Der Turm der Erzmagier in Wayreth war seit Jahrhunderten der letzte Außenposten der Magie auf dem Kontinent Ansalon. Hierher waren die Magier gekommen, als der Königspriester sie aus den anderen Türmen vertrieb. Hierher waren sie gekommen, als sie die Türme in Istar und Palanthas verließen.
Der Turm in Wayreth war ein imposantes Bauwerk. Die Außenmauern bildeten ein gleichseitiges Dreieck. An jedem Winkel des vollkommen geometrischen Baues befand sich ein kleiner Turm. In der Mitte erhoben sich die zwei Haupttürme, leicht geneigt; es reichte, daß der Zuschauer sich fragte: Sind sie nicht krumm?
Die Mauern waren aus schwarzem Stein. Hochglänzend poliert strahlte er hell im Sonnenlicht, in der Nacht warf er das Licht der zwei Monde und die Dunkelheit des dritten Mondes zurück. In den Stein waren Runen gegraben, Runen der Macht und der Stärke, die bewachten und abwehrten. Die Mauern endeten oben glatt und eben. Es gab keine Zinnen, die mit Soldaten bemannt werden konnten. Es bestand keine Notwendigkeit dafür.
Von den Zentren der Zivilisation weit abgelegen, war der Türm von Wayreth von seinem magischen Wald umgeben. Niemand konnte eintreten, der nicht dazugehörte, niemand trat ohne Einladung ein. Und so schützten die Magier ihr letztes Bollwerk der Stärke, bewachten es gut vor der Außenwelt.
Dennoch war der Turm nicht leer. Ehrgeizige studierende Zauberkundige kamen aus der ganzen Welt, um sich den strengen Prüfungen zu unterziehen. Hochangesehene Zauberer erschienen täglich, setzten ihre Studien fort, diskutierten, führten gefährliche Experimente durch. Für sie war der Türm Tag und Nacht geöffnet. Sie konnten kommen und gehen, wie es ihnen beliebte – Schwarze Roben, Rote Roben, Weiße Roben.
Obgleich in ihren Denkweisen höchst verschieden, trafen sich die Zauberer friedlich im Turm. Streitereien wurden toleriert, soweit sie dem Fortschritt der Kunst dienten. Jegliche Art des Kampfes war verboten – die Strafe war ein schneller, schrecklicher Tod.
Die Kunst. Sie war es, die alle verband und vereinte. Ihr galt ihre erste Loyalität – gleichgültig, wer sie waren, wem sie dienten, welche Farbe ihre Roben hatten. Die jungen Zauberkundigen, die gelassen dem Tod gegenübertraten, wenn sie sich mit den Prüfungen einverstanden erklärten, verstanden dies. Die uralten Zauberer, die hierher kamen, um nach ihrem letzten Atemzug innerhalb der vertrauten Mauern begraben zu werden, verstanden dies. Die Kunst war alles. Sie war Leben. Sie war Tod.
Par-Salian dachte über all dieses nach, als er in seinen Gemächern stand und beobachtete, wie Caramon und sein kleines Gefolge auf die Tore zukamen.
Es herrschte Zwielicht, als sie den Hof zwischen den Türmen der Erzmagier betraten. Tolpan sah sich verblüfft um. Vor einigen Augenblicken war es noch Morgen gewesen. Als er hochblickte, konnte er rote Strahlen sehen, die über den Himmel streiften und sich schaurig an den polierten Steinmauern spiegelten.
Tolpan schüttelte den Kopf. »Wie wird hier wohl die Zeit gemessen?« fragte er sich. Der riesige Hof war öde. Mit grauen Steinplatten gepflastert, sah er kalt und lieblos aus. Keine Blumen wuchsen, keine Bäume durchbrachen die ununterbrochene Monotonie des grauen Steins. Und er war leer, bemerkte Tolpan enttäuscht.
Oder war doch jemand da? Tolpan erhaschte aus einem Augenwinkel eine Bewegung, ein weißes Flattern. Als er sich schnell umdrehte, konnte er nur feststellen, daß es verschwunden war. Und dann sah er aus dem anderen Augenwinkel ein Gesicht, eine Hand und einen roten Ärmel. Er sah dorthin – und es war verschwunden! Plötzlich hatte er den Eindruck, daß er von Leuten umgeben war, die kamen und gingen, sich unterhielten oder einfach nur dasaßen und schliefen! Trotzdem – der Hof war immer noch still, immer noch leer.
»Das müssen Magier sein, die die Prüfung machen!« sagte Tolpan ehrfürchtig. »Raistlin hat mir erzählt, daß sie umherreisen, aber so habe ich mir das nicht vorgestellt! Ich frage mich, ob sie mich sehen können. Glaubst du, ich kann einen berühren, Caramon, wenn ich... Caramon?«
Tolpan blinzelte. Caramon war verschwunden! Bupu war verschwunden! Die weißgekleideten Gestalten und Crysania waren verschwunden! Er war allein.
Aber nicht lange. Ein gelbes Licht blitzte auf, ein entsetzlicher Geruch erhob sich, und ein schwarzgekleideter Magier ragte vor ihm auf.
Der Magier streckte eine Hand aus, eine Frauenhand. »Du bist gerufen.«
Tolpan schluckte. Langsam hielt er ihr seine Hand entgegen. Die Finger der Frau schlossen sich um sein Handgelenk. Er zitterte bei ihrer kalten Berührung. »Vielleicht werde ich jetzt verzaubert!« sagte er sich hoffnungsvoll.
Der Hof, die schwarzen Steinmauern, die roten Strahlen des Sonnenlichts, die grauen Steinplatten, alles begann sich um Tolpan aufzulösen. Entzückt spürte der Kender die schwarzen Roben der Frau, die sich um ihn wickelten.
Als er wieder zur Besinnung kam, lag er auf einem harten, kalten Steinboden. Neben ihm schnarchte Bupu selig. Caramon saß aufrecht, schüttelte den Kopf und versuchte, sich von Spinnenweben zu befreien.
»Autsch.« Tolpan rieb sich am Nacken. »Witzige Art der Beherbergung, Caramon«, murrte er und erhob sich. »Man könnte doch denken, daß sie zumindest Betten herbeizaubern. Wenn sie möchten, daß man ein Nickerchen macht, warum sagen sie das nicht einfach, anstatt – oh...«
Als Caramon hörte, daß Tolpans Stimme gurgelnd abbrach, sah er schnell auf.
Sie waren nicht allein.
»Ich kenne diesen Ort«, flüsterte Caramon.
Sie waren in einem riesigen, aus Obsidian gehauenen Saal. Er war so groß, daß sich seine Wände im Schatten verloren, so hoch, daß man keine Decke sah. Es gab ein blasses Licht, obwohl niemand seine Quelle benennen konnte. Es war weiß, kalt und freudlos.
Als Caramon das letzte Mal in diesem Saal gewesen war, hatte das Licht auf einen alten Mann gestrahlt, der in weiße Roben gekleidet war und auf einem riesigen Steinstuhl gesessen hatte. Dieses Mal leuchtete das Licht auf den gleichen alten Mann, aber er war nicht allein. Ein Halbkreis von Steinstühlen war um ihn aufgestellt – genau gesagt, einundzwanzig Stühle. Der weißgekleidete Mann saß in der Mitte. Zu seiner Linken saßen drei nicht zu erkennende Gestalten; ob männlich oder weiblich, menschlich oder nicht, war schwierig zu sagen. Ihre Kapuzen waren tief in ihre Gesichter gezogen. Sie waren in rote Roben gekleidet. Neben ihnen saßen sechs schwarzgekleidete Gestalten. Ein Stuhl war leer. Auf der rechten Seite des alten Mannes saßen vier rotgekleidete Gestalten und daneben sechs weißgekleidete. Crysania lag vor ihnen auf einer Bahre, ihr Körper war mit weißem Leinen bedeckt.
Von der gesamten Versammlung war nur das Gesicht des alten Mannes erkenntlich.
»Guten Abend«, grüßte Tolpan, verbeugte sich und trat zurück, bis er mit Caramon zusammenstieß. »Wer sind diese Leute?« flüsterte der Kender laut. »Und was haben sie in unserem Schlafzimmer zu suchen?«
»Der alte Mann in der Mitte ist Par-Salian«, erklärte Caramon leise. »Und wir sind nicht in einem Schlafzimmer. Das ist die Haupthalle, die Halle der Magier oder so etwas. Du weckst besser die Gossenzwergin.«
»Bupu!« Tolpan stieß die schnarchende Zwergin mit dem Fuß an.
»Gulp-Hungerbrut«, knurrte sie; ihre Augen waren fest geschlossen. »Geh weg. Ich schlafen.«
»Bupu!« Tolpan war verzweifelt; die Augen des alten Mannes schienen durch ihn hindurchzugehen. »Wach auf! Abendessen!«
»Abendessen?« Bupu öffnete die Augen und sprang auf die Beine. Sie sah sich gierig um und erblickte die zwanzig vermummten Gestalten, die stumm dasaßen.
Bupu gab einen Schrei wie ein gequältes Kaninchen von sich. Mit einem Satz warf sie sich auf Caramon und legte ihre Arme um seine Knie. Sich der glitzernden Augen bewußt, die ihn beobachteten, versuchte Caramon, sie abzuschütteln, aber es war unmöglich. Sie hing an ihm wie ein Blutegel, zitterte und starrte die Magier entsetzt an. Schließlich gab Caramon auf.
Das Gesicht des alten Mannes legte sich in Falten, als ob er lächelte. Tolpan sah, wie Caramon unsicher auf seine stinkenden Kleider blickte. Er sah, wie der große Mann seinen unrasierten Unterkiefer befingerte und mit einer Hand über sein wirres Haar fuhr. Vor Unbehagen errötete er. Dann verhärtete sich sein Gesicht. Als er sprach, geschah es mit Würde.
»Par-Salian«, sagte Caramon, und die Worte dröhnten laut in der riesigen, düsteren Halle, »erinnerst du dich an mich?«
»Ich erinnere mich an dich, Krieger«, sagte der Magier. Seine Stimme war leise.
Er sagte nichts weiter. Keiner der anderen Magier sprach. Caramon fühlte sich unwohl. Schließlich zeigte er auf Crysania: »Ich habe sie hierhergebracht in der Hoffnung, daß du ihr helfen kannst. Bist du dazu in der Lage? Wird sie wieder gesund?«
»Ob sie gesund wird oder nicht, liegt nicht in unseren Händen«, antwortete Par-Salian. »Es geht über unsere Fähigkeiten, uns um sie zu kümmern. Um sie vor dem Zauber des toten Ritters zu schützen – ein Zauber, der sicherlich ihren Tod bedeutet hätte —, hörte Paladin ihr letztes Gebet und holte ihre Seele in seine friedlichen Reiche.«
Caramon senkte den Kopf. »Es ist meine Schuld«, sagte er heiser. »Ich habe sie enttäuscht. Ich wäre in der Lage gewesen...«
»Sie zu beschützen?« Par-Salian schüttelte den Kopf. »Nein, Krieger, du hättest sie nicht vor dem Ritter der Schwarzen Rose beschützen können. Bei dem Versuch hättest du dein Leben verloren. Nicht wahr, Kender?«
Tolpan, der plötzlich die blauen Augen des alten Mannes auf sich ruhen fühlte, spürte prickelnde Funken durch seinen Körper jagen. »Ja«, rief er. »Ich sah ihn... es.« Er schauderte.
»Und das sagt jemand, der keine Angst kennt«, fuhr Par-Salian lächelnd fort. »Nein, Krieger, gib dir dafür nicht die Schuld. Und gib die Hoffnung für sie nicht auf. Obgleich wir ihre Seele nicht in ihren Körper zurückbringen können, kennen wir diejenigen, die das vermögen. Aber erzähl mir erst, warum Crysania uns aufsuchen wollte. Denn wir wissen, daß sie den Wald von Wayreth gesucht hat.«
»Ich bin mir dessen nicht sicher«, murmelte Caramon.
»Sie kam wegen Raistlin«, mischte sich Tolpan hilfsbereit ein. Aber seine Stimme klang schrill und mißtönend in der Halle.
Par-Salian runzelte die Stirn. Caramon wandte sich ihm mit finsterem Blick zu. Die mit Kapuzen bedeckten Gesichter der Magier bewegten sich leicht, als ob sie sich ansähen; ihre Roben raschelten. Tolpan schluckte und verfiel in Schweigen.
»Raistlin«, der Name zischte von Par-Salians Lippen. Er starrte Caramon aufmerksam an. »Was hat eine Klerikerin des Guten mit deinem Bruder zu tun? Warum hat sie diese gefährliche Reise um seinetwillen unternommen?«
Caramon schüttelte den Kopf, unwillig oder unfähig zu sprechen.
»Du weißt von seinem Bösen?« fragte Par-Salian ernst weiter.
Caramon weigerte sich dickköpfig zu antworten; sein Blick war starr auf den Steinboden gerichtet.
»Ich weiß...«, begann Tolpan, aber Par-Salian machte eine leichte Handbewegung, und der Kender verstummte.
»Du weißt, daß wir inzwischen annehmen, daß er beabsichtigt, die Welt zu erobern?« fuhr Par-Salian fort. Seine unbarmherzigen Worte trafen Caramon wie Pfeile. Tolpan konnte den großen Mann zusammenzucken sehen. »Zusammen mit deiner Halbschwester Kitiara – oder der Finsteren Herrin, wie sie bei ihren Soldaten bekannt ist – hat Raistlin begonnen, Armeen zu sammeln. Er hat Drachen, fliegende Zitadellen. Und außerdem wissen wir...«
Eine höhnische Stimme ertönte durch die Halle. »Du weißt nichts, Großer. Du bist ein Narr!«
Die Worte fielen wie ein Stein in ein stilles Gewässer, verursachten Bewegung unter den Magiern. Verblüfft drehte sich Tolpan um, suchte nach der Quelle der seltsamen Stimme und sah hinter sich eine Gestalt aus den Schatten auftauchen. Ihre schwarzen Roben raschelten, als sie an ihnen vorbeiging, um Par-Salian gegenüberzutreten. In diesem Moment zog die Gestalt ihre Kapuze herunter.
Tolpan spürte, wie Caramon sich versteifte. »Was ist los?« flüsterte der Kender, der nichts sehen konnte.
»Ein Dunkelelf!« murmelte Caramon.
»Wirklich?« sagte Tolpan, und seine Augen leuchteten auf. »Weißt du, die ganzen Jahre, die ich auf Krynn verbracht habe, habe ich noch nie einen Dunkelelf gesehen.« Der Kender wollte nach vorne gehen, wurde aber am Kragen seiner Tunika festgehalten. Tolpan schrie wütend auf, als Caramon ihn zurückzog, aber weder Par-Salian noch die schwarzgekleidete Gestalt schienen die Unterbrechung zu bemerken.
»Ich denke, du solltest dich erklären, Dalamar«, sagte Par-Salian ruhig. »Warum bin ich ein Narr?«
»Die Welt erobern!« höhnte Dalamar. »Er plant nicht, die Welt zu erobern! Die Welt bedeutet ihm nichts. Er könnte sie morgen haben, heute abend, wenn er sie wollte!«
»Und was will er dann?« Die Frage kam von einem rotgekleideten Magier, der neben Par-Salian saß.
Tolpan sah die zierlichen, grausamen Gesichtszüge des Dunkelelfs sich zu einem Lächeln entspannen, das ihn, den Kender, erschauern ließ.
»Er will ein Gott werden«, antwortete Dalamar sanft. »Er will die Königin der Finsternis herausfordern. Das ist sein Plan.«
Die Magier sagten nichts, sie bewegten sich auch nicht, als sie Dalamar mit glitzernden, ungerührten Augen anstarrten.
Dann seufzte Par-Salian. »Ich glaube, du überschätzt ihn.«
Es gab ein Geräusch, wie wenn ein Stoff entzweigerissen wird. Tolpan sah die Hände des Dunkelelfs, die ruckartig an dem Stoff seiner Roben zogen und ihn aufrissen.
Die Magier beugten sich vor. Tolpan mühte sich, etwas zu sehen, aber Caramons Hand hielt ihn fest. Wütend sah Tolpan zu ihm auf. War er nicht neugierig? Aber Caramon wirkte völlig unbewegt.
»Ihr seht das Zeichen seiner Hand auf meinem Körper«, zischte Dalamar. »Auch jetzt noch ist der Schmerz stärker, als ich ertragen kann.« Der junge Elf hielt inne, dann fügte er mit zusammengebissenen Zähnen hinzu: »Ich soll dir Grüße von ihm ausrichten, Par-Salian!«
Der Magier beugte sich vor. Er wirkte alt, schwach, müde. Kurz saß er mit bedeckten Augen da, dann musterte er Dalamar aufmerksam. »So haben sich unsere schlimmsten Befürchtungen bewahrheitet.« Par-Salians Augen verengten sich fragend. »Er weiß also, daß wir dich geschickt haben...?«
»Um ihn auszuspionieren?« Dalamar lachte bitter. »Ja, er weiß es!« Er zischte: »Er wußte es die ganze Zeit. Er hat mich benutzt – uns alle benutzt —, um seine eigenen Ziele schneller zu erreichen.«
»Das ist für mich alles sehr schwer zu glauben«, bemerkte der rotgekleidete Magier mit milder Stimme. »Wir geben alle zu, daß der junge Raistlin mächtig ist, aber ich finde diesen Versuch, eine Göttin herauszufordern, recht lächerlich... in der Tat recht lächerlich.«
Von beiden Hälften des Halbkreises ertönte beipflichtendes Gemurmel.
»Oh, findest du das?« fragte Dalamar, und in seiner Stimme lag eine tödliche Sanftheit. »Dann laßt mich euch Narren erklären, daß ihr keine Vorstellung von der Bedeutung des Wortes Macht habt. Nicht in bezug auf ihn! Ihr könnt die Tiefen seiner Macht nicht ergründen oder euch zu ihren Höhen emporschwingen. Ich kann es! Ich habe Dinge gesehen, von denen ihr niemals gewagt habt, sie euch vorzustellen! Ich bin durch Traumreiche mit offenen Augen gewandert! Ich habe Schönheit gesehen, die mein Herz erzittern ließ. Ich bin in Alpträume hinabgestiegen – ich habe Entsetzliches erlebt. Und all diese Wunder schuf er, erweckte er mit seiner Magie zum Leben.«
Es war totenstill, niemand bewegte sich.
»Du bist klug genug, ihn zu fürchten, Großer.« Dalamars Stimme sank zu einem Flüstern herab. »Aber egal, wie groß deine Furcht ist, du fürchtest ihn nicht genug. Ihm fehlt die Kraft, diese fürchterliche Schwelle zu überschreiten. Aber diese Kraft wird er bekommen. Während wir sprechen, bereitet er sich auf eine lange Reise vor. Morgen bei meiner Rückkehr wird er aufbrechen.«
Par-Salian hob den Kopf. »Deine Rückkehr?« fragte er schockiert. »Aber er weiß jetzt, wer du bist – ein Spion, von uns geschickt, seinen Kollegen.« Der Blick des großen Magiers glitt zu dem leeren Stuhl bei den Schwarzen Roben, dann erhob er sich. »Nein, Dalamar. Du bist sehr mutig, aber ich kann deine Rückkehr nicht zulassen, die zweifellos zu deinem qualvollen Tod in seinen Händen führen wird.«
»Du kannst mich nicht aufhalten«, sagte Dalamar, und seine Stimme klang völlig gefühllos. »Ich sagte es bereits – ich würde meine Seele geben, um bei einem wie ihm zu studieren. Und jetzt werde ich, auch wenn es mein Leben kostet, bei ihm bleiben. Er erwartet mich zurück. Er hat mir die Verantwortung für den Turm der Erzmagier während seiner Abwesenheit überlassen.«
»Er überläßt ihn dir zum Bewachen?« fragte der rotgekleidete Magier zweifelnd. »Dir, der ihn betrogen hat?«
»Er kennt mich«, sagte Dalamar bitter. »Er weiß, daß er mich umgarnt hat. Er hat in meinen Körper gestochen und meine Seele leergesaugt, aber ich werde in das Netz zurückkehren. Und ich bin auch nicht der erste.« Er deutete auf die weiße Gestalt, die auf der Bahre vor ihm lag. Dann sah er zu Caramon hin. »Nicht wahr, Bruder?« fragte er höhnisch.
Endlich schien Caramon handeln zu wollen. Wütend schüttelte er Bupu von sich, trat einen Schritt vor; der Kender und die Gossenzwergin drängten sich dicht hinter ihm.
»Wer bist du?« herrschte Caramon mit finsterem Blick den Dunkelelfen an. »Was geht hier vor? Über wen redest du?«
Bevor Par-Salian antworten konnte, wandte sich Dalamar dem großen Krieger zu. »Ich werde Dalamar genannt«, sagte er kühl. »Und ich spreche über deinen Zwillingsbruder Raistlin. Er ist mein Meister. Ich bin sein Lehrling. Außerdem bin ich ein Spion, geschickt von dieser erhabenen Gesellschaft, die du vor dir siehst, um über das Treiben deines Bruders zu berichten.«
Caramon antwortete nicht. Seine Augen waren auf die Brust des Dunkelelfs geheftet. Tolpan folgte Caramons Blick und sah fünf verbrannte und blutige Löcher in Dalamars Fleisch. Der Kender schluckte, ihm wurde plötzlich übel.
»Ja, die Hand deines Bruders hat das vollbracht«, bemerkte Dalamar, der Caramons Gedanken erriet. Grimmig lächelnd ergriff er die zerrissenen Ränder seiner schwarzen Roben und zog sie zusammen, um die Wunden zu verbergen. »Es spielt keine Rolle«, murmelte er, »es war nicht mehr, als ich verdiente.«
Caramon drehte sich um. Sein Gesicht war blaß.
Dalamar musterte Caramon verächtlich. »Was ist los?« fragte er. »Hast du ihn nicht für einer solchen Tat fähig gehalten?« Er schüttelte den Kopf. »Nein, du bist wie die anderen. Narren – ihr alle, Narren!«
Die Magier murmelten untereinander, einige Stimmen waren wütend, andere ängstlich, die meisten zweifelnd. Schließlich hob Par-Salian Schweigen gebietend seine Hand. »Dann sag uns, Dalamar, was er plant. Sofern er dir natürlich nicht verboten hat, darüber zu sprechen.« In der Stimme des Magiers lag ein Hauch Ironie, die dem Dunkelelf nicht entging.
»Nein.« Dalamar lächelte grimmig. »Ich kenne seine Pläne. Er fragte mich sogar, ob ich alles verstanden hätte, um sie euch genau berichten zu können.«
Es folgte Gemurmel und spöttisches Schnauben. Aber Par-Salian sah nur noch besorgter drein. »Fahre fort«, sagte er fast ohne Stimme.
Dalamar holte Luft. »Er reist zurück in die Zeit, zu den Tagen vor der Umwälzung, als der große Fistandantilus sich auf der Höhe seiner Macht befand. Es ist die Absicht meines Meisters, diesen großen Magier zu treffen, um mit ihm zu studieren und jene Arbeiten von Fistandantilus zurückzugewinnen, von denen wir wissen, daß sie während der Umwälzung verlorengingen. Denn mein Meister schließt aus dem, was er in den Zauberbüchern gelesen hat, die er aus der Großen Bibliothek in Palanthas nahm, daß Fistandantilus gelernt hatte, wie man die Schwelle überquert, die zwischen Gott und Mensch ist. Darum war der große Zauberer in der Lage, sein Leben nach der Umwälzung zu verlängern, um in den Zwergenkriegen zu kämpfen. Darum war er in der Lage, die schreckliche Explosion zu überleben, die das Land Dergoth verwüstete. Darum war er in der Lage zu leben, bis er einen neuen Unterschlupf für seine Seele fand.«
»Ich verstehe überhaupt nichts! Sagt mir, was hier los ist!« verlangte Caramon, der wütend nach vorne schritt. »Wer ist dieser Fistandantilus? Was hat er mit meinem Bruder zu tun?«
»Pst«, sagte Tolpan, der besorgt zu den Magiern blickte.
»Wir verstehen, Kender«, sagte Par-Salian und lächelte Tolpan freundlich an. »Wir verstehen seinen Zorn und sein Leid. Und er hat recht – wir schulden ihm eine Erklärung.« Der alte Magier seufzte. »Vielleicht war es falsch, was ich getan habe. Und dennoch, hatte ich eine Wahl? Wo wären wir heute, wenn ich nicht die Entscheidung getroffen hätte, die ich traf?«
Tolpan sah, wie Par-Salian sich zu den Magiern wandte, die zu beiden Seiten von ihm saßen, und plötzlich erkannte er, daß Par-Salians Antwort sowohl an sie als auch an Caramon gerichtet war. Viele hatten jetzt ihre Kapuzen zurückgeworfen, und Tolpan konnte ihre Gesichter sehen. Zorn war in den Gesichtern jener, die die schwarzen Roben trugen, Traurigkeit und Angst spiegelten sich in den blassen Gesichtern der Weißen Roben wider. Unter den Roten Roben war es ein Mann, der Tolpans besondere Aufmerksamkeit erregte, hauptsächlich weil sein Gesicht glatt und leidenschaftslos war; aber seine Augen waren dunkel und rege. Es war der Magier, der Raistlins Macht bezweifelt hatte. Es schien Tolpan, daß Par-Salian seine Worte vor allem an diesen Mann richtete.
»Vor mehr als sieben Jahren erschien mir Paladin.« Par-Salians Augen starrten in den Schatten. »Der große Gott warnte mich, daß eine Zeit des Schreckens die Welt überfluten werde. Die Königin der Finsternis hatte die bösen Drachen geweckt und plante, Krieg gegen die Bevölkerung zu führen. ›Du wirst einen aus deinem Orden auswählen, um dieses Böse zu bekämpfen‹, sagte Paladin zu mir. ›Wähle sorgfältig, denn diese Person kann wie ein Schwert sein, das die Dunkelheit spaltet. Du brauchst ihm nicht zu sagen, was die Zukunft bringen wird, denn durch seine Entscheidungen und die Entscheidungen anderer wird eure Welt bestehen oder für immer in ewige Nacht fallen.‹«
Par-Salian wurde von zornigen Stimmen unterbrochen, dieüberwiegend von den Schwarzen Roben kamen. Par-Salian sah zu ihnen hin, seine Augen blitzten. Jetzt zeigte sich die Macht und Autorität, die in diesem schwachen, alten Magier steckte.
»Vielleicht hätte ich diese Angelegenheit vor die Versammlung bringen sollen«, entgegnete Par-Salian mit scharfer Stimme. »Aber ich war damals überzeugt – so wie ich es immer noch bin-, daß es meine alleinige Entscheidung war. Ich wußte nur allzu gut, wieviel Stunden die Versammlung streitend verbringen würde, ich wußte nur allzu gut, daß keiner von euch einverstanden gewesen wäre: Ich traf meine Entscheidung. Will jemand mein Recht, das zu tun, in Frage stellen?«
Tolpan hielt den Atem an, hörte Par-Salians Zorn wie Donner durch die Halle rollen. Die Schwarzen Roben sanken murrend in ihre Steinsitze zurück.
»Ich wählte Raistlin aus«, fuhr Par-Salian fort.
Caramon blickte finster. »Warum?« herrschte er ihn an.
»Ich hatte meine Gründe«, antwortete Par-Salian sanft. »Einige kann ich dir nicht erklären, nicht einmal jetzt. Aber eines kann ich dir sagen – er ist mit der Gabe geboren. Und das ist das Wichtigste. Die Magie wohnt tief in deinem Bruder. Und mit ihr ist Intelligenz verknüpft. Raistlins Geist kommt niemals zur Ruhe. Er sucht Wissen, verlangt Antworten. Und er ist mutig – vielleicht mutiger als du, Krieger. Er hat mehr als einmal dem Tod gegenübergestanden und ihn besiegt. Er fürchtet nichts – weder die Dunkelheit noch das Licht. Und seine Seele...« Par-Salian schwieg. »Seine Seele brennt vor Ehrgeiz, dem Wunsch nach Macht, dem Wunsch nach mehr Wissen. Ich wußte, daß nichts, nicht einmal die Angst vor dem Tod, ihn hindern würde, seine Ziele zu verwirklichen. Und ich wußte, daß die Ziele, die er anstrebte, der Welt zum Vorteil sein würden, selbst wenn er sich entscheiden würde, sich von ihr abzuwenden.« Par-Salian hielt inne. Als er wieder sprach, war es mit Kummer. »Aber zuerst mußte er sich den Prüfungen unterziehen.«
»Du hättest das Ergebnis voraussehen müssen«, sagte der rotgekleidete Magier, immer noch im gleichen milden Ton. »Wir alle wußten, daß er seine Zeit abwartete...«
»Ich hatte keine Wahl!« rief Par-Salian, und seine blauen Augen blitzten auf. »Unsere Zeit lief ab. Die Zeit der Welt lief ab. Der junge Mann mußte die Prüfung machen und umsetzen, was er gelernt hatte. Ich konnte es nicht länger hinausschieben.«
Caramon starrte von einem zum anderen. »Du wußtest, daß Raistlin sich in einer gewissen Gefahr befand, als du ihn hierher brachtest?«
»Es besteht immer Gefahr«, antwortete Par-Salian. »Die Prüfung ist so angelegt, daß jene, die sich, dem Orden und den Unschuldigen auf der Welt Schaden zufügen können, ausgesiebt werden. Erinnere dich, daß die Prüfung auch darauf angelegt ist zu lehren. Wir hofften, deinen Bruder Mitgefühl zu lehren, um seinen selbstsüchtigen Ehrgeiz zu mäßigen; wir hofften, ihn Gnade, Mitleid zu lehren. Und es war vielleicht in meinem Eifer, ihn zu lehren, daß mir ein Fehler unterlief. Ich vergaß Fistandantilus.«
»Fistandantilus?« wiederholte Caramon verwirrt. »Was heißt das – ihn vergessen? Nach dem, was du vorher gesagt hast, ist der alte Magier tot.«
»Tot? Nein.« Par-Salians Gesicht verdunkelte sich. »Die Explosion, die in den Zwergenkriegen Tausende tötete und ein Land in Schutt und Asche legte, das immer noch verwüstet und kahl ist, hat Fistandantilus nicht getötet. Seine Magie war mächtig genug, selbst den Tod zu besiegen. Er betrat eine andere Existenzebene, eine Ebene, die zwar weit entfernt von dieser, aber nicht zu entfernt war. Ständig wachte er, wartete auf seine Zeit, auf der Suche nach einem Körper, der seine Seele aufnehmen würde. Und er fand diesen Körper – den deines Bruders.«
Caramon hörte in angespanntem Schweigen zu, sein Gesicht war leichenblaß. Aus den Augenwinkeln sah Tolpan, wie Bupu zurückwich. Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest, hielt die verängstigte Gossenzwergin ab, sich umzudrehen und spornstreichs aus der Halle zu fliehen.
»Wer weiß, welchen Handel die beiden während der Prüfung abschlossen? Wahrscheinlich keiner von uns.« Par-Salian lächelte schwach. »Aber das weiß ich: Raistlin tat sich hervor. Dennoch ließ ihn seine zarte Gesundheit im Stich. Vielleicht hätte er die letzte Prüfung nicht überleben können – die Konfrontation mit dem Dunkelelfen —, wenn Fistandantilus ihm nicht geholfen hätte.«
»Ihm geholfen? Sein Leben gerettet?«
Par-Salian zuckte die Schultern. »Wir wissen nur dieses, Krieger – es war niemand von uns, der deinen Bruder mit dieser goldgetönten Haut zurückließ. Der Dunkelelf warf eine Feuerkugel auf ihn, und Raistlin überlebte. Unmöglich, natürlich...«
»Nicht für Fistandantilus«, unterbrach der rotgekleidete Magier.
»Nein«, stimmte Par-Salian traurig zu, »nicht für Fistandantilus. Ich wunderte mich damals, aber ich kam nicht dazu, Nachforschungen anzustellen. Die Ereignisse in der Welt spitzten sich gefährlich zu. Dein Bruder war nach der Prüfung er selbst. Zerbrechlicher, natürlich, aber das war ja zu erwarten. Und er war stark in seiner Magie! Wer sonst hätte ohne jahrelanges Studium Macht über eine Kugel der Drachen erlangen können?«
»Ja«, sagte der rotgekleidete Magier, »er bekam Hilfe von einem, der sie jahrelang studiert hatte.«
Par-Salian runzelte die Stirn und antwortete nicht.
»Laßt mich das richtig zusammenfassen«, sagte Caramon und funkelte den weißgekleideten Magier finster an. »Dieser Fistandantilus... hat Raistlins Seele genommen. Er ließ Raistlin die Schwarzen Roben anziehen.«
»Dein Bruder traf seine eigene Entscheidung«, entgegnete Par-Salian scharf. »So wie wir alle.«
»Das glaube ich nicht!« schrie Caramon. »Raistlin hat diese Entscheidung nicht getroffen. Ihr lügt, alle! Ihr habt meinen Bruder gequält, und dann hat einer von euch alten Zauberern beansprucht, was von seinem Körper übrigblieb!«
Tolpan sah Par-Salian den Krieger grimmig mustern, und der Kender krümmte sich, wartete auf den Zauberspruch, der Caramon vernichtete. Aber er kam niemals. Man hörte nur Caramons stoßweises Atmen.
»Ich hole ihn zurück«, sagte dieser schließlich; Tränen schimmerten in seinen Augen. »Wenn er zurück in die Zeit reisen kann, um diesen alten Zauberer zu treffen, kann ich es auch. Und wenn ich diesen Fistandantilus finde, töte ich ihn. Dann wird Raistlin...« Er unterdrückte ein Schluchzen, kämpfte um Beherrschung. »Er wird wieder Raistlin sein. Und er wird diesen ganzen Quatsch vergessen, die Königin der Finsternis herauszufordern und ein Gott zu werden.«
Der Halbkreis wurde zum Chaos. Stimmen erhoben sich, tobten vor Zorn. »Unmöglich! Er will die Geschichte verändern! Du bist zu weit gegangen, Par-Salian...«
Der weißgekleidete Magier erhob sich und wandte sich um, starrte jeden Magier im Halbkreis einzeln an, seine Augen gingen zu jedem persönlich. Tolpan konnte die sprachlose Unterredung spüren.
Caramon wischte mit einer Hand über seine Augen und starrte die Magier trotzig an. Langsam sanken sie alle auf ihre Sitze zurück. Aber Tolpan sah geballte Fäuste, er sah Gesichter, die nicht überzeugt waren, zornerfüllte Gesichter. Der rotgekleidete Magier starrte Par-Salian forschend an. Dieser warf der Versammlung einen letzten schnellen Blick zu, bevor er sich wieder Caramon zuwandte.
»Wir werden dein Angebot in Erwägung ziehen«, sagte Par-Salian. »Es könnte funktionieren. Gewiß ist es nicht das, was er erwarten würde...«
Dalamar brach in Gelächter aus.