Tenar erwachte aus schweren Träumen, die sie an dunkle Orte geführt hatten, auf Pfade, die sie so lange beschritten hatte, daß ihr Fleisch von den Knochen gefallen war und sie die Elle und Speiche ihres Unterarms schwach in der Dunkelheit ausmachen konnte. Sie öffnete die Augen ins goldene Licht des Tages und sog den herben Duft des Salbeis ein. Eine Glückseligkeit erfüllte sie, ein Wonnegefühl durchrieselte ihren Körper, und sie setzte sich auf, streckte ihre Arme, die in den schwarzen Ärmeln ihres Umhangs steckten, und blickte mit hellem Vergnügen um sich.
Es war Abend. Die Sonne war schon hinter den Bergen, die nahe und hoch im Westen standen, versunken, aber ihr Schein ergoß sich noch über Himmel und Erde, über einen weiten, klaren, winterlichen Himmel, über ein weites, leeres, goldenes Land, unterbrochen von Bergen und breiten Tälern. Der Wind hatte sich gelegt. Es war kalt und ganz still. Nichts bewegte sich. Die Blätter des Salbeis neben ihr waren grau und trocken, die Stengel von verdorrten, winzigen Wüstenkräutern stachen ihre Hand. Die schweigende, allumfassende Lichterpracht lag auf jedem Zweig, auf jedem dürren Blatt und Stengel, auf den Hügeln, in der Luft.
Sie blickte nach links und sah den Mann fest schlafend auf dem Boden neben sich liegen, in seinen Umhang gewickelt und mit einem Arm unter dem Kopf. Sein Gesicht sah selbst im Schlaf streng, beinahedüster aus, doch seine linke Hand lag entspannt neben einer kleinen Distel, die noch ihren grauen, dünnen Mantel aus leichtem Flaum und ihre schützenden, winzigen Stacheln trug. Der Mann und die kleine Wüstendistel; die Distel und der schlafende Mann …
Die Macht des Mannes war so groß wie die der Urmächte, ja sie war ihnen sogar verwandt. Er sprach mit Drachen und hielt mit seinem Wort das Erdbeben im Zaum. Und hier lag er schlafend auf dem Boden, und eine kleine Distel wuchs neben seiner Hand. Es war alles sehr merkwürdig. DasLeben hier auf der Erde war etwas viel Größeres, viel Seltsameres, als sie es sich je hätte träumen lassen. Die Lichterpracht des Himmels berührte kurz sein staubiges Haar und ließ die Distel golden aufleuchten.
Das Licht erlosch langsam. Die Kälte verschärfte sich. Tenar stand auf und begann trockenen Salbei und Reisig zu sammeln. Sie brach dürre Äste ab, die klein, aber für ihre Verhältnisse genauso knorrig und stark wie Eichenäste waren. Sie hatten hier gegen die Mittagszeit angehalten, als es warm geworden war und sie zu erschöpft waren, um weiterzugehen. Ein paar niedrige Wacholderbüsche und der westliche Hang des Kammes, den sie gerade herabgestiegen waren, boten genügend Schutz. Sie hatten etwas Wasser aus der Flasche getrunken und sich zum Schlafen niedergelegt.
Unter den niedrigen Bäumen fand sie einen Armvoll Reisig. In der geschützten Ecke eines Felsen, der halb in der Erde steckte, scharrte sie eine kleine Grube und legte ihre Zweige kunstgerecht übereinander. Sie zündete sie mit ihrem einfachen Feuerzeug aus Stein und Stahl an. Die dürren Blätter und Zweige fingen sofort Feuer. Die trockenen Zweige blühten auf zu rosigen Flammen und dufteten nach Harz. Um das Feuer herum schien es jetzt ganz dunkel zu sein; an dem überwältigenden Himmel begannen die Sterne zu funkeln.
Das Knistern des Feuers weckte den Schlafenden. Er setzte sich auf und rieb die Hände über sein staubiges Gesicht; schließlich stand er steif auf und kam näher.
»Ich weiß nicht …«, sagte er verschlafen.
»Ich weiß, aber wir können die Nacht hier nicht ohne Feuer überstehen. Es wird hier sehr kalt.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Außer du kannst irgendwelche Magie wirken, die uns warm hält, oder die das Feuer verbirgt …«
Er setzte sich ans Feuer, seine Füße berührten es fast, und hielt seine Knie mit den Armen umschlungen: »Brrr«, sagte er. »Ein Feuer ist viel besser als Magie. Ich habe einen kleinen Illusionszauber gewirkt: wenn jemand vorbeikommt, sehen wir aus wie Steine und Stöcke. Was meinst du? Werden sie uns verfolgen?«
»Ich fürchte es, aber ich glaube es nicht. Nur Kossil wußte, daß du hier bist, Kossil und Manan, und beide sind tot. Sie war sicherlich in der Halle, als diese einstürzte. Sie hat an der Falltür gewartet. Und die anderen, die glauben, daß ich in der Halle oder in den Gräbern war und im Erdbeben umgekommen bin.« Auch sie hielt ihre Knie umschlungen und schauderte zusammen. »Hoffentlich sind die anderen Gebäude nicht zusammengefallen. Man konnte es nicht richtig vom Hügel aus sehen, zu viel Staub war in der Luft. Die Tempel und Häuser sind doch bestimmt nicht alle zusammengebrochen, und hoffentlich nicht das Großhaus, in dem alle Mädchen schlafen.«
»Ich glaube nicht. Die Gräber haben sich selbst verschlungen. Als wir uns abwandten, sah ich noch das Golddach irgendeines Tempels stehen. Und am Fuß des Hügels rannten Leute herum.«
»Was werden die wohl gesagt und gedacht haben … Arme Penthe! Vielleicht muß sie jetzt Hohepriesterin des Gottkönigs werden. Und sie war diejenige, die fortlaufen wollte, nicht ich. Jetzt läuft sie vielleicht wirklich davon.« Tenar lächelte. Ein tiefes, frohes Gefühl erfüllte sie, das keine Gedanken an Dunkles, Trostloses aufkommen ließ; es war die gleiche Glückseligkeit, die in ihr aufgestiegen war, als sie im goldenen Licht des Tages erwachte. Sie machte die Tasche auf und entnahm ihr zwei kleine, flache Laibe. Einen reichte sie Ged über das Feuer zu, in den anderen biß sie selbst. Das Brot war zäh und sauer und schmeckte gut. Sie kauten eine Weile ohne zu reden. »Wie weit ist es bis zum Meer?«
»Ich brauchte zwei Tage und zwei Nächte, als ich hierherkam. Nun wird es etwas länger dauern.«
»Ich bin stark«, sagte sie.
»Stimmt, und tapfer bist du auch. Aber dein Gefährte ist müde«, sagte er lächelnd. »Und wir haben nicht zuviel Brot.«
»Werden wir Wasser finden?«
»Ja, morgen, in den Bergen.«
»Kannst du Essen für uns finden?« fragte sie etwas unsicher und schüchtern.
»Um zu jagen, braucht man Zeit und Waffen.«
»Ich meinte — weißt du — mit Zaubersprüchen.«
»Ich kann einen Hasen herbeirufen«, sagte er und stocherte mit einem knorrigen Wacholderstab im Feuer herum. »Die kommen jetzt rings um uns herum aus ihren Löchern heraus. Das tun sie abends immer. Wenn ich einen beim Namen riefe, würde er kommen. Aber könntest du einen Hasen, den du zu dir gerufen hast, fangen, töten, sein Fell abziehen und braten? Vielleicht, wenn du am Verhungern bist. Es käme einem Vertrauensbruch gleich — meiner Ansicht nach.«
»Ja. Weißt du, ich dachte, du könntest ganz einfach …«
»… eine Mahlzeit herbeizaubern«, sagte er. »Oh, natürlich könnte ich das. Auf goldenen Tellern, wenn du möchtest. Aber das ist Illusion, und wenn du Illusionen ißt, bist du danach hungriger als zuvor. Es ist ungefähr so nahrhaft, wie wenn du deine eigenen Worte verschlucktest.« Sie sah seine weißen Zähne kurz im Feuerschein aufblitzen.
»Deine Magie ist merkwürdig«, stellte sie fest, und jetzt sprach Priesterin zu Magier, die sich auf einer Stufe mit ihm fühlte. »Sie scheint nur für außerordentliche Ereignisse nützlich zu sein.«
Er legte mehr Holz aufs Feuer, und es flammte hell auf und verbreitete mit Funken und Knistern einen Duft von Wacholder.
»Kannst du wirklich einen Hasen herbeirufen?« wollte sie plötzlich wissen.
»Soll ich einen rufen?«
Sie nickte.
Er wandte sich vom Feuer ab und sprach leise in die sternenhelle Nacht hinein: »Kebbo … o Kebbo …«
Stille; kein Laut; keine Bewegung. Sachte, ganz sachte, an der äußersten Grenze des flackernden Lichtkreises, erschien nahe am Boden ein rundes, blankes Auge, wie ein schwarzer Kiesel, ein gerundeter, flaumiger Rücken, ein langes, aufmerksam hochgerichtetes Ohr.
Ged sprach wieder. Das Ohr flatterte etwas, und plötzlich erhielt es einen Partner; als sich das kleine Tierchen umdrehte, konnte Tenar es einen Augenblick lang ganz sehen: ein kleiner, federnder, weicher Ball, der unbekümmert in die Dunkelheit davonhoppelte und verschwand.
»Oh«, sagte sie und atmete tief aus. »Das war wunderschön.« Nach einer Weile fragte sie: »Kann ich das auch tun?«
»Hmmmm …«
»Es ist ein Geheimnis«, fügte sie rasch hinzu, wiederum mit Priesterinnenwürde.
»Der Name des Hasen ist ein Geheimnis. Zumindest sollte er nicht grundlos, zum Vergnügen, gebraucht werden. Aber die Macht zum Rufen, weißt du, das ist kein Geheimnis, das ist eine Gabe.«
»Oh«, sagte sie, »die hast du, das weiß ich!« Sie sprach mit tiefer Überzeugung, ehrlich und ohne verhüllende Ironie. Er blickte sie an, gab aber keine Antwort.
Der Kampf mit den Namenlosen hatte an seinen Kräften gezehrt, und er war noch sehr schwach. In den bebenden, grollenden Gängen hatte er seine Kräfte verbraucht. Obgleich er gewonnen hatte, blieb ihm wenig Stärke zum Frohlocken. Er rollte sich bald wieder zusammen, ganz nahe am Feuer, und schlief ein.
Tenar blieb sitzen und legte ab und zu Zweige nach und ließ ihre Augen von einem Ende bis zum anderen über den Winterhimmel schweifen. Sie schaute in das Gefunkel der Sternbilder, bis ihr zu schwindeln begann, ob der Schönheit und ob des Schweigens, und sie nickte ein.
Beide wachten zur gleichen Zeit auf. Das Feuer war niedergebrannt. Die Sterne, die sie gesehen hatte, waren inzwischen längst hinter den Bergen verschwunden, und neue waren im Osten aufgegangen. Die Kälte hatte sie geweckt, die trockene Kälte der Wüstennacht, und der Wind, der so schneidend wie ein eisiges Messer durch ihre Kleidung drang. Im Südwesten sah man den Schleier einer Wolke sich langsam nähern.
Ihr Holz war fast aufgebraucht. »Komm, gehen wir«, sagte Ged, »es ist nicht mehr lang bis zum Morgengrauen.« Seine Zähne schlugen so sehr aufeinander, daß sie ihn kaum verstehen konnte. Sie brachen auf und begannen den langen, leicht ansteigenden Hang im Westen hinaufzuklettern. Die Büsche und Felsen waren schwarz im Licht der Sterne, und sie konnten mühelos ihren Weg finden. Beide froren, aber bald wurde es ihnen wärmer durch das Gehen. Sie hörten auf zu frösteln und gingen leichter dahin. Bei Sonnenaufgang hatten sie die untersten Hänge der Berge des Westens erreicht, die Tenars Leben bisher umgeben hatten.
Sie hielten unter einer Gruppe von Bäumen an, deren silbrige, dünne Blätter sich noch an den Zweigen befanden und sich leicht bewegten. Er sagte ihr, daß dies Espen seien. Sie kannte keine anderen Bäume als den Wacholder, die kümmerlichen Pappeln bei den Quellen und die vierzig Apfelbäume im Garten der Stätte. In den Blättern der Bäume piepste ein kleiner Vogel: »Diii, diii.« Unter den Bäumen floß ein schmaler, aber schneller Bach dahin, der sich schäumend seinen Weg über Steine und Geröll bahnte und der es zu eilig hatte, um einzufrieren. Tenar hatte fast Angst davor. Sie war an die Wüste gewöhnt, wo sich alles still und träge bewegte: der Fluß, der Schatten der Wolken, die kreisenden Geier.
Zum Frühstück teilten sie ein Stück Brot und das letzte Stückchen Käse miteinander, ruhten sich etwas aus und gingen dann weiter.
Am Abend waren sie hoch oben in den Bergen. Es war eiskalt, bedeckt und windig. Sie hielten im Tal eines anderen Flusses an, wo es Holz in Hülle und Fülle gab, und machten ein größeres Feuer, das sie verhältnismäßig warm hielt.
Tenar war glücklich. Sie hatte ein Versteck voll Nüsse gefunden, das von einem Eichhörnchen zusammengetragen und durch den Fall eines hohlen Baumes enthüllt worden war: ein paar Pfund Walnüsse und Nüsse mit einer glatten Schale, die Ged, der ihren kargischen Namen nicht kannte, Nubir nannte. Sie knackte eine nach der anderen zwischen einem flachen und einem anderen Stein, den sie als Hammer benutzte, auf, und gab jede zweite Nuß dem Mann zum Essen.
»Ich wollte, wir könnten hierbleiben«, sagte sie und blickte hinunter in das windige, vom Dämmerlicht erhellte Tal zwischen den Bergen. »Mir gefällt es hier.«
»Ja, hier ist es gut.« Er stimmte mit ihr überein.
»Niemand würde hierherkommen.«
»Nicht oft … Ich bin in den Bergen geboren«, sagte er, »auf dem Berge Gont. Wir werden an ihm vorbeisegeln, wenn wir die nördliche Route nach Havnor nehmen. Im Winter sieht er sehr eindrucksvoll aus, wenn er sich ganz weiß, wie eine Riesenwelle, aus dem Meer erhebt. Mein Dorf lag an einem Fluß, der genauso aussah wie dieser hier. Wo bist du geboren, Tenar?«
»Im Norden von Atuan, in Entat, glaube ich. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.«
»So jung warst du, als sie dich deinen Eltern wegnahmen?«
»Ich war fünf. Ich erinnere mich an ein Feuer im Herd und … sonst nichts.«
Er rieb sich das Kinn, an dem ein spärlicher Bart sproß, das aber jetzt wenigstens sauber war, denn trotz der Kälte hatten sie sich in dem Bergwasser gewaschen. Er sah nachdenklich und ernst drein. Sie blickte ihn an, und niemals hätte sie sagen können, was ihr Herz bewegte, als sie ihn im Licht des Feuers, in der Dämmerung zwischen den Bergen, ansah.
»Was wirst du in Havnor machen?« fragte er, und die Frage war an das Feuer, nicht an sie gerichtet. »Du bist — mehr als ich mir bewußt war — wirklich wiedergeboren.«
Sie nickte und lächelte ein bißchen. Sie fühlte sich wiedergeboren.
»Du solltest zumindestens die Sprache lernen.«
»Deine Sprache?«
»Ja.«
»Das würde ich gerne tun.«
»Gut. Also das ist Kabat«, sagte er und warf einen kleinen Stein in ihren Schoß auf den schwarzen Umhang.
»Kabat. Ist das die Drachensprache?«
»Nein, nein. Du willst doch keine Zauberformeln wirken, du willst mit anderen Männern und Frauen sprechen!«
»Was ist ›Stein‹ in der Drachensprache?«
»Tolk«, sagte er. »Aber ich mache keinen Zauberlehrling aus dir. Ich lehre dich die Sprache, die von den Leuten des Inselreiches, den Innenländern, gesprochen wird. Ich mußte deine Sprache auch lernen, bevor ich herkam.«
»Sie klingt komisch, wenn du sie aussprichst.«
»Zweifellos. Jetzt Arkemni Kabat«, und er streckte ihr seine Hand hin, damit sie ihm den Stein wiedergäbe.
»Muß ich nach Havnor gehen?« fragte sie.
»Wo möchtest du hingehen, Tenar?«
Sie zögerte.
»Havnor ist eine herrliche Stadt«, sagte er. »Und du bringst ihnen den Ring, das Friedenszeichen, die verlorene Rune. Sie werden dich in Havnor wie eine Prinzessin empfangen. Sie werden dich ehren für die große Gabe, die du ihnen bringst, sie werden dich willkommen heißen und sie werden dir alles zuliebe tun. In der Stadt wohnen edle und großzügige Menschen. Sie werden dich die Weiße Dame nennen, wegen deiner hellen Haut, und sie werden dich gernhaben, weil du so jung bist; und weil du so schön bist. Du wirst Hunderte von den Gewändern haben, wie ich dir eines durch Illusion gezeigt habe, nur diesmal werden es wirkliche Gewänder sein. Sie werden dich preisen, sie werden dir dankbar sein, sie werden dich lieben, dich, die nur Einsamkeit und Neid und die Dunkelheit gekannt hat.«
»Manan war da«, sagte sie einschränkend, und ihre Lippen begannen zu zittern. »Er mochte mich und war immer lieb zu mir, immer. Er hat mich beschützt, so wie er es halt verstanden hat, und dafür habe ich ihn getötet, in den schwarzen Schacht ist er gefallen. Ich will nicht nach Havnor gehen. Ich will nicht dorthin gehen. Ich will hierbleiben.«
»Hier — auf Atuan?«
»Hier in den Bergen. Wo wir jetzt sind.«
»Tenar«, sagte er mit seiner ernsten, ruhigen Stimme, »wenn du willst, dann bleiben wir hier. Ich habe kein Messer und wenn es schneit, wird es schwierig werden. Aber so lange wir Nahrung finden …«
»Nein, ich weiß, daß wir nicht hierbleiben können. Ich bin nur kindisch«, sprach Tenar, stand auf, und die Nußschalen fielen um sie auf die Erde. Sie legte neues Holz aufs Feuer. Sie stand schmal und kerzengerade in ihrem beschmutzten Kleid und schwarzen Umhang da. »Alles, was ich kann und weiß, nutzt mir jetzt nichts«, sagte sie. »Und ich habe nichts anderes gelernt. Ich werde es zu lernen versuchen.«
Ged zuckte zusammen und blickte weg, als litte er Schmerzen.
Am nächsten Tag überschritten sie den höchsten Kamm des lohfarbenen Gebirges. Oben auf dem Paß schneite es leicht, und ein eisiger Wind schlug ihnen ins Gesicht, so daß sie fast nichts sehen konnten. Erst als sie ein geraumes Stück auf der anderen Seite hinabgestiegen und aus dem Schneegestöber der Höhe herausgekommen waren, sah Tenar das Land jenseits der Bergkette vor sich liegen. Grün breitete es sich vor ihr aus — das Grün der Tannen, der Weiden, der Felder und der Wiesen. Selbst jetzt, mitten im Winter, unter kahlen Büschen und Wäldern voll grauer Äste sah das Land in dem milden Klima zartgrün aus. Sie standen an einer Geröllhalde, hoch am Berg, und schauten hinab. Wortlos deutete Ged nach Westen, wo die Sonne hinter einer dunklen, aufgebauschten Wolke unterging. Sie selbst war nicht zu sehen, doch am Horizont war ein glitzernder Streif, ähnlich dem Kristallgefunkel an der Decke und der Wand des Gewölbes, ein beglückendes Strahlen am Rande der Welt.
»Was ist das?« fragte sie, und er antwortete: »Das Meer.«
Kurz danach sah sie etwas weniger Wunderbares, aber doch auch wunderbar genug. Sie stießen auf eine Straße und gingen sie entlang. Als die Dämmerung hereingebrochen war, erreichten sie ein Dorf: zehn bis zwölf Häuser, an der Straße entlang aufgereiht. Als es ihr bewußt wurde, daß sie sich unter Menschen befanden, blickte sie bestürzt auf ihren Gefährten. Sie schaute und sah ihn nicht. Neben ihr, in Geds Kleidung, in seinem Gang, in seinen Schuhen, wanderte ein fremder Mann. Seine Haut war weiß, sein Bart verschwunden. Er blickte sie an, seine Augen waren blau und zwinkerten ihr zu.
»Meinst du, ich führe sie hinters Licht?« fragte er. »Wie gefällt dir dein Kleid?«
Sie blickte an sich hinunter. Sie trug einen ländlichen braunen Rock und eine Jacke; um ihre Schultern lag ein großes rotes wollenes Tuch.
»Oh«, sagte sie und blieb wie angewurzelt stehen. »Oh, du bist aber — du bist Ged!« Als sie seinen Namen aussprach, sah sie ihn ganz klar, sein dunkles, vernarbtes Gesicht, das ihr vertraut war, seine dunklen Augen; doch hier stand der Fremde mit dem Milchgesicht.
»Sag nie meinen wahren Namen, wenn andere Leute dabei sind. Ich werde auch deinen nicht gebrauchen. Wir sind Bruder und Schwester und kommen von Tenakbah. Und jetzt, glaube ich, werde ich um etwas Essen bitten, wenn ich ein freundliches Gesicht sehe.« Er ergriff ihre Hand, und sie betraten das Dorf.
Am nächsten Morgen, gesättigt und nach einer geruhsamen Nacht auf dem Heuboden einer Scheune, verließen sie das Dorf.
»Müssen Magier oft betteln?« fragte Tenar, als sie sich auf dem Weg zwischen grünen Wiesen befanden, auf denen Ziegen und kleine, scheckige Kühe weideten.
»Warum willst du das wissen?«
»Es schien dir nichts auszumachen; du hast es sogar sehr gut gekonnt.«
»Ja, weißt du, ich habe mein ganzes Leben lang gebettelt, wenn man so will. Zauberer besitzen nicht viel. Wenn sie auf der Wanderschaft sind, haben sie sowieso nur ihren Stab und ihre Kleidung. Die meisten Leute freuen sich, wenn ein Zauberer sie um Essen oder um Unterkunft bittet. Sie machen es meist wieder wett.«
»Wie?«
»Na, nimm die Frau im Dorf; ich habe ihre Ziegen geheilt.«
»Was hatten sie?«
»Beide hatten entzündete Euter. Als ich klein war, habe ich Ziegen gehütet.«
»Hast du ihr gesagt, daß du sie geheilt hast?«
»Nein. Wie konnte ich das tun? Und warum sollte ich es tun?«
Sie schwieg eine Weile, dann sagte sie: »Jetzt weiß ich, daß deine Künste nicht nur für große Dinge gut sind.«
»Gastfreundschaft«, sagte er, »Herzlichkeit einem Fremden gegenüber, das sind sehr große Dinge. Sich bedanken hätte genügt, natürlich. Aber mir haben auch die Ziegen leid getan.«
Am Nachmittag erreichten sie eine größere Stadt. Sie war aus Backstein gebaut und ringsum, wie es im Kargadreich üblich war, von einer Stadtmauer mit Schießscharten umgeben, die an jeder der vier Ecken einen Wachtturm und nur ein einziges großes Tor hatte, durch das ein Hirte gerade seine Schafe trieb. Die roten Ziegeldächer von hundert oder noch mehr Häusern lugten hinter der Mauer aus gelblichem Backstein hervor. Zwei Posten mit roten Federbüschen auf den Helmen, die im Dienst des Gottkönigs standen, hielten Wache am Tor. Tenar kannte diese Uniformen. Einmal im Jahr waren Männer in solchen Uniformen an die Stätte gekommen, um Sklaven oder Geld zum Tempel des Gottkönigs als Gabe zu bringen. Als sie im Vorbeischreiten Ged davon erzählte, sagte er: »Ich habe sie auch schon gesehen, als ich noch ein Junge war. Sie kamen nach Gont, um zu plündern und zu rauben. Aber sie wurden vertrieben. Und in Armünde kam es zur Schlacht, und viele sind gefallen. Hunderte, sagt man. Na, jetzt, nachdem die Rune wieder ganz ist, gibt es vielleicht keine Raubzüge und kein Töten mehr zwischen dem Kargadreich und den Innenländern.«
»Es wäre dumm, wenn das nicht aufhören würde«, stimmte Tenar zu. »Was würde denn der Gottkönig mit all den Sklaven tun?«
Ihr Gefährte schien über ihre Worte nachzudenken. »Du meinst, wenn das Kargadreich die Innenländer besiegen würde?« Sie nickte.
»Ich glaube nicht, daß dies je passieren würde.«
»Aber schau doch her, wie stark das Reich ist — diese große Stadt mit ihrer Mauer und all die Männer. Wie könnten eure Länder dem widerstehen, wenn sie angegriffen würden?«
»Das ist keine große Stadt«, sagte er behutsam und freundlich. »Ich hätte sie auch als riesig angesehen, wenn ich gerade von meinem Berg heruntergekommen wäre. Aber in der Erdsee gibt es viele, viele Städte, und verglichen mit diesen ist das hier eine Kleinstadt. Es gibt viele, viele Länder. Du wirst sie sehen, Tenar.«
Sie erwiderte nichts. Sie ging neben ihm, und ihr Gesicht war verschlossen.
»Es ist ganz wunderbar, wenn man sie zum ersten Mal sieht: ein neues Land, eine neue Insel, die sich langsam aus dem Meer hebt, wenn man sich mit dem Boot nähert. Dann sieht man die Wiesen und Felder und Wälder, die Städte mit ihren Höfen und Palästen, die Märkte, wo alles, was es auf dieser Welt gibt, feilgeboten wird.«
Sie nickte. Sie wußte, daß er sie ermuntern wollte, aber sie hatte ihr Glück oben in den Bergen gelassen, dort in dem Flußtal, das im Dämmerlicht lag. In ihrem Herzen war Furcht, und diese Furcht wuchs täglich. Alles, was vor ihr lag, war ihr unbekannt. Sie kannte nichts außer der Wüste und den Gräbern. Und was nutzte ihr das jetzt? Sie kannte die Gänge eines Labyrinths, das in Trümmern lag, sie kannte die Tänze, die vor einem zerstörten Altar getanzt wurden. Sie wußte nichts von Wäldern, Städten oder den Herzen der Menschen.
Sie fragte plötzlich: »Wirst du dort bei mir bleiben?«
Sie blickte ihn nicht an. Er schritt noch immer als weißhäutiger, kargischer Landmann neben ihr her, und er gefiel ihr nicht in dieser Verstellung. Aber seine Stimme war geblieben, es war die gleiche, die in der Dunkelheit des Labyrinths zu ihr gesprochen hatte.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort. »Tenar, ich gehe dorthin, wohin ich gesandt werde. Ich folge meinem Ruf. Bis jetzt war es mir nicht vergönnt, lange an demselben Ort zu verweilen.
Verstehst du das? Ich tu, was ich tun muß. Dort, wohin ich gehe, muß ich allein gehen. Solange du mich brauchst, bleibe ich in Havnor. Und wenn du mich je wieder brauchst, dann rufe mich. Ich werde kommen. Selbst aus dem Grab würde ich kommen, wenn du mich rufst, Tenar! Aber ich kann nicht bei dir bleiben.«
Sie erwiderte nichts. Nach einer Weilefügte er hinzu: »Du wirst mich dort nicht lange brauchen. Du wirst dort glücklich sein.«
Sie nickte. Sie verstand ihn und sie nahm hin, was er ihr sagte.
Nebeneinander schritten sie dem Meer zu.