10

Als Alrik erwachte, lag er in einem kleinen, hell getünchten Zimmer. Durch ein schmales Fenster konnte er das Madamal am Nachthimmel sehen.

Nicht weit von seinem Bett entfernt saß Andra in einem Stuhl zusammengesunken und schlief.

Dicht neben seinem Lager standen auf einem Schemel ein Krug mit Wasser und ein Stück Brot. Mühsam versuchte Alrik sich aufzurichten. Sein ganzer Körper schmerzte. Als er die Decke bei Seite stieß, sah er frische Verbände an seinen Armen und Beinen.

Bei dem Versuch, Wasser aus dem Krug in einen kleinen Bronzebecher zu gießen, versagten seine Kräfte. Der Krug fiel aus seinen Händen und zerschellte am Boden.

Mit einem Ruck richtete sich Andra im Sessel auf, blickte zu ihm herüber und lächelte. »Ich werde dir neues Wasser holen, warte einen Moment.« Leichtfüßig verließ die Jägerin das Zimmer. Sie trug ein neues Kleid. Es war aus einfachem Leinen, dennoch sah sie darin aus wie eine Fürstin. Neugierig blickte Alrik sich in dem Zimmer um. Aus der Einrichtung konnte er nicht schließen, wo er sich befand. Nur eins war sicher: In einem Feenschloß hielt er sich hier nicht auf, denn die Möbel waren schlicht, ihnen fehlte der Glanz und die kostbaren Schnörkel, die im Feenreich selbst die einfachsten Dinge wie Kunstwerke aussehen ließen.

Nach wenigen Augenblicken kam Andra mit einem neuen Krug zurück ins Zimmer. Sie stellte ihn auf den Tisch neben den Stuhl, auf dem sie geschlafen hatte. Dann kramte sie in ihren Sachen, die zu einem Bündel verschnürt in der Ecke lagen. Schließlich zog sie ein kleines Fläschchen aus Silber hervor, goß daraus einige Tropfen in Alriks Trinkbecher und vermischte das Elixier mit reichlich Wasser.

»Trink das, es wird dir guttun!«

Der Ritter gehorchte. Das Wasser war köstlich, obwohl es einem fremdartigen, würzigen Beigeschmack hatte, so wie ein Wein, der durch Harz verfeinert war. Alriks Mund und Kehle waren völlig ausgetrocknet, so als hätte er seit Tagen nicht mehr getrunken.

»Nun, fühlst du dich besser?« Die Jägerin beugte sich zu ihm herab. »Wo bin ich? Wo ist Cromag?«

»Du bist in der Garnison von Wehrheim, und Cromag ist tot.«

Der Oberst starrte Andra verwundert an. »Wie ...«

»Manchmal ist es nicht gut, alles zu wissen. Akzeptiere, daß du jetzt hier bist. Du mußt ein wichtiger Mann sein. Trink noch etwas.«

Andra hatte den Becher erneut mit Wasser und einigen Tropfen aus der silbernen Phiole gefüllt.

»Und der Prinz? Ist er in Wehrheim?« Alrik versuchte sich aufzurichten. »Nein, aber er wird in drei Tagen zurück sein. Bis dahin mußt du wieder gesund sein.«

Der Oberst musterte noch einmal seine Verbände. »Gewiß doch ...« Spöttisch lächelnd sank er in die Kissen zurück und schlief ein.


Noch bevor der Prinz nach Wehrheim zurückkehrte, war Alrik schon wieder in der Lage, sein Bett zu verlassen. Das Gehen bereitete ihm zwar noch Schmerzen, doch verlief seine Genesung wesentlich schneller, als er erwartet hatte.

Über das geheimnisvolle Licht, das er auf der Brücke kurz vor seiner Ohnmacht gesehen hatte, schwieg sich die Jägerin aus. Auch verriet sie ihm nichts über die Umstände seiner Rückkehr in diese Welt. Von Wachen hatte Alrik erfahren, daß eine Patrouille sie nahe des Stadttors gefunden hatte. Er war ohnmächtig gewesen, und nur weil einige Soldaten ihn als Oberst der kaiserlichen Armee wiedererkannt hatten, war ihnen das leerstehende Zimmer eines Offiziers überlassen worden.

Dunkel konnte sich Alrik erinnern, wie ihn ein Medicus besucht hatte und einen Boron-Geweihten rufen lassen wollte. Doch Andra hatte den Mann aus dem Zimmer gejagt. Danach hatte er viel geschlafen. Immer wenn er erwachte, war die Jägerin bei ihm.

Verstohlen blickte er sie von der Seite an. Das letzte, was er auf der Brükke gehört hatte, bevor er zusammenbrach, waren ihre gellenden Schreie gewesen.

Alrik dachte an ihre gemeinsame Flucht durch den Zauberwald. Er wünschte, sie wären wieder dort, ohne eine eifersüchtige Fee, die mit ihren Rittern Jagd auf sie machte.

Der Oberst griff nach Andras Hand. »Habe ich dir eigentlich dafür gedankt, daß du mich hierher gebracht hast?«

»Mach keine Späße mit mir!« Die Jägerin blickte ihn böse an. »Es tut mir leid, daß das passiert ist. Ich wollte ...«

»Ich bin sicher, daß du für uns den einfachsten und ungefährlichsten Weg gewählt hast, den du kanntest. Außerdem bin ich genauso sicher, daß ich schon vor langer Zeit von den Olochtai im Reichforst getötet worden wäre, wenn du mich nicht gerettet hättest.«

»Ist dir die Zeit mit mir wirklich so lange erschienen?«

»Wie meinst du das? Wir waren doch Wochen unterwegs?«

Andra lächelte geheimnisvoll. »In deiner Welt sind nicht mehr als sechs Tage vergangen, seit du Greifenfurt verlassen hast. Erinnerst du dich nicht mehr daran, was ich dir im Feenreich gesagt habe? — Trotzdem glaubte ich, daß dir meine Gesellschaft mehr Kurzweil bereitet hätte.«

»Du weißt doch, wie ich es gemeint habe ...«

»Wie?« Die Jägerin lächelte schelmisch.

Der junge Oberst starrte verlegen vor sich hin. »Ich ...« Alrik räusperte sich verlegen. »Ich ... bin nicht so wortgewandt wie ein Barde oder ein Adliger am Hofe, aber ich wollte dir schon lange etwas sagen ...« »Was?«

Alrik fühlte sich ein wenig schwindelig. Dann flüsterte er leise. »Ich glaube, ich bin in dich verliebt.«

»So, du glaubst nur, daß du mich liebst. Nun ... ich glaube, es ist an der Zeit für mich, diese Stadt zu verlassen. Wenn du in ein paar Jahren vielleicht weißt, was du willst, schau ich noch einmal vorbei.« Andra drehte sich um und eilte davon.

»Halt, bleib stehen.« Alrik bemühte sich, ihr humpelnd zu folgen. »Ich liebe dich«, rief er laut quer über den Exerzierplatz der Kaserne.

Andra blieb stehen. Endlich hatte er sie eingeholt. Alrik legte seinen bandagierten Arm fest um die Schultern der Jägerin und preßte sie an sich. »Wie kommt es, daß du plötzlich so sicher bist, daß du deine Liebe auf unschickliche Art in der Öffentlichkeit herausschreist?«

»Aber ich wollte doch nur ...«, stammelte Alrik unsicher.

Andra drehte sich um und legte ihm den ausgestreckten Zeigefinger auf die Lippen. »Ich weiß«, flüsterte sie. »Wie stark fühlst du dich eigentlich?« Statt einer Antwort grinste der junge Oberst sie an.


Am Abend traf der Prinz in Wehrheim ein und bestellte Oberst von Blautann in sein Quartier. Dort erwarteten ihn neben dem Regenten auch der Generalstab der Reichsarmee. Wegen seiner Verwundungen wurde Alrik gestattet, sich in einen Sessel nahe dem Kamin zu setzen, was ihm insgeheim peinlich war, da alle anderen es vorzogen zu stehen. Doch Schwäche verbat dem Obristen jeden Widerspruch, und so begann er in die ledernen Polster zurückgelehnt über die Vorkommnisse in Greifenfurt zu berichten.

Die ungewöhnlichen Ereignisse seiner Reise verschwieg er allerdings aus Angst, man könne ihn für einen Phantasten halten und alles, was er gesagt hatte, in Frage stellen. Als er schließlich mit seiner Erzählung geendet hatte, ergriff der Prinz das Wort.

»Wie Ihr seht, meine Freunde, ist die Lage der Stadt verzweifelt. Ich bin mir sicher, daß der Schwarze Marschall während des Winters alles unternehmen wird, um Greifenfurt zu stürmen.«

»Wie kann er das tun, mein Prinz? Sobald er seine Lager verläßt, werden wir ihm nachsetzen, und das weiß Sadrak Whassoi.« Marschall Haffax, der greise Oberkommandant der kaiserlichen Armee, machte sich nicht einmal die Mühe, vom Kartentisch aufzublicken.

»Mein lieber Haffax, ich weiß, daß Ihr die Erfahrung aus vielen Feldzügen auf Euren Schultern tragt, und schon oft habt Ihr mir weisen Rat gegeben, doch habt Ihr schon vergessen, wie wir im letzten Winter genarrt worden sind, als der Orkenführer seine Truppen heimlich nach Südwesten verlegte und uns vorgaukelte, daß alle seine Lager noch voll besetzt seien? — Ich kenne Sadrak Whassoi jetzt, und ich bin mir sicher, daß er in diesem Winter Ähnliches versuchen wird.«

»Daß dieser schwarzpelzige Fuchs schlau ist, wissen wir, Eure Majestät, doch was ist, wenn er nur darauf wartet, daß wir die wenigen Truppen, die uns noch verblieben sind, weiter schwächen? Und wenn er davon ausgeht, daß wir glauben, er würde sich wieder so verhalten wie im letzten Jahr? Dann öffnen wir ihm Tür und Tor, um erneut tief ins Reich einzufallen. Ich bin dagegen, auch nur einen einzigen Soldaten aus seinem Winterquartier abzuziehen!« Der alte Haffax hatte sich während seiner Darlegungen immer mehr in Rage geredet, so daß er nun mit hochrotem Kopf in der Runde der Offiziere stand.

Die älteren Frauen und Männer des Generalstabs nickten zustimmend, als der Marschall endete und tuschelten leise.

»Vielleicht ist es am besten, beide Pläne zum Teil umzusetzen ...« Ein großer Mann mit langem rotem Haar, durch das sich schon die ersten grauen Strähnen zogen, hatte sich eingemischt. Er trug den neumodischen Rock eines Seeoffiziers mit buntem, umgeschlagenem Kragen. Seine Haut war wettergebräunt; ruhelos musterten seine dunkelblauen Augen die anderen in der Runde.

»Ich danke Euch für Euren überaus weisen Beitrag, Herr Admiral, doch vielleicht solltet Ihr es den Heerführern überlassen, den Krieg zu Lande zu planen.« Haffax war immer noch in Rage und würdigte den Admiral keines Blickes.

»Jeder in dieser Runde hat das Recht, seine Meinung vorzutragen.« Der Prinz hatte nur leise gesprochen, doch in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete. »Redet!«

»Nun«, Admiral Sanin zögerte ein wenig. »Ich bin mir durchaus der Gefahr bewußt, die aus einer Schwächung der Frontlinie resultiert. Doch habe ich einen Plan, der mit einem minimalen Einsatz der Truppen, die unter Eurem Kommando stehen, eine optimale Wirkung garantiert. Wir müssen nur den Mut zu unkonventionellem Denken aufbringen ...«

Der Admiral Rateral Sanin, Markgraf zu Windhag, stand in dem Ruf, mit ungewöhnlichen Vorschlägen schon häufig die gesamte kaiserliche Admiralität in heillose Verwirrung gestürzt zu haben.

Dennoch konnte Alrik den Ausführungen des Flottenkommandanten kaum folgen. Die Anstrengungen des Nachmittags waren zuviel für ihn gewesen.


Zwei Tage später saß der junge Oberst in einer kaiserlichen Kutsche und befand sich auf dem Weg nach Gareth. Der Medicus der Garnison von Wehrheim hatte zwar lautstarken Protest eingelegt, doch letzten Endes konnte er Alrik nicht daran hindern, sich gemeinsam mit dem Prinzen auf den Weg zu machen.

Die rote sechsspännige Kutsche mit dem kaiserlichen Wappen war ein wahres Luxusgefährt. Gut gefedert und mit ledernen Polstern versehen, bot sie dem Reisenden alle Bequemlichkeit. Und dennoch spürte der Oberst schmerzlich jedes Schlagloch auf der ausgefahrenen Straße. Hölzerne Schienen und straffe Leinenverbände machten Alrik fast so unbeweglich wie eine Marionette, der man die Fäden durch trennt hatte. Außerdem saß er auch noch alleine in der Kutsche, so daß seine einzige Unterhaltung die Regenschauer waren, die unablässig auf das Kutschdach trommelten. Der Prinz hatte davon abgesehen, den Komfort einer Kutschfahrt zu genießen. Wie alle anderen in der schier endlosen Reiterkolonne, die sich über die Reichsstraße nach Süden bewegte, war er dem eisigen Regen ausgesetzt.

Alrik blickte durch das beschlagene Fenster die Straße entlang, die gerade eine weite Kehre machte, so daß er fast die ganze Kolonne überblicken konnte. Naß und schlaff hingen die Fahnen der einzelnen Einheiten herab. Ganz vorne konnte er den Prinzen, Admiral Sanin, der sich für einen Seemann ganz gut zu Pferde hielt, und einige andere Offiziere erkennen. Ihnen schlossen sich mehr als dreihundert Reiter der verschiedensten Waffengattungen an.

Hinter der Kutsche folgte der Troß. Fast zwei Dutzend schwer beladene Planwagen. Nachdem Marschall Haffax einmal davon überzeugt war, daß er den Prinzen nicht von seinen Plänen abhalten konnte, hatte er ihm die besten Männer und das beste Material zusammengestellt.

Prinz Brin wollte die besten Reitereinheiten von der langen Front zu dem von Orks besetzten Gebiet abziehen. Wenn nur Kavallerie verlegt wurde, blieb das Risiko, daß die Orks einen Durchbruch durch die geschwächte Frontlinie schafften, noch am geringsten. Sollten die Schwarzpelze trotz des Winters einen Angriff wagen, wären die Reiter in wenigen Tagen zurückgekehrt. Brin war zuversichtlich, daß die Garderegimenter, die in Wehrheim und mehreren kleineren Garnisonen ihr Winterquartier bezogen hatten, stark genug sein würden, um dem ersten Angriff der Schwarzröcke standzuhalten.

Alrik war allerdings davon überzeugt, daß es dazu nicht kommen würde. Wie der Prinz und Admiral Sanin vermutete auch er, daß Sadrak Whassoi, der Oberbefehlshaber der Orks, den Winter dazu nutzen würde, seine Truppen neu zu formieren und zu verlegen, um irgendwo an der langen Front zum Kaiserreich überraschend loszuschlagen.

Für einen solchen Angriff kam im Grunde nur Greifenfurt in Frage. Durch die rebellische Stadt waren Hunderte von Kriegern gebunden, die einer harten Winterbelagerung entgegensahen. Außerdem waren auch die Nachschubwege der Orks empfindlich gestört, da Greifenfurt eine Schlüsselposition innehatte.

Wieder starrte Alrik in den Regen. Hoffentlich waren seine Verletzungen bis zum Tag des großen Angriffs verheilt. Der Generalstab hatte beschlossen, Ferdok zum Winterhauptquartier zu machen. Dort sollte die Operation beginnen, der Admiral Sanin den harmlosen Decknamen ›Zug der Lachse‹ gegeben hatte. Um genügend Männer und Material für diese ungewöhnliche Militäraktion zusammenzubekommen, waren schon am Vortag Meldereiter zu allen wichtigen Städten des Kaiserreichs aufgebrochen, vor allem zu den Häfen an der Westküste. Wenn Sanin wirklich durchsetzen könnte, was er vor zwei Nächten dargelegt hatte, würde eine Offensive eingeleitet, wie sie die gesamte aventurische Kriegsgeschichte noch nicht gesehen hatte. Der Plan war schlichtweg genial, doch trotz aller Raffinesse würde der Erfolg weniger vom militärischen Geschick als von Sanins organisatorischen Fähigkeiten und der Wetterlage in den nächsten Wochen abhängen.

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