»Caramon! Steh auf! Wach auf!«
Nein. Ich bin in meinem Grab. Hier unter der Erde ist es warm, warm und sicher. Du kannst mich nicht wecken, du kannst mich nicht erreichen. Ich bin in der feuchten Erde verborgen, du kannst mich nicht finden.
»Caramon, du mußt das unbedingt sehen! Wach auf!«
Eine Hand schob die Dunkelheit beiseite, zog an ihm.
Nein, Tika, verschwinde! Du hast mich einmal ins Leben zurückgeholt, zurück zu Schmerz und Leid. Du hättest mich in dem süßen Reich der Dunkelheit unter dem Blutmeer von Istar zurücklassen sollen. Aber jetzt habe ich endlich Frieden gefunden. Ich habe mein Grab geschaufelt und mich selbst eingegraben.
»He, Caramon, du wirst jetzt besser wach und siehst dir das an!«
Diese Worte! Sie waren vertraut. Natürlich, ich sagte sie! Ich sagte sie zu Raistlin vor langer Zeit, als er und ich zum ersten Mal in diesen Wald kamen. Wie kann ich sie dann jetzt hören? Ich bin Raistlin... Ach ja, das ist...
Da war eine Hand an seinem Augenlid! Zwei Finger schoben es zurück. Bei der Berührung lief Angst prickelnd durch Caramons Blut, ließ sein Herz mit einem Ruck schlagen.
Caramon brüllte auf, versuchte, in die Erde zu kriechen, als das gezwungenermaßen geöffnete Auge ein riesiges Gesicht über sich schweben sah – das Gesicht eines Gossenzwergs!
»Er wach«, meldete Bupu. »Hier«, sagte sie zu Tolpan, »halte das Auge fest. Ich öffnen anderes.«
»Nein!« schrie Tolpan hastig. Er zog Bupu von Caramon fort und schob sie hinter sich. »Hol etwas Wasser.«
»Gute Idee«, bemerkte Bupu und zog von dannen.
»Es – es ist alles in Ordnung, Caramon«, sagte Tolpan, kniete sich neben den großen Mann und tätschelte ihn beruhigend. »Es war nur Bupu. Es tut mir leid, aber ich sah zur... nun ja, du wirst verstehen... und ich vergaß, auf sie aufzupassen.«
Caramon bedeckte stöhnend sein Gesicht mit der Hand. Mit Tolpans Hilfe mühte er sich, sich aufzusetzen. »Ich habe geträumt, daß ich tot bin«, sagte er mit schwerer Stimme. »Dann sah ich das Gesicht – ich wußte, alles ist vorbei. Ich war in der Hölle.«
»Du könntest dir wünschen, dort zu sein«, sagte Tolpan melancholisch.
Caramon sah bei dem für den Kender ungewöhnlich ernsten Ton auf. »Warum? Wie meinst du das?« fragte er barsch.
Anstatt zu antworten, fragte Tolpan: »Wie geht es dir?«
Caramon knurrte. »Ich bin nüchtern, wenn du das wissen willst«, murmelte er. »Und ich wünschte bei den Göttern, ich wäre es nicht. So sieht es aus.«
Tolpan musterte ihn nachdenklich, dann griff er langsam in einen Beutel und holte eine kleine Flasche hervor. »Hier, Caramon«, sagte er gelassen, »wenn du wirklich glaubst, daß du es nötig hast.«
Die Augen des großen Mannes funkelten. Gierig streckte er eine zitternde Hand aus und ergriff die Flasche. Er öffnete den Korken, schnüffelte an der Öffnung, lächelte und hob sie an die Lippen. »Hör auf, mich so anzustarren!« befahl er Tolpan mürrisch.
»Es tut mir leid.« Tolpan lief rot an. Er erhob sich. »Ich werde nach Crysania sehen...«
»Crysania...« Caramon senkte die Flasche, ohne getrunken zu haben. Er rieb seine verklebten Augen. »Ach ja, ich habe sie vergessen. Gute Idee, daß du nach ihr siehst. Verschwinde von hier, du und deine vom Ungeziefer heimgesuchte Gossenzwergin! Verschwindet und laßt mich in Ruhe!« Er hob wieder die Flasche an die Lippen und nahm einen großen Schluck. Er hustete, senkte die Flasche und wischte den Mund mit dem Handrücken ab. »Geht schon«, wiederholte er und starrte Tolpan benommen an, »verschwindet von hier! Alle! Laßt mich in Ruhe!«
»Es tut mir leid, Caramon«, antwortete Tolpan gelassen. »Ich wünschte wirklich, wir könnten. Aber es geht nicht.«
»Warum?« fauchte Caramon.
Tolpan holte tief Luft. »Wenn ich mich an Raistlins Geschichten richtig erinnere, dann hat uns, vermute ich, der Wald von Wayreth gefunden.«
Caramon starrte Tolpan mit aufgerissenen, blutunterlaufenen Augen an. »Das ist unmöglich«, sagte er dann; seine Worte waren nicht lauter als ein Flüstern. »Wir sind Meilen von ihm entfernt! Ich – Raistlin und ich, wir brauchten Monate, um den Wald zu finden! Und der Turm ist weit südlich von hier! Er liegt weit hinter Qualinesti, nach deiner Karte.« Caramon musterte Tolpan haßerfüllt. »Das ist doch nicht die gleiche Karte, die Tarsis am Meer zeigt, oder?«
»Es könnte sein«, wich Tolpan vorsichtig aus, rollte hastig die Karte auf und versteckte sie hinter seinem Rücken. »Ich habe so viele...« Er wechselte schnell das Thema. »Aber Raistlin hat gesagt, es sei ein Zauberwald, darum folgere ich, daß er uns hätte finden können, wenn er uns wohlgesinnt ist.«
»Es ist ein Zauberwald«, murmelte Caramon; seine Stimme war tief und bebte. »Es ist ein entsetzlicher Ort.« Er schloß die Augen und schüttelte den Kopf, dann plötzlich sah er auf, sein Gesicht hatte einen schlauen Ausdruck angenommen. »Das ist ein Trick, nicht wahr? Ein Trick, um mich vom Trinken abzuhalten! Nun, das funktioniert nicht...«
»Es ist kein Trick, Caramon.« Tolpan seufzte. »Sieh dort drüben. Es ist genauso, wie Raistlin es mir einmal beschrieben hat.«
Caramon wandte den Kopf und erschrak, sowohl über den Anblick als auch über die bitteren Erinnerungen an seinen Bruder, die damit verbunden waren.
Die Stelle, wo sie übernachtet hatten, war eine kleine, mit Gras bedeckte Lichtung, die etwas entfernt vom Hauptweg lag. Sie war von Ahornbäumen, Pinien, Walnußbäumen und sogar einigen Espen umgeben. Die Bäume waren gerade am Knospen. Caramon hatte sie gesehen, als er Crysanias Grab geschaufelt hatte. Die Zweige glänzten im Sonnenlicht des frühen Morgens in einem gelbgrünen Frühlingsschimmer. Wildblumen erblühten an ihren Wurzeln, die frühen Blumen des Frühlings – Krokusse und Veilchen.
Als Caramon sich jetzt umschaute, sah er, daß sie immer noch von den gleichen Bäumen umgeben waren – an drei Seiten. Aber an der vierten Seite, nach Süden hin, hatten sich die Bäume verändert.
Diese überwiegend toten Bäume standen nebeneinander, gleichmäßig aufgereiht, Reihe um Reihe. Hier und dort, wenn man tiefer in den Wald sah, konnte man einen lebenden Baum erkennen, der wie ein Offizier die stummen Reihen seiner Soldaten beobachtete. Keine Sonne schien in diesem Wald. Ein dicker, verderblicher Nebel schwebte über den Bäumen, verdunkelte das Licht. Die Bäume selbst waren entsetzlich anzusehen, verzerrt und verunstaltet; ihre Äste waren wie riesige Klauen, die am Boden schleiften. Ihre Zweige bewegten sich nicht, kein Wind regte ihre toten Blätter. Caramon und Tolpan beobachteten, wie Schatten zwischen den Baumstämmen huschten und im dornigen Gebüsch herumschlichen.
»Jetzt sieh dir das an«, sagte Tolpan. Caramons warnenden Ruf ignorierend, lief der Kender direkt auf den Wald zu. Dabei teilten sich die Bäume! Ein Weg öffnete sich, der direkt in das dunkle Herz des Waldes führte. »Das darf doch nicht wahr sein!« schrie Tolpan verwundert auf und hielt an, bevor er einen Fuß auf den Pfad setzte. »Und wenn ich zurückgehe...«
Er entfernte sich von den Bäumen, und die Baumstämme glitten wieder zurück, schlossen die Reihe und stellten eine feste Schranke dar.
»Du hast recht«, sagte Caramon heiser. »Das ist der Wald von Wayreth. So erschien er uns auch eines Morgens.« Er senkte den Kopf. »Ich wollte nicht hineingehen. Ich versuchte Raistlin aufzuhalten. Aber er hatte keine Angst! Die Bäume teilten sich für ihn, und er trat ein. ›Bleib bei mir, mein Bruder‹, sagte er zu mir, ›ich werde dich vor Gefahren beschützen.‹ Wie oft hatte ich diese Worte zu ihm gesagt! Er hatte keine Angst! Ich hatte keine Angst!«
Plötzlich stand Caramon auf. »Laßt uns von hier verschwinden!« Mit zitternden Händen ergriff er seine Bettrolle und schüttete dabei den ganzen Inhalt der Flasche über die Decke.
»Nicht gut«, sagte Tolpan kurz und treffend. »Ich habe es versucht. Paß auf!«
Er wandte den Bäumen den Rücken zu und ging in nördlicher Richtung. Die Bäume rührten sich nicht. Aber unerklärlicherweise ging Tolpan wieder auf den Wald zu. Er konnte alles Mögliche versuchen, sich drehen, wie er wollte; es endete damit, daß er auf die nebelumhüllten, alptraumhaften Reihen der Bäume zuging.
Seufzend ging Tolpan zu Caramon hinüber. Der Kender sah eindringlich zu den tränenverschmierten, rotumränderten Augen des großen Mannes auf, streckte seine kleine Hand aus und ließ sie auf dem einst starken Arm des Kriegers ruhen. »Caramon, du bist der einzige, der hier schon durchgegangen ist! Du kennst als einziger den Weg. Und da ist noch etwas.« Er deutete in eine bestimmte Richtung. Caramon wandte den Kopf. »Du hast nach Crysania gefragt. Sie ist dort. Sie lebt, aber gleichzeitig ist sie auch tot. Ihre Haut ist wie Eis. Ihre Augen sind zu einem schrecklichen Blick erstarrt. Sie atmet, ihr Herz schlägt, aber man könnte genauso gut dieses Würzzeug durch ihren Körper pumpen, das die Elfen zum Konservieren ihrer Toten verwenden!« Er holte zitternd Luft. »Wir müssen Hilfe für sie holen, Caramon. Vielleicht«, Tolpan zeigte in den Wald, »können die Magier ihr helfen! Ich kann sie nicht tragen.« Er hob hilflos die Hände. »Ich brauche dich, Caramon. Sie braucht dich! Ich denke, du schuldest ihr deine Hilfe.«
»Weil es meine Schuld ist, daß sie verletzt ist?« murmelte Caramon heftig.
»Nein, so meinte ich das nicht«, beschwichtigte Tolpan, ließ den Kopf hängen und fuhr sich über die Augen. »Ich glaube, niemand hat Schuld.«
»Nein, es ist meine Schuld«, sagte Caramon.
Tolpan sah zu ihm auf; er hörte in Caramons Stimme einen Ton, den er seit langer, langer Zeit nicht mehr gehört hatte.
Der große Mann stand da und starrte auf die Flasche in seinen Händen. »Es ist an der Zeit, mich dem zu stellen. Ich habe anderen die Schuld gegeben – Raistlin, Tika... Aber die ganze Zeit wußte ich, daß ich es bin. Es ist mir in diesem Traum klar geworden. Ich lag in einem Grab, und ich erkannte, das ist der Grund! Ich kann nicht tiefer gehen. Entweder bleibe ich hier und lasse Erde auf mich werfen – so wie ich Crysania begraben wollte —, oder ich klettere heraus.« Er seufzte, ein langes, zitterndes Seufzen. Dann, in plötzlicher Entschlossenheit, steckte er den Korken in die Flasche und reichte sie Tolpan. »Hier«, sagte er leise. »Es wird ein langes Klettern werden, und ich werde Hilfe brauchen, vermute ich. Aber nicht diese Art von Hilfe.«
»O Caramon!« Tolpan warf, so weit er konnte, seine Arme um den großen Mann und drückte ihn an sich. »Ich hatte keine Angst vor diesem gespenstischen Wald, nicht richtig. Aber ich habe mich gefragt, wie ich da allein durchkommen soll. Ganz zu schweigen von Crysania und – O Caramon! Ich bin so froh, daß du wieder da bist! Ich...«
»Nun, nun«, murmelte Caramon, errötete vor Verlegenheit und schob Tolpan sanft von sich. »Es ist alles in Ordnung. Ich werde bestimmt keine große Hilfe sein – als ich das erste Mal diesen Wald betrat, war ich zu Tode verängstigt. Aber du hast recht. Vielleicht können sie Crysania helfen.« Sein Gesicht verhärtete sich. »Vielleicht können sie mir auch ein paar Fragen über Raistlin beantworten. Nun, wo ist diese Gossenzwergin? Und«, er sah auf seinen Gürtel, »wo ist mein Dolch?«
»Welcher Dolch?« fragte Tolpan, der auf den Wald schauend herumhüpfte.
Caramon griff mit grimmigem Gesicht nach dem Kender und hielt ihn fest. Sein Blick wanderte zu Tolpans Gürtel.
Tolpan folgte seinem Blick. Ganz erstaunt riß er die Augen auf. »Du meinst diesen Dolch? Meine Güte, ich frage mich, wie er dahin kommt! Weißt du«, sagte er nachdenklich, »ich wette, du hast ihn während des Kampfes fallen lassen.«
»Ja«, murmelte Caramon. Knurrend holte er sich seinen Dolch zurück und steckte ihn in die Scheide zurück, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Er drehte sich um und bekam einen Eimer eiskalten Wassers direkt ins Gesicht.
»Er nun wach«, verkündete Bupu selbstzufrieden und ließ den Eimer fallen.
Während Caramon seine Kleider trocknete, saß er da und studierte die Bäume; sein Gesicht war vom Schmerz der Erinnerungen angespannt. Schließlich seufzte er auf, zog sich an, überprüfte seine Waffen und erhob sich.
Unverzüglich war Tolpan direkt an seiner Seite. »Laß uns gehen!« sagte er eifrig.
Caramon stockte. »In den Wald?« fragte er mit hoffnungsloser Stimme.
»Natürlich!« sagte Tolpan bestürzt. »Wohin sonst?«
Caramon blickte finster, dann seufzte er und schüttelte den Kopf. »Nein, Tolpan«, sagte er schroff. »Du bleibst hier bei Crysania. Sieh mal«, antwortete er auf das entrüstete Protestgeschrei des Kenders, »ich gehe nur ein wenig in den Wald – um, äh, mich darin umzusehen.«
»Du glaubst, da ist irgend etwas«, beschuldigte Tolpan den großen Mann. »Darum willst du, daß ich fern bleibe! Du gehst da hinein, und dann gibt es einen großen Kampf. Du wirst es wahrscheinlich töten, und ich verpasse die ganze Sache!«
»Das bezweifle ich«, murmelte Caramon. Besorgt sah er auf den nebelverhüllten Wald und schnallte seinen Schwertgurt enger.
»Zumindest könntest du mir sagen, was es deiner Meinung nach sein könnte«, sagte Tolpan. »Und was soll ich tun, wenn es dich tötet? Kann ich dann kommen? Wie lange soll ich warten? Könnte es dich in – sagen wir mal – fünf Minuten töten? In zehn? Nicht daß ich denke, es wird es schaffen«, fügte er hastig hinzu, als er Caramons weitaufgerissene Augen sah. »Aber ich sollte es wirklich wissen. Ich meine, da du mir hier die Leitung überläßt.«
Bupu musterte den schlampigen Krieger abwägend. »Ich sagen – zwei Minuten. Es töten ihn in zwei Minuten. Machst du Wette?« Sie sah Tolpan an.
Caramon funkelte beide wütend an, dann stieß er einen weiteren Seufzer aus. »Ich bin mir nicht sicher, was mich erwartet«, murmelte er. »Ich... ich erinnere mich an das letzte Mal, da... da trafen wir dieses Ding... eine Geistererscheinung. Es – Raist...« Er verstummte. »Ich weiß nicht, was du tun sollst«, sagte er dann. Mit hängenden Schultern wandte er sich ab und begann in den Wald zu gehen. »Das Bestmögliche, denke ich.«
»Ich haben nette Schlange hier, ich sagen, er schaffen zwei Minuten«, sagte Bupu zu Tolpan, während sie in ihrer Tasche wühlte. »Welchen Einsatz bringen du?«
»Pst«, sagte Tolpan leise, der Caramon beobachtete. Dann schüttelte er den Kopf, lief zu Crysania und setzte sich zu ihr. Sie lag auf dem Boden, ihre blinden Augen starrten in den Himmel. Sanft zog Tolpan die weiße Kapuze der Klerikerin über ihren Kopf, um die Sonnenstrahlen von ihr fernzuhalten. Er versuchte diese starrenden Augen zu schließen, aber es schien, als ob sich ihr Fleisch in Marmor verwandelt hätte.
Raistlin schien neben Caramon in den Wald zu laufen. Der Krieger konnte fast das Rascheln der roten Roben seines Bruders hören – damals waren sie rot gewesen! Er konnte die Stimme seines Bruders hören – immer leise, immer sanft, aber mit diesem leicht sarkastischen Zischen, das seinen Freunden so weh getan hatte. Aber es hatte Caramon niemals gestört. Er hatte es verstanden – zumindest hatte er es zu verstehen geglaubt.
Die Bäume im Wald bewegten sich bei Caramons Nahen, so wie sie sich beim Nahen des Kenders bewegt hatten.
Genauso haben sie sich bewegt, als wir uns genähert haben – wie viele Jahre ist es jetzt her? dachte Caramon. Sieben? Sind es wirklich erst sieben Jahre? Nein, erkannte er traurig. Es ist eine ganze Lebensspanne gewesen, eine ganze Lebensspanne für uns beide.
Als Caramon zum Waldrand kam, schwebte der Nebel am Boden, kühlte seine Knöchel mit einer Kälte, die durch das Fleisch ging und in die Knochen biß. Die Bäume starrten ihn an, ihre Zweige krümmten sich im Schmerzenskrampf. Er erinnerte sich an die gequälten Bäume in Silvanesti, und das führte ihn zu weiteren Erinnerungen an seinen Bruder. Er stand einen Augenblick still da und sah in den Wald. Er konnte dunkle und schattenhafte Gestalten auf ihn warten sehen. Und es war kein Raistlin da, um sie in Schach zu halten. Dieses Mal nicht.
»Ich hatte vor nichts Angst, bis ich den Wald von Wayreth betreten habe«, sagte Caramon leise zu sich. »Ich bin das letzte Mal nur hineingegangen, weil du bei mir warst, mein Bruder. Dein Mut allein hat mich am Laufen gehalten. Wie soll ich jetzt ohne dich hineingehen? Ich kann gegen sie nicht kämpfen! Welche Hoffnung liegt hier?« Caramon legte die Hände über die Augen, um den entsetzlichen Anblick auszulöschen. »Ich kann hier nicht hineingehen«, sagte er niedergeschlagen. »Es ist zu viel von mir verlangt!«
Er zog sein Schwert aus der Scheide und streckte es aus. Seine Hand zitterte so heftig, daß er die Waffe fast fallen ließ. »Siehst du?« sagte er verbittert. »Ich könnte nicht einmal gegen ein Kind kämpfen. Es ist zu viel von mir verlangt. Keine Hoffnung. Es gibt keine Hoffnung...«
»Es ist leicht, im Frühling Hoffnung zu haben, Krieger, wenn das Wetter warm ist und die Vallenholzbäume grün sind. Es ist leicht, im Sommer Hoffnung zu haben, wenn die Vallenholzbäume golden glitzern. Es ist leicht, im Herbst Hoffnung zu haben, wenn die Vallenholzbäume rot wie lebendes Blut sind. Aber im Winter, wenn die Luft scharf und bitter ist und der Himmel grau, stirbt dann der Vallenholzbaum, Krieger?«
»Wer hat gesprochen?« schrie Caramon, starrte wild um sich und umklammerte sein Schwert mit zitternder Hand.
»Was macht der Vallenholzbaum im Winter, Krieger, wenn alles dunkel ist und selbst der Boden zugefroren? Er gräbt tief, Krieger. Er schickt seine Wurzeln hinab, hinab in die Erde, hinab zum warmen Herzen der Welt. Dort tief unten findet der Vallenholzbaum Nahrung, um die Dunkelheit und die Kälte zu überleben, so daß er im Frühling wieder erblühen kann.«
»So?« fragte Caramon argwöhnisch, trat einen Schritt zurück und sah sich um.
»So stehst du im dunkelsten Winter deines Lebens, Krieger. Und darum mußt du tief graben, um die Wärme und Stärke zu finden, die dir helfen wird, die bittere Kälte und die entsetzliche Dunkelheit zu überleben. Nicht länger hast du die Blüte des Frühlings oder die Lebenskraft des Sommers. Du mußt die Stärke, die du brauchst, in deinem Herzen finden, in deiner Seele. Dann wirst du, wie die Vallenholzbäume, wieder wachsen.«
»Deine Worte sind angenehm...«, begann Caramon mit finsterem Blick, diesem Gespräch über Frühling und Bäume mißtrauend. Aber er konnte den Satz nicht beenden, es verschlug ihm die Sprache.
Der Wald veränderte sich vor seinen Augen.
Die verzerrten, sich windenden Bäume glätteten sich vor seinem Blick, hoben ihre Äste gen Himmel, wuchsen, wuchsen und wuchsen. Er neigte den Kopf so weit zurück, daß er fast das Gleichgewicht verlor, aber er konnte immer noch nicht ihre Kronen sehen. Es waren Vallenholzbäume! So wie jene in Solace vor der Ankunft der Drachen. Während er sie ehrfürchtig beobachtete, sah er tote Äste zum Leben erwachen – grüne Knospen sprossen, platzten auf, erblühten zu grünen Blättern, die der Sommer golden färbte – die Jahreszeiten wechselten, während er zitternd Luft holte.
Der schädliche Nebel verschwand, an seine Stelle trat süßer Duft, der von wunderschönen, an den Wurzeln der Vallenholzbäume stehenden Blumen kam. Die Dunkelheit im Wald löste sich auf, die Sonne warf ihre hellen Strahlen auf die sich wiegenden Bäume. Und als das Sonnenlicht die Blätter der Bäume berührte, erfüllte der Gesang von Vögeln die duftende Luft.
Caramons Augen füllten sich mit Tränen. Die Schönheit ringsum drang in sein Herz. Da war Hoffnung! Im Wald würde er alle Antworten finden, die Hilfe, die er suchte.
»Caramon!« Tolpan sprang vor Aufregung auf und ab. »Caramon, das ist ja wunderbar! Hörst du die Vögel? Laß uns gehen! Schnell.«
»Crysania...«, sagte Caramon und drehte sich um. »Wir müssen eine Trage bauen. Du mußt helfen...« Bevor er den Satz beenden konnte, verstummte er, starrte erstaunt auf zwei weißgekleidete Gestalten, die aus den goldenen Bäumen glitten. Ihre weißen Kapuzen waren tief über ihre Köpfe gezogen, so daß er ihre Gesichter nicht sehen konnte. Beide verneigten sich feierlich vor ihm, dann gingen sie zur Lichtung, wo Crysania in ihrem todesgleichen Schlaf lag. Mühelos hoben sie ihren reglosen Körper auf and trugen ihn sanft dorthin, wo Caramon stand. Als sie zum Rand des Waldes gelangten, blieben sie stehen, wandten ihre verhüllten Köpfe zu ihm und sahen ihn erwartungsvoll an.
»Ich glaube, sie warten darauf, daß du als erster gehst, Caramon«, sagte Tolpan fröhlich. »Du gehst voran, ich hole Bupu.«
Die Gossenzwergin blieb mitten in der Lichtung stehen und musterte den Wald mit tiefem Argwohn, den Caramon, der die weißgekleideten Gestalten beobachtete, plötzlich teilte. »Wer seid ihr?« fragte er.
Sie gaben keine Antwort. Sie standen einfach da und warteten.
»Wen kümmert es, wer sie sind!« sagte Tolpan, griff ungeduldig nach Bupu und zog sie mit sich; ihr Sack schlug gegen ihre Fersen.
Caramon knurrte. »Ihr geht zuerst.« Er zeigte auf die weißgekleideten Gestalten.
Sie sagten nichts, bewegten sich aber auch nicht.
»Warum wartet ihr darauf, daß ich den Wald betrete?« Caramon trat einen Schritt zurück. »Geht voraus, bringt sie zum Turm. Ihr könnt ihr helfen. Ihr braucht mich nicht...«
Die Gestalten sagten nichts, aber eine hob die Hand.
»Caramon«, drängte Tolpan, »es sieht aus, als ob sie uns einlädt!«
Sie werden uns nichts antun, Bruder... Wir sind eingeladen! Raistlins Worte, die er sieben Jahre zuvor gesprochen hatte.
»Magier haben uns eingeladen. Ich traue ihnen nicht.« Caramon wiederholte leise die Antwort, die er damals auch gegeben hatte.
Plötzlich war die Luft von Gelächter erfüllt, einem seltsamen, schaurigen Gelächter. Bupu warf die Arme um Caramon, klammerte sich entsetzt an ihn. Selbst Tolpan schien ein wenig aus der Fassung gebracht zu sein. Und dann kam die Stimme, so wie Caramon sie sieben Jahre zuvor gehört hatte: »Meinst du mich auch damit, teurer Bruder?«