12 DIE FAHRT ZUR SEE

Er hatte sein Boot in einer kleinen Höhle am Fuß eines großen felsigen Vorgebirges versteckt, das von den benachbarten Dorfbewohnern das Wolkenkap genannt wurde. Zum Abendessen hatte ihnen einer der Bewohner einen Teller Fischsuppe gegeben. Im letzten Licht des grauen Tages kletterten sie über die Klippen zum Strand hinunter. Die Höhle war nichts weiter als ein schmaler Spalt, der sich ungefähr zehn Meter in den Fels hinein erstreckte. Der Sandboden war feucht, denn er lag nur wenig höher als die Flut. Man konnte den Eingang der Höhle vom Wasser aus sehen, und Ged meinte, daß es besser wäre, wenn sie kein Feuer anzündeten, denn es könnte die Fischer, die nachts zur See fuhren, neugierig machen und anlocken. So legten sie sich auf den Sand, der sich so weich anfühlte, aber steinhart war, wenn man seine todmüden Glieder darauflegte. Tenar hörte der Brandung zu, die ein paar Meter unterhalb des Eingangs gegen die Felsen züngelte und zischte, und die leise grollend kilometerlang am Strand östlich von ihnen vernehmbar war. Es hörte sich wie eine Wiederholung des gleichen Geräusches an, pausenlos, aber es war immer verschieden. Ruhelos, ohne abzusetzen, rollten die Wellen gegen das Ufer, gegen alle Küsten, gegen alle Länder dieser Welt. Nie rasteten sie, nie standen sie still. Die Wüste, die Berge: die standen still. Die brüllten nicht fortwährend mit dieser mächtigen dumpfen Stimme. Nie hörte das Meer auf zu reden, doch seine Sprache war ihr fremd. Sie verstand sie nicht.

Im ersten Licht des Morgens, als die Ebbe den Wasserspiegel gesenkt hatte, erwachte sie aus schweren Träumen und sah, wie der Zauberer die Höhle verließ. Sie beobachtete ihn, wie er barfuß, den Gürtel um seinen gerafften Umhang schnallend, auf den schwarzbehaarten Felsen unterhalb der Höhle herumlief und etwas suchte. Er kam zurück, den Eingang verdunkelnd, als er eintrat. »Hier«, sagte er und hielt ihr eine Handvoll nasser, scheußlicher Dinge entgegen, die wie lila Steine mit orangefarbenen Lippen aussahen.

»Was ist das?«

»Miesmuscheln, direkt vom Fels gepflückt. Und diese beiden hier, das sind Austern, die schmecken noch besser. Siehst du — so macht man das!« Mit dem kleinen Dolch von ihrem Schlüsselbund, den sie ihm in den Bergen geliehen hatte, öffnete er die orangefarbenen Muscheln und aß sie, mit dem Seewasser als Tunke.

»Du kochst die nicht vorher? Du ißt sie roh?«

Sie konnte ihm nicht zuschauen, wie er, verlegen, aber ohne sich davon abhalten zu lassen, eine nach der anderen öffnete und aß.

Als er damit fertig war, ging er zurück in die Höhle zum Boot, das mit dem Bug nach vorne auf ein paar Treibholzstückchen ruhte, die es vor dem Sand schützten. Tenar hatte das Boot am vergangenen Abend bereits mißtrauisch und verständnislos betrachtet. Es war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte, mindestens dreimal so lang wie sie selbst. Es war gefüllt mit Geräten, deren Zweck ihr schleierhaft war, und es sah gefährlich aus. An jeder Seite seiner Nase, wie sie den Bug bezeichnete, waren zwei Augen gemalt, und im Halbschlaf hatte sie sich dauernd eingebildet, daß diese Augen sie anstarrten.

Ged kramte eine Weile im Boot herum und kam mit etwas zurück: einem Paket harten Brotes, das fest eingewickelt war, um es trocken zu halten. Er bot ihr ein großes Stück davon an.

»Ich habe keinen Hunger.«

Er blickte in ihr trotziges Gesicht.

Er wickelte das Brot wieder ein und tat es zurück, dann setzte er sich an den Eingang der Höhle. »Noch ungefähr zwei Stunden bis zur Flut«, sagte er. »Dann können wir fahren. Du hast schlecht geschlafen, warum schläfst du jetzt nicht ein bißchen?«

»Ich bin nicht schläfrig.«

Er gab ihr keine Antwort. Er saß mit untergeschlagenen Beinen am dunklen Felsentor und wandte ihr sein Profil zu. Die schimmernden Wellen des Meeres hoben und senkten sich hinter ihm, als sie ihn von der Tiefe der Höhle aus betrachtete. Er rührte sich nicht. Er war so regungslos wie der Felsen selbst. Eine Stille ging von ihm aus wie Ringe im Wasser, das von einem Stein berührt wurde. Sein Schweigen war kein Nichtreden, es war ein Ding an sich, es war wie das Schweigen der Wüste.

Eine geraume Zeit verstrich, dann stand Tenar auf und kam zum Eingang der Höhle. Er rührte sich nicht. Sie sah hinunter auf sein Gesicht. Es war wie eine Kupfermaske — starr und unbeweglich; die dunklen Augen waren offen, aber sie blickten nach unten, die Lippen waren entspannt. Er war so unerreichbar wie das Meer für sie. Wo befand er sich jetzt, welchen Pfaden folgte sein Geist? Sie würde ihm nie folgen können.

Er hatte sie gezwungen, ihm zu folgen. Er hatte sie bei ihrem Namen gerufen, und sie war aus der Dunkelheit gekommen und hatte sich an seiner Hand niedergekauert wie der kleine wilde Hase. Und jetzt, da er den Ring hatte, jetzt, da die Gräber in Trümmer lagen und ihre Priesterin für immer verloren war, jetzt brauchte er sie nicht mehr, jetzt verließ er sie und ging fort, wohin sie nicht folgen konnte. Er würde nicht bei ihr bleiben. Er hatte sie betrogen, er würde sie totunglücklich zurücklassen.

Sie beugte sich nieder und nahm mit einer hurtigen Bewegung den kleinen Stahldolch, den sie ihm geliehen hatte, aus seinem Gürtel. Er saß da wie eine Statue und rührte sich nicht.

Die Dolchklinge war nur zehn Zentimeter lang und nur auf einer Seite scharf. Es war die Miniatur eines großen Opfer-Schwertes der Stätte. Es hatte zur Kleidung der Priesterin der Gräber gehört und mußte mit dem Schlüsselbund und einem Gürtel aus Roßhaar, zusammen mit anderen Objekten, an deren Bedeutung sich kein Mensch mehr erinnern konnte, getragen werden. Noch nie hatte sie den Dolch benutzt, nur in einem der Tänze, die in der dunklen Mondnacht getanzt wurden, mußte sie ihn in die Höhe werfen und vor dem Thron auffangen. Der Tanz hatte ihr gefallen, er war wild und hatte keine Begleitmusik außer dem Trommeln ihrer eigenen Füße. Wie oft hatte sie sich, als sie diesen Tanz geübt hatte, in den Finger geschnitten, bis sie endlich den Trick heraus hatte und jedesmal den Griff auffing. Die kleine Klinge war scharf, sie konnte einen Finger bis auf den Knochen durchschneiden, oder eine Schlagader am Hals. Sie diente ihren Gebietern noch immer, obwohl diese sie im Stich gelassen hatten. Sie würden ihre Hand leiten und ihr in ihrer letzten dunklen Handlung Kraft verleihen. Sie würden ihr Opfer entgegennehmen.

Sie drehte sich dem Mann zu, das Messer lag in ihrer rechten Hand hinter ihrer Hüfte verborgen. Als sie das tat, hob er langsam sein Gesicht hoch und blickte sie an. Auf seinen Zügen lag der Ausdruck eines Menschen, der weit gereist war und Furchtbares gesehen hatte. Sie waren ruhig, doch voll Schmerz. Als er hinaufschaute zu ihr und sie immer länger ansah, klärten sich seine Züge. Endlich sagte er: »Tenar«, so als ob er sie begrüßte, und berührte den durchbrochenen, verzierten Silberreif an ihrem Gelenk. Das tat er, als müßte er sich vergewissern, voll Zutrauen. Er übersah den Dolch in ihrer Hand völlig. Er blickte weg von ihr und schaute auf die Wellen, die gegen den Felsen schlugen, und sprach mit großer Anstrengung: »Es ist Zeit … daß wir gehen.«

Beim Klang seiner Stimme verflog ihr Zorn. Sie bekam Angst.

»Du läßt sie hinter dir zurück, Tenar. Jetzt bist du wirklich frei«, sagte er, und mit plötzlich wiedergekehrter Stärke sprang er auf. Er reckte sich und schnallte den Gürtel um seinen Umhang fester. »Hilf mir mit dem Boot. Es liegt auf Treibholz, das ich als Rollen benutzt hatte. So ist es gut, schieb …noch einmal …Jetzt, jetzt ist's genug. Mach dich fertig, hineinzuspringen, wenn ich sage ›spring!‹. Es ist nicht so einfach, von hier mit einem Boot auszulaufen. — Noch einmal! Jetzt ist's genug! Spring hinein!« — Und er sprang ihr nach und hielt sie fest, als sie vornüberfiel, und setzte sie auf den Boden. Dann, breitbeinig balancierend, ruderte er stehenden Fußes und ließ das Boot auf den Wogen der Ebbe hinausschießen zwischen den Felsen, vorbei an dem gischtumsprühten Ende des Vorgebirges, hinaus aufs offene Meer.

Als sie weit genug vom seichten Wasser der Küste entfernt waren, zog er das Ruder ein und setzte den Mast. Das Boot sah jetzt, da sie drinnen saß und auf das Meer hinausschaute, sehr klein aus.

Er setzte das Segel. Allem Zubehör sah man an, daß es nicht mehr neu, doch sorgfältig in Stand gehalten war. Das rote Segel war ordentlich geflickt, und das Boot selbst war blitzblank und in einwandfreiem, wenn auch gebrauchtem Zustand. Es entsprach seinem Herrn: es war weit herumgekommen und hatte viel Unbill erfahren.

»Jetzt«, sagte er, »jetzt sind wir weg, jetzt sind wir endlich weg; wir haben es geschafft, Tenar. Spürst du es?«

Sie spürte es. Die dunkle Hand, die ihr Herz ihr ganzes Leben lang umklammert hielt, hatte sie freigegeben. Aber keine Seligkeit kam über sie, wie es in den Bergen geschehen war. Sie legte den Kopf auf die Arme und begann zu schluchzen, und ihre Wangen wurden salzig und naß. Sie weinte um die verlorenen Jahre ihres Lebens, die sie nutzlos im Dienst einer schrecklichen Macht gefront hatte. Sie weinte, und es schmerzte, denn die Freiheit tat weh.

Sie hatte begonnen zu lernen, daß Freiheit schwer wog, daß sie eine Bürde, eine große und seltsame Last war, die der Seele zugemutet wird. Leicht konnte sie nicht genommen werden. Sie ist keine Gabe, die gegeben wird, sondern eine Wahl, die getroffen wird, und die Wahl fällt oft schwer. Der Weg führt aufwärts, dem Licht entgegen, aber es kommt vor, daß der schwerbeladene Wanderer das Ende nie erreicht.

Ged ließ sie weinen und sprach kein tröstendes Wort. Auch als ihre Tränen versiegt waren und sie zurückschaute auf das niedere blaue Land, auf Atuan, redete er nicht. Seine Züge waren ernst und wachsam, als ob er sich allein im Boot befände. Er wachte über das Segel und das Steuer, war flink und ruhig in seinen Bewegungen und schaute unentwegt nach vorne.

Am späten Nachmittag, sie hielten auf die Sonne zu, deutete er rechts hinüber und sagte: »Dort liegt Karego-At«, und Tenar folgte seiner Hand und sah ferne Hügel, die wie Wolken aussahen — die große Insel des Gottkönigs. Atuan war hinter dem Horizont verschwunden. Ihr Herz war schwer. Die Sonne schlug ihr auf die Augen wie ein Goldhammer.

Ihre Abendmahlzeit bestand aus trockenem Brot und geräuchertem Fisch, an dem Tenar würgte, und Wasser aus dem Wasserbehälter, den Ged am vorhergehenden Abend an einem Bach am Strand des Wolkenkaps gefüllt hatte. Die Winternacht kam früh und war kalt auf dem Meer. Weit im Norden sahen sie eine Weile winzige Lichter blinken, gelbes Licht von Feuern in fernen Dörfern an der Küste von Karego-At. Sie verschwanden in dem Dunst, der vom Meer aufstieg, und sie waren allein in der sternenlosen Nacht, über dem tiefen Meer.

Sie hatte sich im Heck des Bootes niedergelegt und zusammengerollt.Ged lag im Bug und benutzte den Wasserbehälter als Kissen. Das Boot glitt stetig dahin, kleine Wellen schlugen an seine Wände, obwohl der Wind nur wie ein schwacher Atem aus dem Süden blies. Hier draußen, weit weg von der Felsküste, schwieg das Meer; nur wenn es das Boot berührte, flüsterte es ein wenig.

»Wenn der Wind aus dem Süden bläst«, sagte Tenar flüsternd, weil das Meer auch flüsterte, »segeln wir dann nicht nach Norden?«

»Doch, außer wir kreuzen gegen den Wind. Aber ich habe einen magischen Wind in das Segel gerufen, der uns nach Westen treibt. Morgen früh werden wir uns nicht mehr in kargischen Gewässern befinden. Dann werde ich mit dem Wind der Welt segeln.«

»Steuert es sich selbst?«

»Ja«, erwiderte Ged ernsthaft, »vorausgesetzt, daß es die richtigen Anweisungen erhält. Es braucht nicht viele. Es war schon auf hoher See, weiter als die fernsten Inseln des Ostbereiches, und es war auf Selidor, wo Erreth-Akbe fiel, im fernsten Westen. Es ist ein weises, tüchtiges Boot, mein Weitblick. Du kannst ihm schon vertrauen.«

Das Mädchen lag im Boot, das von einer magischen Kraft über die Tiefe geleitet wurde, und blickte hinauf in die Dunkelheit. Ihr ganzes Leben lang hatte sie in Finsternis geblickt, doch dies hier war eine viel größere Finsternis, diese Nacht hier auf dem Meer. Hier gab es kein Ende, kein Dach. Diese Finsternis reichte weiter als die Sterne. Keine Macht der Erde konnte sie erschüttern; sie hatte bestanden, bevor es Licht wurde, und sie würde bestehen, nachdem alles Licht erloschen war; sie hatte bestanden, bevor es Leben gab auf dieser Welt, und sie würde weiterbestehen, nachdem alles Leben verschwunden war. Sie reichte bis jenseits des Bösen.

Sie sprach in die Dunkelheit hinein: »Die kleine Insel, wo man dir den Talisman gab, liegt die hier in diesen Gewässern?«

»Ja«, seine Stimme kam aus dem Dunkel. »Hier irgendwo; südlich, glaube ich. Ich würde sie nicht wiederfinden.«

»Ich weiß, wer die alte Frau war, die dir den Ring gegeben hat.«

»Du weißt es?«

»Man hat mir die Geschichte erzählt. Es gehört zum Wissen der Ersten Priesterin. Thar hat sie mir erzählt, das erste Mal in Kossils Gegenwart, und später ausführlicher, als wir allein waren. Das war das letzte Mal, daß sie mit mir gesprochen hat vor ihrem Tode. Ein adliges Geschlecht in Hupun hatte sich gegen die immer mächtiger werdenden Priester in Awabad erhoben. Der Stammvater des Geschlechts war König Thoreg, und unter den Schätzen, die er seinen Nachfahren hinterließ, war der halbe Ring von Erreth-Akbe.«

»So heißt es auch in den Taten von Erreth-Akbe. Es heißt … in deiner Sprache: ›Und als der Ring zerbrochen ward, blieb eine Hälfte in des Priesters Intathins Hand, die andere in des Helden Hand. Und der Hohepriester sandte die zerbrochene Hälfte zu den Namenlosen. Zu den Urmächten der Erde in Atuan, und sie verschwand im Dunkel, an Orten, die Menschen längst vergessen haben. Doch Erreth-Akbe legte seine Hälfte in die Hand des Mägdleins Tiarath, der Tochter des weisen Königs, und sprach: ›Möge sie im Licht des Tages, im Brautschatz des Mägdleins bleiben, möge sie in diesem Land bleiben, bis der Ring wieder geheilt werden kann.‹ So sprach der Held, bevor er nach dem Westen segelte.

Dann wurde die Ringhälfte wahrscheinlich von Tochter zu Tochter weitergegeben, durch all die vielen Jahre. Und sie war nicht verloren, wie deine Landsleute gedacht haben. Aber als die Hohepriester Priesterkönige wurden, und als die Priesterkönige das Reich schufen und sich Gottkönige nannten, wurde das Haus Thoregs immer ärmer und schwächer. Und ganz am Ende, so hat mir Thar erzählt, blieben nur noch zwei Kinder übrig, ein Junge und ein Mädchen. Der Gottkönig in Awabad, der damals regierte, war der Vater des jetzigen Gottkönigs. Er ließ die Kinder aus ihrem Palast in Hupun rauben, denn es wurde ihm prophezeit, daß ein Nachfahre von Thoreg von Hupun schließlich doch das Reich zu Fall bringen würde. Und davor hatte er Angst. Er veranlaßte, daß die Kinder geraubt und auf einer einsamen Insel mitten im Meer ausgesetzt wurden, und er ließ ihnen nichts außer ihrer Kleidung und etwas Nahrung. Er hatte Angst, sie durch das Messer, oder durch den Strang, oder durch Gift umzubringen, denn ein Fluch liegt auf jedem, selbst auf einem Gott, der königliches Blut vergießt. Sie hießen Ensar und Anthil, und Anthil gab dir den zerbrochenen Ring.«

Er schwieg lange. »So schließt sich also auch die Geschichte«, sagte er dann, »wie sich der Ring geschlossen hat. Aber es ist eine grausame Gesichte, Tenar. Die kleinen Kinder, die kleine Insel, der alte Mann und die Frau, die ich sah … sie waren kaum noch der menschlichen Sprache mächtig.«

»Ich möchte dich um etwas bitten.«

»Bitte!«

»Ich möchte nicht in die Innenländer, nach Havnor. Ich gehöre nicht dorthin, in große Städte, unter fremde Menschen. Ich gehöre in kein Land. Ich habe mein eigenes Land verraten. Und ich habe etwas Furchtbares getan. Setz mich auf einer Insel aus, so wie die Kinder des Königs ausgesetzt wurden, auf einer einsamen Insel, wo es keine Leute gibt und wo keiner hinkommt. Laß mich dort und trag den Ring nach Havnor. Er gehört dir, nicht mir. Ich habe nichts mit ihm zu tun. Auch deine Landsleute haben nichts mit mir zu tun. Laß mich allein.«

Langsam, ganz langsam erschien ein Licht wie ein kleiner Mondaufgang in der Dunkelheit. Bestürzt blickte sie auf. Das magische Licht war auf sein Geheiß erschienen. Es schwebte am Ende seines Stabes, den er hochhielt, als er sich am Bug des Bootes aufsetzte. Es beleuchtete den unteren Teil des Segels, den Dollbord, die Planken und übergoß sein Gesicht mit einem silbernen Licht. Er schaute ihr voll ins Gesicht.

»Was war das Furchtbare, das du getan hast, Tenar?«

»Ich habe angeordnet, daß drei Männer in einem Raum unter dem Thron eingeschlossen werden und verhungern sollten. Sie sind an Hunger und Durst gestorben. Als sie tot waren, wurden sie im Gewölbe begraben. Die Grabsteine fielen auf ihre Gräber.«

Sie sprach nicht weiter.

»Noch mehr?«

»Manan.«

»Dieser Tod liegt auf meiner Seele.«

»Nein. Er starb, weil er mich liebte und weil er treu war. Er glaubte, daß er mich schützen müsse. Er hatte das Schwert über meinen Hals gehalten. Als ich klein war, war er immer lieb zu mir — wenn ich weinte …« Sie verstummte, denn sie spürte, wie die Tränen wieder in ihr aufstiegen, und sie wollte nicht mehr weinen. Ihre Hände ballten sich in den schwarzen Falten ihres Kleides. »Ich war nie nett zu ihm«, sagte sie. »Ich werde nicht nach Havnor gehen. Ich werde nicht mit dir gehen. Such eine Insel, wo niemand hinkommt, setz mich dort ab und laß mich allein sein. Das Böse muß gesühnt werden. Ich bin nicht frei.«

Das sanfte Licht, durch den Nebel verschleiert, glomm zwischen ihnen.

»Hör mir zu, Tenar, hör mir gut zu! Du warst das Gefäß des Bösen. Das Böse ist ausgeleert. Es ist vorbei. Es ist in seinem eigenen Grab begraben. Du warst nie dazu bestimmt, grausam oder böse zu sein. Du warst bestimmt, das Licht zu halten, wie eine brennende Lampe Licht hält und spendet. Ich habe die Lampe gefunden, und sie war nicht angezündet. Ich werde sie nicht auf irgendeiner Wüsteninsel lassen, wie etwas, das man findet und wieder wegwirft. Ich nehme dich mit nach Havnor, und ich werde zu den Fürsten der Erdsee sagen: ›Schaut her! Anstelle der Dunkelheit habe ich das Licht gefunden, sie, ihre Seele. Durch sie wurde Böses zunichte gemacht; durch sie kam ich lebendig aus den Gräbern heraus; durch sie wurde, was zerbrochen war, wieder heil, und wo Haß loderte, wird Friede walten!«

»Ich will nicht gehen«, sagte Tenar gequält. »Ich kann nicht. Es ist nicht wahr, was du sagst!«

»Und danach«, fuhr er unbeirrt fort, »nehme ich dich weg von den Fürsten und reichen Adligen. Denn es stimmt, daß du dort nicht hingehörst. Du bist zu jung und zu weise. Ich nehme dich in mein Land mit, nach Gont, wo ich geboren bin, zu meinem früheren Meister Ogion. Er ist jetzt alt, ein sehr großer Magier und eine stille Seele. Er wird ›Der Schweigsame‹ genannt. Er wohnt in einem kleinen Haus hoch auf den Felsen bei Re Albi, weit über dem Meer. Er hat ein paar Ziegen und einen kleinen Garten. Im Herbst geht er ganz allein auf eine Wanderung über die Insel, durch die Wälder, hinauf in die Berge, durch Täler, entlang den Flüssen. Einmal habe ich dort bei ihm gewohnt, als ich noch jünger war als du. Ich blieb nicht lange, weil ich nicht vernünftig genug war, um zu bleiben. Ich verließ ihn, um das Böse zu suchen, und fand es dann wahrhaftig auch … Doch du entflohst dem Bösen und suchst die Freiheit, suchst die Stille, bis du dich selbst gefunden hast. Dort findest du Güte und Stille, Tenar. Dort kann die Lampe eine Weile geschützt vom Winde brennen. Wirst du dorthin mitkommen wollen?«

Der Nebel wogte grau zwischen ihren Gesichtern. Das Boot hob sich leicht auf den langgestreckten Wogen. Die Nacht umgab sie, und unter ihnen lag die unergründliche See.

»Ja, ich werde mitkommen«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer. Und nach einer Weile fügte sie hinzu: »Oh, ich wollte, es wäre gleich … daß wir dorthin gehen könnten …«

»Es wird nicht lange dauern, Kleines.«

»Wirst du jemals dort hinkommen?«

»Wenn ich kann, werde ich kommen.«

Das Licht um sie war erloschen, die Dunkelheit hatte sich auf sie gesenkt.

Sonnenaufgänge und -untergänge, ruhige Tage auf See und eisige Winde des Winters lagen hinter ihnen, als sie endlich das Innenmeer erreichten. Sie segelten die stark befahrenen Meeresstraßen zwischen großen Schiffen entlang, dann die Meerenge von Ebavnor hinauf und über die Bucht in den Hafen von Havnor. Sie sahen die weißen Türme und die ganze Stadt weißglitzernd im Schnee liegen. Die Dächer der Brücken und die roten Ziegeldächer der Häuser waren schneebedeckt, und die Takelagen der Schiffe im Hafen waren eisbedeckt und funkelten in der Wintersonne. Die Kunde ihrer Rückkehr war ihnen vorausgeeilt, denn der Weitblick rotes Segel war in diesen Gewässern bekannt. Eine große Menschenmenge hatte sich an dem verschneiten Ufer angesammelt, und bunte Fahnen und Wimpel flatterten und knatterten im hellen, kalten Wind.

Tenar saß aufrecht im Heck des Bootes, in ihrem abgetragenen, schwarzen Umhang. Sie blickte auf den Reif an ihrem Arm, dann auf das dichtbesetzte, bunte Ufer, auf die Paläste und die hohen Türme. Sie hob die rechte Hand, und das Sonnenlicht fing sich im Silber des Ringes. Ein Jubel erhob sich, der, vom Wind ergriffen, schwach und freudvoll über die ruhelose See zu ihnen herüberdrang. Ged legte am Pier an. Hunderte von Händen streckten sich aus, um das Seil zu fangen, das er zum Vertäuen hinaufwarf. Er stieg hinauf aufs Pier, wandte sich um und streckte ihr seine Hand entgegen. »Komm!« sagte er lächelnd, und sie erhob sich und kam. Ernst schritt sie an seiner Seite die weißen Straßen von Havnor hinauf, seine Hand haltend wie ein Kind, das heimgekehrt ist.

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