Viele Tage und Nächte hatte Alrik seine Gefährtin gesucht, doch vergebens. Die Jägerin war nicht zu finden. Der Ritter hatte die Klippen am Fuß des steilen Absturzes, den sie hinunterklettern wollte, durchkämmt und in den Wäldern, die den Berg umgaben, nach ihr gesucht, doch Andra blieb verschwunden.
Auch die Bewohner der Felsen und Wälder hatten die Jägerin nicht gesehen. Er war bei den scheuen Waldschraten gewesen, um nach ihr zu fragen, und auch bei Wurzelbolden, die er auf einer Lichtung angetroffen hatte. Fast wäre versehentlich er auf die kleinen Gestalten getreten, denn ihnen wuchsen Blumen und Grasbüschel aus dem Rücken, so daß man sie meist erst bemerkte, wenn man mitten unter ihnen stand. Nur durch Zufall war kein Unglück geschehen, und zunächst hatte er den Wurzelbolden nur Flüche und Beschimpfungen zu hören bekommen, wie man nur so blind über eine Lichtung stolpern könne. Erst als er ihnen ein wenig Brot aus seinem Proviantbeutel geschenkt hatte, beruhigte sich das kleine Volk, und er konnte mit ihnen reden. Doch wußten sie weder, wo Andra zu finden sei, noch kannten sie den Sohn Serleens, von dem die Jägerin erzählt hatte, und so ritt Alrik schließlich enttäuscht weiter.
Alrik verwirrte das Feenreich mit jedem Tag mehr, den er durch die lichtdurchfluteten Wälder und weiten Graslandschaften zog. Ohne die Sonne oder Sterne, die zur Orientierung dienten, war es unmöglich, eine Richtung beizubehalten. Der Ritter hatte das Gefühl, sich immer mehr zu verirren und von seinem eigentlichen Ziel zu entfernen.
Eines Nachts hatte er kleine, leuchtende Wesen mit Schmetterlings- und Libellenflügeln gesehen, die in verwirrendem Reigen um einen Felsen auf einer Lichtung tanzten. Doch obwohl sie von vielen wunderbaren Dingen wie von Schiffen, die über die Wipfel der Bäume glitten, und Reitern, die auf dem Kamm von Wellen galoppierten, zu erzählen wußten, konnten sie ihm bei seiner Suche nicht weiterhelfen.
Wenigstens hatte er in dieser Nacht Andras Hengst wiedergefunden. Noch auf dem Steilpfad in den Felsen hatte der Braune das Seil durchgebissen, an dem der Pfeiler der Brücke hing. Befreit von dieser Last, war er in die Wälder gelaufen und genauso unauffindbar wie seine Herrin gewesen. Doch dann wies eine überaus charmante Nymphe, die der Ritter an einem verborgenen Waldquell getroffen hatte, ihm den Weg zu Andras Pferd. Dabei erzählte sie kokett kichernd, wie der Hengst einen halben Tag lang vergeblich, einem Einhorn hinterhergelaufen war.
So fand er Andras Pferd auf einer Lichtung, wo es zwischen lamentierenden Wurzelbolden friedlich graste. Ohne zu scheuen, ließ es sich einfangen. Doch von Andra fand sich auch hier keine Spur.
Alrik wußte nicht mehr, wie lange er gesucht hatte, als er eines Morgens den Entschluß faßte aufzugeben. Noch einmal blickte er zu dem Berg zurück, auf dem sie sich geliebt hatten. Wolken verbargen den schneebedeckten Gipfel, dort wo Linoschs Höhle lag. Der Ritter seufzte, dann gab er dem Braunen die Sporen. Er mußte von hier fortkommen. Sollte Andra noch leben, würde sie ihn finden, gleichgültig, wohin er ging. Und wenn sie nicht mehr lebte ... Alrik schluckte. Er mochte sich nicht vorstellen, wie seine Geliebte mit zerschmetterten Knochen irgendwo zwischen den Felsen lag.
Wütend trieb er das Pferd zum Galopp. Er wollte den Wind auf den Wangen spüren. Plötzlich hörte er zu seiner Linken das Geräusch von brechenden Ästen. Der Oberst zügelte das Pferd und zog sein Schwert. Er legte dem Hengst die Hand auf die Nüstern und lauschte, als plötzlich eine vertraute Gestalt hinter einem Birkenstamm hervortrat.
»Andra!« Alrik wollte aus dem Sattel springen und sie umarmen, doch die Jägerin hob warnend den Arm.
»Sei leise!« zischte sie und musterte nach einem kurzen Blick auf den Ritter wieder aufmerksam das Dickicht des Waldes. Auch Andra hatte ihr Schwert gezogen.
Die Augen noch immer auf den Waldrand geheftet, kam sie zu Alrik herüber und zog sich hinter ihm in den Sattel.
»Reite jetzt langsam weiter«, wisperte sie ihm ins Ohr.
»Aber ...« Alrik begriff nicht, was das sollte. »Warum machst du so ein Aufhebens? Fürchtest du dich vielleicht vor einem Keiler?«
Statt einer Antwort schnaubte die Jägerin verächtlich und gab dem Braunen einen Klaps, so daß sich der Hengst in Bewegung setzte.
Während sie auf einem schmalen Weg tiefer in den Wald hineinritten, schaute die Jägerin immer wieder zurück. Doch es war weder etwas zu sehen noch etwas zu hören. Sie mochten vielleicht eine Viertelmeile geritten sein, als Alrik das Schweigen brach. »Wovor fürchtest du dich eigentlich?«
»Es gibt in diesem Wald auch weniger freundliche Wesen als Nymphen und Wurzelbolde. Jedenfalls war das, was eben solchen Lärm gemacht hat, kein Keiler. Ich hoffe, es folgt uns nicht.« Wieder blickte Andra den Weg zurück, den sie gekommen waren.
»Wovon redest du?« Alrik wurde allmählich ärgerlich. »Meinst du einen Riesen oder einen Drachen?«
»Nein, Riesen und die Kinder Pyrdracors haben bislang noch keinen Weg in dieses Feenreich gefunden. — Für das, was wir gehört haben, gibt es in deiner Welt keinen Namen. Die Wurzelbolde nennen es ›den Baumbrecher‹, weil dieses Wesen nichts aufhalten kann, wenn es einmal wütend ist.
Die Feen haben ihm einen anderen Namen gegeben. Sie nennen es in diene Sprache übersetzt ›der, der mit dem Wind zieht‹, weil diese Kreatur nie lange an einem Ort bleibt. Doch es scheint kein Interesse an uns zu haben.«
Alrik blieb stumm. Wohl zum tausendstenmal wünschte er sich, diese Welt endlich wieder verlassen zu können. Er würde die Geschöpfe des Feenreiches und die Gesetze, denen sie gehorchten, nie begreifen. Die schöne Leriella, die ihn erst verführte und nun so gnadenlos verfolgen ließ. Die Nymphen, die in so unkeuscher Nacktheit durch den Wald streiften und ihm des Nachts mit flüsternder Stimme eindeutige Angebote gemacht hatten.
»Wie weit ist es denn noch, bis wir diesen Ornaval finden, von dem du erzählt hast?«
»Das ist schwer zu erklären.« Andra schwieg einen Augenblick, so als würde sie nach Worten suchen. »Wir sind jetzt in einem ganz besonderen Wald. In der Welt, die du kennst, würde man ihn einen Zauberwald nennen, doch das trifft die Sache nicht richtig. Die Entfernungen sind hier völlig anders. Ich bin schon oft von unserem Zwergenfreund zu Ornaval geritten. Manchmal habe ich ihn in wenigen Stunden erreicht, doch hat mich der Ritt auch viele Tage gekostet. Es ist wirklich ...«
»Reitet dieser Ornaval von einem Ort zum anderen?« unterbrach sie der Oberst. »Müssen wir ihn erst noch suchen?«
»Nein, so ist es nicht.« Andra rang nach Worten. »Das Besondere an diesem Wald ist, daß man manchmal unterschiedlich viel Zeit braucht, um von einem Ort zum anderen zu kommen. Reitet man auf einem guten Pferd von Gareth nach Silkwiesen nicht länger als eine Stunde, so kann man in diesem Wald nie sagen, wie lange es dauern wird, bis man sein Ziel erreicht. Die Entfernung zwischen zwei Orten unterliegt einfach einer anderen Gesetzmäßigkeit.«
Andra zuckte mit den Schultern. Auch wenn Alrik sich nicht umdrehte und nichts sagte, so konnte sie doch spüren, wie sie den Ritter mit jedem Wort mehr verwirrte. »Vielleicht sollte ich doch sagen, der Wald ist verzaubert ... Ich meine, daß du niemals sicher sein kannst, wie lange du von einem Ort zum anderen brauchst, weil Zeit und Raum anderen Gesetzen unterliegen und ...«
»Schon gut, wir werden jetzt durch den Wald reiten, und irgendwann in den nächsten Stunden, Tagen oder Wochen werden wir dort sein, wo du hinwillst.« Alrik sagte nichts mehr. Er war wütend und enttäuscht. Noch am Morgen war er guten Mutes gewesen, das Feenreich bald hinter sich zu lassen.
»Das hat alles auch seine guten Seiten ...«
»Die kann ich nicht sehen«, knurrte der Oberst.
»Nun, das Problem mit den variablen Wegstrecken haben unsere Verfolger auch. Sie könne nie wissen, ob sie uns nun dicht auf den Fersen sind, weit hinter uns zurückliegen oder gar uns um Tageslängen überholt haben.«
Alrik kratzte sich am Kopf. Diese Welt war zu schwierig für ihn.
»Weißt du, auch die Zeit verläuft hier anders als im Reichsforst, wie du ihn kennst. Hier ...«
»Erklär mir lieber, was hier noch so ist, wie ich es kenne. Ich glaube, damit wirst du weniger Arbeit haben.«
»Nun sei doch nicht so bockig. Im Grunde ist diese Welt viel unkomplizierter als deine. Sie ist dir halt fremd, und du hast wohl keinerlei Bereitschaft, dich darauf einzulassen.«
Alrik sagte gar nichts mehr. Diese Debatten hingen ihm zum Hals heraus. Sehnsüchtig dachte er an die Nacht, die sie in Linoschs Waffenkammer verbracht hatten. Warum konnte Andra nicht wieder sein wie an jenem Abend? Diese Jägerin war einfach unmöglich. Zornig trieb er den Braunen an.
Als sie den Waldrand erreichten, fühlte sich der junge Oberst alles andere als erleichtert. Ein seltsamer, schwer zu beschreibender Schmerz tobte in seiner Brust, seit sie zum ersten Mal durch das lichter werdende Dikkicht die Ebene gesehen hatten. Acht Tage waren sie durch den Zauberwald geritten. Zeit genug, um sich näherzukommen.
Während er dem Braunen die Zügel ließ, schweiften seine Gedanken zurück zu der Nacht, die sie in der prächtigen Ruine mitten im Wald verbracht hatten. Kleine, leuchtende Wesen mit Schmetterlingsflügeln bereiteten ihnen zwischen geborstenen Marmorsäulen ein Lager aus kostbaren Leinen- und Brokatstoffen, und freundliche Wurzelbolde hatten ihnen morgens ein köstliches Bankett gerichtet. Ein anderes Mal hatten sie gemeinsam des Mittags unter einem Wasserfall geduscht und waren mit Nymphen im kristallklaren Wasser eines Waldsees um die Wette geschwommen.
Immer wieder war aber auch das Hufgetrappel ihrer Verfolger zu hören gewesen. Doch obwohl es ganz nah klang, waren die Feenritter nicht zu sehen gewesen. Einmal hatte er sogar gehört, wie Leriella mit Mandavar sprach. Es war, als seien sie direkt neben ihnen geritten. Noch immer schauderte Alrik, wenn er daran dachte. Andra hatte ihm erklärt, dies sei der Zauber des Waldes. Man könne sich ganz nahe sein und würde einander doch nicht bemerken.
Trotzdem hatten sie ihren Braunen gezügelt und wagten kaum noch zu atmen, denn Andra war sich nicht sicher, ob die Fee nicht doch einen Weg zu ihnen finden würde, wenn sie sie erst einmal gehört hatte.
Weit vor ihnen lag nun ein prächtiges Schloß, das sich auf einem steilen Felsen mitten aus der Ebene erhob. Alrik stockte der Atem. Solch einen Palast besaß nicht einmal der Kaiser. Die schlanken, weißen Türme schienen bis in den Himmel zu ragen. Manche waren in sich gedreht, wie das Hörn eines Einhorns, andere von Treppen umgeben, die sich in weiten Spiralen an den Turm schmiegten. Die Dächer waren mit schwarzen, schimmernden Steinen gedeckt und von goldenen Wetterfahnen gekrönt. Von unzähligen Erkern und Balustraden hingen Banner in allen nur erdenklichen Farben. Auf wunderbare Art schien das ganze Schloß mit dem Felsen, auf dem es errichtet war, verwachsen zu sein, ganz so, als seien die Türme wie Pilze aus dem Stein geschossen.
»Das ist das Schloß von Ornaval«, unterbrach Andra Alriks schweigendes Staunen. »Sobald wir die Brücke dort vorne überquert haben, befinden wir uns in seinem Reich. Dort kann uns Leriella nichts mehr antun.« Argwöhnisch musterte Alrik den Flußübergang. Die Brücke, die sich in hohem Bogen über das schäumende Wasser erhob, erschien ihm unzweckmäßig. Sie war so schmal, daß kein Karren sie passieren konnte. Selbst zwei Reiter würden dort nur mit Mühe aneinander vorbeikommen. Neben der Brücke stand ein mächtiger Baum.
»Dort unten mußt du deine Probe bestehen. Du bist doch wirklich gut im Lanzengang?« Andras Stimme klang besorgt.
»Darüber haben wir nun schon oft genug gesprochen, sag mir lieber, was mich dort unten erwartet. Soll ich etwa gegen deinen Feenfürsten Ornaval antreten?« fragte Alrik scherzend.
»So ist es!«
»Wie ...?« Alrik schluckte. Was mochte das wohl für ein Kampf sein, der ihm nun bevorstand? Das Gefecht mit Mandavar war ihm noch in unangenehmer Erinnerung. Damals hätte nicht viel gefehlt, und er wäre in den Abgrund gestürzt. Wie mochte dann erst ein berühmter Feenfürst kämpfen? Und ob er wohl auch so ritterlich wie Mandavar war und darauf verzichtete, seine Kräfte durch unlautere Zauber noch zu vervielfachen? Inzwischen waren sie näher gekommen, und Alrik konnte den Baum neben der Brücke besser erkennen. Von seinen Ästen hingen unzählige Wappenschilde, gezeichnet von Lanzenstößen und Schwerthieben. Ein hölzerner Ständer mit roten Turnierlanzen lehnte an dem Stamm, und an einem der unteren Äste hing ein geschwungenes Hörn.
»Du mußt in das Hörn blasen, um Ornaval zu fordern.«
»Danke, darauf wäre ich nicht gekommen!« entgegnete Alrik unwirsch. Andra schwieg, bis sie den Baum erreicht hatten.
Was wohl aus den Verlierern geworden sein mochte, dachte Alrik. Wer in voller Rüstung von der Brücke in den Fluß stürzte, war des Todes. Unsicher schaute er das Hörn an, das auf Armlänge vor ihm hing. Andra war schon aus dem Sattel gesprungen. Noch immer zögerte er, doch dann faßte er sich ein Herz. Er war ein Ritter des Prinzen und in wichtiger Mission auf dem Weg zu seinem Herrn. Nichts würde ihn aufhalten! Alrik setzte das Hörn an seine Lippen.
Ein langer melodischer Ton hallte über den Fluß zum Schloß auf dem Felsen hinauf. Fast augenblicklich tat sich dort ein mächtiges Portal auf. Alrik hatte mit einem einzelnen Ritter gerechnet. Doch statt dessen passierte eine ganze Reiterkavalkade das Tor und kam den breiten Weg herunter, der sich um die Felswand abwärts schraubte. Es mochten wohl an die hundert Reiter sein. Der Oberst konnte Damen mit hohen, spitzen Hüten erkennen, so wie er sie von alten Gobelins im Schloß seines Vaters kannte. Schleier, fein wie Spinnweben verdeckten ihre Gesichter. Dazwischen waren Reiter, die unter langen, rotweißen Waffenröcken schimmernde Panzer trugen und golddurchwirkte Banner führten.
An der Spitze des Zuges ritt ein hochgewachsener Mann auf einem Schimmel. Er trug ein rotes Barett, unter dem langes, schwarzes Haar hervorquoll. Sein Wams war aus prächtigem Brokat gefertigt und schimmerte in Rot und Gold. Darunter trug er schwarze Hosen, die eng an seinen Beinen anlagen. Der Arm des Anführers ruhte in einer Schlinge, ganz so, als sei er verletzt.
»An der Spitze reitet Ornaval«, flüsterte Andra. »Er ist einer der mächtigsten Fürsten in diesem Reich. Man sagt, er stammt aus dem hohen Volk der Elfen.«
»Ach so«, kommentierte Alrik Andras Bemerkung und musterte weiter die herannahenden Reiter, aus deren Gruppe sich ein prächtig gekleideter Knabe löste, um in ihre Richtung zu reiten. Wenige Augenblicke später hatte er die Brücke erreicht, machte auf der Mitte halt und verkündete mit lauter Stimme:
»Mein Fürst Ornaval entbietet Euch seinen Gruß, Fremde. Er läßt verkünden, daß es seit jeher Sitte in seinem Reich ist, daß jeder, der diese Brücke passieren will, gegen ihn zum Duell anzutreten hat. Wer ins Hörn stößt, verkündet damit seine Bereitschaft zum Kampf! Nun ist mein Herr durch eine Verletzung im Moment nicht in der Lage, eine Lanze zu führen. Deshalb läßt er anfragen, ob Ihr willens seid, statt dessen einen Kämpen seiner Wahl zu akzeptieren, der statt seiner das Duell austragen wird.« »Ich fürchte, wir haben keine Wahl«, flüsterte Andra. »Ich glaube allerdings, daß dies eine günstige Fügung des Schicksals ist, denn Ornaval gilt als bester Ritter unter den Feen und Elfen in diesem Reich.«
»Ich hoffe, du behältst recht«, murmelte Alrik und erwiderte an den Boten gewandt: »Berichte deinem Herrn, daß wir seinen Vorschlag annehmen. Ich bitte allerdings, daß mir ein Teil der Ausrüstung, die zum Lanzenstechen erforderlich ist, von deinem Fürsten gestellt wird, denn wie du selbst sehen kannst, führe ich weder Helm noch Lanze mit mir.«
»Was die Lanzen angeht, so bedient Euch bei denen, die einst Euren gescheiterten Vorgängern gehörten. Alles weitere wird mein Herr entscheiden.« Der Bote wendete sein Pferd und galoppierte zu der Reiterkavalkade zurück, die mittlerweile den Fuß des Felsens erreicht hatte. Dort wurde eine Weile beratschlagt, und schließlich kamen mehrere Feenritter zu den beiden. Einer von ihnen reichte Alrik seinen Helm, während sich ein anderer noch einmal vergewisserte, daß er mit den Bedingungen zum Duell wirklich einverstanden sei. Als Alrik bejahte, winkte der Ritter, dessen Helm er nun trug, zu den anderen Reitern herüber, die darauf langsam bis ans gegenüberliegende Flußufer herankamen.
Ein großer Ritter, der bislang hinter den Bannerträgern verborgen gewesen war, löste sich von der Gruppe und näherte sich der Brücke.
»Darf ich vorstellen, Cromag, Streiter im Dienste Ornavals!« rief einer der Ritter, die den jungen Oberst umgaben. »Reitet auf die Brücke und entblößt Euer Haupt, denn bei uns ist es Sitte, daß sich die Kombatanten vor dem Duell Aug in Auge gegenüberstehen.«
Alrik lenkte seih Pferd zu dem Übergang und löste gleichzeitig mit der linken den ledernen Riemen seines Topfhelms.
Dann betrachtete er sein Gegenüber. Der großgewachsene Ritter stellte sich außerordentlich ungeschickt an. Einen Moment lang schien es fast, als wollte es ihm nicht gelingen, den Riemen zu lösen.
Ein gutes Zeichen, dachte Alrik. Wer so ungeschickt ist, wird wohl kaum ein gefährlicher Gegner sein. Argwöhnisch musterte er den Reiter. Er war in eine schwarze Rüstung gehüllt und trug einen ungewöhnlich großen Helm, der die grimmige Grimasse eines Dämons zeigte.
Die Größe dieses Gegners jagte Alrik Schauer über den Rücken. Schon das Pferd des Mannes übertraf seinen Braunen um fast eine Elle in der Schulterhöhe. Auf seinem schwarzen Fell lag ein seltsam metallischer Glanz, und die Augen des Ungeheuers sprühten vor Boshaftigkeit, als sei es von Dämonen besessen. Doch der Reiter war noch gewaltiger. Alrik schätzte ihn auf fast zwei und einen halben Schritt. So groß wie ein Oger, ging es ihm durch den Kopf. Er dachte an die mächtigen Streitoger, die er schon oft in den Reihen der Orks gesehen hatte. Sie waren zwar plump und langsam, doch meistens reichte es, wenn sie mit ihren Keulen nur ein einziges Mal trafen. Diesen Hieben hielt keine Rüstung stand.
Endlich hob der Mann den Helm, und Alrik erstarrte. Statt eines Menschenkopfes hatte diese unheimliche Kreatur das Haupt eines Ebers.
Der Oberst brachte sein Pferd zum Stehen und versuchte das nervöse Tier zu beruhigen, indem er ihm sanft über den Hals strich. Der Reiter kam näher und senkte dabei seine Lanze.
Alrik schob seinen Schild vor die Brust und musterte verwundert seinen Gegner. Was sollte das? Nach den Regeln hatte ihr Kampf doch noch nicht begonnen.
Krachend stieß das Ungeheuer seine Lanzenspitze gegen den Schild des Ritters. Dann stieß er einen markerschütternden Schrei aus und ließ sein Pferd auf die Hinterbeine steigen.
»Cromag fordert Euch zum Kampf auf Leben und Tod«, erklang hinter ihm die Stimme eines Feenritters.
»Das darfst du nicht annehmen!« schrie Andra verzweifelt. »Wir werden einen anderen Weg finden. Meide den Kampf!«
Herausfordernd blickte der eberköpfige Ritter Alrik an. Einen Augenblick zögerte der Ritter. Würden sie einen anderen Weg suchen, mochte sie das erneut Tage und Wochen kosten. Dafür war es zu spät! Seine Freunde in Greifenfurt brauchten schnell Hilfe. Außerdem würden sie wahrscheinlich Leriella in die Arme reiten, falls sie umkehrten.
Alrik richtete sich auf seinem Braunen auf. »Ich nehme die Herausforderung an. Möge der Bessere gewinnen!«
»Ritter, Ihr habt wirklich Mut«, begrüßte ihn einer der Feenritter, als Alrik die Brücke verließ, um sich seine Lanze zu holen.
»Wenn es Eure Götter wirklich gibt, dann betet nun zu ihnen«, höhnte ein anderer.
Der Oberst setzte seinen Helm auf und wog prüfend die schwere Lanze in seiner Hand. Es war eine gut gearbeitete Waffe aus festem Holz. Andra stand neben ihm. »Ich wünsche dir Glück, mein verrückter Narr.« Sie schluckte, und ihr Lächeln wirkte wie das tote Lachen einer Theatermaske. »Nimm dies«, sagte sie und reichte ihm ein kleines, bunt besticktes Tuch hinauf. »Ich weiß, daß es bei höfischen Turnieren üblich ist, daß der Kämpfer ein Pfand seiner Liebsten mit in den Kampf nimmt. Möge es dir Glück bringen.«
Alrik nahm das Tüchlein und band es sich um den rechten Arm.
Sein Gegner stand am gegenüberliegenden Ende der Brücke. Der Oberst klemmte die Lanze fest unter seine rechte Achsel.
»Für Brin und das Kaiserreich!« rief er lauthals und gab dem Braunen die Sporen. Im gleichen Augenblick preschte auch sein Gegner los.
Der Eberköpfige zielte mit der Lanzenspitze auf sein Herz. Alrik zog Linoschs Schild vor die Brust. »Schütze mich«, flüsterte er mit rauher Stimme, während er den polierten Stahl der Lanzenspitze pfeilschnell auf sich zuschießen sah. Er selbst versuchte, nach dem Kopf des Gegners zu zielen, in der Hoffnung, daß der Aufprall Cromag vielleicht aus dem Sattel werfen würde.
Dann krachte die Lanze des Gegners auf seinen Schild, und obwohl die Waffe zur Seite glitt, preßte ihm der gewaltige Aufprall die Luft aus den Lungen. Seinen Schildarm durchlief eine Welle von Schmerz. Gleichzeitig traf seine Lanze den Helm des Monsters. Die stählerne Spitze schlug eine Spur leuchtender Funken und glitt zur Seite.
Das Ungeheuer hat nicht einmal im Sattel geschwankt, dachte Alrik, während sie einander passierten.
Am Ende der Brücke angelangt, wendete der Oberst sein Pferd. Cromag stand schon bereit und erwartete seinen zweiten Ansturm.
Alrik spürte den metallischen Geschmack von Blut im Mund. Er hatte sich beim Aufschlag der Lanze die Unterlippe durchgebissen.
Viele solcher Runden würde er nicht durchstehen. Sein linker Arm war mittlerweile schon taub vor Schmerzen.
Nun, er würde es in Ehren hinter sich bringen. Sein Leben lang hatte er Praios und Rondra gedient, hatte sich bemüht, ein Vorbild in Gerechtigkeit und Mut zu sein, und so würde er jetzt auch sterben! Alrik gab dem Braunen die Sporen.
Wieder preschten die ungleichen Gegner aufeinander zu. Das Monster grunzte vor Freude, wie es Alrik schien, und richtete seine Lanze wieder auf sein Herz. Der Ritter tat es ihm gleich.
Der Aufprall war entsetzlich. Für einen Moment kämpfte Alrik mit der Ohnmacht.
Die Luft war erfüllt von den sirrenden Splittern seiner Lanze. Er hatte den Ebermann auf der Brust getroffen, doch statt ihn aus dem Sattel zu heben, hatte sich Alriks Lanze gebogen und war schließlich zerbrochen. Mühsam rang der Ritter nach Atem. Dieses Monstrum hatte selbst bei diesem Treffer nicht im Sattel gewankt!
»Gebt mir eine neue Lanze!« rief er den Feenrittern zu, als er erneut das Ende der Brücke erreichte, an dem auch Andra stand. Schweigend reichte man ihm die Waffe.
Die Lanze schien Alrik schwerer. Vielleicht erlahmten aber auch seine Kräfte? Der Oberst wendete den Braunen. O ihr Götter, laßt ihn mich wenigstens im Sattel wanken sehen, dachte der junge Ritter verzweifelt. Dann gab er dem Pferd die Sporen. Er hatte den Eindruck, als würden Cromags Kräfte mit jedem Angriff wachsen. Dann traf ihn wieder die Lanze. Bunte Blitze zuckten vor seinen Augen, und er schrie unter der Wucht des Aufpralls laut auf und glitt nach hinten. Verzweifelt versuchte er seine Schenkel um den Hengst zu schließen, doch die Wucht des Aufpralls riß ihn aus dem Sattel. Selbst sein Pferd strauchelte.
Alrik versuchte, sich zur Seite zu rollen, um nicht unter dem stürzenden Hengst begraben zu werden. Mit dem Rücken schlug er gegen die niedrige Mauer, die die Brücke begrenzte. »O Rondra«, stöhnte er, dann schwanden ihm die Sinne.
Laute Stimmen bohrten sich schmerzend in das Bewußtsein des Ritters. Nun konnte er verstehen, was sie riefen. »Cromag! Cromag!« Die Feen feierten den Sieg ihres Streiters. Langsam erinnerte sich Alrik. Sein Sattelgurt war gerissen, und er war vom Pferd gestürzt. Mühsam plagte er sich auf. Jeder Atemzug schmerzte. Wahrscheinlich hatte er sich beim Aufprall auf das steinerne Brückengeländer einige Rippen gebrochen. Als er sich stöhnend wieder aufrichtete, verstummten die Jubelrufe des Feenhofvolkes.
Cromag wendete sein Pferd und fauchte wie eine Raubkatze. Dann gab er seinem schnaubenden Reittier die Sporen und preschte auf Alrik zu. Der Oberst griff nach der Lanze, die neben ihm am Boden lag. Er hatte den Ebermann bei ihrem letzten Aufeinandertreffen nicht einmal gestreift; die Waffe war noch intakt.
Der junge Ritter stützte das Ende der Lanze auf dem Boden ab und stellte seinen Fuß dahinter, während er mit der Spitze nach der Kehle seines Gegners zielte. So hatte er es schon oft bei den Pikenieren der kaiserlichen Armee gesehen, wenn sie sich heldenhaft einer gegnerischen Kavallerieattacke stellten.
Unter dem Fuß verborgen stützte ein vorspringender Stein des Brückenpflasters den Lanzenschaft. Vielleicht mochte die Lanze so zerbrechen, doch verrutschen würde sie nicht, und dieses Monster mochte gleich denken, daß es die Faust eines Gottes getroffen hat, dachte Alrik grimmig lächelnd. Dann war Cromag heran.
Geschickt tauchte der Oberst unter der Lanzenspitze seines Gegners hinweg, während seine Waffe den oberen Rand von Cromags Schild traf. Krachend bog sich der Schaft der Waffe, und Alrik glaubte die Brücke unter seinen Füßen erbeben zu spüren.
Doch diesmal brach die Lanze nicht, sondern durchschlug den Schild des Ebermanns und fuhr ihm durch die Rüstung in die Schulter. Rasend vor Schmerz schrie das Ungeheuer auf, ließ seine Waffe fallen und umklammerte mit der Rechten den blutbesudelten Lanzenschaft.
Wütend bäumte sich das schwarze Pferd auf und drohte Alrik, mit seinen Hufen zu erschlagen. Der junge Ritter wich einige Schritt zurück und zog sein Schwert.
Inzwischen hatte sich Cromag schnaufend die Lanzenspitze aus der Schulter gerissen und in hohem Bogen über das Brückengeländer in den Fluß geschleudert. Dann griff er nach einem Rabenschnabel, der von seinem Sattel baumelte, einer langstieligen Waffe, die entfernt einem Hammer ähnelte und ein stumpfes Ende sowie einen scharfen, gebogenen Dorn besaß.
Einen lauten Kampfschrei auf den Lippen, drang das Monstrum auf Alrik ein. Wie ein Blitz zuckte die tödliche Waffe auf den Ritter herab, der seinen Schild schützend in die Höhe riß. Krachend schlug die gebogene Spitze ein Loch in den Runenschild.
Und wieder holte Cromag aus. Alrik mußte rückwärts ausweichen, um nicht unter die Hufe des Pferdes zu geraten, als ihn der zweite Hieb traf. Diesmal verfehlte die gebogene Spitze nur knapp seinen Arm, als sie erneut den Schild durchschlug. Gleichzeitig traf ihn ein Tritt des Pferdes in den ungedeckten Bauch. Alrik kippte zur Seite, während Cromag seinen Hengst wendete und steigen ließ.
Alrik duckte sich hinter den Zwergenschild und wartete auf den Angriff, als eine laute Stimme über den Kampfplatz hallte. »So nicht, Cromag! Du sollst ihn nach den Regeln des ritterlichen Zweikampfs besiegen. Steig vom Pferd!«
Funkenstiebend stießen die Hufe des Rappen dicht neben Alrik auf das steinerne Pflaster der Brücke. Dann lenkte der Ebermann sein Reittier auf den Feenhofstaat zu. Grunzend rief er den Rittern Ornavals etwas zu und schleuderte seinen Schild beiseite.
Der Oberst blickte zu Andra. Der braune Hengst war zu ihr zurückgekehrt. Das mächtige Tier stand neben der Jägerin, die ihm zuwinkte. Alrik strich sich über den rechten Arm, wo er ihr Liebespfand trug. Er wollte weiterleben, wollte mit ihr noch unzählige Nächte verbringen und nicht jetzt schon in Borons dunkle Hallen eingehen.
Hinter dem Ritter erklangen Schritte. Cromag war auf die Brücke zurückgekehrt. Den Rabenschnabel, der eine Reiterwaffe war, hatte er gegen eine Ochsenherde eingetauscht. Eine Kettenwaffe mit kurzem hölzernen Stiel und drei schweren, dornengespickten Eisenkugeln.
Mit müdem Arm hob Alrik seinen Schild. Er mußte an die Worte denken, die sein Vater ihm so oft während ihrer gemeinsamen Waffenübungen gesagt hatte.
Im Kampf sind nicht allein Geschicklichkeit und Kraft entscheidend, den Sieg bringt dir dein Gottvertrauen.
»Für Praios! Den Tod allen Gottlosen!« schrie der Ritter und stürmte mit erhobenem Schwert auf Cromag zu. Doch das Monster wich mit einer Behendigkeit aus, die Alrik dem Untier gar nicht zugetraut hatte. Gleichzeitig holte Cromag zum Schlag aus. Alrik riß den Schild hoch, doch die Kettenkugeln schlugen über den Rand und trafen ihn hart am Arm. Stöhnend vor Schmerz wich er zurück.
Das eberköpfige Monstrum folgte ihm auf dem Fuß. Mit bösartigem Grunzen ließ Cromag die Ochsenherde über seinem Kopf kreisen, um erneut zuzuschlagen.
Die Schmerzen im Schildarm waren so stark, daß Alrik kaum noch klar denken konnte. Am liebsten würde er einfach fortlaufen, doch Cromag würde ihm folgen und von hinten erschlagen. Wenn schon sterben, dann wie es sich für einen Ritter geziemte. Wieder wich der junge Oberst um einige Schritte zurück. Er mußte zum Angriff übergehen, doch er fand keine Lücke in der Deckung des Ungetüms. Oder sollte er sich einfach hinter den Schild geduckt, mit dem ganzen Gewicht seines Körpers gegen Cromag werfen. Falls das Untier stürzte, konnte er sein Schwert vielleicht durch einen Spalt im Plattenpanzer des Ungeheuers rammen.
Erneut krachte die Ochsenherde gegen Alriks Schild. Splitternd zerbrach der obere Rand, und ein Stück des eisernen Reifens, der den Holzschild einfaßte, wurde fortgerissen.
Alrik taumelte zurück und prallte gegen das steinerne Geländer der Brücke. Cromag ließ die schreckliche Waffe über seinem Kopf kreisen und setzte ihm nach.
Mit einem Schrei stürmte der Ritter auf das Monstrum zu, doch als hätte es geahnt, was er vorhatte, schlug es in tiefem Bogen nach Alriks Beinen. Der Ritter wurde beiseite geschleudert. Benommen lag er an das Brückengeländer gelehnt. Seine Beine waren völlig gefühllos. Alrik versuchte sich aufzurichten. Vergebens!
Wieder ließ das Ungeheuer die Ochsenherde auf ihn herabsausen. Noch einmal konnte er den Schlag abfangen, aber erneut war ein Stück aus dem Schild herausgebrochen. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis von Linoschs Holzschild nichts mehr übrig sein würde.
Wieder traf ihn ein Schlag. Eine der Kettenkugeln schlug um den Schildrand und traf ihn am Arm. Doch Alrik spürte keine Schmerzen mehr. Dies war also das Ende. Rondra schütze mich, dachte der Ritter. Laß mich nicht in die finsteren Hallen Borons eingehen. Gewähre mir einen Platz in deinem Haus des Lichtes!
Zischend fuhr die Ochsenherde herab, um auch den letzten Funken Leben aus ihm herauszuprügeln.
Bald ist es vorbei! Alrik war am Rande der Ohnmacht. Irgendwo in weiter Ferne hörte er eine gellende Stimme, die um Gnade für ihn bat. Über sich gewahrte er einen mächtigen Schatten. Cromag holte erneut aus.
Alrik hatte nicht einmal mehr die Kraft, den Arm zu heben.
Dann sah er ein gleißendes Licht. Die Pforten des Paradieses öffneten sich für ihn. Rondra hatte ihn erhört! Eine breite Straße aus Licht führte direkt ins Himmelsgewölbe.
Alrik fiel das Schwert aus der Hand. Er hatte das Gefühl, sanft aufgehoben zu werden und schwerelos dahinzugleiten. Nur ein gräßlicher Gestank trübte das Frohlocken über diesen letzten Augenblick seines Lebens. Dann schwanden ihm die Sinne.