Margaret Weis Tracy Hickman Die Brüder

Das Treffen

Eine einsame Gestalt näherte sich leise dem entfernten Licht. Man hörte sie nicht, ihr Schritt wurde in der sie umgebenden unermeßlichen Dunkelheit verschlungen. Bertrem gönnte sich einen seltenen Augenblick des Genusses, als er auf die Reihen von Büchern und Schriftrollen blickte, die einen Teil der »Chroniken von Astinus« bildeten, in denen die Geschichte dieser Welt, die Geschichte Krynns, ausführlich geschildert wurde.

Es ist, als ob man von der Zeit verschlungen wird, dachte er seufzend, während er die friedlichen, stummen Reihen betrachtete. Er wünschte kurz, daß er irgendwo andershin verschlungen würde, um sich nicht der schwierigen Aufgabe, die vor ihm lag, stellen zu müssen.

»Das ganze Wissen über diese Welt ist in diesen Büchern enthalten«, sagte er sich nachdenklich. »Aber ich habe bisher noch kein Mittel gefunden, das mir das Eindringen bei ihrem Autor erleichtern würde.«

Bertrem blieb vor der Tür stehen und sammelte seinen Mut. Die fließenden Roben des Ästheten legten sich von selbst um ihn, fielen in korrekten und ordentlichen Falten. Sein Magen jedoch weigerte sich, dem Beispiel der Roben zu folgen, und schlingerte heftig umher. Bertrem fuhr mit einer Hand über seinen Schädel, eine nervöse Geste aus jüngeren Jahren, bevor seine Haare dem erwählten Beruf zum Opfer fielen.

»Was quält mich nur?« fragte er sich düster. Ja, in das Zimmer des Meisters zu gehen, etwas, was er nicht mehr getan hatte seit... seit... Er schauderte. Ja, seit der junge Magier im vergangenen Krieg beinahe auf ihren Türstufen gestorben wäre.

Krieg... Veränderung, das war es. Wie seine Roben schien sich die Welt schließlich um ihn gelegt zu haben, aber er spürte wieder eine Veränderung nahen, so wie er es vor zwei Jahren gespürt hatte. Er wünschte, er könnte sie aufhalten...

Bertrem seufzte. »Sicherlich werde ich nichts aufhalten, wenn ich hier noch länger in der Dunkelheit herumstehe«, brummte er. Er fühlte sich ohnehin unbehaglich, als wäre er von Geistern umgeben. Ein helles Licht kam unter der Tür hervor und strahlte in den Korridor. Der Ästhet warf schnell einen Blick zurück auf die Schatten der Bücher, die wie friedliche Leichen in ihren Gräbern in den Regalen ruhten, dann öffnete er schnell die Tür und betrat das Arbeitszimmer von Astinus von Palanthas.

Obwohl sich der Mann in dem Zimmer befand, sprach er weder ein Wort, noch sah er auf.

Mit leisem, gemessenem Schritt ging Bertrem über den prächtigen Teppich aus Lammwolle, der auf dem Marmorboden lag, und blieb vor dem großen, polierten Holzschreibtisch stehen. Lange Zeit sagte er nichts, beobachtete lediglich die Hand des Historikers, die den Federkiel mit festen, gleichmäßigen Zügen über das Pergament führte.

»Nun, Bertrem?« Astinus hielt im Schreiben nicht inne.

Bertrem, der Astinus gegenüberstand, las die Buchstaben, die – obgleich verkehrt herum – klar und deutlich und leicht zu entziffern waren. »An diesem Tag, während die Dunkelwacht auf 29 ansteigt, betrat Bertrem mein Arbeitszimmer.«

»Crysania aus dem Haus Tarinius ist hier, um Euch zu sehen, Meister. Sie sagt, sie wird erwartet...« Bertrems Stimme verlor sich in ein Flüstern; der Ästhet hatte schon sehr viel Mut aufgebracht, um so weit zu kommen.

Astinus schrieb weiter.

»Meister«, begann Bertrem zaghaft und erbebte vor seiner Kühnheit. »Ich... wir sind in Verlegenheit. Sie ist immerhin eine Verehrte Tochter Paladins, und ich – wir fanden es unmöglich, ihr den Eintritt zu verwehren. Was soll...«

»Führ sie in meine privaten Räume«, unterbrach Astinus, ohne mit dem Schreiben aufzuhören oder aufzusehen.

Bertrems Zunge blieb am Gaumen kleben, so daß er einen Augenblick sprachlos verharrte. Die Buchstaben flossen aus dem Federkiel auf das weiße Pergament.

»An diesem Tag, während die Nachwacht auf 28 ansteigt, traf Crysania von Tarinius zu ihrer Verabredung mit Raistlin Majere hier ein.«

»Raistlin Majere!« keuchte Bertrem. Schrecken und Entsetzen lösten seine Zunge. »Sollen wir ihm etwa Einlaß gewähren...«

Jetzt sah Astinus auf, verärgert und gereizt zog er eine Braue hoch. Als seine Feder ihr ewiges Kratzen auf dem Pergament beendete, legte sich eine tiefe, unnatürliche Ruhe über den Raum. Bertrem erblaßte. Das zeitlose, ewig junge Gesicht des Historikers hätte als gutaussehend bezeichnet werden dürfen. Aber niemand, der sein Gesicht gesehen hatte, erinnerte sich je daran. Man erinnerte sich nur an die Augen – dunkel, aufmerksam, sich ständig bewegend, alles aufnehmend. Diese Augen konnten aber auch eine unermeßliche Ungeduld zum Ausdruck bringen, erinnerten Bertrem daran, daß die Zeit lief. Noch während die beiden sprachen, verrannen ganze Minuten der Geschichte, die nicht aufgezeichnet wurden.

»Vergib mir, Meister!« Bertrem verbeugte sich in tiefer Ehrfurcht, dann zog er sich überstürzt aus dem Arbeitszimmer zurück und schloß beim Hinausgehen leise die Tür hinter sich. Draußen angelangt, wischte er sich den rasierten, vor Schweiß glänzenden Schädel ab, dann eilte er in die stummen, marmornen Korridore der Großen Bibliothek von Palanthas.

Astinus blieb in der Türöffnung zu seinem privaten Bereich stehen, sein Blick ruhte auf der Frau, die dort saß.

Der Privatbereich des Historikers lag im westlichen Flügel der Großen Bibliothek und war klein. Wie alle anderen Räume in der Bibliothek war er mit Büchern in allen möglichen Ausführungen und Einbänden gefüllt, die in den Regalen an den Wänden aufgereiht waren und dem Wohnraum wie ein seit Jahrhunderten versiegeltes Mausoleum einen modrigen Geruch verliehen. Die Einrichtung war spärlich und alt. Die hübsch geschnitzten Holzstühle waren hart und ungemütlich. Ein niedriger Tisch an einem Fenster war völlig frei von Verzierungen und Gegenständen und spiegelte das Licht der Abendsonne auf seiner glatten schwarzen Oberfläche. Alles in dem Zimmer befand sich in vollkommener Ordnung. Selbst das Holz für das abendliche Feuer – die Spätfrühlingsnächte waren selbst hier im tiefen Norden kühl – war ordentlich wie ein Scheiterhaufen aufgeschichtet.

So kalt und makellos das private Gemach des Historikers auch war, schien es doch nur die kalte, makellose Schönheit der Frau widerzuspiegeln, die dort mit gefalteten Händen saß und wartete.

Crysania von Tarinius wartete geduldig. Sie war weder nervös, noch seufzte sie oder sah häufig zu dem wasserbetriebenen Zeitmeßgerät in einer Ecke. Sie las nicht – obgleich Astinus sicher war, daß Bertrem ihr ein Buch angeboten hatte. Sie schritt nicht im Zimmer auf und ab oder betrachtete die wenigen seltenen Verzierungen in den dunklen Winkeln der Bücherregale. Sie saß in einem geraden, unbequemen Holzstuhl, ihre klaren, hellen Augen waren auf die rotgefleckten Ränder der Wolken hoch über den Bergen gerichtet, als ob sie den Sonnenuntergang zum ersten – oder letzten – Mal auf Krynn beobachtete.

Sie war in diese Aussicht hinter dem Fenster so versunken, daß Astinus eintrat, ohne ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Er musterte sie mit starkem Interesse. Das war für den Historiker nicht ungewöhnlich, der alle Wesen auf Krynn mit dem gleichen unergründlichen, durchdringenden Blick forschend betrachtete. Ungewöhnlich jedoch war, daß einen kurzen Augenblick ein Ausdruck des Mitleids und tiefen Kummers über das Gesicht des Historikers fuhr.

Astinus zeichnete die Geschichte auf. Er hatte sie seit Beginn der Zeit aufgezeichnet, sie vor seinen Augen beim Verstreichen beobachtet und in seinen Büchern festgehalten. Er konnte die Zukunft nicht voraussagen, denn das war Aufgabe der Götter. Aber er konnte alle Anzeichen der Veränderung spüren, die gleichen Anzeichen, die Bertrem so quälten. Während er dort stand, konnte er die Wassertropfen in dem Zeitmeßgerät fallen hören. Wenn er seine Hand darunterhielt, konnte er zwar die Tropfen aufhalten, aber die Zeit würde trotzdem weiter verstreichen.

Seufzend wandte Astinus seine Aufmerksamkeit der Frau zu, von der er zwar gehört, die er aber niemals getroffen hatte.

Ihr Haar war schwarz, blauschwarz, schwarz wie das Wasser eines ruhigen Sees in der Nacht. Sie hatte es von einem zentralen Punkt aus streng nach hinten gekämmt und am Hinterkopf mit einem einfachen, schmucklosen Holzkamm befestigt. Die strenge Frisur paßte nicht zu ihren blassen, zarten Gesichtszügen, ließ die Blässe noch stärker hervortreten. Ihr Gesicht war völlig farblos. Ihre Augen waren grau und schienen fast zu groß. Selbst ihre Lippen waren blutleer.

Einige Jahre zuvor, als sie jung gewesen war, hatten die Diener das dichte schwarze Haar nach der neuesten Mode geflochten und gerollt, es mit silbernen und goldenen Nadeln hochgesteckt und mit glänzenden Juwelen geschmückt. Sie hatten ihre Wangen mit dem Saft zerstampfter Beeren getönt und sie in prächtige Gewänder in den blassesten Rosatönen und in Taubenblau eingekleidet. Einst war sie wunderschön gewesen. Einst hatten ihre Freier Schlange gestanden.

Jetzt trug sie ein weißes Kleid, wie es sich für eine Klerikerin Paladins gehörte. Es war schlicht, wenn auch aus edlem Stoff, und außer einem goldenen Gürtel um ihre schlanke Taille schmucklos. Ihr einziger Schmuck war der von Paladin – das Medaillon des Platindrachen. Ihr Haar wurde von einer lose sitzenden weißen Kapuze bedeckt, die die marmorne Glätte und Kälte ihres Gesichtes noch unterstrich.

Sie könnte aus Marmor sein, dachte Astinus, nur daß Marmor von der Sonne erwärmt werden kann.

»Ich grüße Euch, Verehrte Tochter Paladins«, sagte Astinus, der nun eintrat und die Tür hinter sich schloß.

»Ich grüße Euch, Astinus«, antwortete Crysania von Tarinius und erhob sich.

Als sie in dem kleinen Zimmer auf ihn zuging, war Astinus etwas überrascht über ihren schnellen und fast männlichen Schritt. Er stimmte mit ihren zarten Gesichtszügen gar nicht überein. Auch ihr Händedruck war fest und stark, ganz anders als bei den palanthischen Frauen, die selten die Hand gaben und dann auch nur die Fingerspitzen darreichten.

»Ich bin Euch zu Dank verpflichtet, daß Ihr Eure wertvolle Zeit als neutraler Teilnehmer bei diesem Treffen opfert«, sagte Crysania kühl. »Ich weiß, daß Ihr Euch sehr ungern von Euren Studien entfernt.«

»Solange es keine Zeitverschwendung ist, stört es mich nicht«, erwiderte Astinus, während er ihre Hand festhielt und sie eingehend betrachtete. »Doch muß ich zugeben, daß ich darüber verstimmt bin.«

»Warum?« Crysania musterte forschend und mit echter Verblüffung das ewig junge Gesicht des Mannes. Dann lächelte sie in plötzlicher Erkenntnis; es war ein kaltes Lächeln, das in ihrem Gesicht nicht mehr Leben erzeugte als das Mondlicht auf Schnee. »Ihr glaubt nicht, daß er kommen wird, nicht wahr?«

Astinus schnaubte wütend und ließ die Hand der Frau fallen, als ob er das Interesse an ihr völlig verloren hätte. Er wandte sich um, ging auf das Fenster zu und sah auf die Stadt Palanthas hinaus, deren weißglänzende Gebäude in den Sonnenstrahlen in atemraubender Schönheit funkelten – mit einer Ausnahme. Ein Gebäude blieb von der Sonne selbst in der hellsten Mittagszeit unberührt.

Und auf diesem Gebäude ruhte Astinus’ Blick. Die schwarzen Steintürme, die sich aus dieser strahlenden, wunderschönen Stadt hervordrängten, krümmten und schlängelten sich, die Minaretts – mit den Kräften der Magie vor kurzem wiederaufgebaut – glitzerten blutrot im Sonnenuntergang; sie hatten das Aussehen verwester Skelettfinger.

»Vor zwei Jahren betrat er den Turm der Erzmagier«, sagte Astinus mit seiner ruhigen, leidenschaftslosen Stimme, als Crysania zu ihm ans Fenster trat. »Er betrat ihn mitten in der Nacht in der Dunkelheit; der einzige Mond am Himmel war der Mond, der kein Licht verbreitet. Er ging durch den Eichenwald von Shoikan, eine Gruppe verfluchter Eichen, der kein Sterblicher, nicht einmal Angehörige der Kenderrasse, sich zu nähern wagt.

Er ging seinen Weg zu den Toren, auf deren Widerhaken immer noch die Leiche des bösen Magiers aufgespießt war, der mit seinem letzten Atemzug den Fluch auf den Turm geworfen, sich aus den oberen Fenstern gestürzt hatte und von den Widerhaken der Tore durchbohrt wurde. Aber als er kam, verbeugte sich der Wächter vor ihm, die Tore öffneten sich bei seiner Berührung und schlossen sich hinter ihm. Und in diesen zwei Jahren haben sie sich nicht wieder geöffnet. Er ist nicht fortgegangen, und falls jemand eingelassen wurde, so wurde er nicht gesehen. Und Ihr erwartet ihn – hier?«

»Der Herr über Vergangenheit und Gegenwart.« Crysania zuckte die Schultern. »Er kam, so wie es vorausgesagt worden war.«

Astinus musterte sie erstaunt. »Ihr kennt die Geschichte?«

»Natürlich«, erwiderte die Klerikerin ruhig und sah kurz zu ihm hoch; dann richtete sie ihre klaren Augen wieder auf den Turm, der sich in nächtliche Schatten gehüllt hatte. »Ein guter General studiert immer den Feind, bevor er in die Schlacht reitet. Ich kenne Raistlin Majere sehr gut, in der Tat sehr gut. Und ich weiß – er wird heute abend kommen.«

Crysania starrte mit erhobenem Kinn weiterhin auf den scheußlichen Turm, ihre blutleeren Lippen zu einer geraden, gleichmäßigen Linie gezogen, ihre Hände hinter dem Rücken verschränkt.

Astinus’ Gesicht wurde plötzlich ernst und nachdenklich, seine Augen trübten sich, obgleich seine Stimme kühl wie immer war. »Ihr scheint Euch sehr sicher zu sein, Verehrte Tochter. Woher wißt Ihr das?«

»Paladin hat zu mir gesprochen«, entgegnete Crysania, ohne ihre Augen vom Turm abzuwenden. »Mir erschien der Platindrache im Traum und sagte mir, daß das Böse – einst von der Welt verbannt – in der Person dieses schwarzen Zauberers Raistlin Majere zurückgekehrt sei. Wir stehen einer entsetzlichen Gefahr gegenüber, und mir wurde aufgetragen, sie zu verhüten.« Während Crysania sprach, wurde ihr Marmorgesicht weich, ihre grauen Augen leuchteten auf. »Es wird die Prüfung meines Glaubens sein, um die ich gebetet habe!« Sie blickte kurz zu Astinus. »Wißt, ich habe seit meiner Kindheit gewußt, daß es meine Bestimmung ist, eine große Tat zu vollbringen, der Welt und ihren Bewohnern einen großen Dienst zu erweisen. Das ist meine Gelegenheit.«

Astinus’ Gesicht wurde beim Zuhören noch ernster und noch strenger. »Und das hat Paladin Euch gesagt?« fragte er abrupt.

Crysania, die vielleicht den Zweifel des Mannes heraushörte, schürzte die Lippen. Eine winzige Linie zwischen ihren Brauen und eine noch beherrschtere Gelassenheit in ihrer Antwort waren jedoch die einzigen Anzeichen ihres Zornes.

»Es tut mir leid, darüber gesprochen zu haben, Astinus, verzeiht mir. Es war eine Angelegenheit zwischen meinem Gott und mir, und derart heilige Dinge sollten nicht erörtert werden. Ich wollte Euch nur beweisen, daß dieser verruchte Mann kommen wird. Er kann nicht anders. Paladin wird ihn bringen.«

Astinus zog seine Augenbrauen dermaßen hoch, daß sie fast in seinem grauen Haar verschwanden.

»Dieser ›verruchte Mann‹, wie Ihr ihn bezeichnet, Verehrte Tochter, dient einer Göttin, die genauso mächtig ist wie Paladin – Takisis, die Königin der Finsternis! Oder vielleicht sollte ich nicht ›dient‹ sagen«, bemerkte Astinus mit einem sarkastischen Lächeln. »Nicht bei ihm...«

Crysanias Braue klärte sich, ihr kühles Lächeln kehrte zurück. »Das Gute stellt sich von selbst wieder her«, antwortete sie sanft. »Das Böse richtet sich gegen sich selbst. Das Gute wird wieder triumphieren, so wie es im Krieg der Lanze gegen Takisis und ihre verruchten Drachen der Fall war. Mit Paladins Hilfe werde ich über das Böse triumphieren, wie der Held Tanis, der Halbelf, über die Königin der Finsternis triumphiert hat.«

»Tanis der Halbelf triumphierte mit der Hilfe von Raistlin Majere«, sagte Astinus gleichmütig. »Oder ist das ein Teil der Legende, den Ihr zu ignorieren gedenkt?«

Keine Gefühlsregung zeigte sich auf dem stillen, gelassenen Gesicht Crysanias. Ihr Blick war auf die Straße gerichtet.

»Seht, Astinus«, sagte sie leise. »Er kommt.«

Die Sonne ging hinter den fernen Bergen unter, der Himmel, von ihrem Nachglühen erleuchtet, war in ein edelsteingleiches Purpurrot getaucht. Diener traten geräuschlos ein und entzündeten das Feuer in Astinus’ kleiner Kammer. Und selbst das Feuer brannte geräuschlos, als ob die Flammen von dem Historiker unterwiesen worden wären, die friedliche Stille in der Großen Bibliothek zu wahren. Crysania saß wieder auf dem unbequemen Stuhl, ihre Hände waren wieder in ihrem Schoß gefaltet. Äußerlich wirkte sie ruhig und kühl wie immer. Aber im Inneren schlug ihr Herz vor einer Aufregung, die nur in dem Leuchten ihrer grauen Augen sichtbar war.

In der adligen und reichen Familie Tarinius aus Palanthas geboren, einer Familie, die fast so alt wie die Stadt selbst war, hatte Crysania jeden Komfort erhalten, den Geld und Rang verschaffen konnten. Intelligent und mit einem starken Willen begabt, wäre sie leicht zu einer dickköpfigen und eigensinnigen Frau herangewachsen. Ihre weisen und liebevollen Eltern jedoch hatten den Willen ihrer Tochter sorgfältig zurechtgestutzt, so daß er zu einem tiefen und beständigen Selbstbewußtsein gereift war. Crysania hatte in ihrem ganzen Leben nur einmal ihre in sie vernarrten Eltern enttäuscht, aber diese Enttäuschung war für sie sehr hart gewesen. Sie hatte sich von einer idealen Heirat mit einem adligen jungen Mann abgewendet, um ihr Leben in den Dienst lang vergessener Götter zu stellen.

Sie hatte von dem Kleriker Elistan gehört, der am Ende des Krieges der Lanze nach Palanthas kam. Seine neue Religion – oder vielleicht sollte man sie lieber als alte Religion bezeichnen – verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf Krynn. Als sie zum ersten Mal zu einer Rede von Elistan ging, war Crysania skeptisch gewesen. Die junge Frau – sie war Mitte zwanzig – war mit Geschichten aufgewachsen, in denen die Götter die Umwälzung auf Krynn herbeigeführt hatten, indem sie das feurige Gebirge hinuntergeschleudert hatten, das das Land auseinanderriß und die heilige Stadt Istar im Blutmeer versinken ließ. Danach, so erzählte man sich, hätten sich die Götter von den Menschen abgewandt und sich geweigert, mit ihnen etwas zu tun zu haben.

Crysania hatte sich vorgenommen, Elistan höflich zuzuhören, aber sich Argumente zurechtgelegt, um seinen Behauptungen entgegenzutreten.

Jedoch war sie von ihm positiv beeindruckt gewesen. Elistan stand in jener Zeit im Zenit seiner Kraft. Gutaussehend und kräftig, selbst im mittleren Alter, wirkte er wie einer der alten Kleriker, die – wie es in einigen Legenden hieß – mit dem mächtigen Ritter Huma in die Schlacht geritten waren. Crysania fand an jenem Abend Anlaß, ihn zu bewundern. Es endete schließlich damit, daß sie vor seinen Füßen kniete und vor Demut und Freude weinte: Ihre Seele hatte schließlich den Anker gefunden, den sie gesucht hatte.

Die Götter hatten sich nicht von den Menschen abgewendet, hieß die Botschaft. Es waren die Menschen gewesen, die sich von den Göttern abgewendet hatten, da sie in ihrem Hochmut das gefordert hatten, was Huma in Demut gesucht hatte. Am folgenden Tag gab Crysania ihr Heim, ihren Reichtum, ihre Diener, ihre Eltern und ihren Verlobten auf und zog in ein kleines Haus, das der Vorläufer zu dem neuen Tempel war, den Elistan in Palanthas zu bauen plante.

Jetzt, zwei Jahre später, war Crysania eine Verehrte Tochter von Paladin, eine der wenigen Auserwählten, die für würdig erachtet wurden, die Kirche durch ihre schmerzhafte Kindheit zu führen. Es war gut, daß die Kirche dieses starke, junge Blut hatte. Elistan hatte sein Leben und seine Energie uneingeschränkt gegeben. Nun schien es, daß der Gott, dem er so treu gedient hatte, seinen Kleriker bald an seine Seite rufen würde. Und wenn dieses traurige Ereignis eintreten sollte, so glaubten viele, würde Crysania seine Arbeit fortsetzen.

Sicherlich wußte Crysania, daß sie auf die Führerschaft über die Kirche vorbereitet war, aber reichte das aus? Wie sie Astinus erzählt hatte, spürte die junge Klerikerin seit langem, daß ihre Bestimmung in einem großen Dienst für die Welt lag. Die Kirche durch ihre tägliche Routine zu führen, da nun der Krieg zu Ende war, schien langweilig und banal. Täglich hatte sie zu Paladin gebetet, ihr eine schwierige Aufgabe zu erteilen. Sie würde alles opfern, schwor sie, sogar ihr Leben im Dienste ihres geliebten Gottes.

Dann war ihr die Antwort gekommen.

Jetzt wartete sie mit einem Eifer, den sie kaum unterdrücken konnte. Sie hatte keine Angst, nicht einmal davor, diesen Mann zu treffen, der angeblich die mächtigste Kraft des Bösen auf ganz Krynn darstellte. Wenn ihre Erziehung es gestattet hätte, würde sie ihre Lippen zu einem verächtlichen und höhnischen Grinsen schürzen. Welches Böse konnte dem mächtigen Schwert ihres Glaubens standhalten? Welches Böse konnte ihre glänzende Rüstung durchdringen?

Wie ein Ritter, der zu einem Turnier reitet, geschmückt mit den Blumengirlanden seiner Geliebten, in dem Wissen, daß er mit diesem im Winde wehenden Pfand nicht verlieren kann, hielt Crysania ihre Augen starr auf die Tür gerichtet, eifrig auf die ersten Hiebe des Turniers wartend. Als sich die Tür öffnete, verkrampfte sie ihre bis dahin ruhig gefalteten Hände vor Aufregung.

Bertrem trat ein. Seine Augen gingen zu Astinus, der unbeweglich wie eine Steinsäule auf einem harten, unbequemen Stuhl am Feuer saß.

»Der Magier, Raistlin Majere«, sagte Bertrem. Seine Stimme schnappte bei der letzten Silbe über. Vielleicht fiel ihm die letzte Gelegenheit ein, als er diesen Gast angekündigt hatte – als Raistlin auf den Stufen der Großen Bibliothek im Sterben gelegen und Blut erbrochen hatte. Astinus runzelte die Stirn über Bertrems mangelnde Selbstbeherrschung, und der Ästhet verließ, so schnell es seine flatternden Roben erlaubten, das Zimmer.

Crysania hielt unbewußt den Atem an. Zuerst sah sie nichts, nur einen dunklen Schatten im Türeingang, als ob die Nacht selbst Gestalt angenommen hätte. Die Dunkelheit rührte sich nicht.

»Tritt ein, mein alter Freund«, sagte Astinus mit seiner tiefen, leidenschaftslosen Stimme.

Der Schatten wurde von einem Schimmer erleuchtet, der Schein des Feuers fiel auf samtweiche schwarze Roben, und dann strahlten winzige Lichtfunken auf silbernen Fäden, eingestickten Runen in einer Samtkapuze. Einen kurzen Augenblick war von der Gestalt nur eine dünne, fast skelettartige Hand sichtbar, die einen Holzstab umklammert hielt. An der Spitze des Stabes saß eine Kristallkugel, die sich im festen Griff einer eingeschnitzten goldenen Drachenklaue befand.

Als die Gestalt das Zimmer betrat, spürte Crysania einen eisigen Schauer der Enttäuschung. Sie hatte Paladin um eine schwierige Aufgabe gebeten! Welches Böse war hier zu bekämpfen? Jetzt, wo sie ihn deutlich erkennen konnte, sah sie einen zerbrechlichen, mageren Mann, die Schultern leicht gebeugt, der sich beim Gehen auf seinen Stab stützte, als ob er sich ohne seine Hilfe nicht bewegen könnte. Sie kannte sein Alter, er war jetzt ungefähr achtundzwanzig Jahre alt. Doch bewegte er sich wie ein Neunzigjähriger – seine Schritte waren langsam und bedächtig, ja sogar schwankend.

Was ist das für eine Glaubensprüfung, diese erbärmliche Kreatur zu besiegen? fragte Crysania im stillen erbittert Paladin. Ich brauche ihn nicht zu bekämpfen. Er wird von seiner eigenen Bösartigkeit verzehrt!

Raistlin stand Astinus mit dem Rücken zu Crysania gegenüber und schob seine schwarze Kapuze zurück. »Ich grüße dich, Unsterblicher«, sagte er mit sanfter Stimme zu Astinus.

»Ich grüße dich, Raistlin Majere«, antwortete Astinus, ohne sich zu erheben. In seiner Stimme lag ein spöttischer Ton, als tausche er mit dem Magier einen geheimen Witz aus. Astinus machte eine Handbewegung. »Darf ich Crysania aus dem Haus Tarinius vorstellen?«

Raistlin drehte sich um.

Crysania keuchte, ein schrecklicher Schmerz in der Brust schnürte ihre Kehle zu, und einen Augenblick konnte sie nicht atmen. Scharfe, beißende Nadeln stachen in ihre Fingerspitzen, Eiseskälte zuckte durch ihren Körper. Ohne sich dessen bewußt zu sein, wich sie auf ihren Stuhl zurück, ihre Hände ballten sich zusammen, ihre Nägel gruben sich in ihr taubes Fleisch.

Alles, was sie sah, waren zwei goldene Augen, die aus den Tiefen der Dunkelheit leuchteten. Die Augen waren wie goldene Spiegel, von der in ihnen wohnenden Seele nichts enthüllend. Die Pupillen – Crysania starrte mit entrücktem Entsetzen auf die dunklen Pupillen. Die Pupillen in den goldenen Augen hatten die Form von Stundengläsern! Und das Gesicht... Von Leiden verzerrt, vom Schmerz der gequälten Existenz gekennzeichnet, die der junge Mann sieben Jahre lang geführt hatte, seitdem die grausigen Prüfungen im Turm der Erzmagier seinen Körper zerschmettert und seine Haut golden gefärbt zurückgelassen hatten, war das Gesicht des Magiers eine metallene Maske, undurchdringlich, gefühllos wie die Klaue des goldenen Drachen an seinem Stab.

»Verehrte Tochter Paladins«, sagte er mit sanfter Stimme, einer Stimme, die von Achtung und sogar Ehrfurcht erfüllt war.

Crysania schreckte hoch, starrte ihn erstaunt an. Damit hatte sie keineswegs gerechnet.

Dennoch konnte sie sich nicht bewegen. Sein Blick hielt sie gefangen, und sie fragte sich in Panik, ob er einen Zauber auf sie geworfen habe. Ihre Angst offenbar spürend, ging er durch das Zimmer auf sie zu und blieb vor ihr in einer beschützenden und beruhigenden Haltung stehen. Als sie aufblickte, konnte sie den Schein des Feuers in seinen goldenen Augen sehen.

»Verehrte Tochter Paladins«, wiederholte Raistlin; seine sanfte Stimme hüllte Crysania wie die samtene Schwärze seiner Roben ein. »Ich hoffe, es geht Euch gut?« Aber nun vernahm sie in der Stimme zynischen Spott. Das hatte sie erwartet, darauf war sie vorbereitet. Sein anfänglicher Ton des Respektes hatte sie überrumpelt, gestand sie sich wütend, aber ihre anfängliche Schwäche war verraucht. Als sie sich erhob und ihre Augen sich auf gleicher Ebene mit seinen befanden, umklammerte sie unbewußt mit ihrer Hand das Medaillon von Paladin. Die Berührung des kühlen Metalls flößte ihr Mut ein.

»Ich glaube nicht, daß wir bedeutungslose gesellschaftliche Floskeln austauschen müssen«, bemerkte Crysania spröde; ihr Gesicht war wieder glatt und kalt. »Wir halten Astinus von seiner Arbeit ab. Er wird die Beendigung unseres Treffens mit Freuden begrüßen.«

»Dem kann ich nur zustimmen«, sagte der schwarzgekleidete Magier mit einem leichten Kräuseln seiner schmalen Lippen, das man als ein Lächeln verstehen konnte. »Auf deine Bitte hin bin ich gekommen. Was willst du von mir?«

Crysania spürte, daß er sie auslachte. Daran gewöhnt, nur mit dem höchsten Respekt behandelt zu werden, steigerte sich ihr Zorn nur noch. Sie musterte ihn mit kalten Augen. »Ich bin gekommen, dich zu warnen, Raistlin Majere. Deine verruchten Pläne sind Paladin bekannt. Hüte dich, oder er wird dich vernichten...«

»Wie?« fragte Raistlin plötzlich, und seine seltsamen Augen flammten auf. »Wie will er mich vernichten?« wiederholte er. »Blitze? Überschwemmung und Feuer? Vielleicht ein weiteres feuriges Gebirge?« Er trat einen Schritt näher zu ihr.

Crysania bewegte sich von ihm weg auf ihren Stuhl zu. Sie umklammerte fest die harte Holzlehne und ging um den Stuhl herum, dann wandte sie sich ihm wieder zu und sah ihn an. »Es ist dein eigener Untergang, über den du dich lustig machst«, erwiderte sie ruhig.

Raistlin hielt seine Lippe gekräuselt, sprach aber weiter, als hätte er ihr Worte nicht vernommen. »Elistan?« Raistlins Stimme sank zu einem zischenden Flüstern herab. »Er will Elistan schicken, mich zu vernichten?« Der Magier zuckte die Schultern. »Aber nein, sicherlich nicht. Nach allen Berichten ist der große und heilige Kleriker Paladins müde, schwach, dem Tode nahe...«

»Nein!« schrie Crysania, biß sich dann wütend auf die Lippe, daß dieser Mann sie verleitet hatte, ihm ihre Gefühle zu zeigen. Sie hielt inne, holte tief Luft. »Paladins Wege dürfen nicht in Frage gestellt oder lächerlich gemacht werden«, sagte sie mit eisiger Ruhe, aber sie konnte nicht verhüten, daß sich in ihre Stimme ein kaum bemerkbarer sanfter Ton einschlich. »Und Elistans Gesundheit ist nicht deine Angelegenheit.«

»Vielleicht hege ich ein größeres Interesse an seiner Gesundheit, als du dir vorstellen kannst«, erwiderte Raistlin mit einem, wie Crysania meinte, höhnischen Lächeln.

Crysania fühlte das Blut in ihren Schläfen pochen. Während er sprach, bewegte sich der Magier um den Stuhl und näherte sich der jungen Frau. Er war ihr nun so nahe, daß Crysania eine seltsame, unnatürliche Wärme von seinem Körper durch die schwarzen Roben ausstrahlen fühlte. Sie konnte einen schwachen, angenehmen Duft an ihm riechen. Etwas Würziges... Seine Zauberzutaten, wurde ihr plötzlich klar. Der Gedanke verursachte ihr Übelkeit und widerte sie an. Mit dem Medaillon von Paladin in der Hand, dessen glattgemeißelte Ränder in ihr Fleisch stachen, wich sie von ihm zurück. »Paladin ist mir im Traum erschienen...«, sagte sie hochmütig.

Raistlin lachte.

Es gab nur wenige, die den Magier jemals hatten lachen hören, und diese erinnerten sich immer daran, hörten es in ihren dunkelsten Träumen. Es war dünn, hoch und scharf wie eine Klinge. Es verwarf alles Gute, machte sich über alles Rechte und Wahre lustig und bohrte sich in Crysanias Seele.

»Nun gut«, sagte Crysania, die ihn mit einer Verachtung anstarrte, daß sich ihre hellen grauen Augen zu einem Stahlblau verhärteten. »Ich habe mein Bestes getan, um dich von diesem Kurs abzuhalten. Ich habe dich aufrichtig gewarnt. Deine Vernichtung liegt nun in den Händen der Götter.«

Plötzlich, vielleicht weil er die Furchtlosigkeit erkannte, mit der sie ihn konfrontierte, hörte Raistlin zu lachen auf. Als er sie aufmerksam musterte, verengten sich seine goldenen Augen. Dann lächelte er, ein geheimes, inneres Lächeln aus einer so seltsamen Freude heraus, daß Astinus, der den Austausch der beiden beobachtet hatte, sich erhob. Der Historiker stellte sich gegen das Licht des Feuers. Sein Schatten schnitt durch beide hindurch. Raistlin zuckte fast beunruhigt zusammen. Er drehte sich halb um und musterte Astinus mit einem glühenden, drohenden Blick.

»Hüte dich, alter Freund«, warnte der Magier, »oder willst du dich in die Geschichte einmischen?«

»Ich mische mich nicht ein«, entgegnete Astinus, »wie du wohl weißt. Ich bin nur ein Beobachter, ich zeichne nur auf. In allen Dingen bin ich neutral. Ich kenne deine Intrigen, deine Pläne, so wie ich die Intrigen und Pläne aller kenne, die an diesem Tag atmen. Darum höre mich an, Raistlin Majere, und beachte diese Warnung. Diese Frau wird von den Göttern geliebt – so wie schon ihr Name sagt.«

»Von den Göttern geliebt? Werden wir das nicht alle, Verehrte Tochter?« fragte Raistlin und wandte sein Gesicht wieder Crysania zu. Seine Stimme war so weich wie der Samt seiner Roben. »Steht das nicht auf den Scheiben der Mishakal geschrieben? Ist es nicht das, was der göttliche Elistan lehrt?«

»Ja«, antwortete Crysania langsam, ihn argwöhnisch musternd, weiteren Spott erwartend. Aber sein metallenes Gesicht war ernst, er wirkte plötzlich wie ein Gelehrter – intelligent, weise. »So steht es geschrieben.« Sie lächelte kühl. »Es gefällt mir, daß du die heiligen Scheiben gelesen hast, obgleich du offensichtlich nichts daraus gelernt hast. Erinnerst du dich, was geschrieben steht...« Sie wurde von Astinus’ Schnauben unterbrochen.

»Ich wurde lang genug von meinen Studien abgehalten.« Der Historiker ging über den Marmorboden zur Tür des Vorzimmers. »Läutet nach Bertrem, wenn ihr zum Aufbruch bereit seid. Leb wohl, Verehrte Tochter. Leb wohl... mein alter Freund.«

Astinus öffnete die Tür. Die friedliche Stille der Bibliothek strömte in das Zimmer und tauchte Crysania in eine erfrischende Kühle. Sie hatte sich wieder unter Kontrolle und entspannte sich. Ihre Hand ließ das Medaillon los. Der Form entsprechend verbeugte sie sich anmutig vor Astinus. Auch Raistlin verbeugte sich. Und dann schloß sich die Tür hinter dem Historiker. Die beiden waren allein.

Lange Zeit sprach keiner. Dann wandte sich Crysania, die Paladins Kraft durch ihren Körper strömen spürte, Raistlin zu. »Ich hatte vergessen, daß du es warst und jene mit dir, die die heiligen Scheiben zurückerobert haben. Du mußt sie natürlich gelesen haben. Ich würde gern mit dir darüber weiter diskutieren, aber in allen künftigen Verhandlungen, die wir vielleicht führen werden, Raistlin Majere«, sagte sie mit ihrer kühlen Stimme, »bitte ich dich, über Elistan mit mehr Respekt zu reden. Er...« Sie hielt verblüfft inne und beobachtete beunruhigt, wie der schlanke Körper des Magiers vor ihren Augen zugrunde zu gehen schien.

Von Hustenanfällen gepeinigt, seine Brust umklammernd, keuchte Raistlin nach Luft. Er taumelte. Wenn er sich nicht auf seinen Stab gestützt hätte, wäre er auf den Boden gestürzt. Ihre Abneigung und ihren Ekel vergessend, streckte Crysania ihre Hände aus, legte sie auf seine Schultern und murmelte dabei ein Heilgebet. Die schwarzen Roben fühlten sich weich und warm an. Sie konnte Raistlins Muskeln spüren, die sich in Krämpfen verzogen, seinen Schmerz und sein Leiden spüren. Mitleid erfüllte ihr Herz.

Raistlin löste sich von ihrer Berührung, schob sie zur Seite. Sein Husten besserte sich allmählich. Als er wieder frei atmen konnte, musterte er sie mit Verachtung.

»Verschwende deine Gebete nicht für mich, Verehrte Tochter«, sagte er verbittert. Er zog ein weiches Tuch aus seinen Roben und tupfte seine Lippen ab, und Crysania sah, daß es mit Blut befleckt war. »Gegen meine Krankheit gibt es kein Mittel. Das ist das Opfer, der Preis, den ich für meine Magie bezahlt habe.«

»Ich verstehe nicht«, murmelte sie. Ihre Hände zuckten, als sie sich lebhaft an die samtene, weiche Glätte der schwarzen Roben erinnerte, und unbewußt hielt sie sie hinter ihrem Rücken.

»Nicht?« fragte Raistlin und starrte mit seinen seltsamen goldenen Augen tief in ihre Seele. »Was hast du für deine Kraft geopfert?«

Eine schwache Röte, kaum sichtbar im Schein des sterbenden Feuers, befleckte Crysanias Wangen mit Blut, so wie die Lippen des Magiers mit Blut befleckt waren. Beunruhigt über dieses Eindringen in ihr Sein wendete sie ihr Gesicht ab, ihre Augen wanderten wieder zum Fenster. Die Nacht hatte sich über Palanthas gesenkt. Der silberne Mond, Solinari, stand wie ein heller Splitter im dunklen Himmel. Der rote Mond, sein Partner, war noch nicht aufgegangen. Der schwarze Mond... Sie ertappte sich bei der Frage, wo er wohl war. Konnte er ihn wirklich sehen?

»Ich muß gehen«, sagte Raistlin, sein Atem rasselte in seiner Kehle. »Diese Anfälle schwächen mich. Ich brauche Ruhe.«

»Gewiß.« Crysania hatte ihre Gelassenheit wiedergewonnen, und sie drehte sich zu ihm um. »Ich danke dir für dein Kommen...«

»Aber unser Geschäft ist noch nicht beendet«, unterbrach Raistlin sie sanft. »Ich wünsche mir eine Gelegenheit, dir zu beweisen, daß die Befürchtungen deines Gottes unbegründet sind. Ich habe eine Idee. Besuch mich doch im Turm der Erzmagier. Dort wirst du mich bei meinen Büchern vorfinden und meine Studien verstehen. Und dann wirst du dich beruhigen. So wie es in den Scheiben gelehrt wird, fürchten wir nur das Unbekannte.« Er trat einen Schritt näher zu ihr.

Erstaunt über seinen Vorschlag riß Crysania die Augen weit auf. Sie versuchte, sich von ihm fortzubewegen, aber sie hatte sich am Fenster unabsichtlich in eine Falle gestellt. »Ich kann nicht gehen... zum Turm«, stammelte sie, als seine Nähe ihr den Atem raubte. Sie versuchte um ihn herumzugehen, aber er bewegte leicht seinen Stab und versperrte ihr den Weg.

Raistlin streckte seine Hand aus und hielt Crysania fest. »Wie mutig du bist, Verehrte Tochter«, bemerkte er. »Du zitterst nicht einmal bei meiner verruchten Berührung.«

»Paladin ist mit mir«, erwiderte Crysania hochmütig.

Raistlin lächelte, ein warmes Lächeln, dunkel und geheimnisvoll. Es faszinierte Crysania. Er zog sie näher zu sich. Dann ließ er sie los. Er lehnte den Stab gegen den Stuhl und ergriff ihren Kopf mit seinen schlanken Armen fest. Jetzt zitterte Crysania, aber sie konnte sich nicht bewegen, sie konnte nicht sprechen oder überhaupt etwas tun, außer ihn in einer wilden Angst anstarren, die sie weder unterdrücken noch verstehen konnte.

Raistlin hielt sie fest, beugte sich zu ihr und fuhr mit seinen blutbefleckten Lippen über ihre Stirn. Dabei murmelte er seltsame Worte. Dann ließ er sie los.

Crysania taumelte, stürzte fast. Sie fühlte sich schwach und benommen. Ihre Hand fuhr zu ihrer Stirn, die nach der Berührung seiner Lippen in einem sengenden Schmerz brannte. »Was hast du mir getan?« rief sie gebrochen. »Du kannst keinen Zauber auf mich werfen! Mein Glaube beschützt...«

»Natürlich.« Raistlin seufzte müde, und in seinem Gesicht und in seiner Stimme lag ein Ausdruck der Trauer, die Trauer eines Menschen, der ständig verdächtigt und mißverstanden wird. »Ich habe dir lediglich einen Zauber gegeben, damit du durch den Eichenwald von Shoikan gehen kannst. Der Weg wird nicht einfach sein.« Sein Sarkasmus kehrte zurück. »Aber dein Glaube wird dich beschützen!«

Der Magier zog seine Kapuze dicht über die Augen, dann verbeugte er sich vor Crysania, die ihn nur anstarren konnte, und ging mit langsamen, schwankenden Schritten zur Tür. Er streckte seine Skeletthand aus und zog am Klingelzug. Die Tür öffnete sich, und Bertrem trat so plötzlich ein, daß Crysania erkannte, daß er draußen Wache gestanden haben mußte. Ihre Lippen zogen sich zusammen. Sie warf dem Ästheten einen so wütenden, herrischen Blick zu, daß der Mann erblaßte.

Raistlin wollte gerade gehen, als Crysania ihn aufhielt. »Ich entschuldige mich, daß ich dir nicht vertraut habe, Raistlin Majere«, sagte sie sanft. »Und ich danke dir nochmals für dein Kommen.«

Raistlin drehte sich um. »Und ich entschuldige mich für meine scharfe Zunge«, sagte er. »Leb wohl, Verehrte Tochter. Wenn du wirklich keine Furcht vor dem Wissen hast, dann besuche mich im Turm in zwei Nächten von dieser Nacht an gerechnet, wenn Lunitari zuerst am Himmel erscheint.«

»Ich werde kommen«, antwortete Crysania bestimmt und bemerkte mit Vergnügen Bertrems entsetzten Blick. Sie nickte ihm zum Abschied zu, während ihre Hand auf der Rücklehne des mit Verzierungen versehenen Holzstuhles ruhte.

Der Magier verließ das Zimmer, Bertrem folgte ihm und schloß die Tür hinter sich.

Crysania, nun allein in dem warmen, friedlichen Zimmer, fiel vor dem Stuhl auf die Knie. »Oh, ich danke dir, Paladin!« keuchte sie. »Ich nehme deine Herausforderung an. Ich werde dich nicht enttäuschen! Ich werde nicht versagen!«

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