Zerwas hatte sich in den Reichsforst zurückgezogen und lange seine Rache geplant. Jede Nacht war er losgezogen, um Angst und Schrecken zu verbreiten. Er hatte einsame Köhler und Waldbauern tief im Süden des Waldes überfallen, hatte Jagd auf die gefürchteten Olochtai gemacht und einsame Außenposten der kaiserlichen Armee in Panik versetzt. Selbst nach Gareth war er einmal geflogen, um in seiner Dämonengestalt Angst und Schrecken zu verbreiten. Trotzdem konnte ihm all dies nicht seine Trauer und seinen Haß nehmen. Allein während er seinen Opfern das Blut aussaugte, vergaß er für wenige Augenblicke das Bild der schönen und rebellischen Sartassa, dieses wunderbare, verführerische und gefährliche Geschöpf.
Sie wäre an seiner Seite eine Königin der Finsternis gewesen und hätte nichts zu fürchten gehabt, außer dem hellen Licht des Tages, dem sie durch Marcians Verrat zum Opfer fiel.
Der Inquisitor würde dafür büßen! Marcian sollte dieselben Qualen leiden, die er in den letzten Wochen durchlebt hatte.
In den ersten Nächten nach dem Verrat hatte Zerwas daran gedacht, einfach in die Stadt zu fliegen und Cindira zu töten. Doch das wäre zu leicht gewesen. Zerwas hatte von dem Freudenmädchen einiges über Marcian erfahren, als er bei ihr lag und ihre Gedanken las. Wenn sie sich gestritten hatten, mied Cindira tagelang die Nähe des Inquisitors und gab sich aus Rache den Gästen der ›Fuchshöhle‹ hin.
Sie war ein einfaches, aufrechtes Geschöpf. Ohne Falsch ... Marcian hatte es oft verstanden, sie zu beleidigen und zu erschrecken. Manchmal hatte sie dann bei ihm Trost gesucht. Der Vampir lächelte. Er wußte, was mit Marcians erster Liebe geschehen war. Wie er diese Frau seinem Ehrgeiz geopfert hatte und später nie Manns genug war, sich mit dieser Tat abzufinden.
Nein, Zerwas mußte sich Zeit lassen mit seiner Rache an dem Inquisitor. Er konnte Cindira nicht einfach nur ermorden. Ihr Tod sollte auch Marcian vernichten. Seit er am Abend auf den arglosen, blonden Ritter am Südrand des Waldes aufmerksam geworden war und dessen Gedanken durchforscht hatte, wußte Zerwas, wie er zu seiner Rache finden würde.
Leise näherte er sich dem Feuer des Ritters, der am Waldrand nahe der Reichsstraße nach Angbar rastete. Der Junge bemerkte ihn nicht; selbst als er weniger als einen Schritt vom Lichtkreis des Feuers entfernt war, kaute er immer noch an seiner zähen Wurst.
»Ist es gestattet, sich an Eurem Feuer zur Rast niederzulassen, Junker?« fragte Zerwas höflich aus der Dunkelheit.
Der junge Mann fuhr erschrocken hoch. Seine Hand lag am Säbel. »Wer da?« rief er laut, während er sich unsicher umschaute.
»Ein Ritter auf dem Weg zum Prinzen. Ich bringe dringende Botschaft vom Hof in Gareth.«
»Kommt ins Licht, daß ich Euch sehen kann, Ritter.«
Zerwas trat näher ans Feuer und erklärte mit gespielter Erleichterung. »Ich bin froh, hier auf einen Mann des Prinzen zu treffen. Heute morgen habe ich einige Olochtai in den Wald verfolgt. Diese Bestien töteten mein Pferd. Drei von ihnen konnte ich zur Strecke bringen, doch im Eifer der Verfolgungsjagd verirrte ich mich, bis mir Euer Feuer den Weg wies.«
»Wie ist Euer Name, Fremder?«
Noch immer war der junge Ritter unsicher. Zerwas konnte jeden seiner Gedanken wahrnehmen. Der Junker war gewappnet, jeden Augenblick seine Waffe zu ziehen.
»Man nennt mich Murlok von Mengbilla. Einst war ich dort Sohn eines rechtschaffenen Händlers, doch mit der politischen Haltung unseres Stadtfürsten bekam ich Probleme, kaum daß der große Krieg im Süden ausgebrochen war. Als meine Haltung ruchbar wurde und Leute, die ich bis dato für meine Freunde hielt, mich verrieten, mußte ich Hals über Kopf die Stadt verlassen. Ich habe mich dann den Kämpfern um Leomar von Almada angeschlossen und mein Schwert in den Dienst des Kalifen gestellt. Auf Empfehlung dieses edlen Ritters wurde ich schließlich, nachdem wir dem Raben die Flügel gestutzt hatten, am Hofe des Prinzen Brin eingeführt. In seinem Gefolge war ich bei den Schlachten am Orkenwall und auf den Silkwiesen beteiligt. Danach blieb ich in besonderer Mission in Gareth, und nun bin ich auf dem Weg zurück, zum Prinzen, meinem Herren.«
Zerwas hatte den jungen Ritter während der Rede nicht aus den Augen gelassen. Der Vampir war sich durchaus bewußt, daß er mit dieser Geschichte dick auf getragen hatte, doch sein Gegenüber glaubte ihm. Der Ritter war zutiefst beeindruckt.
»Wie lautet denn Euer Name?« fragte Zerwas in aufgeräumtem Tonfall. »Man nennt mich Roger von Duhan. Ich bin ein Neffe des Kronkommissars Marschall Duhan. — Doch nehmt Platz an meinem Feuer, Ritter Murlok. Ich bin froh, in dieser Nacht nicht alleine wachen zu müssen.« »Ihr habt recht, junger Freund. In dieser Wildnis alleine unterwegs zu sein ist wirklich kein Vergnügen. Warum habt Ihr nicht Rast in Hirschfurt gemacht? Dort hättet Ihr ein bequemeres Nachtlager haben können.«
»Sicher.« Roger stocherte mit einem langen Stecken im Feuer. »Doch wäre ich dann um einige Stunden später bei meinem Prinzen gewesen. Ich habe ihm eilige Botschaft zu bringen.«
Zerwas musterte den jungen Mann verstohlen aus den Augenwinkeln. Er war groß und muskulös gebaut, trug einen Küraß nach neuester Mode, an den sich eisernes Plattenzeug anschloß, das die Oberschenkel bedeckte. Seine Reitstiefel mit hohen Stulpen waren aus teurem Leder gefertigt. Statt eines Schwertes lag ein Reitersäbel mit kunstvoll verziertem Korb an seiner Seite. Unter dem Küraß trug der Junker eine lange Weste aus fein gewobener Wolle. Einige Rüschen ragten an Hals und Ärmeln unter der Weste hervor. Auf dem dunklen Mantel, den er dicht neben dem Feuer ausgebreitet hatte, lag ein schwarzer Schlapphut mit bunten Federn und breiter Krempe.
Der Junge hat in seinem ganzen Leben noch keine Not leiden müssen, dachte Zerwas. Er war nichts als ein Höfling, der darauf brannte, sich in der Schlacht zu bewähren. Was Krieg wirklich bedeutete, davon hatte der Edelmann keine Ahnung.
Wahrscheinlich war sein Vater für ihn eingetreten, so daß er bislang nur ungefährliche Botenritte ausführen mußte. Zerwas mochte wetten, daß Roger keine Ahnung hatte, warum er, als sich das ganze Heer auf die Schlacht bei Silkwiesen vorbereitete, mit einer dringenden Depesche nach Perricum reiten mußte.
Der Vampir forschte weiter in den Gedanken des jungen Mannes und lächelte. Ungefährliche Botenritte?
»Was amüsiert Euch, Ritter?«
»Oh, ich dachte daran, wie sehr ich in Eurem Alter auf mein erstes Gefecht brannte. Ich hatte gerade Mengbilla verlassen und war in die Khom geritten, um mich den Rebellen anzuschließen ...«
»Und wie war es?« Roger hing ihm förmlich an den Lippen.
»Ob ihr mir glaubt oder nicht, als es anfing, habe ich mir in die Hosen gemacht. Wir mußten durch mörderisches Bogenschützenfeuer reiten, und rechts und links von mir stürzten die Krieger getroffen vom Pferd. Mich selbst traf ein Stein am Helm. Mir wurde schwarz vor Augen, und die Schlacht war für mich zu Ende, noch bevor ich den ersten Schwerthieb geführt hatte.«
»Wie schrecklich!«
Wie konnte man nur so naiv und gutgläubig sein. Ein Wunder, daß der bei seinen Botenritten noch keinen Strauchdieben unter die Messer gekommen war, dachte Zerwas. Roger hatte wirklich Mitleid mit diesem Gecken Murlok, den er gerade erfunden hatte.
»Doch dann seid ihr sicher bald ein großer Krieger geworden. Ihr tragt eine prächtige Rüstung! Darf ich den Zweihänder einmal sehen, den Ihr dort neben Euch niedergelegt habt?«
»Sicher.« Zerwas reichte ihm die Waffe herüber und ließ Roger nicht aus den Augen, während dieser ehrfürchtig die Waffe musterte.
»Ihr brennt sicher darauf, in Eure erste Schlacht zu reiten?« fragte der Vampir.
»O ja, ich hoffe, daß man mich auch noch mal gegen die Schwarzpelze ziehen läßt, bevor sie alle wieder aus dem Reich vertrieben sind. — Manchmal glaube ich, mein Onkel sorgt dafür, daß ich nie bei einer Schlacht dabei bin. Meine beiden Brüder sind am Nebelstein gefallen ... Mutter hat alles getan, um zu verhindern, daß ich auch in den Krieg ziehe.« Der junge Mann sah nicht vom Schwert auf. Zerwas spürte, wie Roger einen inneren Kampf ausfocht. Er wollte seine Mutter nicht ängstigen, doch fühlte er sich auch verpflichtet, den Tod seiner Brüder zu rächen. Daß er dabei selber sterben könnte, kam ihm nicht in den Sinn.
»Habt Ihr denn keine Angst vor dem Tod, mein junger Freund?« Zerwas rückte näher und legte dem Ritter seinen Arm um die Schulter.
»Natürlich nicht, was denkt Ihr denn von mir? Ich würde mit Freuden für meinen Prinzen mein Leben geben!«
»Den Wunsch kann ich dir erfüllen ...«
Zerwas packte den Jungen fester.
»Was tut Ihr, Murlok«, schrie der Ritter auf und versuchte, sich verzweifelt zur Wehr zu setzen, doch den Kräften des Vampirs war er nicht gewachsen.
»Ich mache dir eine Freude!« höhnte der Vampir. »Hast du nicht gerade noch gesagt, du würdest gerne für deinen Prinzen dein Leben geben?« Zerwas lachte. Dann gruben sich seine Fänge in die weiße Kehle des jungen Ritters.
Er genoß den kurzen Augenblick, den das feste Muskelfleisch seinem Biß widerstand ... Und dann das süße Fließen des Blutes ... Köstlich, mit welcher Kraft es durch die Adern des Ritters pulsierte.
Roger wehrte sich nur noch schwach.
Zerwas wußte, daß er sich beherrschen mußte. Würde er Roger zuviel Blut nehmen, wäre er nicht mehr für seine Pläne zu gebrauchen.
Langsam ließ er den leblosen Körper aus seinen Armen gleiten.
Ein dünner Faden Blut floß aus der kleinen Wunde am Hals des Ritters. Seufzend stand Zerwas auf und ging zu seinem Schwert. Dann stellte er sich breitbeinig über den jungen Mann. Mit beiden Händen umklammerte der Vampir ›Seulaslintan‹. Roger hatte seine Augen so verdreht, daß nur noch das Weiße zu sehen war.
Ob er wohl noch bei Bewußtsein war? Ob er sehen konnte, was jetzt geschah?
Zerwas rammte mit aller Kraft sein Schwert in das weiche Erdreich. Dann kniete er nieder und nahm die Hand Rogers, um sie um den Griff der Waffe zu legen. Doch der Ritter hatte zu wenig Kraft. Immer wieder glitt seine Hand kraftlos zu Boden; der Vampir mußte sie schließlich mit zwei dünnen Lederriemen festbinden.
Als Zerwas sich überzeugt hatte, daß die Hand des Ritters nun nicht mehr abrutschen konnte, legte er seine Stirn auf den Knauf der Waffe, umklammerte sie selbst mit beiden Händen und öffnete sich den dunklen Kräften ›Seulaslintans‹.
Als der Vampir wieder zu sich kam, lag er auf dem Boden. Das Feuer war herabgebrannt.
Mühsam richtete er sich auf. Noch immer hatte er den leicht metallischen Geschmack von Blut im Mund. Er griff nach dem Handgelenk des Mannes in der schwarzen Rüstung, dem Körper, der einmal die Heimat seiner dunklen Seele war.
Er war steif und kalt. Kein Blut pulste mehr in seinen Adern.
Die Umwandlung war abgeschlossen! Nun mußte er nur noch den Leichnam verschwinden lassen.
Der Vampir zog das Schwert aus dem Boden. Welch wunderbare Kräfte diese Waffe doch besaß. Dann starrte er wieder zu dem Toten, der einst Zerwas gewesen war. Für einen Moment zögerte er. Dies war der Körper, mit dem er sein neues Leben begonnen hatte. Der Körper, der Sartassas streichelnde Hände gefühlt hatte.
Der Vampir erschauderte ...
Dann verscheuchte er die trüben Gedanken. Unnütze Sentimentalitäten! Schließlich war dies auch der Körper, den Mardan kannte und auf den alle Inquisitoren des Reiches Jagd machen würden, sollte Marcian aus Greifenfurt entkommen.
In blitzenden Bogen ließ der Vampir das Schwert niedersausen. Er wußte nicht, ob die Enthauptung notwendig war, nachdem er diese Hülle verlassen hatte, doch er wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Jetzt war Zerwas endgültig tot. Es lebe Ritter Roger!
Durch die Kraft ›Seulaslintans‹ hatte er alle Erinnerungen des toten Ritters in sich aufgenommen. Er wußte nun um dessen erste große Liebe, um den tragischen Unfalltod des Vaters und Tausende anderer Dinge, die das Leben des Ritters geprägt hatten.
Manchmal reichte es schon, nur das Blut eines Menschen zu trinken, um Bilder aus dessen Erinnerung in sich aufzunehmen. Doch verblaßte dieses Wissen meist schnell wieder. Allein der Zauber des Schwertes erlaubte Zerwas, den Körper zu wechseln und ein neuer ›Mensch‹ zu werden.
Wieder lächelte der Vampir. Ein Mensch ...
Nein, das war er nun wirklich nicht mehr. Als er Roger tötete, hatte er auch beschlossen, seine letzte menschliche Attitüde abzulegen. Er würde keine Spiele mit irgendwelchen Namen mehr treiben, wie er es früher einmal getan hatte, als er jedesmal, wenn er in neuer Gestalt nach Greifenfurt zurückkehrte, sich an einige Buchstaben aus seinem alten Namen klammerte. Kindlicher Unsinn!
Er hatte sich nicht damit abfinden können, nicht mehr der Sohn eines Schmiedes zu sein, der mit einer Gruppe von Abenteurern vor langer Zeit in den Norden gezogen war.
Der Vampir wußte zwar nicht, was er war, doch ein Mensch war er nicht mehr. Vielleicht der Sklave seines Schwertes? Doch welch süßes Los war es, unsterblich zu sein und über Leben und Tod zu gebieten.
Sicher, er war kein Gott, doch konnte er mit fast göttlicher Allmacht in das Leben der Menschen eingreifen. Er würde dafür sorgen, daß Greifenfurt vernichtet wurde. Die ganze Stadt sollte dafür sterben, daß man ihm dort zweimal seine Geliebte genommen hatte. Er würde Rache nehmen, wie kein Mensch es je könnte!
Doch jetzt mußte er nach Ferdok reiten und die Botschaft überbringen, die man Roger genannt hatte. Answin von Rabenmund, der versucht hatte, dem Prinzen Brin den Thron zu rauben, und damit einen Bürgerkrieg entfesselte, war die Flucht aus den Kerkern der Hauptstadt gelungen. Es sah ganz so aus, als habe der junge Prinz mächtigere Feinde, als er ahnte. Der Vampir lachte laut schallend in die Nacht. Vielleicht würde er noch miterleben, wie Kaiserreich und Inquisition untergingen.
Marcian ging in seinem kalten Turmzimmer auf und ab. Wieder einmal hatten ihm quälende Alpträume den Schlaf geraubt. Im Traum war er Zerwas begegnet; noch immer hallte ihm das schallende Gelächter des Dämons in den Ohren.
Der Inquisitor stand vor einer der weißgetünchten Wände des Turmzimmers. Obwohl die Schießscharten mit hölzernen Läden verschlossen worden waren, zog eisiger Wind durch die Ritzen. Es schien auch unmöglich, das kalte, dicke Gemäuer des Turms richtig warm zu bekommen. War die Kühle des Raums während der Sommermonate noch angenehm gewesen, so entwickelte sie sich im Herbst zu einem Fluch.
Dabei war es erst Mitte Boron. Wie mochte es erst sein, wenn der Firunsmond am Himmel stand und die Breite, die am Fuß des mächtigen Bergfrieds entlangfloß, sich mit Eis überzog?
Eis! Wieder mußte er an die Worte des verrückten Propheten denken. Gestern hatte ein Unbekannter Uriens niedergeschlagen. Jetzt lag er im Lazarett der Garnison. Dieser Verrückte! Mit seinen Prophezeiungen machte er sich mehr und mehr Feinde in der Stadt. Bürger wie Soldaten fürchteten ihn. Hatte er sich doch erdreistet, einigen zu sagen, daß er noch ihre grinsenden Schädel sehen würde. Anderen prophezeite er: ›Vor dem Eis kommt das Feuer und wird des Schiffers Heuer!‹
Auch den Zwergenhauptmann Himgi hatte er schon ganz verrückt gemacht. Albernes Gerede von einem kleinen Stein und einem Todeslos.
Marcian drehte sich um und durchmaß erneut das Zimmer. Er mußte diesen Uriens zum Schweigen bringen. Sobald seine Verletzungen verheilt wären, würde er ihn einkerkern.
Zu seinem eigenen Schutz! Würde der Verrückte noch länger in der Stadt herumlaufen und solchen Unsinn von sich geben, mochte sich jemand finden, der seine Klinge an den Knochen des Propheten wetzte.
Marcian blickte zu Cindira, die träumend im Bett lag. Wie die meisten in der Stadt ahnte sie kaum etwas von seinen Sorgen. Wer wußte denn schon, daß mittlerweile mehr als zwei Dutzend Krieger im Kerker gefangen saßen?
Vor zwei Nächten hatte ihm Odalbert und Riedmar, die letzten seiner Agenten, die jetzt noch in der Stadt waren, ein Komplott aufgezeigt. Einige der Kürassiere aus Blautanns Regiment und etliche Bürger unter der Führung von Gernot Brohm hatten sich verschworen, Rialla und die drei anderen Rebellen aus dem Kerker unter der Garnison zu holen. Statt dessen sollten er und seine getreuesten Gefolgsleute in diesen kalten Gewölben einquartiert werden.
Marcian lachte bitter. Ihr Besuch im Kerker war anders verlaufen, als sich die Rebellen das gedacht hatten. Auf Befehl des Inquisitors hatten sich Himgis Zwerge in den Vorratskammern nahe des Kerkers versteckt. Sie waren die einzigen regulären Soldaten, denen er an diesem Abend noch vertraut hatte.
Gemeinsam mit dem Hauptmann hatten sie zwei Hornissen in ihre Verstecke geschafft und die tödlichen Geschütze in den Gang vor dem Kerker gerollt, als die Verschwörer die Gitter aufbrachen. Den Rückweg hatte Marcian höchstselbst den Verrätern versperrt. Gemeinsam mit Lysandra und Lancorian hatte er die Treppe blockiert, worauf die Verräter ihre Waffen streckten.
Morgen früh mußte er nun über sie richten. Es galt, ein weises Urteil zu fällen. Durch das Schreiben des Prinzen, das ihn zum uneingeschränkten Kommandanten dieser Stadt machte, hätte er zwar das Recht, selbst Adelige zum Tode zu verurteilen, doch mochte ein zu harter Richterspruch nur zu neuen Unruhen führen. Außerdem konnte er es sich kaum leisten, auf zwei Dutzend gute Kämpfer zu verzichten.
Wieder stand Marcian vor einer der Wände des Turmzimmers und musterte geistesabwesend die getünchten Steine.
Auf der anderen Seite konnte er es sich auch nicht leisten, die Verschwörer frei in der Stadt herumlaufen zu lassen. Es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie einen neuen Plan ausgeheckt hätten, um ihn zu beseitigen. Cindira stöhnte unruhig im Schlaf.
Hastig drehte Marcian sich um. Nicht auch noch sie! »Mutter Peraine, halte deine schützende Hand über sie«, flüsterte er und schlug das Zeichen der Göttin.
Es mußte wohl am Hunger liegen und daran, daß sie ihre Toten innerhalb der Stadtmauern beerdigten. Seit Wochen suchten Seuchen die Stadt heim. Er selber hatte etliche Tage mit der Schlachtfeldgilbe im Bett gelegen. Eine Zeit, in der sich Cindira aufopfernd um ihn gekümmert hatte und Tag und Nacht an seinem Lager wachte.
Ob sie nun das tückische Fieber befallen hatte?
Vorsichtig, um die Schlafende nicht zu wecken, fühlte er ihre Stirn. Sie war trocken und heiß. Sie hatte Fieber!
Bei den Göttern! Warum mußte Cindira jetzt dafür büßen, daß sie ihn gepflegt hatte? Hoffentlich war es nicht jene seltsame Krankheit, von der Meister Gordonius ihm in den letzten Wochen immer wieder mit Schrekken berichtet hatte.
Marcian mußte an den Mann denken, den er auf so grauenvolle Art im Haus der Therbuniten hatte sterben sehen. Er war nur der Vorbote einer schrecklichen Epidemie gewesen, die zum Glück bislang nur wenige Bürger befallen hatte.
Zwanzig oder dreißig waren es, die, von allen anderen Kranken und Verletzten isoliert, im Tempel der Peraine lagen. Dem Ältesten der Therbuniten war rätselhaft, worunter sie litten und wie sie sich diese gräßliche Krankheit zugezogen hatten.
Wohl eine Woche nach dem Tod des Wächters waren die ersten zu ihm gekommen und zeigten dem Heiler gräßliche grüne und braune Beulen, die sich überall am Körper bildeten und ihre Gesichter entstellten. Gemeinsam mit Marcian hatte Gordonius beschlossen, die Kranken in den Peraine-Tempel zu bringen. Vielleicht würde die Nähe zur Göttin sich ja gut auf ihre Krankheit auswirken. Doch statt dessen war alles schlimmer geworden. Die Beulen waren aufgebrochen und hatten einen so üblen Gestank verbreitet, daß es selbst die Pfleger kaum noch ertragen können, den Tempel zu betreten und sich um die Kranken zu kümmern. Daraufhin wurde allen außer den Therbuniten verboten, den Tempel zu betreten, und Marcian hatte Wachen rund um das Gebäude aufstellen lassen.
Unruhe war in der Stadt ausgebrochen. Manche hatten gefordert, die Kranken zu verbrennen, damit sie die Gesunden nicht anstecken könnten. Doch bald war es auch nicht mehr nötig gewesen, Wächter aufzustellen, da sich niemand mehr in die Nähe des Tempels wagte.
Marcian schnaubte verächtlich. Als er Gernot Brohm mit den anderen Verschwörern beim Verlies gestellt hatte, sagte der Patrizier, daß sich die Bürger nur deshalb den Soldaten angeschlossen hätten, damit dieser gottverlassene Tempel verbrannt würde. Der Patrizier glaubte tatsächlich, die Göttin Peraine würde es vergeben, wenn ihr Haus in Flammen aufginge, denn schließlich sei das der einzige Weg, die Stadt vor der weiteren Ausbreitung der Seuche zu retten.
Wieder starrte der Inquisitor die weißen Wände seines Turmzimmers an. Ständen nicht die Orks vor den Toren der Stadt, so würden die Bürger in Scharen fliehen. Vielleicht mochte sogar der Tag kommen, an dem die Schrecken innerhalb der Mauern so groß wurden, daß sie sich lieber in die Knechtschaft der Schwarzpelze begaben, als hier elendig zugrunde zu gehen.
Der Inquisitor schaute zu Cindira hinüber. Hoffentlich war nicht auch sie von der rätselhaften Krankheit befallen. Die Schlachtfeldgilbe konnte man überstehen. Was aber mochte die armen Kreaturen im Tempel der Göttin heimgesucht haben?
Nun, er war Krieger und kein Medicus. Was er tun konnte, war, sich über ein gerechtes Urteil für die Rebellen den Kopf zu zerbrechen. Und wieder begann Marcian seinen endlosen Marsch.
Viel Volk hatte sich am Morgen des nächsten Tages auf dem Platz der Sonne versammelt, und der Inquisitor argwöhnte, daß die meisten von ihnen hier waren, um Köpfe rollen zu sehen. Rialla, Gernot Brohm und die anderen wurden unter strenger Bewachung und in Ketten auf den Platz gebracht. Marcian hatte im Portal des Magistrats einen mächtigen Lehnstuhl aufstellen lassen. Neben ihm stand ein Tisch, auf dem ein Buch, ein Richtschwert und ein Stab aus dünnem Holz lagen.
Für alle Fälle hatte der Inquisitor auf den Dächern rings um den Platz Himgis mit Armbrüsten bewaffnete Zwerge Stellung beziehen lassen. Marcian ließ den Blick über die Dächer schweifen. Dann erhob er sich von seinem Sitz, und das Stimmengemurmel auf dem Platz verstummte.
»Die Schuld der Angeklagten ist jedem bekannt. Sie haben sich gegen meine Herrschaft aufgelehnt und versucht, Rebellen aus dem Kerker zu befreien. Doch vielleicht gibt es jemanden, der ein Wort zu ihrer Entlastung sagen kann?« Marcian blickte erwartungsvoll in die Runde. Neben den Bürgern waren auch alle Offiziere und viele Soldaten auf dem Platz der Sonne versammelt.
»Nun?« Der Inquisitor hatte noch einmal die Stimme erhoben.
»Gut. Wenn keiner der hier Anwesenden etwas zugunsten der Angeklagten zu sagen hat, so will ich es tun. Sie alle haben ohne Ausnahme ihr Leben für diese Stadt eingesetzt. Und fast alle haben außer Ehre auch Wunden im Kampf mit den Orks davongetragen.«
Zustimmendes Gemurmel. Eine Frau schrie lauthals: »Recht gesprochen!« »Wir alle wissen auch, daß wir jede Hand, die ein Schwert führen kann, brauchen werden, um diese Stadt weiterhin gegen die Orks zu halten.« Marcian legte seine Hand auf das Buch, das neben dem Richtschwert ruhte. »Der CODEX RAULIUS kennt für Hochverrat und Rebellion in Kriegszeiten nur ein Urteil.«
Der Inquisitor nahm das schwere Buch vom Tisch, schlug eine Stelle auf, die er durch ein Lesezeichen markiert hatte und begann laut vorzulesen: »Ein Anführer, der sich in Kriegszeiten gegen das Wort seines Herrn empört, ist ohne groß Federlesens am Halse zu erhängen, bis das der Tod eintrete, was gewißlich der Fall ist, so dem Delinquenten die Zung aus dem Maule quillt. Ist der Empörer von adligem Blut, so hat er das Recht, durch die Klinge des Henkers zufallen, ohne daß dem einfachen Volk sein Tod ansichtig wird.«
Danach machte Marcian eine wohlgesetzte Pause, ehe er fortfuhr:
»Wie alle hören konnten, erklärt das alte Recht des Kaisers Raul die Rebellion in Kriegszeiten zu einem Verbrechen, das nur durch die Höchststrafe gesühnt werden kann, und nicht einmal ich habe das Recht, ein Urteil, das von einem Kaiser gesetzt wurde, zu beugen.«
Die Aufrührer sahen zu Boden. Vor allem Rialla hatte schon lange mit ihrem Leben abgeschlossen. Als Offizierin wußte sie nur zu gut, was es bedeutete, in Kriegszeiten gegen einen Vorgesetzten das Schwert zu ziehen. Sie selber hätte an Marcians Stelle nicht anders entschieden. Wieder erhob der Inquisitor seine Stimme. »Seit zehnmal hundert Götterläufen regieren Rauls Erben das Neue Kaiserreich, das sich aus der Asche der Kriege gegen die Dämonenanbeter von Bosparan erhoben hat. Nie hat jemand dieses Gesetz in Frage gestellt, doch ausdrücklich heißt es im CODEX RAULIUS, altes, Recht sei gutes Recht, womit gemeint ist, daß ein älterer Schiedsspruch immer schwerer wiegt als ein Urteil jüngeren Datums, falls die Urteilsfindung in einem Gerichtsfall nicht ganz eindeutig ist.«
Marcian ließ seine Worte auf die Menge wirken und dankte im stillen Praios dafür, daß er während seiner Ausbildung als Inquisitor so ausführlich in der Rechtsprechung unterwiesen worden war. Bislang hatte ihm dieses Wissen kaum Nutzen gebracht, abgesehen von einigen Fällen, in denen er der Vollstreckung der gefürchteten ›INQUISITORISCHEN HALSGERICHTSORDNUNG‹ beiwohnen mußte, die aus den Zeiten der Priesterkaiser stammte und nur noch sehr selten zur Anwendung kam.
Auf dem Platz der Sonne war es vollkommen still. Alle erwarteten gebannt die neue Wendung, die die Urteilsverkündung zu nehmen schien.
»Am heutigen Morgen habe ich den Vater des Delinquenten Gernot Brohm aufgesucht, um ihm kundzutun, welches Urteil seinen Sohn erwartet. Da der Magistratsherr ein gebildeter Mann ist, wußte er, was ich ihm zu sagen hatte, doch wies er mich auf die Abschrift eines alten Gesetzesbandes aus der Zeit noch vor Bosparans Fall hin. Diese Sammlung wird das ›IUS DIVI HORATHIS‹ genannt. Angeblich geht das Gesetzbuch noch auf den Gründer des alten Kaiserreiches zurück. Zu Zeiten der Herrscher von Bosparan war es die meist angewandte Rechtssammlung, doch da sich erwies, daß viele der Urteilssprüche, die ein Kaiser gesetzt hatte, der sich in ketzerischem Ansinnen auch als Gott verehren ließ, ungerecht waren, hat uns unser Kaiser Raul ein neues Gesetz gegeben.«
Auf ein Zeichen Marcians trat der Magistrat Brohm vor und überreichte dem Kommandanten eine Schriftrolle. Der Inquisitor hielt die Pergamentrolle für einen Moment hoch über den Kopf, so daß alle auf dem Platz sie sehen konnten. Dann entrollte er das Schriftstück und las laut vor: »Ziehet ein Soldat das Schwert oder ein ander Mordinstrument in empörerischer Absicht gegen seinen Vorgesetzten, so ist er des Todes, wenn dies in Friedenszeiten geschehet. Doch mag auch der Fall eintreten, daß die Noth so groß ist, daß kein Krieger zu entbehren ist, auch wenn sein Tath todeswürdig sei. So mag der kluge Heerführer dann den Empörer nach dem IUS BELLORUM strafen, indem er ihn von den anderen Absondere, auf das er nicht mehr das Gift aufrührischer Gedanken unter den braven Soldaten verbreiten könne. Ein endgültig Urteil soll erst dann gesprochen sein, wenn die Waffen wieder Schweigen und die Noth gebannet ist. Hat der Empörer in dieser Zeit bewiesen, daß er seine Taten aufrichtig bedaure und auch sonst Muth im Kampf für die rechte Sache gezeiget, so mag dann die Todesstrafe ausgesetzt und ein geringeres Urteil vollstreckt werden.«
Wieder schwieg der Inquisitor einen Moment und blickte in die Runde. »Dieses Recht ist für das Reich nicht verbindlich«, fuhr Marcian dann mit lauter Stimme fort. »Und doch erlaubt die Regelung, nach der altes Recht gutes Recht ist, in Sonderfällen seine Anwendung. Doch brauche ich für ein mildes Urteil die Zustimmung aller. Ist nur einer unter euch, der sich gegen diesen Richterspruch empört, so sind die Delinquenten des Todes. Seid ihr aber für die Anwendung des Gesetzes aus Horas' Zeiten, so werde ich alle Rebellen auf die Bastion am Fluß verbannen und alle Soldaten abziehen, die dort bisher ihren Dienst tun. So ist es den Aufrührern nicht mehr möglich, ihre verräterischen Ideen zu verbreiten, und doch mögen sie, falls es zu einem Angriff kommt, noch immer mit der Waffe in der Hand dieser Stadt dienen.«
Als Marcian geendet hatte, fanden die Bürger und Soldaten auf dem Platz in kleinen Gruppen zusammen und debattierten. Offensichtlich waren nicht alle einverstanden, daß Marcian ein so mildes Urteil fällen wollte. Vielleicht waren auch manche enttäuscht, weil sie sich um das Spektakel der Hinrichtung betrogen fühlten. So richtete Marcian noch einmal sein Wort an die Versammelten:
»Wie ich sehe, seid ihr durchaus nicht einig über mein Urteil. Vergeßt nicht, daß ich es euch anheimstelle, wie entschieden wird.«
Der Inquisitor nahm den dünnen Holzstab vom Tisch an seine Seite. »Ist da auch nur einer unter euch, der mit diesem Urteil keinen Frieden finden mag, so soll er diesen Stab aufheben und vor aller Augen zerbrechen. Mit dieser Tat hat er über das Leben der Angeklagten entschieden, und es wird so sein, als habe er höchstselbst das Richtschwert geführt. Wer immer also in diesen blutigen Zeiten ein Unrecht mit Blut aufgehoben sehen will, der möge nun vortreten und den Stab über die Angeklagten brechen.«
Mit diesen Worten schleuderte der Inquisitor den Holzstab vor sich in den Schlamm des Platzes.
Die Menge verstummte.
Keiner wagte sich vor, den Stab aufzuheben.
Marcian wußte wohl, daß er es mit diesem Urteil vielen nicht recht machen würde, doch zumindest konnte er nun jeden seiner Kritiker fragen, warum er den Stab nicht aufgehoben habe.
Der Inquisitor ließ sich viel Zeit, bis er sich endlich aus seinem Stuhl erhob.
»Wie ich sehe, ist es euer Wille, daß die Aufrührer von ihren Kameraden getrennt werden. So höret nun, was ich zu verkünden habe: Noch in dieser Nacht werden alle Soldaten, die bislang ihren Dienst in der Bastion am Fluß versehen haben, von diesem Posten abgezogen. An ihrer Stelle sollen nun die Rebellen dort Dienst tun, wo sie jeder aus der Stadt bei ihren Taten beobachten kann, ohne daß sie dort Gelegenheit haben, Unfrieden zu stiften.«
Rialla trat in ihren Ketten vor und richtete ihr Wort an den Kommandanten. »Ich bereue nicht, daß ich mich dagegen aufgelehnt habe, daß Ihr unsere Pferde habt schlachten lassen, doch tut es mir leid, gegen Euch das Schwert gezogen zu haben. Ich hoffe, daß mein Schicksal mir erlaubt, diese Tat zu sühnen.«
»Das werden die Zwölfgötter bestimmen«, sagte Marcian leise und fuhr dann mit erhobener Stimme fort. »Nehmt den Gefangenen die Ketten ab. Sie mögen in ihren Quartieren packen, was immer sie für die Zeit der Verbannung glauben zu brauchen. Sobald das Praios-Gestirn versunken ist, sollen sie sich am Hafen einfinden, um von dort zur Bastion geschifft zu werden. — Wer nicht bis Einbruch der Dunkelheit im Hafen erschienen ist und sich damit erneut meinem Willen widersetzt, hat sein Leben verwirkt!«
Der Inquisitor raffte seinen Umhang und trat auf den Platz. In der schweigenden Menge bildete sich eine Gasse, so daß er ungehindert zur Garnison gehen konnte. Marcian fühlte sich erleichtert. Er war der Überzeugung, ein gerechtes Urteil gefällt zu haben.
Nun mußte er nach Cindira sehen und die Sorge, daß ihr Fieber sich verschlechtert haben könnte, beflügelte seine Schritte.
»Sie verlegen Truppen in das Bollwerk am Fluß?« Sharraz Garthai schaute den Boten ungläubig an. Er hatte sich an diesem Abend sehr früh in sein Zelt zurückgezogen, um sich dort mit seinen Sklavinnen zu vergnügen. »Bist du auch sicher?«
»Ja, Herr. Ich selbst habe gesehen, wie mehrere kleine Boote den Fluß überquert haben und Krieger durch eine kleine Pforte in das mächtige Steinhaus gelassen wurden.«
Der junge Krieger, der die Nachricht überbrachte, zitterte. Er wußte, was es bedeuten konnte, Sharraz Garthai ungerechtfertigt bei seinen Vergnügungen zu stören. Doch er hatte keine Wahl gehabt. Die anderen Krieger hatten ihn gezwungen zu gehen, weil er der Schwächste war und es nicht viel zählte, falls Sharraz ihn im Zorn erschlagen würde.
»Ruf die Häuptlinge und Schamanen zusammen und hol mir auch den Menschen und den Zwerg. Ich will mich mit ihnen beraten, was das zu bedeuten hat. Los, mach dich davon!«
Ohne ein Wort zu verlieren, verschwand der Bote in der Dunkelheit.
Noch während die Häuptlinge und die anderen Orks, deren Rat gehört werden mußte, sich wenig später berieten, traf ein zweiter Bote ein. Diesmal hieß es, daß noch viel mehr Krieger die vorgeschobene Stellung am Fluß verlassen hätten, als dort an Verstärkungen eingetroffen waren.
Diese Nachricht löste große Verblüffung aus. Hatte man zunächst vermutet, daß die Greifenfurter einen Angriff vorbereiteten, weil auf der anderen Seite des Flusses die Stellungen der Orks am schwächsten waren, so konnte jetzt niemand mehr einen Sinn in diesem törichten Unterfangen sehen.
Schließlich verkündete ein Schamane laut: »Vielleicht haben die Geister ihrer Ahnen sie gewarnt, daß bald viele kampfeslüsterne Krieger, die der große Sadrak Whassoi aus den Winterlagern im Osten abgezogen hat, unsere Truppen verstärken werden. Mag sein, daß sie glauben, nun jedes Schwert in der Stadt zu brauchen.«
»Und warum sind dann nicht gleich alle gegangen? Das ist doch Unsinn, nur wenige Kämpfer zurückzulassen, die wir dann um so leichter besiegen können!« Ein Kriegshäuptling hatte zornig seine Stimme erhoben. Da stand Sharraz Garthai auf. »Ich glaube, sie wollen uns eine Falle stellen. Vielleicht haben sie bemerkt, was für Arbeiten wir hinter den Erdhügeln betreiben. Sie wollen, daß wir glauben, uns drohe die Gefahr, daß sie das andere Flußufer zurückerobern. Sie wollen uns von unserem eigentlichen Vorhaben ablenken!«
»Aber warum haben sie die Truppen dann geschwächt, statt sie zu verstärken?« mischte sich Gamba ein.
»Nun, Geisterrufer, das liegt doch auf der Hand. Sie wollen uns täuschen. Was sagt die Zahl der Krieger schon über ihre Kampfkraft aus? Zehn Oger wiegen viel mehr als selbst zehn Krieger meiner Leibwache.«
Einige Krieger murmelten unwillig, doch keiner wagte, Sharraz offen zu widersprechen.
»Habt ihr vielleicht die schrecklichen Krieger mit den schwarzen Umhängen vergessen? Es war finster, als die neuen Soldaten in das große Steinhaus am Fluß kamen. Niemand konnte erkennen, wer sie waren, und die Geister unserer Ahnen haben uns verraten, daß sich diese besonderen Krieger vor dem Licht des Himmels schützen müssen.«
Alle schwiegen.
»Vielleicht wissen sie, daß wir bald unsere Truppen verstärken, und versuchen jetzt, uns einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Und wo sonst sollen sie damit anfangen als an der Stelle, wo die wenigsten und schlechtesten unserer Krieger stehen?«
»Und was willst du tun, um sie aufzuhalten?« fragte Kolon. »Wir wissen doch schon, daß unsere Kämpfer die Geisterkrieger mit den schwarzen Umhängen nicht aufhalten können.«
»Krieger können das wirklich nicht! Aber vielleicht können es die Maschinen, die Steine mit der Kraft von Riesen schleudern. Vielleicht vermag es aber auch der menschliche Geisterrufer, das Licht des Himmels auf die mächtigen Krieger zu lenken.«
»Was soll das heißen?« Gamba war aufgesprungen.
»Das soll heißen, daß der Zwerg und der Mensch, die Sadrak Whassoi so sehr schätzt, nun beweisen können, was sie wert sind. Ihr beide werdet noch in dieser Nacht auf das andere Ufer gehen. Euch werden jene Krieger begleiten, die als erste fortgelaufen sind, als die Geister unser Lager angegriffen haben. Sie sollen mit euch sterben oder ihre Ehre wieder herstellen. Außerdem sollen noch heute nacht alle Maschinen, die Kolon gebaut hat, auf die andere Seite des Flusses geschafft werden. Vielleicht haben sie einen Nutzen, wo die Kraft des Schwertarmes nicht ausreicht.«
»Aber die Tunnel ...«, wandte Kolon ein.
»Die Tunnel werden unter der Aufsicht meiner Schamanen weitergebaut. Du hast mir erst gestern erzählt, daß es wohl kaum mehr als zehn Tage dauern wird, bis sich die Sklaven bis unter den Hügel gegraben haben. Das werden wir auch ohne dich schaffen.«
»Wie ihr befehlt, aber ihr Häuptlinge und Schamanen, erinnert euch meines Widerspruchs. Die Kunst, Gänge in den Leib Sumus zu graben, ist nur wenigen gegeben, und wenn ihr den Unmut der toten Mutter erweckt, weil ihr Fehler macht, so vergeßt nicht, wer mich aus den Tunneln vertrieben hat.«
»Jammere nicht wie ein Wurm, zeige lieber, daß du auch zu kämpfen verstehst.« Sharraz Garthai blickte verächtlich auf den Zwergen herab. Kolon hielt seinem Blick eine Weile stand, doch sagte er nichts. Sollte dieser hirnlose Barbar doch sehen, wie weit er mit seinen Schamanen kam. Zusammen mit Gamba verließ Kolon das Zelt.