16

Zuerst hatte sich Marina zu Tode erschrocken, als er plötzlich in dem unterirdischen Gewölbe auftauchte, in dem sie gefangen war. Stunden mußte sie damit verbracht haben, nach einer Türe zu suchen, und dann stand plötzlich er da.

Zerwas schmunzelte. Er hatte den langen, goldbestickten Umhang aus dem Zelt des Orkgenerals um seine Schultern gelegt und menschliche Gestalt angenommen. Ritter Roger war ein hübscher Mann gewesen. Groß, mit fein geschnittenem Gesicht ... Zerwas hatte sich das Opfer, dessen Gestalt er in den nächsten Wochen und Monaten annehmen würde, sorgfältig ausgesucht.

»Habt keine Angst vor mir, Marina.« Der Vampir streckte seine Hand vor und machte einen Schritt auf das Mädchen zu. Bei dieser Bewegung glitt sein Umhang ein wenig beiseite. Das Mädchen mußte gesehen haben, daß er darunter, abgesehen vom ledernen Gurtzeug seines Schwertes, nackt war. Sie wich noch einige Schritte zurück, bis sie mit dem Rücken an einer Wand stand.

»Wer bist du?« Marina blickte ihn scheu und verängstigt an.

»Dein Vater Promos hat mich geschickt. Ihm ist ein großes Unglück widerfahren. Ein böser Dämon suchte ihn heim. Mich hat er damit beauftragt, dich hierher in Sicherheit zu bringen.«

»Aber wo bin ich hier, und wie bin ich hierher gekommen?«

Der Vampir schlug den Umhang beiseite und ging noch ein Stück auf sie zu. »Du bist hier in einer Höhle, tief unter der Erde. Nur wer den richtigen Ort und ein Zauberwort kennt, kann sie betreten. Hier wirst du vor jeder Verfolgung sicher sein. Ich habe dich hierher gebracht, während du schliefst, deshalb kannst du dich nicht erinnern.«

Der Vampir drehte sich um und löste die Gurte seines Schwertes. Dann stellte er den mächtigen Zweihänder in eine Ecke und ließ sich in einem hohen Lehnstuhl nieder.

Das Mädchen rührte sich nicht von der Stelle. Noch immer musterte Marina ihn mißtrauisch.

»Wie heißt Ihr, Fremder?«

»Manche Sterbliche nennen mich einen Prinzen der Nacht.«

»Sterbliche ... ? Seid Ihr denn nicht sterblich?« Die Augen des Mädchens weiteten sich vor Ehrfurcht. Oder war es Entsetzen?

»Ja. Sterbliche. Ich gehöre nicht zu deiner Art, mein Kind, doch bin ich auch kein Gott. Ich stehe zwischen den Welten ... und bin sehr einsam. Was nutzt einem ein Leben, das nach Jahrhunderten zählt, wenn es niemanden gibt, mit dem man es teilen kann.«

»Ihr seid ein Götterbote?« Marina war ein wenig auf ihn zugekommen. »Vielleicht?« Zerwas lächelte melancholisch.

»Woher kennt mein Vater Euch?«

»Dein Vater Promos ist ein weiser Mann. Er kennt viele Dinge, von denen du nichts ahnst. Das ist dein Schicksal, zugleich aber auch dein Glück. So hat er jenen mächtigen Dämonen gerufen, der ihn von nun an verfolgt, aber auch mich, um dich zu beschützen.« Der Vampir schwieg einen Moment. Es war Marina anzusehen, daß sie Schwierigkeiten hatte zu begreifen, was er ihr erzählte, doch schien sie ihm zu glauben. »Weißt du, daß du für eine Sterbliche sehr schön bist?« Zerwas seufzte.

»Ihr scherzt ...« Das Mädchen blickte schüchtern zu Boden.

»Mitnichten. Wer sollte die Schönheit besser kennen als ein einsamer Wanderer durch die Jahrhunderte, dem sein ewiges Leben genug Zeit läßt, manchmal einen ganzen Tag lang nichts anderes zu tun, als die Vollkommenheit einer Rose zu bewundern. — Euch könnte ich tagelang bestaunen, schöne Marina.«

Eine Weile war es still. Dann räusperte sich die Tochter des Alchimisten und hauchte ganz leise, so daß man die Worte kaum verstehen konnte: »Auch Ihr seid schön, Fremder.«

»Du schmeichelst nur.« Der Vampir hatte den Kopf schief gelegt und lächelte. »Wie kann schön sein, was so alt ist wie ich? Wahre Schönheit ist immer mit Jugend und einem unverdorbenen Geist gepaart. Sieh mich an. Mein Körper ist nur eine trügerische Hülle. Die Schönheit meines Geistes habe ich schon vor Jahrhunderten verloren.«

»Das kann ich nicht glauben.«

»Und doch ist es so. Deine Vollkommenheit ist mir für immer verlorengegangen, es sei denn ...«

Zerwas blickte traurig. »Man sagt, die Liebe einer Jungfrau könnte der vom Atem der Ewigkeit gepeinigten Seele eines Unsterblichen Frieden geben.«

Wieder war es lange still, dann kam Marina vorsichtig näher und beugte sich herab, um dem Vampir scheu die Stirn zu küssen.

Entsetzt sprang Zerwas aus seinem Stuhl. »Keine Almosen! Verhöhnt mich nicht. Ich will Euer Mitleid nicht.«

Marina wich vor ihm zurück. »Entschuldigt, wenn ich etwas Falsches getan habe. Ich wollte nur ... Wollte Euch ein wenig Eurer Einsamkeit nehmen. Ihr saht so traurig aus.«

»Ich brauche Deinen Trost nicht«, erwiderte Zerwas verbittert.

»Aber ich möchte Euch all Eure edlen Taten vergelten. Ihr habt mich und meinen Vater vor der Gefahr gerettet, auch wenn mir davor graust, vielleicht für lange Zeit in diesem Gewölbe bleiben zu müssen ... Meine Jugend hier weitab von allen anderen Menschen zu verlieren und nie auf eine erfüllte Liebe hoffen zu dürfen. Soll mein Leib denn verdorren, ohne jemals die Freuden der Liebe kennengelernt zu haben?« Marina schluchzte.

Zerwas nahm sie in den Arm und streichelte ihr sanft über ihr langes, blondes Haar.

Das Mädchen schmiegte sich an ihn. »Bitte, weist mich nicht zurück«, flüsterte sie flehend. »Meine Unschuld soll mein Geschenk für Eure noble Tat sein. — Bitte weist das einzige, womit ich Euch meine Dankbarkeit zeigen kann, nicht zurück.«

Zerwas ließ seinen Umhang von der Schulter gleiten und griff nach Marinas Hand. Behutsam zog er sie zu dem großen Bett, in dem er erst vor wenigen Wochen mit Sartassa gelegen hatte. Doch was für einen Unterschied es zwischen den beiden gab. Die dunkelhaarige, in allen Spielen der Liebe erfahrene Halbelfe ... Und jetzt Marina, die in einem einsamen Haus am Meer unter der Obhut eines alten Mannes aufgewachsen war. Zärtlich streifte der Vampir ihr Kleid ab und nahm sie wieder in den Arm. Marina zitterte.

»Du brauchst keine Angst vor den Wonnen der Liebe zu haben. Zuerst wirst du einen kleinen Schmerz spüren, doch danach erfährst du einen Sinnestaumel, der dich alles andere vergessen läßt ...«

Der Duft ihrer Haut raubte dem Vampir fast den Verstand. Noch immer schien der salzige Wind des Meeres in ihren Haaren gefangen.

Scheu erwiderte sie seinen ersten Kuß.

Erst streichelte er sie lange und ließ seine Hände über ihr Gesicht, ihre kleinen, runden Brüste fahren, um schließlich sanft zwischen ihre Schenkel zu gleiten.

Dann drang er in sie ein. Marina stöhnte auf, bäumte sich zurück, schaute ihn aus großen, angstgeweiteten Augen an.

»Gleich ist der Schmerz vorbei. Vertraue mir ...«

Der Duft des jungfräulichen Blutes raubte ihm schier den Verstand. Jahrhunderte waren vergangen, seit er das letztemal so etwas genossen hatte, und noch nie war es ihm freiwillig geschenkt worden. Dann beugte er sich vor und sah nur noch den vollendet geformten Hals des Mädchens ... Die zarten blauen Adern, durch die das Leben pulsierte.


Kurz nach der Abenddämmerung hatte Zerwas das unterirdische Versteck verlassen. Jetzt flog er in seiner Dämonengestalt nach Süden, gen Ferdok. Er hatte Marina alles genommen, was sie zu geben hatte. Ihre Unschuld und ihr Blut. Wenn sie erwachte, wäre sie ein Vampir.

Er malte sich ihren Schrecken aus, wenn sie feststellte, daß sie allein war. Und den unbeschreiblichen Hunger, der sie bald verzehren würde. Doch auch sie war jetzt unsterblich. Ihr Blutdurst mochte sie foltern, töten konnte er sie nicht! Vielleicht würde sie Monate, Jahre oder sogar Jahrzehnte in dem unterirdischen Versteck verbringen. Das hing ganz von ihrem Verstand ab.

Hunderte von Büchern lagen in dem Versteck unter der Stadt. Manche davon hatte Zerwas sogar selber verfaßt.

Langsam würde Marina bei ihrer Lektüre begreifen, was sie nun war; ein Wesen der Nacht.

Sie würde selber erfahren, was er ihr erst vor wenigen Stunden über eine Ewigkeit voller Einsamkeit erzählt hatte. Ihr würde klar werden, welche Bewandtnis es mit dem seltsamen Medaillon in der Wand hinter dem Bett hatte. In ewigem Zyklus wurde es strahlend hell und verdunkelte sich wieder. Ganz wie die Sonne, die es darstellte und die Marina nie wieder sehen würde. Es sei denn, sie wäre bereit, bei ihrem Anblick zu sterben. Am schwierigsten für das Mädchen wäre es jedoch aus dem unterirdischen Gewölbe zu entkommen. Sie mußte dazu an der richtigen Stelle stehen, ein Zauberwort flüstern und ein magisches Zeichen schlagen. Dann würde sie Kraft der Magie auf die oberste Stufe im verfallenen Henkersturm getragen.

Doch dieses Geheimnis zu ergründen mochte Jahre dauern! Erst sollte sie Hunger leiden, damit sie auch das letzte ablegte, was an ihr noch menschlich war. Zerwas frohlockte bei der Vorstellung, daß sie wie ein Raubtier, halb wahnsinnig vor Hunger, mordend durch die Straßen der Stadt ziehen würde.

Marina war sein Vermächtnis an Greifenfurt. Ein Schrecken, der eines fernen Tages seinen Weg aus dem dunklen Verlies finden mußte. Vermutlich waren die Belagerung und der Orkkrieg dann schon Geschichte. Der erste, subtilere Teil seiner Rache war mit dieser Tat vollendet. Als nächstes galt es nun direktere Schritte einzuleiten. Doch dazu mußte er zurück nach Ferdok, um in der Rolle des Ritters Roger ins Gefolge des Prinzen zu gelangen.

Darrag war dem Totenvogel Golgari noch einmal entkommen. Doch der Schmied hatte keine Freude an diesem Sieg. Er saß auf einem kleinen Schemel vor dem Sterbezimmer, in dem er noch vor einigen Tagen selber gelegen hatte.

Meister Gordonius war dort drinnen, um noch, einmal nach Darrags Sohn zu sehen.

Die Augen des Schmieds waren gerötet. Der große, starke Mann sah unheimlich aus. Sein Gesicht war unrasiert, und er stank nach billigem Fusel. Zwanzig Goldstücke, mehr als zwei gute Schwerter wert waren, hatte er ausgegeben, um von einem Schwarzhändler einige Flaschen Wein zu bekommen.

Früher hatte er nur selten getrunken, doch seit Misiras Tod fühlte er sich verloren. Zerwas, der ihm nach Misiras Tod beigestanden hatte, weilte nicht mehr unter den Lebenden. Von dem tollkühnen Angriff auf die Stellungen der Orks war er nicht mehr zurückgekehrt.

Auch seine anderen Freunde waren fast alle tot. Und nun lag sein Sohn im Sterben: Marrad, den er in seiner Verzweiflung wochenlang vernachlässigt hatte. O ihr Götter! Warum mußte der Junge sterben?

Dunkel erinnerte Darrag sich, daß sein Sohn häufig mit eingeschlagener Nase oder zerschundenen Händen nach Hause gekommen war. Nie hatte Darrag ihn gefragt, was passiert war. Er war ein schlechter Vater gewesen! In seinem Schmerz hatte er seihe eigenen Kinder vergessen. Ob Misira ihm das jemals verzeihen würde?

Darrag weinte. Er gab sich keine Mühe mehr, seine Tränen zurückzuhalten. Dieser Krieg hatte sein Leben vernichtet. Nichts war mehr wie früher. Auch wenn es den Orks bislang nicht gelungen war, die Stadt zu erobern, so verwandelten sie Greifenfurt doch langsam in eine gespenstische Trümmerlandschaft. Alles, was er einmal geliebt hatte, war tot...

Nein! So durfte er nicht denken. Seine Ignoranz war schuld daran, daß Marrad jetzt im Sterbezimmer lag. Hätte er sich nur mehr um ihn gekümmert! Sicher hätte er ihm ausreden können, durch den Fluß zu schwimmen. Wenn sein Sohn jetzt starb, dann war es einzig und allein seine Schuld. Die Tür zum Sterbezimmer öffnete sich. Meister Gordonius trat heraus. Der stämmige Therbunit blickte ihn lange an.

»Was ist? Wird er leben? Konntest du ihm helfen?«

Der Therbunit blickte zu Boden. Er räusperte sich, versuchte etwas zu antworten, doch seine Stimme versagte ihm.

»So rede doch, Mann! Was ist mit meinem Sohn?« Darrag war aufgesprungen; er hatte Gordonius bei den Schultern gepackt und schüttelte ihn. Schließlich fand der Therbunit seine Stimme wieder. Leise flüsterte er: »Geh jetzt zu deinem Sohn. Darrag. Er braucht dich ... Ich habe getan, was in meiner Macht stand ... doch noch vor der Mittagsstunde wird ihn Boron in seine dunklen Hallen rufen.«

»Nein! Das darf nicht sein!« Darrag schrie gellend auf und schlug mit der Faust gegen die Wand. Schluchzend packte er wieder den Medicus. »Warum mein kleiner Junge?«

»Faß dich, Mann.« Gordonius blickte ihn streng an. »Es steht uns nicht zu, die Gerechtigkeit der Götter in Frage zu stellen. Hör jetzt auf zu weinen, oder willst du so vor deinen Sohn treten. Los, sei ein Mann, Darrag. — Auch wenn es dir in dieser Stunde nicht leichtfällt«, setzte Gordonius hinzu. »Komm zu mir, wenn es vorbei ist. Du wirst dann mit jemandem reden müssen.«

Gordonius wandte sich ab und ging vor Müdigkeit gebeugt die Treppe hinunter.

Die ganze Nacht hatte er um Marrads Leben gekämpft, dachte der Schmied. Und jetzt würde bald die Sonne aufgehen. Darrag wischte sich die Tränen vom Gesicht und schritt durch die niedrige Tür in die kleine Kammer. Verloren sah der schmächtige Körper seines Jungen in dem großen Bett aus. Obwohl das Fenster geöffnet war, roch es säuerlich in dem Zimmer. Marrads Augen waren von tiefen dunklen Rändern umgeben. Sein Gesicht wirkte so bleich wie die Opferkerzen im Praiostempel.

Jetzt schlug er die Augen auf. »Vater ...«

»Ja, mein Sohn, ich bin bei dir.« Sanft strich der Schmied mit seiner großen schwieligen Hand über Marrads blondes Haar.

»Vater, werde ich jetzt sterben?«

Darrag hatte einen Kloß im Hals. Was sollte er nur sagen? Die Wahrheit? Er hob den Kopf und blickte zum Fenster.

Hinter den Festungswällen färbte sich der Himmel rosa. Bald würde die rot glühende Scheibe des Praiosgestirns zu sehen sein.

»Vater ...?«

Marrad starrte ihn mit großen fiebrigen Augen an. Das Reden schien ihm seine letzten Kräfte zu kosten. Am liebsten wäre Darrag davongelaufen. Nach Hause, zu seiner kleinen Tochter Jorinde, um die sich jetzt ihre alte Amme kümmerte.

Dann nahm der Schmied seinen ganzen Mut zusammen. »Ja, du wirst sterben«, flüsterte er leise.

»Gut«, seufzte der Knabe. »Gordonius hatte mir gesagt, mit meiner Schulter könne ich niemals mehr ein Schwert fuhren ... Werde ich Mutter sehen?«

»Bestimmt wartet sie schon auf dich ...« Leise begann der Schmied zu weinen.

Warum sein Sohn? Warum mußte das Kind sterben? Es hatte doch niemandem etwas getan. Nur das Schlüsselbein sei gebrochen, hatten ihm die Therbuniten gesagt, als man Marrad aus dem Fluß gezogen und ins Lazarett der Garnison gebracht hatte. In ein paar Wochen sei das alles überstanden. Doch dann hatte der Junge Fieber bekommen. Gordonius war ein großer Heiler, doch gegen den Wundbrand hatten auch seine Kräfte nichts mehr verrichten können.

Darrags letzte Hoffnung war Lancorian gewesen, aber der Magier war noch zu schwach, um zu helfen.

»Vater ... bist du stolz ... auf mich?« Marrads Stimme wurde immer schwächer.

»Ja, das bin ich. Du hast den Mut eines Kriegers bewiesen ...« Der Schmied schluchzte. »Aber du hättest dafür nicht zur Bastion schwimmen brauchen. Ich bin immer stolz auf dich gewesen.«

Marrad rollte mit den Augen. »Nicht schwimmen ...?« hauchte er schwach. »Du hast mich ... doch verachtet. Hast mich für ... einen Feigling gehalten ... hast dich meinetwegen ... geschämt ...« Die Stimme des Jungen brach ab.

»Ich weiß, ich habe dir nicht genug Liebe gegeben. Bitte verzeih mir. Stirb nicht! Ich werde alles wieder gutmachen. Hörst du?«

Marrad flüsterte etwas, doch seine Stimme war so leise, daß der Schmied es nicht mehr verstand. Darrag beugte sich über das Bett, brachte sein Ohr ganz nahe an den Mund des Jungen.

»Ein Vogel ... hörst du das Flügelschlagen?« hauchte Marrad.

»Bitte geh nicht!« schrie Darrag.

Einige Augenblicke spürte er noch den warmen Atem des Kindes an seiner Wange. Dann war Marrad tot.

Ein kalter Luftzug wehte vom Fenster her durch das Zimmer und ließ die hölzernen Läden klappern. Kurz glaubte auch der Schmied Flügelschlagen zu hören. Dann war es still.

Darrag blickte zum Fenster und faßte die leblose Hand seines Sohnes. Wie eine Scheibe rotglühenden Eisens war die Sonne über der Festungsmauer emporgestiegen. Doch ihre Strahlen brachten keine Wärme mehr in das Zimmer Darrag küßte immer wieder die Hand seines toten Sohns, und schluchzend murmelte er: »Dein Sterben wird nicht ungesühnt bleiben, das verspreche ich dir!«


Himgi blickte vom Bergfried in den oberen Hof der Garnison. Der Scheiterhaufen dort unten war fast in sich zusammengesunken. Nur Darrag und sein kleines Töchterchen standen noch vor den matt glimmenden Holzscheiten. Marcian hatte befohlen, dem toten Jungen ein Begräbnis wie einem Helden zu bereiten. Ein großer Haufen harzgetränkter Hölzer war am Mittag fast drei Schritt hoch im Burghof aufgeschichtet worden. Alle Krieger der Garnison hatten den Befehl erhalten, sich bei Sonnenuntergang auf dem Hof und den umliegenden Mauern und Trümmern zu versammeln. Jeder von ihnen hatte einen Becher Wein bekommen, und als Darrag die Fackel in den Scheiterhaufen stieß, tranken sie auf das Wohl des toten Jungen.

Himgi schüttelte den Kopf. Eine Heldenfeier für ein Kind. Marrad hatte zwar ungewöhnlichen Mut bewiesen, doch dieses Begräbnis war ein wenig zu pompös.

Auch die seltsame Geste, mit der Marcian von dem Knaben Abschied genommen hatte, verstand der Zwerg nicht. Als der Körper des Jungen schon ganz hinter Flammen verschwunden war, hatte Marcian seinen roten Umhang von den Schultern genommen und ins Feuer geworfen.

Der Zwerg drehte sich um. Sein Bein schmerzte wieder in dieser Nacht. Es war elend kalt, auf dem höchsten Turm der Stadt. Hinkend schritt er über die Plattform, um auf der anderen Seite des Turms zum Fluß hinabzuschauen.

Wie ein Band aus Silber glänzte die Breite am Fuß des Bergfrieds. Ob sie wohl zufrieren würde? Dann waren sie verloren.

Wilde Kapriolen schlagend schwebten die ersten Schneeflocken aus dem Nachthimmel. Der Winter hatte begonnen, und von Marcian wußte Himgi, daß höchstens noch für sechs Wochen genug zu essen vorhanden war. Sechs Wochen! Bis dahin mußte sich ihr Schicksal entschieden haben. Vor Hunger sterben würde er jedenfalls nicht. Eher wollte er alleine das Lager der Orks bestürmen und im Pfeilhagel zugrunde gehen. Aber verhungern ... Nein!

Schon jetzt hatten seine Männer ganz ausgemergelte Gesichter. Und die Menschen seines Regiments klagten darüber, daß sie sich ganz schwach fühlten. Die Zwerge waren zu stolz, um eine Klage vorzubringen.

Himgi blickte wieder den Fluß hinab nach Süden. Gerade wollte der Zwerg gehen, da sah er ein mattes Leuchten über dem Fluß. Er kniff die Augen zusammen, um im Schneetreiben noch etwas zu erkennen.

Plötzlich stand eine gewaltige Flammenwand über dem Fluß. Dem Zwerg war, als würde er Hunderte von Todesschreien hören. Dunkle Holzstangen schienen zwischen den Flammen in die Höhe zu ragen, und über allem lag der Gestank von Blut und Tod. Himgi stockte der Atem.

Dann war das Schreckensbild wieder verschwunden.

Unter ihm lag in kaltem silbernen Licht der Fluß.

Spielten seine Sinne ihm einen Streich? Was hatte er da gesehen? Himgi kniete sich in den Schnee und betete zu Angrosch. Er flehte den Gott der Schmiede und des Feuers an, nicht zuzulassen, daß diese Vision Wahrheit wurde.

Aber die ganze Zeit über, in der seine Lippen immer und immer wieder die gleichen, stummen Worte formten, mußte er an das denken, was seine Mutter einmal vor langer Zeit in einem Augenblick des Zorns gesagt hatte: Die Götter hörten jedes Gebet, und sie mochten jeden noch so geheimen Gedanken erraten.

Aber sie erfüllten nicht immer die Wünsche derer, die sie verehrten.

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