Tanis fürchtete sich vor dem ersten Anblick des Wirtshauses zur letzten Bleibe. Hier hatte vor drei Jahren im Herbst alles angefangen. Hier waren er und Flint und der unbezähmbare Kender Tolpan Barfuß eingekehrt, um alte Freunde zu treffen. Hier hatte sich seine Welt auf den Kopf gestellt, um sich niemals wieder in die richtige Stellung zu drehen.
Aber als Tanis auf das Wirtshaus zuritt, lösten sich seine Befürchtungen. Es hatte sich so viel verändert, daß es war, als ob er einen fremden Ort aufsuchte, einen Ort, der keine Erinnerungen bereithielt. Das Wirtshaus stand nun auf dem Boden und nicht mehr in den Zweigen eines riesigen Vallenholzbaumes. Es gab neue Anbauten, denn mehr Räume waren vonnöten, um den Zustrom der Reisenden zu beherbergen; es hatte ein neues, bei weitem moderneres Dach. Alle Narben des Krieges waren mitsamt den Erinnerungen beseitigt worden.
Doch dann, als Tanis sich gerade zu entspannen begann, öffnete sich die Vordertür des Wirtshauses. Licht strömte nach draußen, bildete einen goldenen Pfad des Willkommens; der Duft von Würzkartoffeln und das Geräusch von Gelächter kam mit der Abendbrise zu ihm. Die Erinnerungen kehrten schlagartig zurück, und Tanis senkte überwältigt den Kopf.
Aber glücklicherweise blieb ihm keine Zeit, bei der Vergangenheit zu verweilen. Als er und seine Begleiterin sich dem Wirtshaus näherten, lief ein Stalljunge herbei und ergriff die Zügel der Pferde.
»Futter und Wasser«, sagte Tanis, glitt erschöpft aus dem Sattel und warf dem Jungen eine Münze zu. Er streckte sich, um die Muskelkrämpfe zu lindern. »Ich habe eine Nachricht vorausschicken lassen, daß ein frisches Pferd für mich bereitgehalten werden sollte. Mein Name ist Tanis, der Halbelf.«
Der Junge riß die Augen weit auf. »Ja, Herr«, stammelte er, über die Maßen überrascht, von diesem großen Helden angesprochen zu werden. »Das Pferd steht bereit, soll ich es bringen, Herr?«
»Nein.« Tanis lächelte. »Ich will erst etwas essen. Bring es mir in zwei Stunden.«
»Zwei Stunden. Ja, Herr. Ich danke Euch, Herr.«
Als der Junge mit Tanis’ Pferd von dannen eilte, wandte sich der Halbelf seiner Gefährtin zu und half ihr absteigen.
»Du mußt aus Eisen sein«, sagte sie und sah Tanis an, während er ihr auf den Boden half. »Willst du wirklich heute nacht weiterreiten?«
»Um die Wahrheit zu sagen, es schmerzt mich jeder Knochen«, begann Tanis, hielt dann inne, sich unbehaglich fühlend. Er war einfach nicht in der Lage, sich bei dieser Frau wohl zu fühlen.
Tanis konnte ihr Gesicht sehen, das sich im Licht aus dem Wirtshaus widerspiegelte. Er sah Müdigkeit und Schmerz. Ihre Augen lagen tief in blassen, hohlen Wangen. Sie taumelte, als ihre Füße den Boden erreichten, und Tanis reichte ihr schnell seinen Arm.
Tanis konnte sich vorstellen, wie sich diese Frau fühlen mußte, die an körperliche Anstrengungen nicht gewöhnt war, und er mußte sie mit ungewollter Bewunderung betrachten. Sie hatte sich während der langen Reise nicht einmal beklagt. Sie hatte immer Schritt gehalten, war nie zurückgeblieben, hatte seinen Anweisungen ohne Fragen gehorcht.
Warum, fragte er sich, konnte er dann nichts für sie empfinden? Was hatte sie an sich, das ihn verärgerte und reizte? Als Tanis in ihr Gesicht sah, wußte er die Antwort. Die einzige Wärme in ihrem Gesicht war die Wärme, die vom Licht aus dem Wirtshaus kam. Ihr Gesicht selbst war kalt, leidenschaftslos, bar jeder – was? Menschlichkeit? So war sie die ganze lange, gefährliche Reise gewesen. O ja, sie war auf kühle Art höflich, auf kühle Art dankbar, unnahbar gewesen. Sie hätte mich wohl auch auf kühle Art beerdigt, dachte Tanis grimmig. Dann, als ob er sich für seine ehrfurchtslosen Gedanken rügen wollte, wurde sein Blick auf das Medaillon gelenkt, das sie um ihren Hals trug, den Platindrachen von Paladin. Er erinnerte sich an Elistans vertrauliche Abschiedsworte.
»Es ist passend, daß du sie begleitest, Tanis«, hatte der Kleriker gesagt. »In vielerlei Hinsicht beginnt sie eine Reise, die deiner eigenen vor zwei Jahren gleicht – der Suche nach Selbsterkenntnis. Nein, du hast recht, sie ist sich darüber noch nicht im klaren.« Dies war die Antwort auf Tanis’ zweifelnden Blick. »Sie geht mit den Augen starr nach oben zum Himmel gerichtet.« Elistan lächelte traurig. »Sie hat nicht gelernt, daß man dabei auf jeden Fall stolpern wird. Wenn sie es nicht lernt, kann ihr Sturz sehr hart werden.« Kopfschüttelnd murmelte er ein sanftes Gebet. »Aber wir müssen unser Vertrauen in Paladins Hände legen.«
Tanis hatte damals die Stirn gerunzelt, und er runzelte sie auch jetzt, als er darüber nachdachte. Obgleich er im Laufe der Zeit einen starken Glauben an die wahren Götter entwickelt hatte – mehr durch Lauranas Glauben an sie als durch alles andere —, fühlte er sich unbehaglich dabei, ihnen sein Leben anzuvertrauen, und er wurde ungeduldig bei Leuten wie Elistan, die, wie es schien, den Göttern eine zu große Last aufbürdeten. Laßt die Menschen selbst für Veränderungen verantwortlich sein, dachte Tanis verärgert.
»Was ist los, Tanis?« fragte Crysania kühl.
Tanis, dem bewußt wurde, daß er sie die ganze Zeit über angestarrt hatte, hustete verlegen, räusperte sich und sah weg. Glücklicherweise kehrte in diesem Augenblick der Junge wegen Crysanias Pferd zurück, so daß Tanis nicht zu antworten brauchte. Er zeigte zum Wirtshaus, und die beiden gingen darauf zu.
»In der Tat«, sagte Tanis, als das Schweigen unerträglich wurde, »täte ich nichts lieber, als hier bei meinen Freunden zu bleiben. Aber ich muß übermorgen in Qualinesti sein, und ich werde nur rechtzeitig ankommen, wenn ich durchreite. Meine Beziehung zu meinem Schwager ist nicht so, daß ich es mir leisten kann, ihn zu beleidigen, indem ich bei Solostarans Beerdigung fehle.« Mit einem grimmigen Lächeln fügte er hinzu: »In politischer wie auch persönlicher Hinsicht, wenn du verstehst, was ich meine.«
Crysania erwiderte sein Lächeln, aber es war kein Lächeln des Verstehens. Es war ein Lächeln des Duldens, als sei dieses Gespräch über Politik und Familie unter ihrer Würde.
Sie hatten die Tür zum Wirtshaus erreicht. »Außerdem«, fügte Tanis leise hinzu, »vermisse ich Laurana. Es ist komisch, nicht wahr? Wenn sie in der Nähe ist und wir mit unseren Aufgaben beschäftigt sind, verbringen wir manche Tage einfach damit, uns schnell anzulächeln oder uns kurz zu berühren, und dann verschwinden wir wieder in unseren Welten. Aber wenn ich weit weg von ihr bin, ist es so, als ob ich plötzlich erwachte und feststellte, daß mein rechter Arm abgeschnitten ist. Wenn ich schlafen gehe, denke ich zwar nicht an meinen rechten Arm, aber wenn er weg wäre...«
Tanis verstummte plötzlich, kam sich närrisch vor. Aber Crysania hatte ihm offenbar überhaupt keine Beachtung geschenkt. Ihr glattes Marmorgesicht war, wenn das möglich war, noch kälter geworden, so daß das Silberlicht des Mondes im Gegensatz dazu warm schien. Tanis stieß kopfschüttelnd die Tür auf. Ich beneide Caramon und Flußwind wirklich nicht, dachte er grimmig.
Die warmen, vertrauten Klänge und Gerüche des Wirtshauses überspülten Tanis, und lange Zeit verschwamm alles. Da war Otik, älter und dicker, auf einen Stock gestützt. Da waren Leute, die er seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, die zuvor nie viel mit ihm zu tun gehabt hatten, aber jetzt schüttelten sie eifrig seine Hand. Da war die alte Theke, immer noch glänzend poliert, und irgendwie schaffte er es, auf einen Gossenzwerg zu treten...
Und dann war da ein riesenhafter Mann, in Felle gehüllt, und Tanis wurde in die herzliche Umarmung seines Freundes gezogen. »Flußwind«, flüsterte er heiser und hielt dabei den Mann aus den Ebenen fest.
»Mein Bruder«, sagte Flußwind in Que-Shu, der Sprache seines Volkes. Die Menge im Wirtshaus jubelte wild, aber Tanis hörte nichts, weil eine Frau mit feuerroten Haaren und Sommersprossen ihre Hand auf seinen Arm legte. Tanis, immer noch Flußwind umklammernd, schloß Tika in ihre Umarmung ein, und lange Zeit standen die drei Freunde zusammen, verbunden durch Leid und Schmerz und Ruhm.
Flußwind brachte sie wieder zur Vernunft. Dieses öffentliche Zurschaustellen von Gefühlen nicht gewohnt, gewann der hochgewachsene Barbar seine Fassung wieder und trat zurück, blinzelte schnell und sah stirnrunzelnd zur Decke, bis er seine Beherrschung wiedererlangt hatte. Tanis, dessen rötlicher Bart tränenfeucht war, drückte Tika noch einmal schnell an sich, dann sah er sich um.
»Wo ist der große Ochse von deinem Ehemann?« fragte er fröhlich. »Wo ist Caramon?«
Es war eine einfache Frage, und Tanis war auf die Antwort gänzlich unvorbereitet. Die Menge verfiel in Schweigen; es schien, als ob jemand sie in ein Faß eingeschlossen hätte. Tika murmelte etwas Unverständliches, beugte sich nach unten, zog einen Gossenzwerg vom Boden hoch und schüttelte ihn so lange, bis seine Zähne im Mund zu klappern anfingen.
Verwirrt sah Tanis Flußwind an, aber der Mann aus den Ebenen zuckte nur mit den Schultern und zog seine dunklen Augenbrauen hoch.
Der Halbelf wollte Tika nach dem Grund fragen, aber da spürte er eine kalte Berührung am Arm. Crysania! Er hatte sie völlig vergessen! Er errötete und stellte sie nachträglich vor. »Darf ich Crysania von Tarinius, Verehrte Tochter Paladins, vorstellen?« sagte er förmlich. »Crysania, dies sind Flußwind, Stammeshäuptling der Barbaren, und Tika Waylan Majere.«
Crysania öffnete ihren Reiseumhang und zog ihre Kapuze zurück. Dabei blitzte das Platinmedaillon, das sie um den Hals trug, im hellen Kerzenlicht des Wirtshauses auf. Die weißen Lammwollroben der Frau waren durch die Falten ihres Umhangs zu sehen.
Ein ehrfürchtiges Gemurmel ging durch die Menge. »Eine heilige Klerikerin!« – »Hast du ihren Namen verstanden? Crysania! Im Rang steht sie gleich...« – »Elistans Nachfolgerin...«
Crysania neigte den Kopf. Flußwind verbeugte sich, sein Gesicht war feierlich, und Tika schob Raf eilig hinter die Theke, dann machte sie einen tiefen Knicks.
Als Crysania Tikas Ehenamen hörte, sah sie fragend zu Tanis, der als Antwort nickte.
»Ich fühle mich geehrt«, sagte Crysania mit ihrer klangvollen, kühlen Stimme, »zwei kennenzulernen, deren mutige Taten als Beispiel für uns alle leuchten.«
Tika errötete. Flußwinds strenges Gesicht änderte seinen Ausdruck nicht, aber Tanis sah, wieviel das Lob der Klerikerin dem tiefreligiösen Barbaren bedeutete. Was die Menge betraf, so jubelte sie stürmisch über die ihnen zugewiesene Ehre. Otik führte seine Gäste zu einem für sie bereitstehenden Tisch und strahlte die Helden an, als hätte er den ganzen Krieg zu ihren Gunsten arrangiert.
Als Tanis Platz genommen hatte, fühlte er sich zuerst unbehaglich. Aber er konnte sich mit Flußwind ohne Angst, belauscht zu werden, unterhalten. Zuerst mußte er jedoch herausfinden, wo Caramon war.
Wieder wollte er fragen, aber Tika, die sich wie eine Mutterhenne um Crysania kümmerte, sah, wie er den Mund öffnete, drehte sich um und verschwand in die Küche.
Tanis schüttelte verwirrt den Kopf, aber bevor er nachdenken konnte, hatte Flußwind ihm Fragen gestellt. Bald waren sie in ein Gespräch vertieft.
»Alle glauben, der Krieg sei vorbei«, sagte Tanis seufzend. »Und das bringt uns in eine schlimmere Gefahr als zuvor. Bündnisse zwischen Elfen und Menschen, die in finsteren Zeiten stark waren, beginnen in der Sonne zu schmelzen. Laurana ist jetzt in Qualinesti, um dem Begräbnis ihres Vaters beizuwohnen, und versucht außerdem, ein Einverständnis zwischen ihrem halsstarrigen Bruder Porthios und den Rittern von Solamnia herbeizuführen. Der einzige Hoffnungsschimmer, den wir haben, ist Porthios’ Frau, Alhana Sternenwind.« Tanis lächelte. »Ich hätte es niemals für möglich gehalten, daß diese Elfin nicht nur duldsam gegenüber anderen Menschen ist, sondern sie auch noch gegenüber ihrem unduldsamen Gatten wärmstens unterstützt.«
»Eine seltsame Ehe«, bemerkte Flußwind, und Tanis nickte zustimmend. Die Gedanken beider Männer waren bei ihrem Freund, dem Ritter Sturm Feuerklinge, der nun tot war – ein Held des Turms des Oberklerikers. Beide wußten, daß Alhanas Herz dort in der Dunkelheit mit Sturm begraben war.
»Gewiß keine Liebesheirat.« Tanis zuckte die Schultern. »Aber es kann wohl eine Ehe sein, die hilft, die Ordnung in der Welt wiederherzustellen. Nun, was ist mit dir, mein Freund? Dein Gesicht ist düster und mitgenommen von neuen Sorgen, so wie es auch vor neuer Freude erstrahlt. Goldmond hat Laurana über die Zwillinge benachrichtigt.«
Flußwind lächelte kurz. »Du hast recht. Mir tut jede Minute weh, die ich fort bin«, sagte der Mann aus den Ebenen mit seiner tiefen Stimme, »obwohl dich wiederzusehen die Bürde meines Herzens erleichtert. Aber ich ließ zwei Stämme am Rande des Krieges zurück. Bis jetzt habe ich es geschafft, sie am Verhandeln zu halten, und es gab noch kein Blutvergießen.
Aber die Unzufriedenen arbeiten hinter meinem Rücken gegen mich. Jede Minute, die ich nicht da bin, gibt ihnen die Gelegenheit, alte Fehden wieder zu entfachen.«
Tanis drückte seinen Arm. »Es tut mir leid, mein Freund, aber ich bin dankbar, daß du gekommen ist.« Dann seufzte er wieder und warf Crysania einen Blick zu, da ihm klar wurde, daß er nun vor neuen Problemen stand. »Ich hatte gehofft, du wärst in der Lage, dieser Dame deine Führung und deinen Schutz anzubieten.« Seine Stimme sank zu einem Murmeln herab. »Sie ist auf der Reise zu dem Turm der Erzmagier im Wald von Wayreth.«
Flußwinds Augen weiteten sich vor Beunruhigung und Mißbilligung. Der Barbar mißtraute Magiern und allem, was mit ihnen zusammenhing.
Tanis nickte. »Ich sehe, du erinnerst dich an Caramons Geschichten über jene Zeit, als er und Raistlin dorthin reisten. Und sie waren eingeladen. Diese Dame geht ohne Einladung, um den Rat der Magier über...«
Crysania warf ihm einen scharfen, herrischen Blick zu. Stirnrunzelnd schüttelte sie den Kopf.
Tanis biß sich auf die Zunge und fügte matt hinzu: »Ich hatte gehofft, du könntest sie begleiten...«
»Ich hatte so etwas befürchtet«, entgegnete Flußwind, »als ich deine Botschaft erhielt, und das war der Grund für mein Kommen – um dir meine Ablehnung persönlich zu erklären. Du weißt, zu einer anderen Zeit hätte ich mit Freude geholfen und mich höchst geehrt gefühlt, meine Dienste einer so ehrwürdigen Person anzubieten.« Er verbeugte sich leicht zu Crysania hin, die seine Huldigung mit einem Lächeln entgegennahm, das aber unverzüglich schwand, als sie ihren Blick wieder auf Tanis richtete. Eine kleine, tiefe Linie des Zornes erschien zwischen ihren Brauen.
Flußwind fuhr fort: »Aber es steht zu viel auf dem Spiel, Tanis. Der Friede, den ich zwischen den Stämmen gestiftet habe, von denen sich viele jahrelang im Krieg befunden haben, ist nur ein schwacher. Unser Überleben als Nation hängt davon ab, daß wir uns verbünden und zusammenarbeiten, um unser Land wiederaufzubauen.«
»Ich verstehe«, sagte Tanis, gerührt von Flußwinds offensichtlichem Bedauern, seine Bitte um Hilfe abgelehnt zu haben. Der Halbelf fing jedoch Crysanias verstimmten Blick auf und wandte sich ihr in grimmiger Höflichkeit zu. »Es wird alles gut gehen, Verehrte Tochter«, sagte er mit mühsam aufgebrachter Geduld. »Caramon wird dich führen, und er ist dreimal so viel wert wie wir gewöhnliche Sterbliche, nicht wahr, Flußwind?«
Der Mann aus den Ebenen lächelte, alte Erinnerungen kehrten zurück. »Gewiß, er kann so viel essen wie drei gewöhnliche Sterbliche. Und er ist stark wie drei oder mehr. Erinnerst du dich, Tanis, als er das feiste Schweinsgesicht William hochhob, als wir in dieser Show auftraten...«
»Und als er die zwei Drakonier getötet hat, indem er einfach ihre Köpfe zusammengestoßen hat.« Tanis lachte. »Und erinnerst du dich, als wir im Zwergenkönigreich waren und Caramon hinter Flint schlich und...« Tanis lehnte sich vor und flüsterte etwas in Flußwinds Ohr. Das Gesicht des Barbaren errötete vor Lachen. Er erzählte noch eine andere Geschichte, und die beiden Männer setzten ihre Geschichten über Caramons Stärke, seine Geschicklichkeit mit dem Schwert, seinen Mut und seine Ehre fort.
»Und seine Sanftheit«, fügte Tanis nach kurzem Nachdenken hinzu. »Ich sehe ihn deutlich vor mir, wie er Raistlin so geduldig versorgte, seinen Bruder in seinen Armen hielt, als die Hustenanfälle den Magier fast entzweirissen...«
Er wurde von einem erstickten Aufschrei, einem Krachen und dumpfen Aufschlag unterbrochen. Tanis drehte sich erstaunt um und erblickte Tika, die ihn anstarrte; ihr Gesicht war weiß, ihre grünen Augen schimmerten von Tränen.
»Geht jetzt!« bat sie mit blassen Lippen. »Bitte, Tanis! Stellt keine Fragen! Geht einfach!« Sie ergriff seinen Arm, ihre Nägel gruben sich schmerzhaft in sein Fleisch.
»Was im Namen der Hölle ist los, Tika?« fragte Tanis aufgebracht, erhob sich und sah sie an.
Ein splitterndes Krachen folgte als Antwort. Die Tür zum Wirtshaus wurde von einer gewaltigen Kraft aufgerissen. Tika sprang zurück, ihr Gesicht verzerrte sich dermaßen vor Angst und Entsetzen, als sie zur Tür sah, daß Tanis sich mit der Hand am Schwert schnell umdrehte und Flußwind aufstand.
Ein riesiger Schatten füllte den Eingang, schien sich wie ein Leichentuch über den Raum auszubreiten. Der fröhliche Lärm und das Gelächter der Menge endeten plötzlich, wurden zu einem leisen, wütenden Murren.
Sich an die dunklen und bösen Dinge erinnernd, von denen sie gejagt worden waren, zog Tanis sein Schwert und stellte sich zwischen die Dunkelheit und Crysania. Er spürte, obwohl er ihn nicht sehen konnte, daß Flußwind hinter ihm stand und Deckung gab. Es hat uns also eingeholt, dachte Tanis, der die Gelegenheit fast begrüßte, dieses vage, unbekannte Entsetzen zu bekämpfen. Grimmig starrte er zur Tür, sah, wie eine aufgeblähte, groteske Gestalt in das Licht trat.
Tanis sah einen Mann, einen großen Mann, aber als er genauer hinblickte, erkannte er, daß es ein Mann war, dessen riesiger Körperumfang schwammig geworden war. Ein hervorquellender Bauch hing über eine Lederhose. Ein schmutziges Hemd klaffte am Nabel offen, das Hemd war zu klein, um so viel Fleisch zu bedecken. Das Gesicht des Mannes – teilweise durch einen drei Tage alten Bart verdunkelt – war unnatürlich gerötet und fleckig, sein Haar fettig und ungekämmt. Seine Kleidung, obgleich elegant, war schmutzig und roch stark nach Erbrochenem und ungebranntem Schnaps, der als Zwergenspiritus bekannt war.
Tanis senkte sein Schwert; er kam sich wie ein Narr vor. Es war nur ein armer betrunkener Wicht, wahrscheinlich der Stadttyrann, der seinen Körperumfang benutzte, um die Bürger einzuschüchtern. Er sah mit Mitleid und Ekel auf den Mann, dachte dabei jedoch, daß an ihm etwas merkwürdig Vertrautes war. Wahrscheinlich jemand, den er gekannt hatte, als er vor langer Zeit in Solace gelebt hatte, ein armer Kerl, der schlimme Zeiten durchmachte.
Der Halbelf wollte sich gerade umdrehen, als er bemerkte, daß alle im Wirtshaus ihn erwartungsvoll anstarrten.
Was erwarten sie von mir, das ich tun soll? dachte Tanis im plötzlichen Zorn. Ihn angreifen? Ein Held, den sie in mir sehen, der den Stadttrinker zusammenschlägt!
Dann hörte er ein Schluchzen an seinem Ellbogen. »Ich sagte dir, du sollest gehen«, jammerte Tika und sank auf einen Stuhl. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und begann zu weinen, als ob ihr Herz bräche.
Tanis wurde immer verwirrter und sah kurz zu Flußwind, aber der Mann aus den Ebenen tappte offensichtlich genauso im Dunkeln wie sein Freund. Der Betrunkene taumelte unterdessen in den Raum und sah sich zornig um.
»Was ist hier los? Eine Party?« knurrte er. »Und niemand lädt mich ein?«
Niemand antwortete. Sie ignorierten gebannt den schlampigen Mann, ihre Augen immer noch auf Tanis haftend, und jetzt richtete sich sogar die Aufmerksamkeit des Betrunkenen auf den Halbelf. Der Betrunkene, in dem Versuch, seinen Blick auf ihn zu konzentrieren, starrte Tanis in verwirrtem Zorn an, als ob er ihm die Schuld für all seine Schwierigkeiten geben wollte. Dann plötzlich weiteten sich die Augen des Betrunkenen, sein Gesicht teilte sich zu einem närrischen Grinsen, und dann sprang er vorwärts mit ausgestreckten Armen. »Tanis... mein...«
»Im Namen der Götter«, stieß Tanis hervor, als er ihn endlich erkannte.
Der Mann taumelte nach vorne und stolperte über einen Stuhl. Einen Augenblick blieb er schwankend stehen, wie ein Baum, der gefällt wird und bereit zum Umfallen ist. Seine Augen rollten umher. Und dann fiel mit einem Aufschlag, der das Wirtshaus erbeben ließ, Caramon Majere, Held der Lanze, ohnmächtig vor Tanis’ Füße.