6 DIE MENSCHENFALLE

Am nächsten Tag, nachdem sie ihren Pflichten in den verschiedenen Tempeln nachgekommen war und die Novizen in den heiligen Tänzen unterrichtet hatte, schlüpfte Arha hinüber ins Kleinhaus, verdunkelte den Raum und spähte durch das Guckloch hinunter in den unterirdischen Gang. Kein Licht war zu sehen. Er war nicht mehr da. Sie hatte auch nicht erwartet, daß er so lange an der unbeweglichen Tür verweilen würde, aber es war der einzige Ort, an dem sie nach ihm Ausschau halten konnte. Wie konnte sie ihn jetzt finden, nachdem er sich selbst verloren hatte?

Die Gänge des Labyrinths zogen sich, ihrer eigenen Erfahrung und Thars Berechnungen nach, in all ihren Windungen, Abzweigungen, Krümmungen, Spiralen und Sackgassen über eine Strecke von mehr als zwanzig Meilen dahin. Die Sackgasse, die am weitesten von den Gräbern entfernt lag, war, in direkter Linie gemessen, bestimmt nicht weiter als eine Meile entfernt. Aber kein Gang verlief gerade dort unten. Alle Gänge wanden, verbanden, trennten, verzweigten sich und zogen sich in verschnörkelten Bahnen dahin, die dort endeten, wo sie begonnen hatten. Einen richtigen Anfang und ein richtiges Ende gab es nicht. Man konnte dort unten gehen und immer weiter gehen und kam doch nirgends hin, denn es gab nichts, wohin man gelangen konnte. Das Labyrinth hatte keinen Mittelpunkt, kein Herz. Und wenn die Tür geschlossen war, so gab es kein Ende mehr. Keine Richtung war richtig.

Obwohl sie die Wege und Wendungen zu den verschiedenen Räumen und Abschnitten fest im Gedächtnis hatte, hatte sie doch immer, wenn sie auf einen größeren Forschungsausflug ging, einen Knäuel feines Garn mitgenommen, das sich hinter ihr abspulte und das sie, bei der Rückkehr, wieder zu einem Knäuel wickelte. Denn sie brauchte nur einen der Durchgänge oder eine der Ecken vergessen zu zählen, dann wäre selbst sie verloren gewesen. Ein Licht nutzte nichts, denn es gab keine Anhaltspunkte dort unten. Alle Gänge, alle Durchgänge, alle Türen sahen gleich aus. Er konnte bereits meilenweit gelaufen sein und sich doch nur wenige Schritte von der Tür entfernt befinden, durch die er eingetreten war.

Sie ging in die Thronhalle, in den Tempel der Zwillingsgötter und in den Keller unter den Küchenräumen, und als sie allein war, schaute sie durch jedes der Gucklöcher, die sich an diesen Orten befanden, aber sie sah nichts als dichte, kalte Dunkelheit. Als es Nacht wurde, eine bitterkalte, sternenklare Nacht, ging sie zu bestimmten Stellen am Hügel und hob gewisse Steine hoch, kratzte die Erde weg und spähte hinunter, aber auch hier sah sie nur sternenlose, unterirdische Dunkelheit.

Er war dort unten. Er mußte dort unten sein. Und doch war er ihr entwichen. Er würde vor Durst umkommen, bevor sie ihn fand. Sie würde Manan hinunter ins Labyrinth schicken müssen, wenn sie sicher war, daß er nicht mehr lebte. Es war unerträglich, daran zu denken. Als sie im Sternenlicht am eiskalten Hügel kniete, stiegen ihr Tränen des Zornes in die Augen.

Sie folgte dem Pfad, der den Hügel hinunter zum Tempel des Gottkönigs führte. Die vom Rauhreif bedeckten Säulen mit den geschnitzten Kapitellen schimmerten weiß im Licht der Sterne. Sie sahen aus wie Säulen aus Knochen. Sie klopfte an die Hintertür, und Kossil ließ sie eintreten.

»Was führt meine Herrin hierher?« fragte die beleibte Frau, ihren kalten, lauernden Blick auf Arha gerichtet.

»Priesterin, im Labyrinth befindet sich ein Mann.«

Kossil stand wie vom Schlag gerührt; diese Nachricht kam unerwartet, damit hatte sie nicht gerechnet. Sie stand da und starrte Arha an. Ihre Augen schienen hervorzuquellen. Sie sah in diesem Augenblick so aus, wie Penthe sie versucht hatte nachzuahmen, und Arha mußte ihren ganzen Willen aufwenden, um ein schallendes Lachen zu unterdrücken.

»Ein Mann? Im Labyrinth?«

»Ein Mann, ein Fremder.« Dann, als Kossil sie weiterhin sprachlos und ungläubig anstarrte, fügte sie hinzu: »Ich weiß, wie ein Mann aussieht, obwohl ich nur wenige gesehen habe.«

Kossil überhörte die Ironie. »Wie konnte ein Mann hierher gelangen?«

»Durch Hexerei, glaube ich. Seine Haut ist dunkel, vielleicht kommt er von den Innenländern. Er kam, um die Gräber zu bestehlen. Ich habe ihn zuerst im Untergrab gefunden, unter den Grabsteinen. Er rannte zum Eingang des Labyrinths, als er meiner gewahr wurde, so als ob er sich dort unten auskenne. Ich schloß die eiserne Tür hinter ihm. Er versuchte, sie mit Magie zu öffnen, aber die Tür blieb verschlossen. Am Morgen ging er weiter ins Labyrinth hinein. Jetzt kann ich ihn nicht mehr finden.«

»Hat er ein Licht?«

»Ja.«

»Wasser?«

»Eine kleine Flasche nur, nicht voll.«

»Seine Kerze wird längst niedergebrannt sein«, überlegte Kossil. »Vier bis fünf Tage, vielleicht sechs. Dann können meine Wärter hinuntergehen und den Leichnam herausholen. Das Blut sollte dem Thron geopfert werden und die …«

»Nein«, unterbrach Arha sie mit erregter, schriller Stimme. »Ich möchte ihn lebendig festnehmen.«

Die Priesterin blickte von ihrer gewichtigen Höhe herunter auf das Mädchen. »Warum?«

»Um … um sein Sterben hinauszuzögern. Er hat sich gegen die Namenlosen vergangen. Er hat das Untergrab durch Licht entweiht. Er kam, um die Schätze aus den Gräbern zu stehlen. Er muß schwerer bestraft werden, als nur in einem Gang sich niederlegen zu dürfen und zu sterben.«

»Ja«, sagte Kossil und tat, als überlege sie etwas. »Aber wie will ihn meine Herrin fangen? Das ist eine riskante Sache. Mein Plan ist sicherer. Gibt es dort unten nicht irgendwo einen Raum voller Gebeine? Von Männern, die das Labyrinth betreten, aber nicht wieder lebendig verlassen haben? — Mögen ihn die Dunklen Mächte bestrafen, wie es ihnen richtig erscheint, auf die dunkle Art und Weise des Labyrinths. Der Tod des Verdurstens ist grausam.«

»Ich weiß«, sagte das Mädchen und trat hinaus in die Nacht. Sie zog ihre Kapuze über den Kopf gegen den heftigen, bitterkalten Wind. Hatte sie es nicht gewußt?

Es war kindisch und dumm von ihr gewesen, zu Kossil zu gehen. Von ihr konnte sie keine Hilfe erwarten. Kossil war unwissend, sie verstand nichts, für sie gab es nur ein kaltes Abwarten, bis der Tod eintrat. Sie sah nicht ein, daß der Mann gefunden werden mußte. Mit ihm durfte nicht das gleiche geschehen wie mit den anderen. Das konnte sie nicht mehr durchmachen. Da der Tod unvermeidlich war, mußte er rasch, und im Tageslicht, vollzogen werden. Es war ohne Zweifel angemessener, daß dieser Dieb, der erste Mensch seit Jahrhunderten, der mutig genug war, hierher zu kommen und die Gräber zu berauben, durch eine Schwertklinge hingerichtet wurde. Er hatte noch nicht einmal eine unsterbliche Seele, die wiedergeboren werden konnte. Sein Geist würde jammernd durch die Gänge entweichen. Es konnte nicht zugelassen werden, daß er dort unten am Durst starb.

Arha schlief nur wenig in dieser Nacht. Der folgende Tag war mit Ritualen und Pflichten angefüllt. Die nächste Nacht verbrachte sie damit, ohne Laterne und lautlos von Guckloch zu Guckloch zu gehen, durch all die Gebäude und auf dem windigen Hügel. Schließlich ging sie zu Bett im Kleinhaus, zwei bis drei Stunden vor dem Morgengrauen, aber sie fand keinen Schlaf. Am Spätnachmittag des dritten Tages ging sie hinaus in die Wüste, gegen den Fluß zu, der jetzt, in der Trockenzeit des Winters, niedrig war. Eis hatte sich zwischen dem Schilf gebildet, und es war kalt. Es war ihr eingefallen, daß sie einmal, im Herbst, weit im Labyrinth herumgewandert war, am Sechserkreuz vorbei, und während sie einen langen, gekrümmten Gang entlangschritt, hatte sie hinter der Steinwand Wasser fließen hören. War nicht anzunehmen, daß ein vom Durst gepeinigter Mann, wenn er dorthin kam, dortblieb? Auch dort draußen gab es Gucklöcher. Sie mußte sie erst wieder suchen, auch wenn Thar ihr jedes einzelne gezeigt hatte letztes Jahr, und es fiel ihr nicht schwer, sie wiederzufinden. Ihr Erinnerungsvermögen für Örtlichkeiten war wie das eines Blinden: sie tastete eher nach den verborgenen Stellen, als daß sie ihre Augen benutzte. Beim zweiten Guckloch, das sich in einer flachen Vertiefung des Felsens befand und das am weitesten von den Gräbern entfernt war, sah sie, nachdem sie ihre Kapuze hochgezogen hatte, um das Licht abzuschirmen, unter sich das schwache Glühen des magischen Lichtleins.

Er war dort unten, halb aus ihrem Blickfeld gerückt. Das Guckloch blickte direkt hinunter ans Ende der Sackgasse. Sie konnte nur seinen Rücken, seinen gebeugten Nacken und seinen rechten Arm wahrnehmen. Er saß nahe an der Ecke und bohrte mit seinem Messer, einem kurzen Dolch aus Stahl, mit einem verzierten und mit Edelsteinen besetzten Griff, an den Steinwänden herum. Die Spitze des Dolches war abgebrochen, der abgebrochene Teil lag direkt unter dem Guckloch. Er hatte es beschädigt, als er versuchte, die Steine auseinander zu zwängen, um an das Wasser zu gelangen, das er in der toten Stille unter der Erde auf der anderen Seite der undurchdringlichen Wand leise murmelnd dahinfließen hörte.

Seine Bewegungen zeugten von Erschöpfung. Er war nach den drei Tagen und Nächten verändert, sah ganz anders aus, nicht mehr so kraftvoll und ruhig wie an der Eisentür. Aber er war noch immer hartnäckig, obwohl seine Kräfte erlahmt waren. Kein Zauberspruch stand ihm zur Verfügung, der diese Steine zur Seite rücken konnte, er mußte sich auf das nutzlose Messer verlassen. Selbst sein magisches Licht war schwächer geworden. Während Arha hinschaute, flackerte das Licht auf, der Kopf des Mannes zuckte, und der Dolch fiel zur Erde. Doch er bückte sich sofort wieder danach und versuchte beharrlich, die zerbrochene Klinge zwischen die Steine zu bohren.

Auf dem eiskalten Schilf an der Uferböschung liegend, ohne sich bewußt zu sein, wo sie war oder was sie tat, brachte Arha ihren Mund ans Guckloch und hielt ihre Hände wie einen Trichter davor, damit kein Laut entweichen konnte. »Zauberer!« sagte sie, und ihre Stimme schlüpfte die steinerne Kehle hinunter und flüsterte kalt im unterirdischen Gang.

Der Mann schrak zusammen, sprang auf die Füße und entzog sich so ihrem Blickfeld. Sie brachte ihren Mund wieder ans Guckloch und sagte: »Geh den Gang am Fluß entlang, zurück bis zur zweiten Abzweigung, dort geh nach rechts, laß zwei Öffnungen aus, dann wieder rechts, dort, wo sich sechs Wege kreuzen, wähl den ganz rechts; dann links, dann rechts, dann links, dann rechts. Bleib im Bemalten Raum.«

Als sie wieder hinunterschaute, mußte ein Lichtstrahl vom Tageslicht hinunter gelangt sein, denn er war wieder in ihr Blickfeld gerückt und starrte nach oben, gegen die Öffnung. Sein Gesicht, das irgendwelche Narben trug, war angespannt und aufmerksam. Seine Lippen waren ausgetrocknet und schwarz, doch seine Augen blickten hell. Er hob seinen Stab in die Höhe und brachte das Licht immer näher an ihre Augen. Erschreckt zog sie sich zurück, verschloß das Guckloch mit dem Stein und den anderen Tarnsteinen, erhob sich und ging hurtig zurück zur Stätte. Sie fühlte, wie ihre Hände zitterten und wie eine Schwäche sie überfiel, während sie den Weg entlanglief. Sie wußte nicht, was sie tun sollte.

Wenn er ihren Anweisungen folgte, dann würde er zurück in Richtung der eisernen Tür gehen und in den Bemalten Raum gelangen. Dort gab es nichts, es lag kein Grund vor, warum er dorthin gehen sollte. In der Decke des Bemalten Raumes war ein Guckloch, ein gutes, das sich in der Schatzkammer des Tempels der Zwillingsgötter befand. Vielleicht hatte sie ihn deshalb dorthin gewiesen. Sie wußte es nicht. Warum hatte sie mit ihm gesprochen?

Sie konnte ihm etwas Wasser durch das Guckloch hinunterlassen. Das würde ihn länger am Leben erhalten; so lange es ihr Spaß machte. Wenn sie ab und zu Wasser und etwas Nahrung hinunterließ, dann würde er wochen- oder monatelang am Leben bleiben und im Labyrinth umherwandern, und sie konnte ihn durch die Gucklöcher beobachten und ihm sagen, wo Wasser zu finden war, und manchmal konnte sie ihn irreleiten, und er würde vergeblich danach suchen, aber er würde ihr immer gehorchen müssen. Das würde ihn Respekt lehren, er würde es bitter bereuen, die Namenlosen verhöhnt zu haben, er, der seine lächerliche Männlichkeit in der Gräberstätte der Namenlosen beweisen wollte!

Aber so lange er dort unten war, konnte sie nie das Labyrinth betreten. Warum nicht? fragte sie sich und antwortete: … weil er durch die Eisentür, die ich hinter mir offenlassen muß, entweichen kann … Aber er würde nicht weiter als bis zum Untergrab kommen. Sie gestand sich die Wahrheit ein: sie fürchtete sich, ihm gegenüberzutreten. Sie hatte Angst vor seiner Macht, vor seinen Künsten, die ihm geholfen hatten, das Untergrab zu betreten, vor der Zauberkraft, die das Licht am Stab leuchten ließ. Aber war denn das so schrecklich? Die Mächte, die an den dunklen Orten herrschten, waren auf ihrer, nicht auf seiner Seite. Er konnte ganz offensichtlich wenig im Reich der Namenlosen ausrichten. Er hatte die eiserne Tür nicht öffnen können, er war nicht in der Lage, etwas zum Essen herbeizuzaubern, es gelang ihm nicht, Wasser durch die Wand zu leiten oder Dämonen herbeizurufen, die ihm die Wand einreißen konnten. Nein, er war machtlos hier, und das, wovor sie sich gefürchtet hatte, konnte er hier nicht wirken. In den drei Tagen, die er herumgewandert war, hatte er nicht einmal die Tür zur Großen Schatzkammer gefunden, die er gewißlich gesucht hatte. Sie selbst war noch nie Thars Anweisungen gefolgt und hatte diesen Raum aufgesucht; sie hatte es immer wieder verschoben, aus einem Gefühl der Ehrfurcht heraus, etwas in ihr sträubte sich dagegen, ein Gefühl, daß die Zeit noch nicht reif dazu war.

Jetzt überlegte sie sich aber: warum konnte er diesen Weg nicht für sie gehen? Er konnte, so lange er wollte, sich an den Schätzen der Gräber vergnügen. Sie würden ihm wahrlich wenig nutzen! Sie konnte sich über ihn lustig machen, konnte ihn auffordern, das Gold zu essen und die Diamanten zu trinken.

Mit der gleichen nervösen, fieberhaften Hast, die während der vergangenen drei Tage Besitz von ihr ergriffen hatte, rannte sie zum Tempel der Zwillingsgötter, schloß die kleine, gewölbte Schatzkammer auf und machte das gut verborgene Guckloch am Boden auf.

Der Bemalte Raum lag unter ihr, doch er war stockfinster. Der Weg, dem der Mann folgen mußte dort unten, war viel umständlicherer war meilenlang, das hatte sie ganz vergessen. Und er war zweifellos geschwächt und konnte sich nicht schnell bewegen. Vielleicht hatte er ihre Anweisungen vergessen und die falsche Richtung eingeschlagen. Nur wenige Leute konnten, wie sie, Anweisungen im Gedächtnis behalten, die sie nur einmal gehört hatten. Vielleicht verstand er ihre Sprache überhaupt nicht. Wenn das der Fall war, dann sollte er von ihr aus herumlaufen, bis er dort unten tot umfiel, der Narr, der Fremde, der Ungläubige! Dann konnte sein Geist die steinernen Gänge der Gräber von Atuan entlang heulen, bis die Dunkelheit selbst ihn verzehrte …

Am nächsten Morgen, ganz früh, nach einer schlaflosen Nacht voll quälender Träume, kehrte sie zu dem Guckloch in dem kleinen Tempel zurück. Sie blickte hinunter und sah nichts, nur Schwärze. Sie ließ eine Kerze, die in einer kleinen Blechlaterne brannte, an einer Kette hinunter. Dort, im Bemalten Raum, erblickte sie ihn. Sie sah, im Lichtkreis der Lampe, seine Beine und eine schlaffe Hand. Sie brachte ihren Mund an das Guckloch, das so groß wie eine ganze Bodenkachel war und sagte: »Zauberer!«

Nichts rührte sich. War er tot? Besaß er denn nicht mehr Stärke? Sie lächelte verächtlich; ihr Herz schlug heftig. »Zauberer!« schrie sie, und ihre Stimme dröhnte in dem hohlen Raum unter ihr. Er bewegte sich, setzte sich langsam auf und schaute verwirrt um sich. Nach einer Weile blickte er hoch, zuckte zusammen, als er die kleine Laterne wahrnahm, die an der Decke hin und her schaukelte. Sein Gesicht sah schrecklich aus, geschwollen, so dunkel wie das Gesicht einer Mumie.

Er griff nach dem Stab, der neben ihm auf dem Boden lag, aber kein Lichtlein glühte an dem Holz. Keine Macht war mehr in ihm.

»Willst du den Schatz der Gräber von Atuan sehen, Zauberer?«

Er richtete sich mühsam auf und blinzelte in das Licht der Laterne, sonst konnte er nichts wahrnehmen. Nach einer Weile nickte er einmal mit dem Kopf, sein Gesicht war zu einer Grimasse verzogen, die vielleicht als Lächeln begonnen hatte.

»Verlaß diesen Raum, wende dich nach links, nimm den ersten Gang links …!« Sie ratterte die lange Reihe von Anweisungen herunter ohne abzusetzen und fügte am Ende hinzu: »Dort ist der Schatz, den du suchst. Und dort findest du, vielleicht, Wasser. Was hättest du denn jetzt lieber, Zauberer?«

Er stand jetzt schwankend auf den Füßen und hielt sich an seinem Stab fest. Mit Augen, die nichts sehen konnten, blickte er hoch und versuchte etwas zu sagen, doch kein Laut kam aus seiner ausgetrockneten Kehle. Er zuckte fast unmerklich die Achseln und verließ den Bemalten Raum.

Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Weg zur Großen Schatzkammer würde er sowieso nicht finden. Die Anweisungen waren so lang, er würde sie sich nicht merken können, und dort befand sich auch der Schacht, wenn er überhaupt so weit kam. Jetzt war er ganz im Dunkeln. Er würde sich verlaufen und endlich umfallen und irgendwo in den engen, hohlen, ausgetrockneten Gängen sterben. Manan würde ihn finden und herausschleifen. Das war das Ende. Arha hielt sich am Rande des Gucklochs fest und schwang ihren gekrümmten Körper hin und her, hin und her und biß sich auf die Lippen, als wäre sie in furchtbarer Pein. Sie würde ihm kein Wasser geben. Sie würde ihm kein Wasser geben. Den Tod, den Tod, den Tod, den Tod, DEN TOD würde sie ihm geben.

In dieser dunkelsten Stunde ihres Lebens betrat Kossil mit schwerem Schritt die Schatzkammer, eine unförmige Gestalt in der dicken Winterkleidung.

»Ist er tot?«

Arha hob den Kopf. Ihre Augen waren trocken, sie hatte nichts zu verbergen.

»Ich glaube«, sagte sie und schüttelte den Staub von ihren Röcken. »Sein Licht ist erloschen.«

»Er kann uns einen Streich spielen. Die Seelenlosen sind sehr schlau.«

»Ich werde noch einen Tag warten, um sicher zu sein.«

»Ja, oder zwei. Dann kann Duby hinuntergehen und ihn herausziehen. Er ist stärker als der alte Manan.«

»Aber Manan steht im Dienst der Namenlosen und Duby nicht. Im Labyrinth sind Stellen, die Duby nicht betreten sollte, und der Dieb befindet sich an einer von ihnen.«

»Nun, dann ist der Ort ja bereits entweiht …«

»Und sein Tod reinigt ihn wieder«, sagte Arha. Sie konnte am Ausdruck von Kossils Gesicht ablesen, daß Kossil auf ihrem Gesicht etwas sah, das ihr verdächtig vorkam. »Dies ist mein Reich, Priesterin. Ich herrsche darüber und folge dem Willen meiner Gebieter. Ich habe keinen Unterricht mehr im Töten nötig.«

Kossils Gesicht schien sich in die schwarze Kapuze zurückzuziehen, wie eine Wüstenschildkröte in ihren Panzer, langsam, verbissen und kalt. »Sehr gut, Herrin.«

Sie trennten sich vor dem Altar der göttlichen Brüder. Arha ging, ohne sich zu beeilen, zum Kleinhaus und rief Manan zu sich, damit er sie begleite. Nachdem sie mit Kossil gesprochen hatte, wußte sie, was sie zu tun hatte.

Zusammen mit Manan ging sie den Hügel hinauf, betrat die Thronhalle und stieg hinunter ins Untergrab. Mit vereinten Kräften und großer Anstrengung zogen sie an dem langen Hebel der eisernen Tür. Sie öffnete sich langsam und schwer. Dann zündeten sie ihre Laternen an und traten ein. Arha ging voran zum Bemalten Raum, und von dort aus machte sie sich auf den Weg zur großen Schatzkammer.

Der Dieb war nicht weit gekommen. Sie und Manan waren nicht mehr als fünfhundert Schritte auf dem verschlungenen Weg gegangen, als sie auf ihn stießen. Er lag, wie ein Bündel alter Lumpen, zusammengesunken, in dem engen Gang. Er hatte seinen Stab weggeworfen, bevor er umfiel, doch er lag nicht weit entfernt. Er blutete aus dem Mund, seine Augen waren halb geschlossen.

»Er lebt noch«, sagte Manan, der niedergekniet war und mit seiner großen, gelben Hand den Puls an seiner Kehle fühlte. »Soll ich ihn erwürgen, Herrin?«

»Nein, ich will ihn lebendig haben. Nimm ihn hoch und trag ihn mir nach!«

»Lebendig?« Manan war beunruhigt. »Warum denn das, kleine Herrin?«

»Damit er Sklave der Gräber werden kann! Sei jetzt ruhig und rede nicht weiter! Tu, was ich dir sage!«

Sein Gesicht wurde noch melancholischer als gewöhnlich, doch Manan gehorchte und hob den jungen Mann mühelos auf seine Schulter, wie einen langen Sack. So beladen stolperte er hinter Arha her. Er konnte nicht weit gehen mit seiner Last. Sie hielten immer wieder an, damit Manan Atem schöpfen konnte. An jedem Haltepunkt war der Gang gleich: gräulichgelbe Steine an der Wand, die sich zum Rundbogen trafen, unebener Felsboden, verbrauchte Luft. Manan stöhnte und ächzte, der Fremde rührte sich nicht. Die zwei Laternen verbreiteten ein schwaches Lichtrund, das sich nach vorne und hinten in dem engen Gang verlor. An jeder Haltestelle tröpfelte Arha etwas von dem Wasser, das sie mitgebracht hatte, in den Mund des Fremden, immer nur ein paar Tropfen, damit das wiedererwachende Leben ihn nicht töte.

»In den Kettenraum?« fragte Manan, als sie sich in dem Gang befanden, der zur eisernen Tür führte. Jetzt kam es Arha zum ersten Mal zum Bewußtsein, daß sie nicht wußte, wohin sie den Gefangenen bringen sollte.

»Nein, nicht dorthin«, sagte sie, und wiederum wurde es ihr fast übel beim Gedanken an den Rauch und Gestank, an die verfilzten, sprachlosen, blinden Gesichter. Und außerdem, Kossil konnte diesen Raum betreten. »Er … er muß im Labyrinth bleiben, damit er seine Zauberkraft nicht wiedererlangen kann. Wo gibt es hier einen abgeschlossenen Raum …?«

»Der Bemalte Raum hat eine Tür und ein Schloß und ein Guckloch ist auch da, Herrin. Wenn man ihm mit Türen trauen kann …«

»Hier unten hat er keine Macht. Trag ihn dorthin, Manan!«

Manan schleppte ihn also wieder zurück, die gleiche Strecke, die sie hergekommen waren, zu erschöpft, zu kurzatmig, um zu protestieren. Als sie endlich den Bemalten Raum erreicht hatten, nahm Arha ihren langen, schweren Winterumhang aus Wolle ab und legte ihn auf den staubigen Boden.

»Hier, leg ihn da drauf«, sagte sie.

Manan starrte in melancholischer Verwirrung auf den Umhang und keuchte: »Kleine Herrin …«

»Ich will, daß dieser Mann am Leben bleibt, Manan. Er wird hier sonst durch die Kälte sterben, schau her, wie er zittert.«

»Der Umhang wird entweiht, beschmutzt. Der Umhang der Priesterin — das ist ein Ungläubiger, ein Mann!« stieß Manan aus, und seine kleinen Augen zogen sich zusammen, als litte er Schmerzen.

»Dann werde ich den Umhang verbrennen und mir einen neuen weben lassen. Mach jetzt, Manan!«

Manan ließ den Gefangenen von seinem Rücken gleiten und auf den schwarzen Umhang fallen. Der Mann lag da wie tot, aber sein Puls klopfte stark in seiner Kehle. Ab und zu wurde er von Krämpfen geschüttelt.

»Man sollte ihn in Ketten legen«, sagte Manan unbehaglich.

»Sieht er so gefährlich aus?« spottete Arha, doch als Manan an den eisernen Ring deutete, der in die Steine eingelassen und für Gefangene bestimmt war, ließ sie ihn in den Kettenraum gehen, um eine Kette und ein Schloß zu holen. Er schlurfte davon und brummte die Anweisungen vor sich hin. Es war nicht das erste Mal, daß er hierhergekommen war, aber er war noch nie allein gegangen.

Die Gemälde an den Wänden schienen sich im Licht ihrer Laterne zu bewegen, zu zucken: große, unförmige menschliche Gestalten mit langen, hängenden Flügeln, die in zeitloser Gleichgültigkeit hockten und standen.

Sie kniete nieder und tröpfelte Wasser in den Mund des Gefangenen. Endlich hustete er und griff mit schwachen Händen nach dem Gefäß. Sie ließ ihn trinken. Er legte sich zurück, sein Gesicht war naß und mit Staub und Blut verschmiert. Er murmelte etwas, zwei oder drei Worte, in einer Sprache, die sie nicht verstand.

Manan kehrte endlich zurück, eine lange Kette mit Schloß und Schlüssel hinter sich herschleifend und einen Eisenring haltend, den er um die Taille des Mannes schlang und verschloß. »Der ist so dürr, er kann durchschlüpfen«, brummte er, als er das letzte Kettenglied an die Wand schloß.

»Nein, schau her«, Arha, die jetzt weniger Angst vor ihrem Gefangenen hatte, zeigte ihm, daß sie ihre Hand nicht zwischen den eisernen Gürtel und die Rippen des Mannes zwängen konnte. »Er kann nicht, nur wenn er noch länger als viet Tage hungert.«

»Kleine Herrin«, sagte Manan mit klagender Stimme. »Ich will ja nichts in Frage stellen, aber … wie kann er denn ein Sklave der Namenlosen werden? Er ist doch ein Mann, Kleines!«

»Und du bist ein alter Narr, Manan. Komm jetzt und hör auf zu schimpfen!«

Der Gefangene sah sie aus aufmerksamen Augen prüfend an.

»Wo ist sein Stab, Manan? Hier. Den nehme ich mit, darin steckt Zauberkraft. Oh, und das … das nehme ich auch mit«, und mit raschem Griff packte sie die Silberkette, die an dem Hals des Fremden unter seinem Wams hervorschaute, und riß sie über seinen Kopf, obwohl er ihre Arme halten und sie daran hindern wollte. Manan trat ihm heftig in den Rücken. Sie zog sie dem Fremden über den Kopf und brachte sie außer Reichweite. »Ist das dein Talisman, Zauberer? Gilt er dir viel? Er sieht ärmlich aus, konntest du dir keinen besseren leisten? Ich werde ihn sicher aufbewahren.« Sie legte sich die Kette selbst um den Hals und verbarg den Anhänger unter dem schweren Kragen ihres wollenen Kleides.

»Sie können nichts damit anfangen«, sagte er heiser. Er sprach die kargischen Worte falsch aus, aber klar genug, daß man sie verstehen konnte.

Manan trat ihn wieder in die Rippen, und der Gefangene stöhnte auf vor Schmerz und schloß die Augen.

»Laß ihn in Ruhe, Manan. Komm!«

Sie verließ den Raum. Manan folgte leise grollend.

In der Nacht, als alles dunkel war, stieg sie wieder den Hügel hinauf, allein dieses Mal. Sie füllte den Wasserbehälter am Brunnen hinter dem Thronsaal und nahm das Wasser und einen großen, flachen, ungesäuerten Laib Buchweizenbrot mit hinunter in den Bemalten Raum im Labyrinth. Sie stellte alles in Reichweite des Gefangenen innerhalb der Tür. Er schlief und rührte sich nicht. Sie kehrte ins Kleinhaus zurück, und in dieser Nacht schlief auch sie lang und tief.

Am frühen Nachmittag kehrte sie allein ins Labyrinth zurück. Das Brot war verschwunden, das Wasser getrunken, und der Gefangene saß aufrecht, mit dem Rücken zur Wand. Sein Gesicht sah immer noch schrecklich aus, verschmiert und verkrustet, aber er war wach und schaute sie aufmerksam an.

Sie stand auf der anderen Seite des Raums, wo er sie unmöglich erreichen konnte, angekettet wie er war. Sie schaute ihn an. Dann wandte sie die Augen von ihm ab. Aber es gab nichts, worauf man seine Blicke hätte richten können. Etwas hielt sie vom Reden ab. Ihr Herz klopfte laut, als ob sie Angst hätte. Es lag kein Grund vor, sich vor ihm zu fürchten. Er war in ihrer Gewalt.

»Es tut gut, Licht zu haben«, sagte er leise, mit einer tiefen Stimme, die sie verwirrte.

»Wie heißt du?« fragte sie herrisch. Sie fand, daß ihre eigene Stimme ungewöhnlich hoch und dünn klang.

»Nun, meistens werde ich Sperber genannt.«

»Sperber? Heißt du so?«

»Nein.«

»Wie heißt du denn dann?«

»Das kann ich Ihnen nicht sagen. Sind Sie die Eine Priesterin der Gräber?«

»Ja.«

»Wie heißen Sie?«

»Ich werde Arha genannt.«

»Diejenige — die-verzehrt-wurde — das bedeutet es, nicht wahr?« Seine dunklen Augen ruhten auf ihr. Er lächelte ein wenig. »Und wie heißen Sie?«

»Ich habe keinen Namen. Stell keine Fragen. Wo kommst du her?«

»Von den Innenländern. Aus dem Westen.«

»Von Havnor?«

Es war der einzige Name einer Stadt oder Insel, der ihr geläufig war.

»Ja, aus Havnor.«

»Warum kamst du hierher?«

»Die Gräber von Atuan sind bekannt unter meinem Volk.«

»Aber du bist ein Ungläubiger …«

Er schüttelte den Kopf. »O nein, Priesterin. Ich glaube an die Mächte der Dunkelheit! Ich bin mit den Namenlosen an anderen Orten zusammengetroffen.«

»An welchen anderen Orten?«

»Im Inselreich — den Innenländern — gibt es einige Stellen, die den Uralten Mächten der Erde gehören. Aber keine ist so groß wie diese hier. Nirgends sonst haben sie einen Tempel und eine Priesterin und nirgends werden sie verehrt wie hier.«

»Du bist hierhergekommen, um sie zu verehren?« höhnte sie.

»Ich kam, um sie zu bestehlen«, sagte er.

Sie starrte in sein ernstes Gesicht. »Aufschneider!«

»Ich wußte, daß es nicht einfach sein wird.«

»Einfach? Es ist unmöglich. Wärest du kein Ungläubiger, so wüßtest du das. Die Namenlosen beschützen den Schatz.«

»Was ich suche, gehört ihnen nicht.«

»Es gehört dir, nehme ich an.«

»Es steht mir zu, es zu nehmen.«

»Wer bist du denn — ein Gott? Ein König?« Sie musterte ihn von oben bis unten, wie er dasaß, angekettet, schmutzig, erschöpft. »Du bist ein gemeiner Dieb.«

Er gab keine Antwort, doch ihre Augen trafen sich.

»Du hast kein Recht, mich anzuschauen«, schrie sie mit schriller Stimme.

»Herrin«, sagte er, »ich wollte Sie nicht beleidigen. Ich bin fremd hier, ein Eindringling. Ich kenne Ihre Sitten nicht und weiß nicht, wie man der Priesterin der Gräber begegnet. Ich bin Ihrer Gnade ausgeliefert, und ich bitte Sie um Entschuldigung, wenn ich Sie beleidigt habe.«

Sie antwortete nicht, aber einen Moment später fühlte sie, wie ihr das Blut zu Kopf schoß, heiß und dumm. Aber er blickte sie nicht an und sah nicht, wie sie errötete. Er hatte ihr gehorcht und seinen dunklen Blick von ihr abgewandt.

Beide schwiegen eine Weile. Die bemalten Figuren, die sie umgaben, betrachteten sie mit traurigen, blinden Augen.

Sie hatte einen steinernen Krug mit Wasser gebracht. Seine Augen wanderten immer wieder dorthin, und nach ein paar Minuten sagte sie: »Trink, wenn du willst.«

Er rutschte sofort hinüber zu dem Krug und hob ihn so leicht hoch, als sei er ein Wasserglas, und tat einen langen, langen Zug. Dann benetzte er ein Ende seines Ärmels und reinigte sein Gesicht und seine Hände von Schmutz, Blut und Spinnweben, so gut es ging. Er verbrauchte eine geraume Zeit damit, und Arha schaute ihm zu. Als er damit fertig war, sah er besser aus, aber seine Katzenwäsche hatte tiefe Narben an einer Seite seines Gesichts enthüllt: alte, längst verheilte Narben, weißlich schimmernd in seiner dunklen Haut, vier lange, parallel laufende Furchen, vom Auge bis zur Kinnlade, die aussahen, als ob sie von den Krallen einer riesigen Klaue herrührten.

»Was ist das?« fragte sie, »diese Narben?«

Er antwortete nicht gleich.

»Ein Drache?« fragte sie und versuchte spöttisch zu lächeln. War sie nicht hierhergekommen, um ihr Opfer zu verspotten, um ihn in seiner Hilflosigkeit zu quälen?

»Nein, kein Drache.«

»Dann bist du wohl kein Drachenfürst?«

»Doch«, sagte er zögernd, »ich bin ein Drachenfürst. Aber die Narben bekam ich vorher. Ich sagte Ihnen bereits, daß ich mit den DunklenMächten zusammengestoßen bin, an anderen Stellen auf dieser Erde. Dies hier auf meinem Gesicht ist das Zeichen, das einer, der mit ihnen verwandt ist, zurückgelassen hat. Aber er ist nicht mehr namenlos, denn am Ende habe ich seinen Namen erfahren.«

»Was soll das bedeuten? Welchen Namen?«

»Den kann ich Ihnen nicht sagen«, entgegnete er und lächelte, obwohl sein Gesicht ernst blieb.

»Das ist dummes Gerede, Narrengeschwätz, Götterlästerung. Wie sollten sie Namen haben? Es sind die Namenlosen! Du weißt nicht, wovon du redest …«

»Priesterin, ich weiß es, besser als Sie selbst«, sagte er, und seine Stimme klang tiefer noch als zuvor. »Schauen Sie es noch einmal an!« Und er wandte den Kopf, so daß sie die vier schrecklichen Narben an seiner Wange ansehen mußte.

»Ich glaube dir nicht«, sagte sie, doch ihre Stimme klang unsicher.

»Priesterin«, sagte er behutsam, »Sie sind noch nicht alt. Sie können den Dunklen Mächten noch nicht lange gedient haben.«

»Doch, ich diene ihnen schon lange. Sehr lange! Ich bin die Erste Priesterin, die Wiedergeborene. Ich diene meinen Gebietern schon seit tausend Jahren und tausende Jahre davor. Ich bin ihre Dienerin, ihre Stimme, ihre Hände. Und ich führe ihre Rache aus an denjenigen, die die Gräber entweihen und die das anschauen, das nicht gesehen werden darf! Hör mit deinen Lügen und Aufschneidereien auf! Kannst du nicht begreifen, daß es nur eines Wortes bedarf, und mein Wächter kommt und schlägt dir den Kopf ab? Oder ich kann weggehen und die Tür zuschließen, und niemand wird hierherkommen, niemals, und hier in der Dunkelheit wirst du sterben und diejenigen, denen ich diene, werden kommen und dein Fleisch und deine Seele verzehren, und deine Knochen werden im Staub liegen bleiben?«

Schweigend nickte er.

Sie stammelte und fand keine Worte mehr, die sie hinzufügen konnte. Sie eilte aus dem Raum, die Tür hinter sich zuschlagend und den Riegel mit lautem Kreischen vorschiebend. Sollte er doch denken, daß sie nicht mehr wiederkehren werde! Sollte er doch schwitzen vor Angst, dort in der Dunkelheit, und sie verfluchen! Sollte er doch zittern und beben und versuchen, seine nutzlosen, finsteren Zaubereien zu wirken!

Aber vor ihrem geistigen Auge sah sie, wie er sich zum Schlafen ausstreckte, wie er es an der eisernen Tür getan hatte, so friedlich wie ein Lamm auf einer sonnigen Wiese.

Sie spuckte auf die verriegelte Tür und machte das Zeichen, das Übles abwendet. Dann eilte sie, fast rennend, in der Richtung zum Untergrab davon.

Während sie sich an der Wand des Gewölbes entlang zur Falltür hin bewegte, berührten ihre Finger die feinen Muster im Fels, die sich wie erstarrte Spitze anfühlten. Ein Verlangen erfüllte sie, ihre Laterne anzuzünden und noch einmal, nur einen kurzen Augenblick lang, die von der Zeit selbst gemeißelten Kunstwerke im Kalkstein und den herrlichen Glanz an den Wänden zu sehen. Dann preßte sie ihre Augen fest zusammen und eilte weiter.

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