offenbarte sich ihr, sondern eine überwältigende Schönheit, ein Geheimnis, das tiefer war als die Dunkelheit selbst.

Langsam bewegte sie sich jetzt vorwärts, sie war unsicher, und ihre Gedanken überstürzten sich. Sie tastete nach links, den zweiten Eingang suchend, den Gang, der ins Labyrinth führte. Hier blieb sie stehen und lauschte.

Ihr Gehör sagte ihr nicht mehr als ihre Augen. Aber als sie regungslos stand, mit ausgestreckten Händen den Eingang links und rechts berührend, fühlte sie ein schwaches, fast unmerkliches Vibrieren im Fels, und die kalte, verbrauchte Luft enthielt etwas, das ihr fremd war, das nicht hierhergehörte: den Geruch von wildem Salbei, der auf den Hügeln der Wüste wuchs, über ihr, unter dem freien, offenen Himmel.

Langsam und lautlos schlich sie vorwärts, ihrer Nase folgend.

Nach ungefähr hundert Schritten hörte sie ihn. Er war fast so lautlos wie sie, aber er bewegte sich nicht so sicher in der Dunkelheit, mit der sie vertraut war. Sie hörte ein ganz schwaches Schürfen, so als ob er sich an dem unebenen Boden gestoßen und sofort wieder gefangen hätte. Sonst vernahm sie nichts. Sie wartete eine Weile, dann ging sie langsam weiter, mit den rechten Fingerspitzen leicht die Wand berührend. Endlich spürte sie den gerundeten Metallstreifen unter den Füßen. Hier hielt sie inne und tastete den Metallstreifen hoch, streckte sich, so weit sie konnte, bis sie einen Griff zu fassen bekam, der aus dem Metall herausragte. Diesen hielt sie fest und zog ihn, plötzlich, mit ihrer ganzen Kraft nach unten.

Ein furchtbares Rasseln ertönte, dann ein dumpfer Schlag. Blaue Funken fielen um sie nieder. Echos verhallten streitend im Gang hinter ihr. Sie streckte ihre Hände aus und fühlte, nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt, die beschlagene Oberfläche einer eisernen Tür.

Sie atmete tief aus.

Langsam folgte sie dem Gang, der zum Untergrab führte, und sich rechts haltend, kehrte sie zur Falltür hinter dem Thronsaal zurück. Sie beeilte sich nicht und ging leise, obwohl es nicht mehr nötig war, still zu sein. Sie hatte ihren Dieb gefangen. Die Tür, durch die er geschritten war, war die einzige, die ins Labyrinth hinein- und aus ihm herausführte. Und sie konnte nur von außen geöffnet werden.

Jetzt war er dort unten, in der Dunkelheit unter der Erde, und er würde nie mehr herauskommen.

Aufrecht und gelassen schritt sie am Thron vorbei und die lange, von Säulen flankierte Halle hinunter. Dort, wo sich auf einem hohen Dreifuß eine Bronzeschale voll glühender Kohle befand, wandte sie sich um und näherte sich den sieben Stufen, die zum Thron hinaufführten.

Auf der niedersten Stufe kniete sie nieder und berührte mit ihrer Stirn den kalten, staubigen Stein, der von Mäuseknochen übersät war, die die Eulen hatten fallen lassen.

»Vergebt mir, daß ich Zeuge war, wie Eure Dunkelheit zerstört wurde«, flehte sie, ohne die Worte laut zu sprechen. »Vergebt mir, daß ich Zeuge war, wie Eure Gräber geschändet wurden. Ihr werdet gerächt werden. Oh, meine Gebieter, der Tod wird ihn Euch übergeben, und er wird niemals wiedergeboren!«

Doch noch während sie betete, sah sie vor ihrem geistigen Auge den herrlich schimmernden Glanz des leuchtenden Gewölbes, sah Leben an der Stätte des Todes, und anstatt Furcht wegen der Schändung und Zorn gegen den Verbrecher zu verspüren, mußte sie immer wieder daran denken, wie seltsam es war, wie seltsam …

»Was soll ich nun Kossil sagen?« fragte sie sich, als sie in den Wintersturm hinaus trat und ihren Umhang fester um die Schultern zog. »Nichts. Noch nichts. Ich bin die Herrin des Labyrinths. Das geht den Gottkönig nichts an. Vielleicht werde ich es ihr sagen, wenn der Dieb tot ist. Wie werde ich ihn töten? Ich sollte Kossil mitbringen und zuschauen lassen, wie er stirbt. Sie hat den Tod ja gern. Was hat er nur gesucht? Er muß wahnsinnig sein. Wie kam er nur hinein? Kossil und ich sind die einzigen, die einen Schlüssel für die Tür zwischen den roten Felsen und die Falltür besitzen. Er muß aber durch die Felsentür gekommen sein. Nur ein Hexenmeister kann die öffnen. Ein Hexenmeister …?«

Sie erstarrte, obwohl der Wind sie fast umriß.

»Er ist ein Hexenmeister, ein Zauberer aus den Innenländern, der das Amulett von Erreth-Akbe sucht.«

Und dieser Gedanke war von solch einer unheimlichen Faszination, daß ihr trotz des eisigen Windes ganz warm wurde und sie laut auflachte. Die Stätte und die Wüste, die sie umgab, waren schwarz und still; der Wind heulte; kein Licht brannte im Großhaus; feiner, fast unsichtbarer Schnee trieb an ihr vorbei.

»Wenn er die rote Felsentür aufgemacht hat, dann kann er auch andere Türen öffnen. Er kann entfliehen.«

Der Gedanke rieselte ihr kalt durch die Glieder, aber er überzeugte sie nicht. Die Namenlosen hatten ihn eintreten lassen. Warum auch nicht? Er konnte kein Unheil anrichten. Welche Gefahr stellte ein Dieb dar, der die Stätte seines Verbrechens nicht verlassen konnte? Gewiß, er besaß die Macht, Zauber und Schwarze Magie zu wirken, und groß mußte seine Macht sein, denn er war weit gekommen. Aber weiter kam er nicht. Keine Zauberei eines Sterblichen konnte sich mit dem Willen der Namenlosen messen, mit denen, die in den Gräbern gegenwärtig waren, mit den Herrschern, deren Thron leer stand.

Um sich dessen zu vergewissern, eilte sie zum Kleinhaus hinunter. Manan war eingeschlafen auf der Veranda. Er hatte sich in seinen Umhang und in die alte Pelzdecke gehüllt, die ihm als Winterbett diente. Sie trat leise ein, um ihn nicht aufzuwecken, und zündete keine Lampe an. Sie öffnete einen kleinen, verschlossenen Raum, nicht viel größer als ein Schrank, am Ende des Flurs. Dort schlug sie einen Funken, gerade lang genug, um eine gewisse Stelle am Boden zu finden, und sich niederkniend löste sie eine Kachel vom Boden.

Ein kleines Stück grobes, schmutziges Gewebe, nur ein paar Zentimeter groß, lag unter ihren Fingern. Das schob sie lautlos zur Seite. Sie fuhr zurück, denn ein Lichtstrahl drang herauf, fiel ihr direkt ins Gesicht.

Sie faßte sich und schaute dann, ganz vorsichtig, durch die Öffnung. Sie hatte vergessen, daß er dieses seltsame Licht am Ende seines Stabes hatte. Sie hatte höchstens erwartet, daß sie ihn dort unten in der Dunkelheit hören würde. Das Licht hatte sie vergessen, aber er stand dort, wo sie ihn erwartet hatte: direkt unter dem Guckloch, an der Eisentür, die den Ausgang aus dem Labyrinth versperrte.

Da stand er, eine Hand leicht in die Hüfte gestemmt, mit der anderen, von sich weggestreckt, hielt er den hölzernen Stab, der so groß wie er selbst war und an dessen Spitze dieses kleine, magische Lichtlein schwebte. Sein Kopf, auf den sie aus zwei Metern Höhe herabschaute, war etwas zur Seite geneigt. Seine Kleidung war nicht anders als die eines Winterreisenden oder Pilgers, ein kurzer, warmer Umhang, ein Lederwams, Strümpfe aus Wolle und geschnürte Sandalen. Auf dem Rücken trug er einen kleinen Ranzen, an dem eine Wasserflasche baumelte, an der Seite ein Messer, das in einer Scheide steckte. Er stand regungslos da, wie eine Statue, aber entspannt und nachdenklich.

Langsam hob er seinen Stab und hielt das helle Ende gegen die Tür, die Arha von ihrem Guckloch aus nicht sehen konnte. Das Licht veränderte sich, wurde kleiner und schien in durchdringender Helle. Die Sprache, die sie vernahm, kam Arha seltsam vor, doch noch seltsamer berührte sie die tiefe, wohlklingende Stimme.

Das Licht am Stab veränderte sich wieder, flackerte und wurde schwächer. Im nächsten Augenblick war es erloschen, und sie konnte ihn nicht mehr sehen.

Jetzt erschien wieder das schwache, violette, gleichmäßige Moorlicht, und sie sah, wie er sich von der Tür abwandte. Sein Öffnungszauber hatte versagt. Die Mächte, die das Schloß dieser Tür festhielten, waren stärker als alle Magie, über die er verfügte.

Er schaute sich um und schien zu denken, was nun?

Der Gang oder Flur, in dem er stand, war ungefähr eineinhalb Meter breit. Die Decke war ungefähr vier bis fünf Meter hoch über dem Boden. Die Wände waren aus behauenem Stein, aber ohne Zement gefügt, doch so sorgfältig und dicht gelegt, daß man kaum eine Messerspitze in die Fugen stecken konnte. Die Steine traten, je höher die Wand sich erstreckte, immer weiter heraus und formten eine Art Rundbogen.

Sonst war nichts zu sehen.

Er bewegte sich vorwärts. Ein Schritt ließ ihn bereits aus Arhas Blickfeld entschwinden. Das Licht verlor sich. Sie war gerade im Begriff, das Gewebe wieder zurückzuziehen und die Kachel an ihren Platz zu rücken, als der gedämpfte Lichtstrahl wieder herauffiel. Er war zur Tür zurückgekehrt. Vielleicht war ihm zu Bewußtsein gekommen, daß er die Tür, nachdem er sich ins Labyrinth begeben hatte, wohl schwerlich wieder erreichen würde.

Er sprach nur ein einziges Wort, und seine Stimme klang gedämpft: »Emenn«, sagte er, und noch einmal, lauter: »Emenn!« Die eiserne Tür schüttelte sich knirschend in ihren Angeln, und dunkle Echos hallten den rundgewölbten Gang hinunter wie Donner. Es kam Arha vor, als zittere der Boden unter ihren Füßen.

Aber die Tür blieb verschlossen.

Er lachte kurz auf, wie ein Mann, der sich überlegt: »Wie konnte ich nur so dumm sein!« Er schaute sich noch einmal um, und als er aufblickte, sah Arha noch ein Lächeln auf dem dunklen Gesicht. Dann setzte er sich auf den Boden, nahm seinen Ranzen ab, holte ein trockenes Stück Brot heraus und begann daran zu kauen. Er machte seine Wasserflasche aus Leder auf und schüttelte sie. Sie sah leicht aus in seiner Hand, so als ob sie nahezu leer wäre. Er verschloß sie wieder, ohne zu trinken. Er legte den Ranzen hinter sich nieder. Den Stab hielt er in seiner rechten Hand. Als er sich hinlegte, löste sich das kleine Flämmchen von seinem Stab, schwebte hoch und hing als ein schwach leuchtender Lichtball hinter seinem Kopf, etwa einen halben Meter über dem Boden. Seine linke Hand lag auf der Brust und hielt etwas fest, das an einer schweren Kette um seinen Hals hing. Er lag ganz entspannt da, seine Füße waren verschränkt. Sein Blick glitt am Guckloch vorbei. Er seufzte und schloß die Augen. Das Licht wurde schwächer. Er schlief ein.

Die geballte Hand auf seiner Brust entspannte sich und fiel herunter. Die Beobachterin am Guckloch sah den Talisman, den er an der Kette trug: ein kleines, einfaches Metallstück, das aussah, als sei es halbrund geformt.

Das Glühlicht wurde schwächer und erlosch. Er lag in der Stille und Dunkelheit.

Arha zog das Gewebe über das Loch zurück und paßte die Kachel wieder ein, erhob sich vorsichtig und schlüpfte in ihr Zimmer. Dort lag sie lange wach in der vom Brausen des Windes erfüllten Dunkelheit. Immer wieder trat der strahlende Glanz des kristallenen Gewölbes, das sie im Haus des Todes gesehen hatte, vor ihre Augen, das gedämpfte Licht, das nichts verbrannte, die Steine, die die Wand des Gangs bildeten, und das friedliche Gesicht des schlafenden jungen Mannes.

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