14

Dem dumpfen Schlag folgte ein leichtes Zittern, ganz so, als wäre die Burgmauer für einen Augenblick lebendig geworden. Marcian schaute besorgt zu der Bastion am Fluß, die gegenüber der Garnison auf dem anderen Ufer der Breite lag. Eine Woche lang dauerte nun schon der Beschuß, und von den fast drei Schritt dicken Mauern des mächtigen Turms waren nicht mehr als Ruinen geblieben. Über die Hälfte der Verteidiger war bereits tot, und von denen, die noch lebten, hatte jeder Wunden davongetragen.

Das Drama mitansehen zu müssen war eine Tortur. Als hätten sich die Orks verschworen, zu Marcians Henkern zu werden, wo er Gnade walten lassen wollte. Noch in derselben Nacht, in der er den Rebellen die Wacht im Turm auferlegt hatte, waren alle Geschütze der Schwarzpelze auf die andere Seite des Flusses verlegt worden. Beinahe ununterbrochen hämmerten die steinernen Geschosse gegen die Mauern. Manchmal reichte ein Fehlschuß auch bis über den Fluß und traf die Garnison.

Zornig hieb der Inquisitor mit der Faust auf die Zinne. Es gab fast nichts, was sie für die Männer und Frauen im Turm noch tun konnten. Ihnen blieb nur, zu den Göttern zu beten, daß sie dem Kampf ein schnelles Ende bereiteten. Doch mochte der Widerstand der Rebellen noch eine Weile dauern. Erst heute morgen hatten sie um einen Pfeilschaft gewickelt eine Botschaft geschickt, in der Rialla versicherte, sie würden bis zum letzten Atemzug fechten, und solange auch nur einer von ihnen noch sein Schwert heben könnte, würde kein Schwarzpelz seinen Fuß auf die Mauern setzen.

»Was denkt Ihr, Kommandant?«

Marcian drehte sich zu dem Jungen neben ihm um. Der kleine Blondschopf diente ihm seit einigen Wochen als Bote. Marrad war der Sohn Darrags des Schmieds. Auch wenn er erst sieben Sommer alt war, so stand er, zumindest was den Mut anging, seinem Vater in nichts nach. Oder war es der Leichtsinn der Jugend, der den Kleinen die Gefahr mißachten ließ? Tagsüber wich er fast nie von Marcians Seite. Marrad war mit ihm in den Lazaretten gewesen, und obwohl hier die Gefahr bestand, durch ein verirrtes Geschoß getroffen zu werden, war er mitgekommen und lugte über die Zinnen.

Der Inquisitor ging in die Hocke, packte Marrad bei den Schultern und blickte ihn ernst an.

»Merk dir gut, was du da drüben siehst. Dort sterben Helden, über die einst die Barden singen werden. Ich denke, daß wir alle uns ein Beispiel an den Rebellen nehmen sollten. Den Fehler, den sie einmal gemacht haben, hat längst jeder einzelne mit Blut bezahlt. Ich wünschte, ich könnte ihnen das noch sagen, doch ist es unwahrscheinlich, daß sie eine Nachricht um einen Pfeil gewickelt je finden würden. Wer sich bei dem Trommelfeuer der Orks dort drüben auch nur für einen Moment auf den Zinnen blicken läßt, hat sein Leben verwirkt.«

Zweimal hatten sie versucht, des Nachts neue Truppen und Vorräte über den Fluß zur Bastion zu bringen. Doch die Orks bemerkten die Kähne zu früh und versenkten sie, noch bevor die Boote die kleine Anlegestelle an der Rückseite des Turmes erreichen konnten. Es hieß, sinnlos Vorräte und Krieger zu opfern, würde man nach diesen Erfahrungen noch einen Versuch wagen.

Die Westseite des Turmes lag schon in Trümmern. Marcian war überzeugt, daß die Orks bald zum Sturm ansetzen würden. Der Inquisitor wandte sich von der Szene ab, schritt über das Dach des Palastes und stieg durch eine Bodenluke in das Innere des großen Wohngebäudes.

Hatte mit diesem Angriff der Untergang der Stadt begonnen? Was würde die Orks davon abhalten, als nächstes ihre sämtlichen Geschütze vor dem Andergaster Tor aufzubauen und es in Trümmer zu schießen?

Er durfte diesen Gedanken nicht nachhängen! Die Bastion wurde zerstört und bestürmt, weil sie isoliert von der Stadt lag und die Greifenfurter den Truppen auf der anderen Seite des Flusses keine Hilfe bringen können. Die Stadt würde wesentlich mehr Widerstand leisten können, überlegte der Inquisitor, während er die Treppen herabstieg, um in den Rittersaal zu gelangen.

Aber jeder dritte seiner Krieger lag krank in seinem Quartier. Die Gilbe grassierte noch immer in der Stadt. Auf halbe Ration gesetzt und ohne Pfeilkräuter starben viele an dem Fieber. Lancoprians magische Kräfte hatten zuletzt nicht einmal gereicht, ihn selber vor dem gefährlichen Fieber zu schützen. Bis vor ein paar Tagen hatte er den Kranken kraft seiner Magie noch Erleichterung verschaffen können und sicherlich so manchem das Leben gerettet. Die Gilbe war zwar eine ernste Krankheit, doch nichts, woran man hätte sterben müssen, wäre nur wenigstens ausreichend zu essen vorhanden. Marcian konnte es sich leider nicht leisten, volle Rationen auszugeben.

Der Inquisitor blickte die Treppe hinauf. Marrad war verschwunden. Auch sein Vater, der Schmied, lag über einer Woche mit dem Fieber danieder. Darrag hatte den Tod seiner Frau nie verwunden; er war immer schweigsamer geworden, und der Inquisitor hatte den Eindruck, als sei Darrags Wille zum Leben erloschen. Erst heute morgen hatte er ihn im Lazarett der Garnison noch besucht. Doch der Schmied lag nicht mehr in seinem Bett. Auf Befehl von Gordonius war er ins Sterbezimmer gebracht worden. Darrag war kaum noch wiederzuerkennen gewesen. Die Krankheit hatte seinen kräftigen Körper ausgezehrt. Die Wangen waren eingefallen, und am Morgen hatten seine blassen Lippen begonnen, sich gelblich zu verfärben.

Tod und Vernichtung überall! Wenigstens schien die seltsame Krankheit derer, die Gordonius in den Peraine-Tempel hatte schaffen lassen, gebannt zu sein. Bei fast allen waren die schrecklichen Eiterbeulen wieder abgeheilt, daher hatte der Therbunit sie nach Hause gehen lassen. Es schien, als hätte die Göttin selbst eingegriffen, so schnell waren die scheußlichen Wunden wieder verschwunden. So erzählte man zumindest in der Stadt. Der Inquisitor lächelte bitter. Wie schnell der Pöbel seine Meinung änderte. Noch vor einer Woche hatten sie den Tempel anstecken wollen, und jetzt redete alles vom Wunder der Göttin.

Marcian war vor der hohen Flügeltür zum Rittersaal angelangt. Eine Weile zögerte er einzutreten. Dann ging er weiter. Sollten sie dort ohne ihn beraten. Er wollte allein sein!


Die Sonne war versunken, und ein steifer Wind aus Nordwest trieb unermüdlich kleine Wellen in das Hafenbecken, wo sie sich an den Kaianlagen und Bootsrümpfen brachen. Kalt war es an diesem Abend, das Wasser war eisig.

Marrad zögerte immer noch. Sollte er es tun? Der Kommandant hatte immer wieder gesagt, wieviel ihm daran lag, daß die Rebellen erfuhren, daß er ihnen vergeben hatte. Zu oft hatte er das gesagt! Marrad war sich sicher, daß Marcian wollte, was er nun tat.

Vorsichtig streckte er den Fuß ins Wasser und fuhr schaudernd wieder zurück. Seine Kleider hatte er schon zu einem Bündel geschnürt und im Rumpf eines Bootes versteckt.

Er war klein genug, um zwischen den dicken Stäben des Gatters, das die Hafeneinfahrt versperrte, hindurchzuschlüpfen. Einem ausgewachsenen Mann war dieser Weg versperrt.

So gesehen, war Marrad also der einzige, der für diese Aufgabe in Frage kam. Sein Herz klopfte schneller. Was zögerte er noch? War er nicht der Bote Marcians? Der Junge faßte allen Mut zusammen. Dann sprang er kopfüber vom Kai.

Das Eintauchen ins eisige Wasser war wie ein Schock. Einen Moment dachte Marrad, er sei gelähmt und die Flußgeister hätten ihm alle Kraft genommen. Er stellte sich vor, wie er langsam auf den Grund des Hafenbeckens sinken würde, um dort zu sterben. Doch dann dachte er wieder an seine Aufgabe, und das gab ihm Kraft.

So gut ihn seine dünnen Arme trugen, schwamm er quer durch den Hafen auf das große Gitter zu. Schon jetzt spürte er, wie sehr die Kälte an seinen Kräften zehrte. Er war nicht so stark und ausdauernd wie die anderen Jungen in seinem Alter, und er wußte, daß sich sein Vater seinetwegen schämte. Der Sohn des Schmiedes ein Schwächling! Aber er würde jetzt allen beweisen, was in ihm steckte.

Allein Marcian wußte, was er wert war. Der Kommandant hatte ihm einen roten Umhang machen lassen und ihn zu seinem persönlichen Boten ernannt. Mit Stolz dachte der Junge an den Nachmittag, an dem Marcian mit seiner Frau die Straße heruntergekommen war und ihm zugeschaut hatte, wie er sich heldenhaft einer Übermacht erwehrte. Ja, der Kommandant wußte, was in ihm steckte. Er wußte es besser als sein eigener Vater! Marrad mußte schlucken, als er daran dachte, wie sein Vater zitternd vor Fieber in dem schmutzigen Krankenbett im Sterbezimmer lag. Darrag hatte ihn nicht gesehen, obwohl er den ganzen Nachmittag bis kurz vor Sonnenuntergang bei ihm geblieben war. Statt dessen murmelte er immer wieder den Namen ihrer Mutter.

Aber sie war tot! Warum dachte er nicht an die Lebenden? Warum nicht an ihn und seine Schwester?

Marrad hatte das Gitter erreicht und klammerte sich an die mächtigen Stäbe, um für einen Augenblick zu verschnaufen. Wieder dachte er, daß er es in dieser Nacht allen zeigen würde! Keiner hatte es geschafft, bis zur Bastion am anderen Flußufer durchzukommen, seit die Orks den Turm beschossen. Aber er konnte es! Er würde ein Held sein, wie Marcian oder wie Zerwas, der von seinem todesmutigen Ausfall gegen die Orks nicht mehr zurückgekommen war.

Sein Vater hatte sich einen ganzen Tag betrunken, als der Henker gestorben war und geschimpft, nun sei auch noch sein einziger Freund tot. Abends war Vater dann nicht einmal mehr in der Lage gewesen, die Leiter zu seiner Schlafkammer emporzusteigen. Marrad erinnerte sich noch ganz genau, wie er dann mit seiner Schwester Jorinde Kissen und Decken heruntergebracht hatte, um Vater auf dem Boden ein Lager zu bereiten.

Marrad erschauderte. Was würde er jetzt für ein warmes Bett geben. Er kniff die Augen zusammen und blinzelte über den Fluß. Kein Licht brannte in der Bastion. Draußen auf dem dunklen Wasser schienen die Wellen höher zu sein als im Hafen.

Er mußte jetzt los! Mußte hinüberschwimmen, bevor die Kälte ihm alle Kraft geraubt hatte. Wenn er das schaffte, wäre er ein Held, und dann würde sich Vater auch mehr um ihn kümmern.

Mit einem Seufzer stieß sich Marrad vom Gitter ab und schwamm gegen die Strömung an.

In sehr heißen Sommern war das Wasser hier so flach, daß man zur anderen Seite des Ufers waten konnte, doch der Regen der letzten Wochen hatte die Breite anschwellen lassen. Sie führte viel mehr Wasser als sonst zu dieser Jahreszeit.

Mühsam kämpfte Marrad gegen die Strömung an. Jetzt könnte er die Kräfte seines Vaters brauchen. Er mußte ein Uferstück weit nördlich der Bastion anpeilen. Würde er versuchen, in grader Linie auf den Turm zuzuschwimmen, würde er weiter südlich bei den Stellungen der Orks angetrieben werden. Die Wellen schlugen Marrad ins Gesicht prustend spuckte er Wasser. Gestern früh hatte er zwei alte Frauen erzählen hören, der schwarze Marschall sei mit seinem Heer nicht weit nördlich von der Stadt und hätte allen seinen Kriegern befohlen, in die Fluten der Breite zu pinkeln, damit das Wasser vergiftet wurde. Ob das der Wahrheit entsprach? Immerhin war der Wasserspiegel nicht gesunken, obwohl es in den letzten Tagen viel weniger geregnet hatte.

Marrad konnte jetzt schon die kleine, steinerne Treppe sehen, die an der Rückseite der Bastion zum Fluß hinabführte. Noch ein paar Stöße, und er hätte es geschafft. Er biß die Zähne zusammen. Schließlich erreichte er das andere Ufer und klammerte sich an einen Eisenring seitlich der Treppe, an dem sonst Boote vertäut wurden. Er brauchte eine ganze Weile, genügend Kraft zu sammeln, um sich aus dem Wasser zu ziehen.

Vorsichtig kroch er im Dunkeln die Stufen hinauf. Eigentlich dürften ihn die Orks hier, auf der vom Land abgewandten Seite des Turmes, nicht sehen. Leise klopfte er an die kleine Ausfallpforte am Ende der Treppe. Nichts rührte sich.

Sollten die Schwarzröcke die Bastion vielleicht gar schon gestürmt und alle niedergemacht haben?

Marrad zögerte. Dann klopfte er noch einmal, diesmal etwas lauter. Nach einer Ewigkeit hörte er schließlich, wie sich Schritte näherten. Mit leisen Knirschen wurde ein Guckfenster in der Tür geöffnet.

»Wer dort?« flüsterte eine Frauenstimme. »Marrad, der Bote Marcians!« Marrad versuchte, seine Stimme etwas tiefer klingen zu lassen, doch der Versuch mißlang.

»Zeig dich!« erklang es hinter der Tür. Marrad richtete sich auf. Dann war das Geräusch eines Riegels zu hören, der zurückgeschoben wurde. Die Tür öffnete sich, und Rialla schaute ihn mehr ärgerlich als überrascht an. Marrad huschte durch das Tor, das Rialla eiligst wieder hinter ihm verschloß.

»Welche Botschaft ist so wichtig, daß Marcian dich dafür in den Tod schickt?«

Marrad wiederholte, was der Kommandant am Mittag auf der Mauer gesagt hatte.

Rialla blickte ihn ernst an. »Und um das zu sagen, hat dich Marcian geschickt?« Die Bannerträgerin legte den Kopf schief und musterte ihn eindringlich.

Marrad fühlte sich zunehmend unwohler. Er war doch unter Helden, und die Helden in den Liedern der Troubadoure verhielten sich ganz anders. Einen Moment überlegte er, ob er das Rialla nicht sagen sollte, doch dann entschied er sich anders und erzählte der großen, blonden Kriegerin verlegen, daß er nicht ausdrücklich den Befehl hatte, diese Botschaft zu überbringen.

Rialla lächelte ihn an. »So ist das also ...« Dann klopfte sie ihm auf die Schulter. »Komm jetzt erst mal mit nach oben, da bekommst du eine Dekke und kannst dich am Feuer aufwärmen. Dann sollst du den anderen erzählen, warum du hier bist. Wenn du schon dein Leben riskierst, Marrad, dann sollen auch alle hören, was du uns zu sagen hast!«


Das Geräusch splitternden Steins weckte Rialla am nächsten Morgen. Die Orks hatten wieder begonnen, den Turm zu beschießen.

Diejenigen, die nicht zur Wache eingeteilt waren, hatten es sich ringsherum bequem gemacht und dösten oder schliefen. Hier war es warm, denn im Zwischengeschoß gab es einen großen Kamin, auf dem das Essen für die Besatzung zubereitet wurde. Durch das Feuer wurde die Kälte aus dem Gemäuer vertrieben.

Die Kriegerin gähnte und reckte sich. Dicht neben ihr lag der kleine, blonde Junge, der letzte Nacht durch den Fluß geschwommen war, um zu berichten, daß Marcian ihnen die Rebellion vergeben hatte.

Sie mußte lächeln. Was der Kleine gemacht hatte, war aberwitzig, aber mutig. Aus ihm wäre sicher ein guter Krieger geworden. Marrad schlief noch immer, er war so erschöpft, daß ihn nicht einmal das dumpfe Dröhnen aufschreckte, das beim Aufschlag der Steinkugeln auf die Mauer durch den ganzen Turm lief.

Rialla griff nach Helm und Schild. Es war an der Zeit, daß sie in den zerstörten oberen Turmgeschossen nach dem Rechten sah.

Vorsichtig hinter den Rundschild geduckt, schlich sie die Treppe hinauf. Dadurch, daß ein Teil der Westwand zerstört war, konnten die Bogenschützen der Orks direkt in den Turm schießen. Selbst einige Abschnitte der Wendeltreppe boten jetzt keine Deckung mehr. Im ersten Geschoß war alles in Ordnung. Die Wachen hatten sich hinter die Trümmer der eingestürzten Wand gekauert und beobachteten aufmerksam die Stellungen der Schwarzpelze.

Wieder sauste eine der mächtigen Steinkugeln heran und zersplitterte krachend an der Turm wand. Besorgt blickte Rialla zur Decke. Ein Dutzend fingerdicker Risse zog sich durch das Gewölbe. Bald würde das ganze marode Gemäuer in sich zusammenfallen.

Na ja, was sollte es? Dann hatte die Sache wenigstens ein Ende. Durch den ersten Mauereinbruch waren alle vier Geschütze im Turm zerstört worden. Sie konnten sich gegen den Beschuß der Orks nun nicht einmal mehr zur Wehr setzen. Je schneller das hier vorbei war, desto besser.

Die Bannerträgerin schlich ins nächste Geschoß. Ein Pfeil verfehlte nur knapp ihren Hals und schlug in die Wand. Zum Glück trauten die gegnerischen Bogenschützen sich meistens nicht nahe genug heran, um genau zielen zu können, dachte die Kriegerin und setzte ihren Weg fort. Der Boden im obersten Geschoß des Turmes waren sogar nur noch wenige Fuß breit stehengeblieben.

Rialla fluchte, als sie wieder an die Katastrophe von vor drei Tagen dachte. Hier hatte sie ihre meisten Kämpfer verloren. Nicht durch die Schwerter der Orks, sondern an den herabstürzenden Gesteinsmassen waren die Verteidiger gestorben. Ein elender Tod für einen Krieger! Rialla mußte diese trüben Gedanken vertreiben. Sie war Offizierin. Sie mußte den anderen ein Vorbild sein, ihnen Mut machen.

»Was machen unsere Freunde?« rief sie leise zu den dreien, die zwischen den Trümmern kauerten.

»Ich glaube, die haben heute morgen Zielwasser von ihren Schamanen zu trinken bekommen!« Die schwarzhaarige Olda drehte sich zu ihr herum. »Vorhin haben sie Ordbert erwischt.«

Rialla blickte zu dem kräftigen Mann, der an einen Felsblock lehnte. Von der Treppe her sah es ganz so aus, als würde er immer noch aufmerksam zu den Orks hinüberspähen.

»War ein sauberer Schuß«, flüsterte Olda, fast so, als würde sie mit sich selbst reden. »War halt ein Glückspilz, der Stallmeister. Gestern hat er mich noch beim Würfeln ruiniert, und heute kriegt er einen Blattschuß. Hat nicht einmal geschrien. Ist einfach zur Seite gekippt, als wäre er eingeschlafen.«

Rialla schlich hinter dem Schild gekauert zu der Schwarzhaarigen. »Kommt ihr auch zu zweit klar?«

Die Frau bückte die Bannerträgerin völlig entgeistert an. »Machst du Witze? Ordbert hat in der ganzen Zeit, die ich zusammen mit ihm auf Wache stand, nicht einmal einen Schwarzrock getroffen. Er mag ja ein guter Reiter gewesen sein, ein guter Bogenschütze war er nicht. — Natürlich kommen wir ohne ihn aus. Es fehlt nur jemand zum Reden.« Die Frau deutete zum anderen Ende der zerstörten Turmkammer. »Elena schießt zwar bedeutend besser als Ordbert, dafür redet sie nicht mehr als ein Fisch. — Was macht eigentlich unser Kleiner?« »Schläft«, murmelte Rialla einsilbig. »Hat ja Nerven wie ein alter Söldner.« Die Bannerträgerin schwieg. Seit sie von der Stadt abgeschnitten worden waren, hatte sie sich damit abgefunden, in diesem Turm zu sterben. Jetzt lebte sie nur noch für den Augenblick.

Da sie sterben würde, hatte Rialla keine schmachvolle Zukunft mehr zu befürchten. Sie war von adeligem Stand und bekleidete den zweithöchsten Offiziersrang in ihrem Regiment. Aber mit der Rebellion gegen Marcian hatte sie gegen alle Traditionen verstoßen. Sie hatte sogar ihre Waffe gegen den Inquisitor gezogen. Damit war auf Generationen der Name ihrer Familie entehrt.

Gedankenverloren blickte sie zu den Erdwällen der Orks hinüber. Zwanzig oder mehr Geschütze hatten die Schwarzröcke dort aufgefahren. Dazwischen versammelten sich Krieger. Ganz offensichtlich stand ein Sturmangriff bevor. Sie mußte handeln.

»Alle auf die Posten!« Rialla schrie so laut, daß es jeder in der Bastion hören konnte. Zählte sie die Leichtverwundeten mit, hatte sie noch ein knappes Dutzend Kämpfer. Weiter unten waren Schritte auf der Steintreppe zu hören. Die Kämpfer gingen in Stellung.

Gut, dann mochte jetzt der letzte Akt des Dramas beginnen. Die Kürassiere, die mit ihr nach hier verbannt worden waren, würden bleiben, weil es Ehrensache war, auch einen verlorenen Posten nicht aufzugeben. Bei den Bürgern standen die Dinge anders. Hätten sie Sinn in einer Flucht gesehen, dann wäre sicher schon längst keiner von ihnen mehr hier. Rialla war sich vollkommen sicher, daß Gernot Brohm und seine Gefährten nur deshalb blieben, weil sie genau wußten, daß eine Flucht den sofortigen Tod in einem Hagel von Pfeilen bedeutete, wohingegen diejenigen, die in der Ruine ausharrten, vielleicht noch ein paar Stunden oder sogar einen ganzen Tag leben würden. Vielleicht kam ja doch noch im allerletzten Moment die Rettung?

Mittlerweile hatten sich ungefähr hundert Orks hinter den Erdwällen bereitgemacht. Rialla konnte sogar den verräterischen Zwerg erkennen, der auf der anderen Seite das Kommando führte. Wenn sie den Kerl mit zu Boron nehmen könnte, dann hätte ihr Tod in dieser verfluchten Bastion wenigstens einen Sinn gehabt.

Jetzt hob der Zwerg den Arm. Seine Streitaxt blitzte silbrig in der Morgensonne, und während die Orks in einer dunklen Welle über die Erdschanze hinwegstürmten, feuerten alle zwanzig Geschütze gleichzeitig auf den Turm.

Rialla warf sich flach auf den Boden.

Krachend schlugen die Felsbrocken auf die Mauer. Steinsplitter erfüllten die Luft. Von unten konnte sie einen Mann aufschreien hören.

Wo der Kleine jetzt wohl steckte? Verrückt! Wahrscheinlich würde sie in diesem Chaos aus Staub und einstürzenden Mauerstücken nicht einmal mehr die nächste Stunde überleben.

Vorsichtig blickte die Bannerträgerin über die Trümmer, hinter denen sie in Deckung lag. Die Schwarzpelze hatten schon den halben Weg zur Schanze geschafft. Einige von ihnen trugen lange Leitern. Die fünf Schritt, die sie an Höhenvorteil hatten, würden ihnen so auch nicht mehr viel nutzen. Die Bresche in der Mauer reichte zwar nur bis über das Zwischengeschoß, doch war sie breit genug, daß man dort drei oder vier Leitern nebeneinander anlegen konnte.

Es wurde Zeit, daß sie sich ein Stockwerk weiter nach unten zurückzog. Dort, wo der Angriff zu erwarten war, zählte sie jetzt mehr. Sie drehte sich zu Olda um.

»Sobald die Orks heran sind, werft Felsbrocken auf sie herab.«

Die Kriegerin nickte ihr stumm zu, und Rialla kroch vorsichtig zur Wendeltreppe zurück. Knapp einen Schritt neben ihr zerbarst ein Katapultgeschoß an der Wand. Scharfkantige Gesteinssplitter zischten durch die Luft. Obwohl die Bannerträgerin sofort den Schild hochriß, trafen sie einige Splitter ins Gesicht. Blut tropfte von ihrer rechten Augenbraue.

»Vorsicht!« brüllte die Schwarzhaarige. »Du wirst doch nicht vor mir zu Boron gehen wollen?«

Statt einer Antwort lachte Rialla. Jetzt war ohnehin alles gleichgültig. Den Tod fürchtete sie nicht.

Die Orks hatten eine zweite Salve abgeschossen. Mit ohrenbetäubendem Lärm schlugen die Felsbrocken so dicht nacheinander ein, daß man die einzelnen Aufschläge nicht mehr unterscheiden konnte.

Unter den Lärm splitternder Steine mischte sich ein tiefes, bedrohliches Knirschen, das die Bannerträgerin nur zu gut kannte.

Panisch hastete sie die Treppe hinab. So wollte sie nicht sterben! Unten angekommen, blickte sie zur Decke. Die Risse dort wurden langsam größer. Der vordere Teil begann sich abwärts zu senken.

Rialla machte einen Hechtsprung nach vorne und schlug hart zwischen den Trümmern auf. Im Reflex riß sie ihren Schild hoch über den Kopf. Männer und Frauen schrien durcheinander.

»Alles ganz nach vorne zur Bresche!« Rialla versuchte mit lauter Stimme, den Tumult zu übertönen, achtete aber nicht mehr darauf, ob ihrem Befehl Folge geleistet wurde, sondern versuchte halb kriechend, halb rutschend unter der überhängenden Decke wegzukommen.

Dann schlugen mit infernalischem Getöse Felsbrocken hinter ihr auf. Eine Woge von Staub hüllte sie ein, füllte ihr Augen, Mund und Nase, während sie hustend weiterkroch.

Langsam verzog sich der aufgewirbelte Staub. Gleichzeitig hörte sie, wie die Leitern an die Mauern gelehnt wurden.

»Alles auf die Beine!« Rialla reagierte nicht mehr bewußt. Ein Leben lang war sie zum Töten und Kommandieren ausgebildet worden, so daß sie jetzt, ohne nachzudenken, die richtigen Entscheidungen treffen konnte. Hinter ihr taumelten einige staubbedeckte Gestalten auf die Bresche zu, während Rialla schon am Mauerrand stand und den Fuß auf die erste Leiter gesetzt hatte, um sie zurückzustoßen.

»Alle Kürassiere und Offiziere zu mir, die anderen verteilen sich an der Mauer und werfen Steine herab.« Die Kriegerin rief die Befehle, ohne sich auch nur umzudrehen.

Nun war ohnehin alles bedeutungslos geworden. Entweder es gab noch genug Krieger, um die Bresche zu verteidigen oder nicht. Die Bannerträgerin zog das Schwert. Rechts und links neben ihr standen noch zwei Leitern an den Mauern. Schon kletterten die ersten Orks hinauf. Es war zu spät, diese Leitern noch umzustoßen. Sie ragten nur wenige Hand breit über den Rand der Mauer, so daß man sie ohne Hebel nicht mehr umstürzen konnte, sobald die Orks begonnen hatten, hochzuklettern.

Flüchtig erkannte die Kriegerin, daß sich doch noch zwei Kämpen eingefunden hatten, um mit ihr die Bresche zu verteidigen. So gut wie ohne Deckung standen sie zwischen den Trümmern der Turmmauer.

Die Schilde zum Schutz hoch über die Köpfe erhoben, kamen die ersten Schwarzpelze die Sturmleitern hinauf. Der Moment, in dem sie von der Leiter in die Bresche klettern mußten, war für die Angreifer am gefährlichsten. Die Kriegerin machte einen Schritt zurück. Pfeile zischten an ihr vorbei oder bohrten sich zitternd in ihren Schild. Bogenschützen versuchten, sie durch massiven Beschuß von der Mauer zu vertreiben.

Sie durfte nicht an die Pfeile denken. Konnte es Rondras Wille sein, daß sie einen so ehrlosen Tod fand?

Der erste Ork versuchte, von der Leiter auf die Mauer zu klettern. Rialla warf sich, den Schild vor die Brust verschränkt, nach vorne. Ihr Gegner riß ebenfalls den Schild hoch, so daß sie krachend aufeinanderprallten. Noch immer hatte der Ork nicht sein Gleichgewicht auf der breiten Mauerkante gefunden.

Rialla bedrängte ihn weiter, setzte ihren Fuß hinter seine Ferse und holte gleichzeitig mit ihrem Schwert aus, um seitlich am Schild des Gegners vorbeizuschlagen und den Schwarzpelz in seiner ungedeckten Flanke zu treffen.

Der Ork versuchte verzweifelt, dem Schwert auszuweichen, taumelte einen Augenblick und stürzte dann schreiend von der Mauer.

Da hast du ein Opfer, Tairach, dachte Rialla triumphierend. Neben ihr ertönte der helle Klang von Schwertern, Gernot Brohm und Ritter Armand, einer der beiden Offiziere, die sich mit ihr gegen Marcian gestellt hatten, hielten rechts und links von ihr die Stellung.

Der Ork hatte zwei seiner Gefährten mit sich in die Tiefe gerissen, so daß die Kriegerin einen Augenblick Zeit hatte, um nach hinten zu blicken. Die Trümmer der eingestürzten Deckenhälfte hatten den Abstieg zu den unteren Etagen blockiert. Es gab also vorerst keinen Weg zurück mehr. Die beiden Frauen, die sie oben zurückgelassen hatte, mußten tot sein. Also fochten nur noch sechs oder sieben Getreue mit ihr, um den Ansturm der Orks zurückzuschlagen.

Ein Pfeil durchschlug ihren Schild und prallte wirkungslos am Küraß ab. Rialla lachte laut auf. »Laßt uns mit unseren Schwertern eine Saga von wahrem Heldenmut schreiben! Die Götter blicken auf uns. Erweist euch als würdig.«

Zu ihren Füßen erklommen neue Orks todesmutig die Leiter. Die Bannerträgerin ließ ihr Schwert über dem Kopf kreisen. »Für den Prinzen! Tod und Verderben den verlausten Schwarzpelzen!« schrie sie aus vollem Halse, und die übrigen stimmten in ihren Schlachtruf ein. »Für den Prinzen!« Ein Ork mit einer breiten Narbe über dem Gesicht war nun am oberen Ende der Leiter angekommen. Doch statt den Versuch zu machen, auf die Mauer zu steigen, holte er mit seiner Streitaxt zu einem Schlag nach ihren Füßen aus.

Die Kriegerin machte einen Satz nach hinten. Der Hieb verfehlte sie knapp, doch der Ork nutzte die Gelegenheit, um auf die Mauer zu klettern. Er war ein großer Kerl mit fingerlangen Hauern, die ihm aus dem Unterkiefer wuchsen. Lippen und Gesicht schmückten dunkle Tätowierungen. Wahrscheinlich ein Häuptling, dachte die Rialla, während sie seinen Angriff abwartete.

Er trug einen mit Eisenplättchen verstärkten Lederpanzer und schützte sich zusätzlich mit einem großen, rot bemalten Rundschild. Ein eiserner Helm krönte sein Haupt. Die Axt des Kriegers war so gewaltig, daß die meisten Menschen sie vermutlich nur zweihändig hätten führen können. Breitbeinig stand er auf der Mauer und wartete ihren Angriff ab. Rialla mußte ihn schnell zurückschlagen, damit nicht noch mehr Orks auf die Mauer gelangten. Die Kriegerin machte einen Ausfall. Dicht wie Hagelschlag prasselten ihre Schwerthiebe auf ihn ein. Doch der Ork war ein gewandter Kämpfer und parierte ihre Hiebe geschickt. Rialla ihrerseits fing mit ihrem eisenbeschlagenen Schild die schweren Schläge des Orkhäuptlings auf. Es war ein höchst ungleicher Kampf. Schon splitterte der Rand von Riallas Schild unter den wuchtigen Attacken ihres Gegners. Seine Waffe war schwerer und hatte mehr Durchschlagskraft.

Die Bannerträgerin schlug eine Reihe von Finten, um einen Schwachpunkt in der Deckung des Orks zu finden. Doch der Schwarzpelz stand wie ein Fels auf der Mauer und wich nicht um einen Zoll zurück.

Rialla fluchte. Es schien schier unmöglich, die Deckung dieses Orkhäuptlings zu durchbrechen. Ein Veteran der kaiserlichen Garde hätte kaum geschickter mit dem Schild parieren können als dieser Barbar.

Sie mußte etwas anderes versuchen. Vorsichtig wich Rialla vor dem nächsten Hieb ein Stück zurück. Sie würde alles auf eine Karte setzen. Der Ork stieß einen gellenden Schlachtruf aus und setzte ihr mit erhobener Axt nach.

Das war der Augenblick, auf den die Bannerträgerin gewartet hatte. Sehende sprang sie vor und führte das Schwert in weitem Bogen seitlich nach oben. Zu spät begriff der Ork ihre Absicht, und Rialla zersplitterte mit ihrem Hieb den hölzernen Schaft der Streitaxt.

Schlag auf Schlag drosch sie nun auf ihn ein und hielt den Orkhäuptling mit ihren pausenlosen Attacken so in Atem, daß er keine Gelegenheit fand, eine neue Waffe zu ziehen. Weiter zurückweichen konnte der Krieger nicht, sonst wäre er wie sein Vorgänger durch die Bresche in die Tiefe gestürzt.

Der große Rundschild, mit dem er bislang so meisterhaft ihre Angriffe abgewehrt hatte, soll ihm jetzt zum Verhängnis werden, dachte die Bannerträgerin.

Rialla hob den Arm, so als wolle sie mit einem mächtigen Hieb nach seinem Kopf zielen. Der Ork riß den Schild hoch. Im selben Augenblick änderte die Kriegerin ihre Angriffsrichtung und schlug in weitem Bogen unter dem Schildrand des Hünen hinweg, so daß ihr Schwert dem Ork in den ungeschützten Unterleib fuhr. Ruckartig riß Rialla die blutige Klinge zurück.

Der Häuptling brüllte wie ein verwundeter Stier, preßte die freie Hand auf die Wunde und taumelte einen Schritt zurück. Mit dem linken Fuß trat er ins Leere. Verzweifelt riß er beide Arme hoch und versuchte schwankend die Balance auf der Mauerkante zu halten.

»Stirb!« zischte die Kriegerin und ließ ihr breites Schwert vorzucken. Doch noch bevor sie traf, warf sich der Orkhäuptling mit einem gellenden Schrei nach hinten.

Die anderen Krieger, die beobachtet hatten, wie der mächtige Häuptling gestorben war, wichen entsetzt von den Leitern und der Mauer zurück. Vergeblich brüllte Kolon Befehle, um sie wieder vorwärtszutreiben. Nachdem sich die ersten Schwarzpelze zur Flucht gewandt hatten, gab es kein Halten mehr. Nur die Bogenschützen, die sich in Reichweite der Axt des fluchenden Zwergs befanden, blieben auf ihren Posten.

»Sieg! Sieg!« Wie besessen brüllte Rialla immer wieder dieses eine Wort. Rondra war ihr gnädig.

Rund um die Gruppe in der Bresche schlugen erneut Pfeile ein, und während Rialla und der junge Brohm noch immer wie trunken vor Freude waren, fuhr sich Ritter Armand mit gurgelndem Schrei nach der Kehle. Eines der Geschosse hatte sein Ziel gefunden.

Die Freudenrufe verstummten.

Einen Moment stand der Ritter noch taumelnd in der Bresche, dann stürzte er vom Turm.

»Alles in Deckung!« schrie Rialla entsetzt.

Selbst als sie hinter der zertrümmerten Turmmauer kauerte, konnte Rialla es noch nicht fassen. Wo war die Gerechtigkeit der Götter? Warum mußte das im Augenblick ihres Sieges geschehen?

Die Orks hatten aus der sicheren Deckung ihrer Erdwälle heraus erneut das Feuer mit ihren schweren Rotzen eröffnet. Stein um Stein prallte gegen die rissigen Mauern des Turms. Im Turm waren sie nach diesem Kampf nur noch zu dritt. Sie, Gernot Brohm und eine blonde Bürgerstochter waren die letzten, die noch ein Schwert führen konnten. Und irgendwo unten mußte noch Marcians Bote sein, falls ihn die Felsbrocken, die die Treppe verschütteten, nicht erschlagen hatten.

Wie launisch das Glück war, hatten sie ja erst gerade erlebt, als Armand im Augenblick des Sieges der Tod ereilte. Dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, das wäre ein noch größerer Triumph als ihr Erfolg über die Orks, der nicht mehr als eine kurze Gnadenfrist bringen mochte.

»Wir sollten schauen, ob wir die Treppe wieder freiräumen können.« Rialla hatte laut gedacht. Doch die beiden anderen reagierten nicht. Die Bürgerstochter starrte apathisch zu den Stellungen der Orks, und Gernot war damit beschäftigt, sich mit einem Stoffetzen den blutenden Arm zu verbinden.

Ohne ein weiteres Wort kroch Rialla zu der verschütteten Treppe hinüber. Zuerst räumte die Kriegerin loses Geröll und kleine Steinbrocken beiseite. Dann nahm sie den Schaft eines zerbrochenen Speers als Hebel, um größere Trümmerstücke aus dem Weg zu schaffen. Sie hatte schon eine ganze Weile gearbeitet, als schließlich Gernot herüberkam, um ihr zu helfen. Noch immer schossen die Orks auf den Turm. Große Felsbrocken donnerten gegen die Mauern, doch das Schicksal schien den dreien einen anderen Tod bestimmt zu haben.

Als sie endlich die Treppe so weit freigeräumt hatten, daß der Weg nach unten nicht mehr länger versperrt war, schritt Rialla als erste hinab. Eine weite Bahn von Licht fiel hinter ihr durch die Öffnung. Am Fuß der Treppe sah die Kriegerin Marrad zwischen herabgestürzten Steinen liegen. Ein Felsbrocken hatte ihm die Schulter zertrümmert. Der Junge war bewußtlos.

Die Kriegerin nahm ihn auf den Arm und trug ihn die Treppe hinauf, zu ihren letzten beiden Gefährten.

»Wir werden ihn dem Blutgott abtrotzen«, murmelte sie zwischen zusammengepreßten Lippen. Dann rief sie Gernot und die Bürgerstochter Ludara zu sich.

»Ich will, daß der Junge gerettet wird! Ich habe drei Ästchen vom Kamin unten mitgebracht. Wer von uns das kürzeste zieht, soll mit Marrad durch den Fluß schwimmen, um ihn in Sicherheit zu bringen. Eine Aufgabe, die vielleicht mehr Mut erfordert, als hier zu bleiben und zu sterben, denn wer jetzt geht, wird immer als Feigling verschrien sein. Doch vielleicht ist das Überleben dieses Opfer ja wert? Nun zieht!«

In Ludaras Gesicht zeigte sich zum ersten Mal seit dem Kampf wieder eine Regung. Es schien, als habe sie neue Hoffnung geschöpft.

Rialla starrte auf das Ästchen, das in ihrer Hand zurückgeblieben war. Es war das längste von allen. Rondra war ihr gnädig! Sie hätte auch nicht erwartet, daß die Kriegsgöttin sie zur schändlichen Flucht verdammen würde. Dann kamen die beiden anderen heran, um ihre Hölzer zu vergleichen. Der Patriziersohn hatte das kürzeste gezogen.

Ludara seufzte und wandte sich ab. Wie vorher starrte sie wieder völlig apathisch zu der Stellung der Orks hinüber.

Rialla und Gernot blickten sich einen Augenblick an. Dann ging der Patriziersohn zu Ludara und drückte ihr sein Holz in die Hand. Überrascht blickte sie ihn aus großen blauen Augen an. »Warum ...?«

»Vielleicht, weil ich dem Schicksal meinen Willen aufzwingen möchte? Ich bin ein freier Mann und lasse kein Holzstöckchen über mein Leben befinden. Geh jetzt!«

Ludara umklammerte das Holz wie ein kostbares Kleinod.

»Kannst du schwimmen?« wollte Rialla wissen.

»Wie ein Fisch im Wasser!« Die Bürgerstochter strahlte sie voll neuer Hoffnung an.

»Gut, dann nimmst du den Jungen und bringst ihn zum anderen Ufer. Schwimm zur Hafenmauer. Die Wachen sollen dir dort ein Seil herunterlassen. Ich selber werde so weit wie möglich in den Ruinen hinaufsteigen und dir mit meinem Bogen Deckung vor den Pfeilen der Orks geben.« Schweigend stiegen sie die Treppen hinab, während Gernot zurückblieb, um die Orks zu beobachten.

Rialla nahm ein glühendes Holzscheit aus dem Feuer im Kamin. Inzwischen hatte Ludara ihre Kleider abgestreift und damit begonnen, ihre Muskeln zu massieren. Als sie damit fertig war, nahm die Bürgerstochter Marrad auf den Arm. Der Junge stöhnte leise. Seine Schulter war blutverklebt, und der Knochen des gebrochenen Schlüsselbeins ragte klaffend aus der Wunde. Rialla trat zu den beiden und drängte zur Eile.

»Bleib in Deckung des Turmes, bis du meinen Schlachtruf hörst!« befahl die Kriegerin, während sie die Treppe zur Ausfallpforte hinabstiegen. »Ich habe noch etwas zu erledigen.«

Sie schaute zu, wie die blonde Frau mit dem Knaben in die eisigen Fluten watete. Einen langen Augenblick starrte sie fast sehnsüchtig auf die zwei herab, dann hob sie nach Art der Krieger die Hand zum Gruße und wandte sich ohne ein weiteres Wort um.

Nachdem sie die kleine Tür hinter den beiden wieder verriegelt hatte, eilte Rialla in den Keller. Dort zerrte sie alle Vorräte auf einen Haufen und schüttete ein kleines Faß Lampenöl darüber aus. »Sie werden hier nur geborstene Steine und rauchende Trümmer finden«, murmelte sie grimmig und setzte die Vorräte in Brand. Dann lief sie die Treppe hinauf und legte Feuer an die Betten, in denen ihre Krieger geruht hatten. Ebenso verfuhr sie im Zwischengeschoß. Alles, was ihr von Wert erschien, zertrümmerte sie und warf es in den Kamin. Allein ihren Bogen und einen Köcher voller Pfeile nahm sie mit nach oben. Als sie wieder zwischen den Trümmern erschien, in denen Gernot wachte, quoll eine dicke Rauchfahne hinter ihr aus dem Schacht der Wendeltreppe.

»Was ist geschehen?« Der Patriziersohn starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an.

»Ich habe die Orks um ihre Beute gebracht«, antwortete sie kalt. »Ihr einziger Siegespreis sollen unsere Leichen sein.« Mit diesen Worten kletterte sie die geborstene Mauer empor, um zum höchsten Punkt der Turmruine zu gelangen. Pfeile zischten an ihr vorbei. Rund um den Turm lagen die Bogenschützen der Orks im hohen Gras verborgen. Doch Rialla vertraute darauf, daß es ihr nicht bestimmt sei, auf diese Art zu sterben.

Als sie schließlich den höchsten Punkt erreicht hatte, stieß sie ihren Kampfruf aus: »Für Rondra!«

Im selben Moment konnte sie sehen, wie sich die Bürgerstochter abstieß, um durch den Strom zu schwimmen. Wie eine Fahne aus Licht glänzte ihr langes blondes Haar im Wasser.

Ein gutes Ziel, dachte Rialla und beobachtete aufmerksam das hohe Gras um den Turm. Noch hatten die Bogenschützen der Orks allein sie im Visier. Dicht neben ihrem Kopf schlug ein Pfeil krachend ins Gemäuer. Geduldig suchte Rialla das wogende Gras mit ihren Blicken ab. Die Schwarzpelze benutzten Schutzwände aus geflochtenen Gräsern, um sich dahinter zu verstecken; es war daher nicht leicht, sie auszumachen. Kaum hatten sie einen Schuß abgegeben, verschwanden sie wieder hinter ihrer Deckung.

Da ertönte ein Hörn vom Fluß her. Ludara war entdeckt worden. Etliche Orks hasteten zum Ufer, und Rialla nutzte die Gelegenheit, ihren Köcher leer zu schießen. Doch vergebens. Die Orks schienen so zahlreich wie Sandkörner in der Wüste. Für jeden, den sie verletzte oder tötete, schienen sofort zwei neue zur Stelle zu sein.

Unruhig blickte sie zum Fluß. Noch war die Bürgerstochter nicht getroffen worden. Sie hatte die Hafenmauer erreicht, von der aus nun eine Abteilung von Lysandras Bogenschützen das Feuer der Orks erwiderte. Seile wurden für die Schwimmer herabgelassen.

Ludara knüpfte eine Schlinge und zog sie dem Jungen unter den Achseln hindurch. Dann wurde Marrad nochgezogen. Pfeile prasselten gegen die Mauer. Der Knabe hat Glück, dachte Rialla bei sich. Die Götter sind auf seiner Seite.

Dann kletterte auch die Bürgerstochter an einem Seil empor. Noch dichter wurde der Pfeilhagel der Orks, und schließlich hörte sie Ludaras Schrei. Zwei Pfeilschäfte ragten aus ihrem Rücken. Sie ließ das Seil los und stürzte in den Fluß.

Rialla blieb wie versteinert sitzen.

Warum? Hatten die Götter wirklich beschlossen, daß keiner der Rebellen überleben sollte?

Von unten erklang die Stimme Gernot Brohms und riß sie aus ihren Gedanken. Mittlerweile schossen die Orks sogar schon mit Katapulten. Surrend zischte ein Felsbrocken über sie hinweg. Ein zweiter traf krachend das Mauerstück, hinter dem sie kauerte. Die Steine unter ihren Füßen erzitterten, und Gernot rief ihr fluchend zu, sie solle gefälligst herunterkommen und ihr Leben nicht verschenken.

Doch noch immer starrte die Kriegerin in die braunen Fluten der Breite. Sie hoffte, den goldenen Haar schöpf Ludaras wieder zwischen den Fluten auftauchen zu sehen. Vergebens! Die Flußgeister schienen den toten Leib in ihre kühlen Arme umfangen zu haben.

Schließlich ließ Rialla alle Hoffnung fahren und stieg von ihrem unsicheren Ausguck herunter. Ihr Schild war mittlerweile gespickt von den Pfeilen der Schwarzröcke. Aus der Stellung der Orks erklang wieder das dumpfe Grollen der Kriegspauken, und während des gefahrvollen Abstiegs konnte die Kriegerin sehen, wie sich die Schwarzpelze zu einem neuen Sturmangriff sammelten.

Noch immer quoll dunkler Rauch aus dem Inneren des Turmes; Rialla konnte durch die Sohlen ihrer Stiefel spüren, daß das Feuer den Steinboden unter ihren Füßen erhitzte.

»Wenn wir den Abend noch erleben, mußt du mir verraten, durch welchen wundersamen Zauber man Pfeilen entgeht«, empfing Gernot die Bannerträgerin.

Sie grinste ihn breit an. »Zuerst lassen wir aber die Orks noch ein wenig nach der Melodie unserer Schwerter tanzen. Bist du bereit, vor die Götter zu treten?«

Der Patriziersohn war leichenblaß. »Nicht bevor ich noch ein paar Schwarzpelze zu Tairach geschickt habe.«

Rialla schlug ihm auf die Schulter. »Du wärst ein guter Kürassier geworden. Zuerst habe ich nicht viel von dir gehalten, aber in den letzten Tagen hast du wirklich Mut gezeigt.«

Der junge Mann lächelte gequält. Er war über und über mit Staub bedeckt, und sein Verband, dunkel von geronnenem Blut, flatterte lose um seinen Schildarm. »Ich habe Angst«, gestand er leise.

»Ich auch«, entgegnete Rialla, »doch eigentlich besteht dazu kein Anlaß. Angst ist etwas für die, die noch eine Zukunft haben. Deine einzige Sorge sollte jetzt sein, daß die Orks dich nicht lebend erwischen.«

Die Leitern der Schwarzpelze krachten mit dumpfem Ton gegen die Mauern, und die Kriegerin faßte ihr Schwert fester. Schulter an Schulter standen Rialla und Gernot in der Bresche, die wie eine tiefe Wunde in der Westflanke des Turmes klaffte.

Als die ersten Orks die beiden bestürmten, riß der dunkle Wolkenhimmel auf. Ein breiter Lichtstrahl hüllte den Turm in einen goldenen Schimmer. »Siehst du, Patrizier, das ist die Straße, auf der wir zu den Göttern gehen.« Rialla hieb mit ihrem Schwert auf den Schild des Orks vor ihr. Doch die Bresche in der Mauer war zu breit, als daß zwei allein sie hätten verteidigen können, und schon bald waren sie von den Kriegern des Sharraz Garthai umringt.

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