Als sie älter wurde, verlor sie alle Erinnerung an ihre Mutter, doch sie war sich nicht bewußt, daß sie die Erinnerung verlor. Sie gehörte hierher an diese Gräberstätte, sie kannte nichts anderes als diese Gräberstätte. Nur manchmal, an den langen Juliabenden, wenn sie die Berge betrachtete, die sich so trocken und löwenfarben im Westen erhoben und nach dem Sonnenuntergang noch kurz aufglühten, dann erinnerte sie sich an ein Feuer, das einmal, lange war es schon her, in einem Herd in der gleichen Farbe gebrannt hatte. Und daran knüpfte sich die Erinnerung an Arme, die sie gehalten hatten, und das kam ihr seltsam vor, denn hier wurde sie fast nie berührt. Mit der Erinnerung kam der Duft frisch gewaschener Haare, die in Salbeiwasser gespült worden waren, langer, blonder Haare, hell wie der Sonnenuntergang und glänzend wie das Feuerlicht. Das war alles, was ihr verblieben war.
Natürlich wußte sie mehr als nur diese spärlichen Bilder, denn man hatte ihr die ganze Geschichte erzählt. Als sie sieben oder acht Jahre alt war und zum ersten Mal wissen wollte, wer nun eigentlich diese Person, die sie »Arha« nannten, war, ging sie zu dem, der für sie sorgte, dem Wärter Manan, und sagte zu ihm: »Erzähl mir, wie man mich gewählt hatte, Manan!«
»Ach, das weißt du doch, Kleines!« Er hatte recht, natürlich wußte sie es. Die große Priesterin Thar hatte es ihr so oft mit ihrer trockenen Stimme vorgesprochen, daß sie die Worte auswendig kannte, und sie begann es vorzutragen: »Ja, ich weiß. Nach dem Tode der Einen Priesterin der Gräber von Atuan wird das Zeremoniell der Beerdigung und der Reinigung innerhalb eines Monats, dem Kalender des Mondes folgend, abgehalten. Danach begeben sich bestimmte Priesterinnen und Aufseher der Gräberstätte in die Wüste und gehen in die Städte und Dörfer von Atuan, suchend und fragend. Sie forschen nach einem kleinen Mädchen, das in dergleichen Nacht, in der die Priesterin verschied, geboren wurde. Haben sie ein Kind gefunden, so warten sie und beobachten es. Das Kind muß geistig und körperlich gesund sein, darf nicht Rachitis oder Pocken gehabt haben noch irgendeine mißliche Körperbildung aufweisen; es darf auch nicht blind sein. Wenn es fünf Jahre alt geworden ist und bis dahin keinen Schaden erlitten hat, dann weiß man, daß der Körper dieses Kindes wahrhaftig der neue Körper der Priesterin ist, die gestorben war. Und die Existenz des Kindes wird dem Gottkönig zu Awabad zur Kenntnis gebracht, und es wird hierhergeholt und ein Jahr lang unterrichtet. Und am Ende dieses Jahres wird es in die Thronhalle geführt, und sein Name wird von ihm genommen und denen zurückgegeben, die seine Meister sind, den Namenlosen: denn es ist wahrlich die Namenlose, die Priesterin, die ewig wiederkehrt.«
Das war, Wort für Wort, was ihr Thar erzählt hatte, und nie hatte sie gewagt, weitere Fragen zu stellen. Die hagere Priesterin war nicht grausam, aber sie war kalt und lebte nach ehernen Gesetzen. Arha hatte Angst vor ihr. Aber vor Manan fürchtete sie sich nicht, ganz im Gegenteil, ihm konnte sie gebieten: »Jetzt erzähl mir, wie Ich gewählt wurde!« Und dann wiederholte Manan die Geschichte, die er ihr schon so oft erzählt hatte.
»Am dritten Tage nach dem Neumond sind wir von hier weggegangen und haben uns nach Osten und Westen gewandt. Die letzte Arha war nämlich am dritten Tag nach dem Neumond, vor einem Monat also, gestorben. Zuerst gingen wir nach Tenakbah, das ist eine große Stadt, obgleich diejenigen, die beide Städte kennen, sagen, daß sie nicht größer als ein Floh zu einem Rind sei, wenn man sie mit Awabad vergleicht. Aber mir ist Tenakbah groß genug, es muß dort tausend Häuser geben! Von dort gingen wir nach Gar. Aber niemand in diesen Städten hatte ein kleines Mädchen, das vor einem Monat, am dritten Tag nach dem Neumond, geboren war. Einige hatten Jungen, aber Jungen kommen nicht in Frage … Dann gingen wir in das Bergland nördlich von Gar, in die Städte und Dörfer, die dort liegen. Ich komme von dort her, dort in den Bergen bin ich geboren. Es gibt dort Flüsse, und das Land ist grün, ganz anders als diese Wüste hier.« Immer, wenn er an diese Stelle kam, lag in Manans heiserer Stimme ein seltsamer Unterton, und er machte eine Pause und fuhr dann fort: »Und dann suchten wir alle Eltern auf, die Säuglinge hatten, die im vergangenen Monat geboren wurden. Manche logen uns an. ›O ja, unser kleines Mädchen ist drei Tage nach dem Neumond auf die Welt gekommen!‹ Denn, weißt du, arme Leute werden ihre kleinen Mädchen gerne los. Andere wiederum, die in den einsamen Hütten zwischen den Bergen wohnten, waren so arm, daß sie die Tage nicht zählten und kaum wußten, in welchem Monat sie lebten. Die wußten natürlich nicht genau, wie alt ihr Kind war. Aber wir haben letzten Endes immer die Wahrheit herausgefunden, wir mußten nur lange genug fragen. Es war manchmal mühsam. Schließlich fanden wir ein kleines Mädchen, in einem Dorf von nicht mehr als zehn Häusern, das an den Obstfeldern westlich von Entat lag. Es war acht Monate alt. So lange waren wir schon unterwegs. Es war in der Nacht geboren, in der die Priesterin verschieden war, und dazu noch zur Stunde ihres Todes. Das Kind sah gut aus, aufrecht saß es auf den Knien seiner Mutter und blickte uns alle aufmerksam an. Wir hatten uns alle in den einzigen Raum der Hütte gedrängt, wie Fledermäuse in eine Höhle! Der Vater war arm. Er versorgte die Apfelbäume auf den Feldern der Reichen, und außer seinen fünf Kindern und einer Ziege gehörte ihm nichts. Selbst das Haus war nicht sein eigenes. Da standen wir nun alle, zusammengepfercht, und man merkte am Tuscheln der Priesterinnen und an den Blicken, die sie auf das Kind warfen, daß sie glaubten, die Wiedergeborene endlich gefunden zu haben. Auch die Mutter merkte es. Sie hielt das Kind nur fester in ihren Armen und sagte kein Wort. Na, und am nächsten Tag kamen wir zurück. Und da schau her! Das kleine Mädchen mit seinen munteren Augen lag in seinem Bettchen auf Stroh und schrie und weinte, und ihr Körper war mit roten Fieberflecken bedeckt, und die Mutter rang die Hände und weinte lauter als das Kind: »O weh! O weh! Mein Kind hat die Hexenfinger!« So nannte sie die Krankheit, die man sonst als die Pocken bezeichnet. In meinem Dorf sagen sie auch Hexenfinger dazu. Aber Kossil, die jetzt Hohepriesterin beim Gottkönig ist, ging an das Bett und hob das Kind in die Höhe. Wir anderen waren alle zurückgewichen, ich auch. Mein Leben gilt mir ja nicht viel, aber wer betritt schon gern ein Haus, in dem die Pocken umgehen? Kossil hob das Kind in die Höhe und sagte: ›Sie hat kein Fieber.‹ Und dann spuckte sie auf ihren Finger und rieb an einer roten Stelle herum, bis sie verschwand. Es war nichts als Beerensaft. Die arme, dumme Mutter hatte geglaubt, daß sie uns an der Nase herumführen könne, um ihr Kind zu behalten!« Manan schüttelte sich vor Lachen, sein gelbes Gesicht veränderte sich kaum, aber er hielt sich die Seiten. »Ihr Mann hat sie dann geschlagen, denn er fürchtete den Zorn der Priesterinnen. Und dann sind wir wieder in die Wüste hierher zurückgekehrt, aber jedes Jahr ging einer von der Stätte in das Dorf zurück, das zwischen den Feldern voll Apfelbäumen lag, um zu sehen, wie sich das Kind entwickelte. So vergingen fünf Jahre, und dann machten sich Thar und Kossil auf, von den Tempelgarden und den Soldaten im roten Helm begleitet, die vom Gottkönig gesandt wurden, um das Mädchen sicher zurückzubringen. Sie brachten das Kind hierher, denn es war wirklich die Priesterin und sie gehörte hierher an die Gräberstätte. Und wer war das Kind, eh, Kleines?«
»Ich«, sagte Arha und schaute in die Ferne, als wolle sie etwas sehen, das nicht mehr da war, etwas, das nicht mehr sichtbar war.
Einmal fragte sie: »Was hat denn die … die Mutter getan, als sie kamen, um das Kind wegzunehmen?«
Manan wußte es nicht, er hatte die Priesterinnen auf dieser letzten Fahrt nicht begleitet.
Und sie konnte sich nicht mehr daran erinnern. Was nützte es auch, sich daran zu erinnern? Es war vorbei, all das war vorbei. Sie war dort angekommen, wo sie ankommen mußte. So war es vorherbestimmt. Von der ganzen Welt kannte sie nur diesen einen Ort: die Stätte, wo sich die Gräber von Atuan befanden.
Während des ersten Jahres wohnte sie mit den anderen Mädchen, die im Alter zwischen vier und vierzehn waren, in dem großen Schlafsaal. Aber selbst dort wurde Manan von den anderen zehn Wärtern getrennt und dazu bestimmt, nur für sie allein zu sorgen, und ihr kleines Bett wurde in einer Nische aufgestellt, die etwas abseits lag in dem langgezogenen Schlafsaal mit den mächtigen, niedrigen Deckenbalken, der ein Teil des Großhauses war, wo die Mädchen kicherten und flüsterten, bevor sie einschliefen, wo sie gähnten und sich gegenseitig die Haare flochten im grauen Licht der Morgendämmerung. Aber nachdem man ihr den Namen weggenommen hatte, und sie Arha wurde, schlief sie allein in dem Kleinhaus, in dem Bett und in dem Zimmer, das sie bis ans Ende ihrer Tage innehaben würde. Das Haus gehörte ihr allein, es war das Haus der Einen Priesterin, und niemand durfte es ohne ihre Erlaubnis betreten. Als sie noch klein war, gefiel es ihr, wenn Leute demütig anklopften und sie dann sagen konnte: »Treten Sie ein!«, und es ärgerte sie, daß die beiden Hohepriesterinnen Kossil und Thar eintraten, ohne anzuklopfen, denn die sahen es als selbstverständlich an, daß sie das Recht dazu hatten.
So vergingen die Tage und die Jahre und alle waren sich ähnlich. Die Mädchen der Gräberstätte hatten Unterricht oder sie mußten sich in irgendeiner Geschicklichkeit üben. Spielen durften sie fast nie. Sie hatten auch keine Zeit dazu. Sie lernten die sakralen Lieder und Tänze, die Geschichte des Kargadreiches und die Mysterien des Gottes, dem sie geweiht waren: das konnte der Gottkönig sein, der über Awabad herrschte, oder die Zwillingsbrüder Atwah und Wuluah. Arha allein lernte die Mysterien der Namenlosen, und nur ein Mensch konnte sie die lehren: die Hohepriesterin Thar, die den Zwillingsgöttern diente. Täglich verbrachte sie eine Stunde mit ihr, manchmal dauerte es auch länger, aber den Rest des Tages war sie mit den anderen Mädchen beisammen und mußte arbeiten. Mit ihnen zusammen mußte sie lernen, Schafwolle zu spinnen und zu weben, Linsen, Buchweizen, grobgemahlen für Grütze und feingemahlen für ungesäuertes Brot, Zwiebeln und Kohl anzupflanzen, zu ernten und zuzubereiten, Ziegenkäse herzustellen, Honig zu sammeln und Äpfel zu verwerten.
Das Schönste und Begehrteste war die Erlaubnis, angeln gehen zu dürfen in dem trüben, grünen Fluß, der eine halbe Meile nordöstlich der Stätte durch die Wüste floß. Dort den ganzen Tag in der Sonne zu sitzen, mit einem Apfel und einem Buchweizenkuchen, und dem Sonnenlicht im Schilf zuzuschauen und den langsam dahinfließenden grünen Fluß zu beobachten und die Wolkenschatten an den Bergen, wie sie sich langsam veränderten, war das höchste Vergnügen, das sie kannte. Aber wenn man aufschrie vor Aufregung, wenn die Schnur sich spannte und man einen flachen, glitzernden Fisch aus dem Wasser schwang und ihn ans Ufer warf, damit er in der Luft ersticke, dann zischelte Mebbeth wie eine Natter: »Sei ruhig, du dumme Kröte!« Mebbeth, die im Tempel des Gottkönigs diente, war dunkelhaarig und dunkelhäutig und noch ziemlich jung, aber im Wesen war sie so hart wie Obsidian. Angeln tat sie mit Leidenschaft. Mit ihr mußte man sich gut stellen und nie einen Laut von sich geben, sonst wurde man nie mehr mit zum Angeln genommen, und man sah den Fluß nur noch im Sommer, wenn das Wasser der Brunnen so niedrig stand, daß man das Wasser aus dem Fluß schöpfen mußte. Das war eine mühselige Arbeit, dieses Wasserholen! Eine halbe Meile mußte man durch die weißglühende Hitze hinunter zum Fluß trotten, dort die beiden Eimer an der Tragstange füllen, und dann so schnell es ging wieder hinauf zur Stätte eilen. Die ersten hundert Schritte waren einfach, dann aber wurden die Eimer immer schwerer und die Stange drückte und brannte wie ein glühender Stab auf den Schultern, und das weiße heiße Licht wurde von der kahlen Straße zurückgeworfen und mit jedem Schritt wurde es mühseliger. Endlich, wenn man den kühlenden Schatten des Hofes hinter dem Großhaus erreicht hatte, wo sich der Gemüsegarten befand, konnte man die beiden Eimer in die Zisterne schütten, daß das Wasser aufspritzte, nur um sich dann wieder umzuwenden und alles noch einmal zu wiederholen, und noch einmal, und noch einmal.
Innerhalb der Stätte — es bedurfte keines anderen Namens, denn es war die älteste und heiligste aller Gräberstätten in den vier kargischen Ländern — wohnten ein paar hundert Menschen. Es gab einige Gebäude: drei Tempel, das Großhaus, das Kleinhaus, das Quartier für die Eunuchen, und gleich außerhalb der Mauer die Baracken der Posten und die zahlreichen Sklavenhütten, die Lagerschuppen, die Pferche für die Schafe und Ziegen und die Scheunen. Von weitem, von den dürren Hügeln im Westen aus, auf denen nur Salbei, Büschel von Stachelgras, unscheinbares Unkraut und einige andere Kräuter wuchsen, sah es wie eine kleine Stadt aus. Selbst von den Ebenen im Osten aus konnte man, hinaufschauend, das Golddach des Tempels der Brüdergötter sehen, das unten am Berg funkelte und glänzte wie ein glitzerndes Körnchen im Felsgestein.
Der Tempel selbst war ein viereckiger, fensterloser Würfel aus Stein, weiß verputzt, mit einer niedrigen Veranda und einer kleinen Tür. Eindrucksvoller und Hunderte von Jahren jünger war der etwas unterhalb davon errichtete Tempel des Gottkönigs. Er hatte ein großes Portal mit mächtigen weißen Säulen, deren Kapitelle bemalt waren — jede Säule war aus dem Stamm einer einzigen Zeder geschnitzt, die per Schiff von Hur-at- Hur hergebracht und von zwanzig Sklaven unter großen Anstrengungen über die ausgedorrte Ebene an die Stätte geschleppt worden waren. Ein Reisender, der sich vom Osten der Stätte näherte, würde erst das Golddach und die hellglänzenden Säulen wahrnehmen, bevor er, weiter oben, den ältesten Tempel seiner Rasse sah: das riesige, niedrige Bauwerk, das die Thronhalle darstellte, deren Wände geflickt und zerbröckelt waren, und deren Kuppel verfiel.
Hinter diesem Gebäude und entlang dem Bergkamm zog sich eine wuchtige Steinmauer hin, die einst mit Mörtel gebaut und jetzt an vielen Stellen beschädigt war. Innerhalb des Halbkreises, den die Mauer beschrieb, befanden sich einige schwarze Steine, ungefähr sechs bis sieben Meter lang, die sich wie riesige Finger aus der Erde hochreckten. Wenn das Auge die Steine einmal wahrgenommen hatte, so wandte es sich ihnen unwillkürlich immer wieder zu. Daß sie nicht zufällig dort standen, sondern eine Bedeutung hatten, war offensichtlich. Doch was sie bedeuteten, wußte niemand mehr. Neun Steine waren es insgesamt. Einer stand kerzengerade, die andern neigten sich etwas, zwei lagen auf der Erde. Sie waren mit grauen und orangefarbenen Flechten überzogen, und es sah aus, als seien sie mit Farbe verspritzt. Nur einer war frei davon, er war nackt und schwarz, und wenn man ihn anfaßte, spürte man, wie glatt er war. An den anderen konnte man unter den Flechten unbestimmte Reliefs sehen oder mit den Fingern fühlen — unbekannte Figuren und Formen. Diese neun Steine waren die Gräber von Atuan. Es wird behauptet, daß sie schon standen, als der erste Mensch auf der Welt erschien, und bevor die Erdsee erschaffen wurde. In der Dunkelheit waren sie aufgestellt worden, als die Länder aus der Tiefe des Meeres emporgehoben wurden. Sie waren älter als die Gottkönige von Kargad, älter als die Zwillingsgötter, älter als das Licht. Sie waren Gräber von denjenigen, die herrschten, bevor die Welt der Menschen erschaffen wurde, von denjenigen, die keine Namen hatten, und wer ihnen diente, hatte ebenfalls keinen Namen.
Arha ging nicht oft dorthin. Außer ihr setzte niemand den Fuß auf den Boden, wo die Steine standen, dort auf dem Berg, innerhalb der Mauer, hinter der Thronhalle. Zweimal im Jahr, beim Vollmond, der der Frühlings- und Herbst-Tagundnachtgleiche am nächsten lag, wurde vor dem Thron ein Opfer dargebracht, und Arha trat aus der Hintertür mit einer Schüssel voll dampfendem Ziegenblut. Dies mußte sie ausgießen, die Hälfte ans Fundament des aufrecht stehenden Steines, den Rest über einen der umgefallenen Steine, der halb im Boden vergraben lag und von dem vergossenen Blut von Jahrhunderten befleckt war.
Manchmal ging Arha ganz allein im frühen Morgenlicht hinauf zu den Steinen und versuchte herauszufinden, was die undeutlichen Erhöhungen und Vertiefungen der Skulpturen darstellten, die im Licht der fast waagrecht fallenden Strahlen der Morgensonne schärfer hervortraten. Manchmal aber saß sie auch nur und schaute hinüber zu den Bergen im Westen und hinunter auf die Dächer und Mauern der Stätte, die sich zu ihren Füßen erstreckte, und sie beobachtete, wie sich allmählich alles um das Großhaus und die Baracken herum zu regen begann, und wie die Schaf- und Ziegenherden ihren spärlichen Weiden beim Fluß zustrebten. Bei den Steinen gab es nichts zu tun. Sie kam nur hierher, weil sie allein nur hierherkommen durfte, und weil sie hier allein sein konnte. Es war im Grunde genommen ein abschreckender Ort. Selbst in der mittäglichen Hitze der Wüste war es kalt hier. Manchmal hörte man den Wind schwach pfeifen, wenn er zwischen den beiden Steinen durchblies, die nebeneinander standen und sich aneinanderlehnten, als hätten sie sich ein Geheimnis zuzuflüstern. Aber es wurden keine Geheimnisse erzählt.
Von der Gräbermauer zweigte eine andere, niedrigere Mauer ab, die einen weiten, ungleichmäßigen Halbkreis um den Hügel der Stätte beschrieb und sich dann nördlich, gegen den Fluß hin, verlor. Diese Mauer schien weniger um des Schutzes willen errichtet, eher um die Stätte in zwei Teile zu trennen. Auf der einen Seite standen die Häuser der Priesterinnen und Eunuchen, auf der anderen befanden sich die Quartiere der Posten und die Hütten der Sklaven, die das Land für die Stätte bebauten, die Herden hüteten und für Futter sorgten. Keiner, der dort wohnte, kam je auf die andere Seite der Mauer, nur an ganz heiligen Festtagen wohnten die Tamboure und Hornisten den Prozessionen der Priesterinnen bei, aber durch die Portale der Tempel traten sie nie. Kein anderer Mann setzte je seinen Fuß auf den inneren Bereich der Stätte. Vor Zeiten wurden Pilger, Könige und Häuptlinge aus den vier Ländern hier empfangen, die hier sakrale Zeremonien verrichteten. Vor 150 Jahren war der erste Gottkönig hierhergekommen, um das Ritual seiner eigenen Tempeleinweihung zu zelebrieren. Doch selbst er konnte nicht zu den Grabsteinen gehen, selbst er mußte außerhalb der Stätte essen und schlafen.
Die Mauer war leicht zu erklettern. Man mußte sich nur mit seinen Zehen an den verschiedenen Vorsprüngen und Vertiefungen festhalten. Die Verzehrte und ein Mädchen, das Penthe hieß, saßen eines Nachmittags im späten Frühling auf der Mauer. Beide waren zwölf Jahre alt. Eigentlich sollten sie im Websaal des Großhauses, einem riesigen, aus Stein gebauten Speicherraum, sein, und dort an den großen, mit schwarzen Kettfäden bespannten Webstühlen schwarzwollene Tücher für Priesterinnengewänder weben. Sie waren hinausgeschlüpft, um am Brunnen im Hof Wasser zu trinken, und dann hatte Arha gesagt: »Komm!«, und hatte das andere Mädchen den Hügel hinunter, um das Großhaus herum, und außer Sichtweite zu der Mauer geführt. Jetzt saßen sie oben auf der Mauer und ließen ihre nackten Beine auf der anderen Seite hinunterhängen. Sie blickten über die endlose Ebene im Osten und im Norden.
»Ich würde gerne das Meer wiedersehen«, sagte Penthe.
»Wozu?« fragte Arha und kaute an dem sauren Stengel einer Milchblume, die sie von der Mauer gepflückt hatte. Das unfruchtbare Land hatte gerade die Blütezeit hinter sich. Die kleinen Blumen der Wüste, die rot, weiß und gelb kurze Zeit nahe am Boden geblüht hatten, waren verwelkt und überließen ihren feder- und schirmförmigen Samen dem Wind, um sich dann geschickt irgendwo festzuhaken. Unter den Apfelbäumen lagen Berge roter und weißer zerdrückter Blüten. Die Zweige aber waren grün, und es war das einzige Grün, das meilenweit um die Stätte herum zu finden war. Alles andere, von einem Horizont bis zum anderen, hatte die stumpfe, ockergelbe Farbe der Wüste, nur über den Bergen hing ein silberblauer Ton, der von dem blühenden Salbei herrührte.
»Oh, ich weiß nicht, wozu. Ich würde nur ganz gerne etwas anderes sehen. Hier ist alles so gleich. Nichts passiert.«
»Alles was geschieht, nimmt hier seinen Anfang«, sagte Arha.
»Ich weiß …, aber ich würde trotzdem gerne etwas geschehen sehen!«
Penthe lächelte. Sie war ein sanftes, zufriedenes Mädchen. Sie schwieg, während sie die Sohlen ihrer nackten Füße an dem sonnenwarmen Stein rieb. Schließlich sagte sie: »Weißt du, ich habe am Meer gewohnt, als ich klein war. Unser Dorf lag direkt hinter den Dünen, und manchmal gingen wir hinunter und spielten am Strand. Einmal, daran erinnere ich mich noch ganz deutlich, sahen wir eine ganze Flotte von Schiffen vorbeiziehen. Die Schiffe sahen aus wie Drachen mit roten Flügeln. Manche hatten richtige Hälse mit Drachenköpfen drauf. Sie sind an Atuan vorbeigesegelt, aber es waren keine kargischen Schiffe. Sie kamen aus dem Westen, aus den Innenländern, hat unser Dorfältester behauptet. Alle Leute kamen heruntergelaufen und haben ihnen nachgeschaut. Ich glaube, sie hatten Angst, daß die Schiffe landen könnten. Aber sie fuhren nur vorbei, niemand wußte, wohin sie zogen. Vielleicht nach Karego-At, um Krieg zu führen! Aber stell dir vor, die Schiffe kamen von den Inseln der Zauberer, wo alle Leute erdfarben sind und dich in Bann schlagen können, ohne viel Umstände zu machen!«
»Nicht m ich«, brauste Arha auf. »Ich hätte ihnen auch nicht nachgeschaut. Das sind schmutzige, verwerfliche Zauberer. Wie können die es wagen, so nahe an den Heiligen Ländern vorbeizusegeln?«
»Na ja, ich nehme ja an, daß der Gottkönig sie eines Tages besiegen und Sklaven aus ihnen machen wird. Aber ich wollte, ich könnte das Meer wiedersehen. In den kleinen Wattentümpeln gab es winzige Kraken, und wenn man ›Bah!‹ schrie, dann wurden sie ganz weiß. — Dort kommt der alte Manan und sucht dich.«
Arhas Beschützer und Diener watschelte langsam an der inneren Seite der Mauer entlang. Ab und zu hielt er an, zupfte eine wilde Zwiebel aus dem Boden und tat sie zu dem schlaffen Bündel, das er in der Hand hielt. Er ließ seine kleinen, braunen, glanzlosen Augen umherwandern. Mit den Jahren war er noch dicker geworden, und seine unbehaarte, gelbe Haut glänzte in der Sonne.
»Rutsch auf der Männerseite halb herunter!« zischte Arha, und beide glitten so behende wie Eidechsen auf der anderen Seite der Mauer hinunter, bis sie von der Innenseite nicht mehr sichtbar waren. Sie hörten Manans langsame Schritte näherkommen.
»Kuckuck, Kartoffelkopf!« höhnte Arha leise, nicht viel lauter als der Wind, der durch das Gras strich.
Der schwere Schritt kam zum Stillstand. »Hallo, ist da jemand?« hörte man eine unsichere Stimme. »Kleines, bist du es? Arha?«
Alles blieb stumm.
Manan setzte sich wieder in Bewegung.
»Kuckuck! Kartoffelkopf!«
»Ha, Kartoffelbauch!« ahmte Penthe flüsternd nach und zog die Luft ein, um ihr Kichern zu unterdrücken.
»Ist jemand da?«
Alles blieb stumm.
»Na ja, ist schon gut«, seufzte der Eunuch, und er watschelte weiter. Als er hinter dem Hügel verschwunden war, kletterten die Mädchen wieder hinauf auf die Mauer. Penthes Gesicht war gerötet von der Anstrengung und vom Kichern, doch Arhas Augen loderten.
»Der blöde alte Hammel, überallhin trottet er mir nach!«
»Das muß er tun«, sagte Penthe verständnisvoll. »Dazu ist er da, er muß für dich sorgen, das ist seine Arbeit.«
»Diejenigen, denen ich diene, sorgen für mich. Ihnen stehe ich zu Diensten und sonst niemand. Die alten Weiber und die halben Männer sollten mich in Ruhe lassen. Ich bin die Eine Priesterin!«
Penthe starrte sie an. »Oh«, sagte sie kaum hörbar, »oh, ich weiß, daß du dies bist, Arha …«
Penthe blieb lange sitzen, ohne zu reden, sie seufzte nur manchmal, ließ ihre runden Beine baumeln und blickte über das weite, farblose Land, das zu ihren Füßen lag und sich ganz allmählich in einem riesigen, dunstigen Himmel verlor.
»Weißt du, es wird nicht mehr lange dauern, und dann wirst du hier herrschen«, sagte sie endlich mit sanfter Stimme. »In zwei Jahren sind wir keine Kinder mehr. Dann sind wir vierzehn. Ich komme dann in den Tempel des Gottkönigs, und für mich wird sich wenig ändern. Du aber wirst dann erst richtige Hohepriesterin. Dann müssen dir selbst Kossil und Thar gehorchen.«
Die Verzehrte erwiderte nichts. Ihr Gesicht war unbeweglich. Ihre Augen unter den dunklen Brauen fingen das Himmelslicht auf und glänzten hell.
»Ich glaube, wir müssen zurückkehren«, sagte Penthe.
»Nein.«
»Aber die Webmeisterin sagt es vielleicht Thar, daß wir nicht da sind. Und bald wird es Zeit für die Neun Gesänge.«
»Ich bleibe hier, und du bleibst auch hier.«
»Dich bestrafen sie nicht, aber mich werden sie bestrafen«, sagte Penthe mit zaghafter Stimme. Arha gab keine Antwort. Penthe seufzte und blieb sitzen. Die Sonne versank im Dunst hoch über der Ebene. In der Ferne, auf dem weiten, leicht ansteigenden Land hörte man schwach das scheppernde Geräusch von Schafglocken und das Blöken der Lämmer. Der Frühlingswind wehte in kurzen, trockenen Böen und trug einen schwachen Duft mit sich.
Die Neun Gesänge waren schon fast beendet, als die beiden Mädchen zurückkehrten. Mebbeth hatte sie auf der »Männerseite« sitzen sehen und dies ihrer Oberin Kossil, der Hohepriesterin des Gottkönigs, hinterbracht.
Kossil hatte einen schweren Gang, und ihre Gesichtszüge bewegten sich kaum. Auch jetzt verzog sich ihr Gesicht nicht, als sie mit den beiden Mädchen sprach und ihnen gebot, ihr zu folgen. Sie führte sie durch die steinernen Gänge des Großhauses, durch die Eingangstür hinaus, und den Hügel zum Tempel von Atwah und Wuluah hinauf. Dort sprach sie mit Thar, der Hohepriesterin des Tempels, die so dürr, groß und hager war wie der Beinknochen eines Hirsches.
Kossil sagte zu Penthe: »Zieh dein Kleid aus!«
Sie schlug das Mädchen mit einer Rute aus Schilfrohr. An einigen Stellen blutete es. Penthe ertrug die Strafe ohne Geschrei, nur Tränen rannen ihr übers Gesicht. Sie wurde ohne Abendessen in den Websaal zurückgesandt, und auch am anderen Tag bekam sie nichts zu essen. »Wenn du noch einmal über die Männermauer kletterst, wirst du viel Schlimmeres erleben, merk dir das, Penthe!« sagte Kossil. Ihre Stimme war gelassen und ausdruckslos. Penthe antwortete: »Ja«, und schlüpfte davon. Sie zuckte zusammen und verzog das Gesicht, wenn das grobgewebte Gewand ihre offenen Striemen berührte.
Arha hatte neben Thar gestanden und zugesehen, wie Penthe geschlagen wurde. Jetzt sah sie zu, wie Kossil das Schilfrohr reinigte.
Thar sprach zu ihr: »Es ziemt sich nicht, daß man dich mit anderen Mädchen herumrennen und -klettern sieht. Du bist Arha.«
Sie stand blaß und trotzig da und gab keine Antwort.
»Es ist besser, du tust nur das, was du tun mußt. Du bist Arha.«
Einen Augenblick lang hob das Mädchen die Augen auf und blickte Thar und Kossil an, und in dem Blick lag solch ein Haß und solch eine Wut, daß man davor erschrecken konnte. Doch die hagere Priesterin blieb davon unberührt, es bestärkte sie nur in ihrer Gewißheit. Sie neigte sich etwas nach vorne und flüsterte: »Du bist Arha. Nichts blieb zurück. Alles wurde verzehrt.«
»Alles wurde verzehrt«, wiederholte das Mädchen, wie es die Worte täglich wiederholt hatte, jeden Tag, seit es sechs Jahre alt war.
Thar neigte leicht den Kopf, und Kossil tat das gleiche, als sie die Rute weglegte. Das Mädchen verbeugte sich nicht, sondern drehte sich um und verließ den Raum.
Nach dem Essen, das aus Kartoffeln und neuen Zwiebeln bestand und in dem langen, schmalen, dunklen Refektorium schweigend eingenommen wurde, nach dem Singen der Abendhymne und nachdem die Türen mit heiligen Worten geweiht worden waren und das Ritual des Unaussprechlichen gefeiert worden war, nahm die Arbeit für diesen Tag ein Ende. Jetzt durften die Mädchen in den Schlafsaal hinaufgehen und sich mit Würfel- oder Stabspielen vergnügen, solange das einzige Licht aus Binsenrohr brannte. Danach konnten sie miteinander von Bett zu Bett flüstern. Arha machte sich — wie jeden Abend — auf und ging über die Höfe und Hänge der Stätte zum Kleinhaus, wo sie allein schlief.
Der Abendwind trug einen süßen Duft mit sich. Die Sterne des Frühlings waren dicht gesät, wie Margeriten auf einer Wiese. Aber das Mädchen konnte sich nicht mehr an Wiesen erinnern. Es blickte nicht auf.
»Hoppla, Kleines!«
»Manan«, sagte Arha gleichgültig.
Der mächtige Schatten gesellte sich ihr zu, das Sternenlicht glänzte auf seiner Glatze.
»Haben sie dich bestraft?«
»Ich kann nicht bestraft werden.«
»Nein … Das stimmt …«
»Sie können mich nicht bestrafen. Sie wagen es nicht.«
Er stand da, mit seinen großen plumpen Händen, die an den Seiten herunterhingen, enorm und undeutlich. Sie roch wilde Zwiebeln und den verschwitzten, mit Salbei gemischten Geruch seines alten, schwarzen Umhangs, der am Saum zerrissen und zu kurz für ihn war.
»Sie können mich nicht berühren. Ich bin Arha«, sagte sie mit schriller, heftiger Stimme und begann zu weinen.
Die großen, wartenden Hände kamen hoch und zogen sie zu ihm, und er hielt sie sachte und strich über ihre geflochtenen Haare. »Schon gut, schon gut, kleiner Honigkuchen, kleines Mädchen …« Sie hörte seine heisere Stimme, die tief aus seiner Brust kam, und sie hängte sich an ihn. Ihre Tränen versiegten bald, aber sie klammerte sich an Manan, als könne sie nicht allein stehen.
»Armes kleines Ding«, flüsterte der und hob sie hoch, trug sie zur Tür des Hauses, in dem sie allein schlief. Er stellte sie auf den Boden.
»Ist es wieder besser, Kleines?«
Sie nickte und wandte sich um und betrat das dunkle Haus.