VIII

Auf dem Weg zu Bob Arctors Haus, wo man normalerweise immer einen Haufen Freaks traf, mit denen zusammen man sich antörnen und einen guten Tag machen konnte, bastelte Charles Freck an einem Gag herum, mit dem er den ollen Barris reinlegen wollte, um ihm die Ver­arscherei mit der Galle neulich in Fiddlers Kaffeestube Nummer Drei heimzuzahlen. Während er gekonnt den Radarfallen der Bullen auswich, von denen es in der Stadt nur so wimmelte (neuerdings tarnte die Polizei die Radarwagen, mit denen sie den armen Autofahrern auf die Pelle rückten, als alte, verkommene, in einem stumpfen Braun gespritzte VW-Busse, die von bärtigen Freaks gesteuert wurden; wenn er einen solchen VW-Bus sah, verlangsamte er die Geschwindigkeit), spulte er in seinem Kopf eine Phantasienummer ab – eine Vorschau auf die große Verarschung, die er gleich starten würde:

FRECK: (beiläufig) Ich hab’ mir heute ‘nen Methedrin-Kolben gekauft.

BARRIS: (mit einem ganz gemeinen Gesichtsausdruck) Methedrin gehört zur Gruppe der Amphetamine, wie Speed; es ist eine kristalline Substanz, die synthetisch in einem Labor hergestellt wird. Demnach ist es also nicht organisch, wie etwa Pot. So etwas wie einen Methedrin-Kolben gibt es nicht. Bist du dir sicher, daß die dir nicht einen Maiskolben angedreht haben?

FRECK: (elegant die Pointe anbringend) Ich meine, ich hab’ vierzigtausend Dollar von einem alten Onkel geerbt und bin damit zu so einem Macker gegangen, der heimlich in seiner Garage Methedrin herstellt. Ich meine, der hat da so eine Art chemisches Labor. Und von dem hab’ ich einen Kolben und die ganzen anderen Geräte gekauft, die man sonst noch dazu braucht. Kolben im Sinne von –

Er konnte die Pointe jetzt noch nicht ganz richtig ausformulieren, denn schließlich mußte er sich beim Fahren ja auch auf die Wagen um ihn herum und auf die Ampeln konzentrieren; aber er war sich sicher, daß er es schaffen würde, Barris supergut eins reinzuwürgen, wenn er erst einmal zu Bobs Haus kam. Und je mehr Leute da waren, desto begieriger würde Barris nach dem Köder schnappen, den er ihm hinzuwerfen gedachte. Und hinterher würde Barris in aller Augen als absolutes Riesenarschloch dastehen. Auf diese Weise würde er ihm die Verarschung von neulich doppelt und dreifach heimzahlen, weil Barris es noch mehr als alle anderen nicht ertragen konnte, wenn man auf seine Kosten einen Gag machte.

Als er vorbeifuhr, sah er, daß Barris draußen war und an Bob Arctors Wagen arbeitete. Die Motorhaube stand offen, und Arctor und Barris beugten sich gemeinsam über den Motor. Neben ihnen lag ein Stapel Werkzeuge.

»Hey, Leute«, sagte Freck, während er die Tür zuknallte und beiläufig zu den beiden hinüberschlenderte. »Barris«, fuhr er dann ganz cool und direkt fort und legte Barris die Hand auf die Schulter, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.

»Später«, knurrte Barris. Er trug seinen Mechanikeroverall, dessen ohnehin schon schmutziger Stoff jetzt über und über mit Motoröl und anderem Schmier bedeckt war.

Freck sagte: »Ich hab’ mir heute einen Methedrin-Kolben gekauft.«

Ungeduldig und mit finsterem Blick sagte Barris: »Wie groß?«

»Was meinst du damit –«

»Ich möchte wissen, wie groß der Kolben ist.«

»Nun … äh …«, sagte Freck, während er fieberhaft überlegte, wie er jetzt weitermachen sollte.

»Wieviel hast du dafür bezahlt?« erkundigte sich Arctor, der von der ganzen Wagenrepariererei nicht weniger ölverschmiert war als Barris. Die beiden hatten den Vergaser, den Luftfilter, die Schläuche und alle möglichen anderen Teile abmontiert.

Freck sagte: »Ungefähr zehn Eier.«

»Jim hätte ihn dir billiger besorgen können«, sagte Arctor und machte sich wieder an die Arbeit. »Nicht wahr, Jim?«

»Im Moment kriegt man Methedrin-Kolben doch praktisch nachgeschmissen«, sagte Barris.

»Aber es ist nicht nur ein Kolben, sondern eine ganze Garage voller Geräte!« protestierte Freck. »Eine chemische Fabrik! Die spuckt pro Tag eine Million Tabs aus – mit automatischer Pillenabfüllung und allem. Mit allem!«

»Und das alles zusammen hat nur zehn Dollar gekostet?« sagte Barris und grinste breit.

»Wo steht denn diese sagenhafte chemische Fabrik?« erkundigte sich Arctor.

»Nicht hier in der Nähe«, sagte Freck unbehaglich. « Ach, Scheiße, Jungs.«

Barris hielt in seiner Arbeit inne – er legte beim Arbeiten oft Pausen ein, egal, ob jemand sich mit ihm unterhielt oder nicht – und sagte: »Weißt du, Freck, wenn du viel Meth einwirfst oder schießt, dann fängst du an, wie Donald Duck zu reden.«

»Und?« sagte Freck.

»Dann kann dich keiner mehr verstehen«, sagte Barris.

Arctor sagte: »Was hast du gerade gesagt, Barris? Ich kann dich nicht mehr verstehen. «

Barris verstellte seine Stimme und ließ sie wie die Donald Ducks klingen, wobei sein Gesicht vor Vergnügen zu tanzen schien. Freck und Arctor grinsten und genossen die Nummer. Barris konnte schier kein Ende finden, und schließlich wies er laut quakend auf den Vergaser.

»Was ist mit dem Vergaser?« erkundigte sich Arctor, jetzt nicht mehr lächelnd.

Mit normaler Stimme, aber immer noch breit grinsend, sagte Barris: »Der Choke ist verbogen. Eigentlich müßte ein ganz neuer Vergaser rein. Andernfalls könnte es dir passieren, daß der Choke plötzlich die Benzinzufuhr dichtmacht, während du den Freeway entlangfährst, und dann stehst du plötzlich dumm da, weil dir der Motor abgesoffen ist und dir irgend so ‘n Arschloch hinten draufknallt. Und wenn da nicht bald was dran gemacht wird, läuft außerdem möglicherweise noch reines Benzin an den Zylinderwänden runter und wäscht den Schmierfilm weg, so daß die Zylinder angegriffen werden und Dauerschäden entstehen. Und dann wirst du sie neu ausbohren lassen müssen.«

»Wieso ist der Choke verbogen?« fragte Arctor.

Achselzuckend machte sich Barris wieder daran, den Vergaser auseinanderzunehmen; er antwortete nicht.

Er überließ es Arctor und Charles Freck, die keine Ahnung von Motoren hatten – und von komplizierten Reparaturen wie dieser hier erst recht nicht –, selbst eine Erklärung zu finden.

In diesem Augenblick kam Luckman aus dem Haus. Er trug ein irre scharfes Hemd, hauteng geschnittene Levis und eine Sonnenbrille und hatte ein Buch unter dem Arm. »Ich hab’ gerade angerufen«, sagte er, »und jetzt prüfen sie nach, wie tief dich ein neuer Vergaser in die Miesen bringen wird. Sie wollen gleich zurückrufen, darum hab ich die Vordertür offengelassen.«

Barris sagte: »Du könntest doch gleich einen Vergaser mit doppelter Leistungsstärke einbauen lassen, wenn du schon einmal dabei bist. Natürlich müßte dann zugleich auch ein neuer Verteiler rein. Wir könnten bestimmt irgendwo ganz billig einen gebrauchten kriegen.«

»Der Motor würde im Leerlauf auf viel zu hohe Touren kommen«, sagte Luckman, »wenn man einen Rochester-Vergaser oder was anderes in der Art nimmt – daran hattest du doch gedacht, oder? Und er würde nicht richtig schalten. Er würde nicht hochschalten.«

»Man könnte die Einspritzdüsen durch kleinere ersetzen«, sagte Barris, »das würd’ das ausgleichen. Und er könnte die UpM auf einem Drehzahlmesser beobachten, damit er den Motor nicht überdreht. Er würde am Drehzahlmesser ablesen können, wenn der Wagen nicht hochschaltet. Wenn die Automatik nicht von selber hochschaltet, läßt sich das je auch bewerkstelligen, indem man den Fuß vom Gaspedal nimmt. Ich weiß sogar, woher wir einen Drehzahlmesser kriegen könnten. Ich hab’ nämlich einen.«

»Yeah«, sagte Luckman, »das mag ja noch hinhauen. Aber wenn er in einer gefährlichen Situation auf dem Freeway volle Pulle auf das Gaspedal tritt, um per Kick-down in den Überholgang zu wechseln, dann würde der Motor doch runterschalten und so stark überdrehen, daß es die Dichtungsköpfe auseinanderreißt. Und es könnte noch was Schlimmeres passieren – was viel Schlimmeres. Der ganze Motor könnte in die Luft gehen.«

Barris sagte geduldig: »Er würde die Nadel des Drehzahlmessers springen sehen und sofort den Fuß wegnehmen.«

»Beim Überholen?« sagte Luckman. »Wenn er gerade auf halber Höhe von so ‘m dicken Scheiß-Sattelschlepper ist? Scheiße, Mann, er würde weiter voll draufknallen müssen, hohe Umdrehung oder nicht; er würde den Motor hochjagen müssen, um genug Power zu haben. Wenn er nämlich langsamer würde, würde er nie an dem Kasten vorbeikommen, den er da gerade zu überholen versucht.«

»Schwung«, sagte Barris. »Bei einem so schweren Wagen wie dem hier würde ihn der Schwung vorbeitragen, selbst wenn er den Fuß vom Gas nähme.«

»Und was ist, wenn’s bergauf geht –« sagte Luckman. »Dein Schwung trägt dich sehr weit bergauf, wenn du überholst.«

Barris wandte sich an Arctor. »Dieser Wagen …« Er bückte sich, um nachzusehen, um was für eine Marke es sich handelte. »Dieser …« Seine Lippen bewegten sich. »Olds. Wieviel –«

»Er wiegt ungefähr tausend Pfund«, sagte Arctor. Charles Freck sah, wie er Luckman zublinzelte.

»Dann hast du recht«, gab Barris zu. »Bei einem so geringen Gewicht kann die träge Masse nicht hinreichend groß sein. Oder vielleicht doch?« Er wühlte in seinen Taschen nach einem Stift und etwas, worauf er schreiben konnte. »Wenn sich tausend Pfund mit hundertdreißig Stundenkilometern bewegen, ergibt das eine Kraft, die –«

»Tausend Pfund«, warf Arctor ein, »mit Insassen, einem vollen Benzintank und einer großen Kiste Ziegelsteine im Kofferraum.«

»Wie viele Insassen?« fragte Luckman. Sein Gesicht war so unbewegt wie das einer Sphinx.

»Zwölf.«

»Also sechs auf dem Rücksitz«, sagte Luckman, »und sechs auf –«

»Nein«, sagte Arctor, »elf auf dem Rücksitz. Der Fahrer sitzt allein vorn. Verstehst du, auf diese Weise lastet ein größeres Gewicht auf den Hinterrädern. Das ergibt eine bessere Bodenhaftung. Dann bricht er hinten nicht so leicht aus.«

Barris schaute beunruhigt auf. »Der Wagen bricht hinten leicht aus?«

»Außer, wenn du elf Leute hast, die auf dem Rücksitz mitfahren«, sagte Arctor.

»Dann wäre es besser, den Kofferraum mit Sandsäcken zu beladen«, sagte Barris. »Drei Sandsäcke zu je zweihundert Pfund. Dann könntest du die Beifahrer gleichmäßiger verteilen, und sie hätten es ein bißchen bequemer.«

»Wie war’s, wenn wir eine Kiste mit sechshundert Pfund Gold in den Kofferraum packen würden?« fragte Luckman ihn. »Ich meine, statt drei Säcken mit je zweihundert –«

»Kannst du nicht mal endlich die Klappe halten?« sagte Barris. »Ich versuche nämlich gerade, die Trägheit dieses Wagens bei hundertdreißig Stundenkilometern zu berechnen.«

»Der bringt sowieso keine hundertdreißig mehr«, sagte Arctor. »Einer der Zylinder ist kaputt. Ich wollte es dir eigentlich schon vorhin sagen. Ich muß da wohl gestern abend auf dem Nachhauseweg vom 7-11 was zu Klumpatsch gefahren haben. «

»Aber warum, zum Teufel, montieren wir dann eigentlich den Vergaser ab?« wollte Barris wissen. »Wenn wir das wieder in Ordnung bringen wollen, müssen wir das ganze Kopfteil des Motors abmontieren. Eigentlich sogar noch mehr. Sag mal, ist vielleicht sogar der Motorblock gesprungen? Darum also springt er nicht an.«

»Springt dein Wagen nicht an?« fragte Freck Bob Arctor.

»Er springt nicht an«, sagte Luckman, »weil wir den Vergaser abmontiert haben.«

Verwirrt sagte Barris: »Warum haben wir den Vergaser abmontiert? Ich hab’s vergessen.«

»Um die ganzen Federn und was es da sonst so an unwichtigen Teilchen gibt zu erneuern«, sagte Arctor. »Damit er nicht wieder über den Jordan geht und wir beinahe mit ihm. Der Mechaniker von der Union-Tankstelle hat uns das geraten.«

»Wenn ihr Bastarde nicht so dumm rumlabern würdet wie eine Bande von Speed-Freaks«, sagte Barris, »könnte ich endlich meine Berechnungen abschließen und euch sagen, wieviel dieser Wagen hier mit einem Rochester-Vergaser bringen würde, natürlich unter Berücksichtigung seines Gewichts und der notwendigen Modifikationen der Einspritzdüsen.« Er war jetzt echt sauer. »Also HALTET ENDLICH DAS MAUL!«

Luckman schlug das Buch auf, das er die ganze Zeit über unter dem Arm getragen hatte. Er plusterte sich so auf, daß es aussah, als sei er viel größer als gewöhnlich. Sein mächtiger Brustkorb schwoll an. Sein Bizeps ebenfall. »Höre, Barris, ich werde dir nun aus dieser Schrift lesen. « Er fing an, ungewöhnlich flüssig eine Textstelle aus dem Buch vorzulesen. »›Der, der die Gabe hat, Christus als wirklicher zu erkennen als jede andere Wirklichkeit …‹«

»Was?« sagte Barris.

Luckman las unbeirrt weiter. »›… als jede andere Wirklichkeit auf der Welt – Christus, der überall gegenwärtig ist und allerorten immer größer wird, Christus, die finale Bestimmung und das plasmatische Prinzip des Uni­versum –‹«

»Was ist das?« sagte Arctor.

»Chardin, Teilhard de Chardin.«

»Mein Gott, Luckman«, sagte Arctor.

»›… jener Mensch lebt wahrlich in einem Kosmos, wo die mannigfaltigen Phantome der Welt ihn nicht bedrängen können und die doch zugleich die aktivste Werkstatt der universellen Erfüllung ist.‹« Luckman klappte das Buch wieder zu.

Charles Freck, der dank seiner raschen Auffassungsgabe sofort begriff, daß es jetzt gleich Zoff geben würde, schob sich zwischen Barris und Luckman. »Macht doch mal halblang, Jungs.«

»Aus dem Weg, Freck«, sagt Luckman und holte weit mit dem rechten Arm aus, um Barris mit einem von unten hochgezogenen Schwinger kräftig eins zu verpassen. »Na, komm schon, Barris. Ich hab’s nicht gern, wenn jemand mich in so ‘m Ton anmacht. Dafür kriegst du jetzt eine getafelt, daß dir die Eier aus dem Sack fliegen.«

Mit einem flehentlichen, angsterfüllten Aufblöken ließ Barris Filzstift und Notizblock fallen und stürzte Hals über Kopf in Richtung der offenstehenden Haustür davon. Während er wegrannte, rief er über die Schulter zurück: »Ich glaub’, das Telefon hat gerade geklingelt. Bestimmt die Werkstatt wegen des Vergasers.«

Sie sahen ihm nach, wie er in der Tür verschwand.

»Ich wollte ihn nur ein bißchen auf den Arm nehmen«, sagte Luckman, seine Unterlippe reibend.

»Und wenn er jetzt seinen Revolver und den Schalldämpfer holt?« sagte Freck, dessen Nerven zum Zerreißen gespannt waren. Schrittchenweise bewegte er sich auf seinen Wagen zu, um sich blitzschnell dahinter in Deckung werfen zu können, falls Barris zurückkam und das Feuer auf sie eröffnete.

»Machen wir weiter«, sagte Arctor zu Luckman. Die beiden wandten sich wieder der Reparatur des Vergasers zu, während Freck sich ängstlich bei seinem eigenen Wagen herumdrückte und sich fragte, warum er bloß auf die Idee gekommen war, heute hier reinzuschauen. Von der lockeren Atmosphäre, die sonst hier herrschte, war nichts, aber auch rein gar nichts zu spüren. Schon von Anfang an hatte er die häßlichen Untertöne beim Herumalbern bemerkt. Was, zum Teufel, ist eigentlich nicht in Ordnung? fragte er sich und stieg in düsterer Stimmung wieder in seinen Wagen, um den Motor anzulassen.

Wird sich hier auch alles zum Schlimmeren wenden, fragte er sich, so wie in Jerry Fabins Haus während der letzten Wochen mit ihm? Früher ging’s da ja auch immer ganz locker zu, dachte er. Alle machten sich einen Lenz und törnten sich an, während sie auf Acid-Rock, besonders auf den Stones, abfuhren. Donna saß da, in Lederjäckchen und Stiefeln, und füllte Kapseln; Luckman drehte Joints und erzählte dabei von dem Seminar über Doperauchen und Jointdrehen, das er an der UCLA[3] abzuhalten gedachte, und von dem absolut perfekten Joint, den er eines Tages plötzlich drehen würde und den man als Teil der amerikanischen Geschichte zusammen mit all den anderen Reliquien, die für das amerikanische Nationalbewußtsein von so großer Wichtigkeit waren, unter Glas – in einer mit Helium gefüllten Vitrine – in der Constitution Hall ausstellen würde. Wenn ich zurückblicke, dachte Freck, sogar nur bis zu dem Tag, als Jim Barris und ich neulich bei Fiddler’s saßen … sogar da war noch alles besser. Jerry war der Anfang, dachte er; und jetzt geht genau das, was uns Jerry weggenommen hat, auch hier los. Wie können Tage und Ereignisse und Augenblicke, die so gut waren, bloß so schnell häßlich werden, und das ohne jeden Grund, ohne jeden wirklichen Grund? Einfach nur – ein Wandel. Und da ist nichts, was ihn verursacht.

»Ich verzieh’ mich«, sagte er zu Luckman und Arctor, die zu ihm hinüberschauten, als er den Motor im Leerlauf aufheulen ließ.

»He, Mensch, bleib doch noch was«, sagte Luckman mit einem wannen Lächeln. »Wir brauchen dich. Du bist unser Bruder.«

»Ach Scheiß, ich hab’ keine Lust mehr.«

Barris erschien vorsichtig in der Haustür. Er hielt einen Hammer in der Hand. »Falsch verbunden«, rief er, als er zögernd näher kam, wobei er immer wieder innehielt und umherspähte wie die Monsterkrabbe in einem billigen Horrorfilm.

»Wofür brauchst du den Hammer?« fragte Luckman.

Arctor sagte: »Um den Motor zu reparieren.«

»Ich dachte, ich bring’ ihn einfach mal mit«, erklärte Barris, während er zaghaft wieder zu dem Olds hinüberging, »weil ich gerade im Haus war und ihn da rumliegen sah.«

»Niemand ist so gefährlich wie der«, sagte Arctor, »der sich vor seinem eigenen Schatten fürchtet.« Das war das letzte, was Freck noch mitbekam, bevor er wegfuhr; er zerbrach sich den Kopf darüber, was Arctor damit wohl meinte. Vielleicht war das auf ihn, Charles Freck, gemünzt gewesen? Er fühlte sich beschämt. Aber Scheiße noch mal, dachte er, warum weiter hier rumhängen, wenn’s einen so abtörnt? Das bringt doch sowieso nichts. Nur immer schön auf Abstand bleiben, wenn irgendwo Trouble im Anmarsch ist, befahl er sich selbst; das war sein Leitspruch im Leben. Und darum fuhr er jetzt weg, ohne noch einmal zurückzuschauen. Sollen sie sich doch gegenseitig in die Pfanne hauen, dachte er. Was hab’ ich denn überhaupt mit denen am Hut? Aber er fühlte sich mies, echt mies, weil er einfach so wegfuhr und sie allein ließ und weil er miterlebt hatte, wie auch hier der Wandel einsetzte, der alles verdunkelte. Und wieder fragte er sich, warum es bloß dazu gekommen war und wie das alles noch enden würde. Aber dann kam ihm der Gedanke, daß die Dinge später vielleicht wieder anders laufen würden, daß es auch wieder bergauf gehen konnte, und das hob seine Stimmung, ja, es veranlaßte ihn sogar dazu, in seinem Kopf eine kurze Phantasienummer abzuspulen, während er so dahinkreuzte, sorgsam darauf bedacht, keinem der unsichtbaren Polizeiwagen in die Quere zu kommen.


DA SASSEN SIE ALLE WIEDER BEISAMMEN WIE FRÜHER


Sogar die Leute, die entweder tot oder ausgebrannt waren, wie etwa Jerry Fabin. Sie alle saßen da, in so einer Art klarem, weißem Licht, das kein Tageslicht war, sondern etwas viel Besseres, eine Art Meer aus Licht, das sie gleichmäßig von allen Seiten umgab.

Und Donna und die anderen Puppen sahen so scharf aus – sie hatten rückenfreie T-shirts und Hot Pants an oder auch halb durchscheinende Blusen aus indischer Baumwolle, natürlich ohne BH. Er konnte Musik hören, ohne allerdings in der Lage zu sein, zu sagen, was für eine Nummer es war und von welcher LP sie stammte. Vielleicht Hendrix! dachte er. Yeah, eine alte Hendrix-Nummer, oder nun, ganz plötzlich, etwas von Janis Joplin. Die Nummer stammte von ihnen allen zugleich: von Jim Croce und von J. J. aber in erster Linie von Hendrix. »Bevor ich sterbe«, murmelte Hendrix gerade, »laßt mich mein Leben so leben, wie ich es möchte«, und an dieser Stelle riß der Film in seinem Kopf, weil er vergessen hatte, daß Hendrix tot war und wie Hendrix und auch Janis gestorben waren, von Croce gar nicht zu reden. Hendrix und J. J. krepiert an einer Überdosis Smack, alle beide, zwei so dufte und coole Typen wie sie, zwei Menschen, die mit ungeheurer Intensität lebten, und er erinnerte sich, einmal gehört zu haben, daß Janis’ Manager ihr nur dann und wann mal ein paar hundert Eier ausgezahlt hatte; den Rest – praktisch alles, was sie verdiente – wollte er ihr wegen ihrer Heroinsucht nicht geben. Und dann hörte Freck in seinem Kopf Janis’ Song »All Is Loneliness«, und er begann zu weinen. Und in diesem Zustand fuhr er weiter in Richtung Heimat.


*


Als Robert Arctor zusammen mit seinen Freunden im Wohnzimmer saß und zu einer Entscheidung darüber zu gelangen versuchte, ob er nun den Vergaser überholen lassen oder sich nicht doch vielleicht einen neuen Vergaser oder sogar einen modifizierten Vergaser – plus einem neuen Verteiler – anschaffen sollte, spürte er die schweigende, nie aussetzende Überwachung durch die Holo-Kameras, ihre elektronische Allgegenwart. Es war ein beruhigendes Gefühl.

»Du machst so ‘n gutgelaunten Eindruck«, sagte Luckman. »Wenn ich hundert Eier rausschieben müßte, wär’ ich nicht so guter Laune.«

»Ich hab’ gerade beschlossen, so lange rumzuziehen, bis ich auf einen Olds wie meinen stoße«, erklärte Arctor. »Und dann montiere ich denen ihren Vergaser raus und bezahle gar nichts. So machen’s doch alle, die wir kennen.«

»Besonders Donna«, sagte Barris beipflichtend. »Es wäre mir lieber gewesen, wenn sie nicht ins Haus gekommen wäre, während wir neulich weg waren. Donna stiehlt alles, was sie wegtragen kann, und wenn sie’s nicht alleine wegtragen kann, dann ruft sie eben ihre Bande von Klaubrüdern an, und die kreuzen auf und tragen’s für sie weg.«

»Ich will euch mal eine Geschichte erzählen, die ich über Donna gehört habe«, sagte Luckman. »Also: Irgendwann hat Donna mal ‘n Vierteldollar in einen dieser Briefmarkenautomaten reingesteckt – ihr wißt schon, so einen mit Rollenmarken drin –, und die Maschine ist ausgeflippt und hat gar nicht mehr damit aufgehört, Briefmarken rauszukurbein. Nach ‘ner Zeit hatte sie schon einen ganzen Einkaufskorb voll. Aber der Automat hat immer noch mehr von dem Zeug ausgespuckt. Am Ende hatte sie so ungefähr – sie und ihre Klaubrüder haben sie gezählt – gut achtzehntausend 15-Cent-Marken. Tja, das war ja schon mal ‘ne heiße Sache – nur: Was sollte Donna Hawthorne damit machen? Schließlich hat sie noch nie in ihrem ganzen Leben einen Brief geschrieben, außer damals, als sie ihre Rechtsanwalt damit beauftragt hat, einen Typen zu belangen, der sie bei einem Deal gelinkt hatte.«

»Das hat Donna gemacht?« sagte Arctor. »Sie hat wirklich einen Rechtsanwalt eingeschaltet, als sie bei einer illegalen Transaktion betrogen worden ist? Wie geht denn das?«

»Vielleicht hat sie einfach behauptet, der Macker würde ihr Flöhe schulden.«

»Stell dir bloß mal vor, du würdest nach einem Deal von einem Rechtsanwalt einen bitterbösen Mahnbrief kriegen«, sagte Arctor. »Nach dem Motto: ›Entweder Sie zahlen, oder wir gehen vor Gericht!‹« Wie schon so oft konnte er auch jetzt wieder nur über Donna staunen.

»Jedenfalls«, fuhr Luckman fort, »stand sie also nun mit einem Einkaufskorb da, der randvoll mit 15-Cent-Marken war – achtzehntausend mindestens. Was zum Teufel fängt man damit an? Schließlich kann man sie nicht ans Postamt zurückverkaufen. Und wenn die Leute von der Post aufkreuzten, um den Automaten zu warten, würden sie feststellen, daß er ausgeflippt war, und wenn dann jemand mit lauter 15-Cent-Marken an einem Schalter auftauchte, besonders mit ‘ner Rolle davon – Scheiße, die würden doch sofort kapiert haben, woher der Wind weht; wahrscheinlich würden sie sogar schon auf Donna gewartet haben, stimmt’s? Also legte sie sich einen anderen Plan zurecht – natürlich erst, nachdem sie die Briefmarkenrolle in ihren MG geladen hatte und weggefahren war –, und dann rief sie ein paar von ihren Klaubrüdern an, mit denen sie immer zusammenarbeitet, und befahl ihnen, zu ihr rüberzukommen und einen Preßlufthammer mitzubringen, so ein Spezialmodell, wassergekühlt und mit Flüssigkeits-Schalldämpfung, ein richtig irres Ding, das sie – so wahr mir Gott helfe! – auch geklaut hatten. Mitten in der Nacht gruben sie dann den einbetonierten Briefmarkenautomaten aus und schafften ihn in ihre Bude, auf der Ladefläche eines Ford Ranchero. Der vielleicht auch geklaut war. Und das alles wegen der Briefmarken.«

»Willst du damit sagen, daß sie die Briefmarken verkauft haben?« fragte Arctor verblüfft. »Aus dem Automaten? Marke für Marke?«

»Nach dem, was ich gehört habe, legten sie jedenfalls die Rolle wieder ein und stellten die Automaten wieder auf, an einer belebten Kreuzung, wo eine Menge Leute vorbeikommen, aber natürlich ein wenig versteckt, so daß er nicht zufällig von einem Postauto aus gesichtet werden konnte. Und dann setzten sie ihn wieder in Betrieb.«

»Es wäre klüger gewesen, den Münzspeicher aufzubrechen«, sagte Barris.

»Also verkauften sie von da an Briefmarken«, sagte Luckman, »so ein paar Wochen lang, eben bis die Maschine vollständig leer war, was ja irgendwann einmal der Fall sein mußte. Aber was, zum Teufel, sollten sie dann damit anfangen? Ich kann mir gut vorstellen, wie Donnas Gehirn während jener Wochen an diesem Problem arbeitete, dieses bauernschlaue Gehirn … sie ist bäuerlicher Abstammung, ihre Familie kommt aus irgendeinem europäischen Land. Kurz und gut, als die Rolle dann aufgebraucht war, da hatte Donna beschlossen, den Automaten auf Softdrinks umzustellen. Eine riskante Sache, denn das sieht das Postministerium nun gar nicht gern. Dafür wandert man für immer in den Knast. «

»Ist das wirklich wahr?« fragte Barris.

»Ist das wirklich wahr?« fragte Luckman.

Barris sagte: »Dieses Mädchen ist asozial. Man sollte sie auf der Stelle verhaften lassen. Begreift ihr überhaupt, daß alle unsere Steuern erhöht worden sind, weil sie diese Briefmarken gestohlen hat?« Es klang jetzt wieder sehr wütend.

»Schreib doch an die Regierung und erzähl’s ihnen«, sagte Luckman. Sein Widerwille gegen Barris ließ sein Gesicht ganz kalt werde. »Und bitte Donna um eine Marke, damit du den Brief damit frankieren kannst; sie wird die bestimmt eine verkaufen.«

»Zum vollen Preis«, sagte Barris ebenso aggressiv.

Die Holos, dachte Arctor, werden Kilometer um Kilometer von solchem Zeug auf ihren teuren Bändern speichern. Nicht Kilometer um Kilometer toter Bänder, sondern Kilometer um Kilometer total ausgeflippter Bänder.

Plötzlich kam ihm der Gedanke, daß – zumindestens für ihn … für wen? … für Fred – nicht das wichtig war, was sich abspielte, während Robert Arctor vor einer Holo-Kamera saß, sondern das, was geschah, während Bob Arctor anderswo war oder schlief und andere Personen sich im Bereich der Aufzeichnungsgeräte aufhielten. Und darum, dachte er, sollte ich jetzt ganz wie geplant einen Abgang machen, sollte diese Jungs hier allein lassen und andere Leute, die ich kenne, zu ihnen rüberschicken. Ich sollte mein Haus von jetzt an superzugänglich machen.

Und dann nahm in seinem Innern ein schrecklicher, häßlicher Gedanke Gestalt an. Angenommen, ich sehe Donna hier drinnen, wenn ich die Bänder durchlaufen lasse – Donna, die mit einem Löffel oder einer Messerklinge ein Fenster öffnet, hereinschlüpft und mein Eigentum zerstört oder stiehlt. Eine andere Donna: meine kleine Donna, wie sie in Wirklichkeit ist, oder wie sie jedenfalls immer dann ist, wenn ich sie nicht sehen kann. Die philosophische »Wenn ein Baum im Walde stürzt«-Nummer. Wie ist Donna, wenn keiner in der Nähe ist und sie beobachtet?

Verwandelt sich, so fragte er sich, dieser sanfte, liebenswerte Zankteufel, dieses super-gutherzige Mädchen dann schlagartig in eine verschlagene, heimtückische Fremde? Werde ich eine Veränderung miterleben, die mir fast den Verstand raubt? Bei Donna oder bei Luckman, bei irgend einem von denen, für die ich etwas empfinde? Nimm nur einmal deine Schoßkatze oder deinen Schoßhund … was mögen die tun, wenn du aus dem Haus bist? Die Katze schnappt sich vielleicht einen Kissenbezug und fängt an, deine ganzen Wertgegenstände hineinzustopfen; die elektrische Uhr, den elektrischen Radiowecker, den Rasierapparat, eben alles, was sie nur einsacken kann, bevor du zurückkommst; während du weg bist, ist sie wie verwandelt, eine ganz andere Katze, die dich beklaut und alles zur Pfandleihe bringt und deine Joints raucht oder an der Decke entlangspaziert oder Ferngespräche mit Unbekannten führt … und Gott weiß was noch. Ein Alptraum, eine verkehrte Welt hinter dem Spiegel, eine Stadt des Schreckens, in der wirklich alles möglich ist und in deren Straße unsägliche Wesenheiten herumkriechen; Donna, die auf allen vieren kriecht und aus den Futternäpfen der Haustiere frißt … wilde psychedelische Trips jeder Art, unauslotbar und abscheulich.

Wahnsinn, dachte er; ebensogut könnte es sein, daß Bob Arctor mitten in der Nacht aus tiefem Schlaf aufsteht und auf solche Trips geht. Vielleicht hat er sexuelle Beziehungen mit der Wand. Oder mysteriöse Freaks tauchen auf, die er nie zuvor gesehen hat, ein ganzer Haufen davon, und sie alle haben eine besondere Art von Köpfen, die sich um 360 Grad drehen lassen, wie die von Eulen. Und die Überwachungsmikrophone werden die total abstrusen, geisteskranken Verschwörerpläne aufzeichnen, die er gemeinsam mit ihnen ausheckt und die vorsehen, das Herrenklo an der nächsten Standard-Tankstelle in die Luft zu jagen, indem man die Toilette mit Plastiksprengstoff füllt – aus gott weiß was für hirnverbrannten Gründen auch immer. Vielleicht passiert diese Art von Zeug jede Nacht, während er zu schlafen glaubt, und ist am Tag aus seiner Erinnerung wie weggewischt.

Bob Arctor, mutmaßte er, mag mehr über sich selbst erfahren, als er zu erfahren bereit ist, mehr als über Donna mit ihrem Lederjäckchen und über Luckman mit seinen modischen Klamotten und sogar über Barris – vielleicht geht Jim Barris ja einfach nur schlafen, wenn keiner in der Nähe ist, und schläft so lange, bis die anderen wiederauftauchen.

Aber daran vermochte er nicht zu glauben. Da war es schon wahrscheinlicher, daß Barris unter dem ganzen Müll in seinem Zimmer – das wie alle anderen Räume des Hauses jetzt erstmals rund um die Uhr überwacht wurde – einen verborgenen Sender hervorzauberte und ein kryptisches Signal an jene Bande von kryptischen Arschlöchern abstrahlte, mit denen er laufend aus irgendeinem Grunde konspirierte, aus denen Leute wie er oder sie halt zu konspirieren pflegten. Vielleicht, überlegte Bob Arctor, bilden sie eine andere Abteilung der Behörden.

Andererseits würden Hank und die Jungs im Hauptquartier nicht allzu glücklich sein, wenn Bob Arctor jetzt, da die Kameras und Monitoren geschickt und unter hohem Kostenaufwand montiert worden waren, sein Haus verließ und nie wieder gesehen ward; nie auf einem der Bänder auftauchte. Er konnte deshalb nicht einfach verschwinden, um seine eigenen Überwachungspläne auf Kosten der ihren durchzuführen. Schließlich waren sie die Geldgeber dieses Projekts.

In dem Drehbuch, das hier verfilmt wurde, würde immer nur er der Starschauspieler sein müssen. Arctor – actor – Schauspieler, dachte er. Bob, der Schauspieler, der gejagt wird; er, der Staatsfeind Nummer eins.

Es heißt, daß man seine eigene Stimme nicht wiedererkennt, wenn man sie zum erstenmal auf Tonband hört. Und wenn man sich selbst auf einem Videoband sieht – oder, wie in diesem Fall, in einem 3-D-Hologramm –, dann erkennt man sich ebensowenig wieder. Man hat sich vorgestellt, ein großer fetter Mann mit schwarzen Haaren zu sein, und statt dessen ist man eine winzige, dünne Frau mit Glatze … kann das so weit gehen? Ich bin sicher, daß ich Bob Arctor erkennen werde, dachte er, und sei es auch nur an den Kleidern, die er trägt, oder durch einen Eliminationsprozeß. Das, was nicht Barris oder Luckman ist und hier wohnt – das muß Bob Arctor sein. Falls es nicht einer der Hunde oder eine der Katzen ist. Ich werde versuchen müssen, mein professionell geschultes Auge immer auf etwas gerichtet zu halten, das aufrecht geht.

»Barris«, sagte er, »ich mach’ mal ‘n Abflug. Vielleicht kann ich ja irgendwo ‘n paar Schnäppchen machen.« Dann tat er so, als erinnere er sich plötzlich daran, daß er im Moment keinen Wagen hatte; er verzog passend zu diesem Gedanken sein Gesicht. »Luckman«, sagte er, »läuft dein Falcon eigentlich wieder richtig?«

Luckman überlegte. »Nein«, sagte er dann nachdenklich, »ich glaube nicht.«

»Kann ich deinen Wagen haben, Jim?« fragte Arctor Barris.

»Ich frage mich … ob du mit meinem Wagen klarkommen kannst«, sagte Barris.

Barris brachte diesen Einwand immer vor, wenn jemand versuchte, seinen Wagen auszuleihen. Er hatte nämlich daran geheime Modifikationen vornehmen lassen, deren Natur er nie näher erläuterte und die sowohl

(a) die Radaufhängung

(b) den Motor

(c) den Gaszug

(d) die Hinterachse

(e) das Getriebe

(f) das elektrische System

(g) die Vorderachse und die Lenkung als auch

(h) die Uhr, den Zigarettenanzünder, den Aschenbecher und das Handschuhfach betrafen. Besonders das Handschuhfach. Barris hielt es immer verschlossen. Auch das Radio war auf raffinierte Weise verändert worden (aber das Warum und das Wie blieben unerklärt). Wenn man einen Sender einstellte, hörte man immer nur Piepser, und zwar stets in Abständen von einer Minute. Alle Druckknöpfe brachten nur diese eine Sendung herein, die keinen Sinn ergab. Und merkwürdigerweise spielte dieser Sender nie irgendwelche Rockmusik. Manchmal, wenn sie Barris zu einem Einkauf begleiteten, stellte er den mysteriösen Sender auf ganz besondere Weise ein und drehte das Radio sehr laut, bevor er den Wagen parkte, ausstieg und sie allein im Wagen zurückließ. Wenn sie den Sender während seiner Abwesenheit wechselten, wurde er ganz komisch und weigerte sich, sich auf dem Heimweg mit ihnen zu unterhalten oder ihnen auch nur eine Erklärung für sein Verhalten zu geben. Bisher hatte er es ihnen noch nie erklärt. Vielleicht begann das Radio ja zu senden, wenn es auf jene Frequenz eingestellt war, und am Empfänger saßen

(a) die Behörden

(b) eine private, paramilitärische Polit-Organisation

(c) das Syndikat

(d) Außerirdische einer höheren Intelligenzstufe.

»Womit ich nur ausdrücken will«, sage Barris, »daß er –«

»Ach Quatsch!« unterbrach Luckman ihn barsch. »Das ist ein Wagen mit ‘nem ganz gewöhnlichen Sechszylindermotor, du Arsch. Wenn wir ihn in der Stadt abstellen, fährt ihn doch auch der Parkwächter. Warum dann nicht Bob? Du Arschloch.«

Natürlich hatte Bob Arctor ebenfalls veranlaßt, daß ein paar Zusatzgeräte in sein Autoradio eingebaut und gut getarnte Modifikationen daran vorgenommen wurden. Aber er sprach nicht darüber. Eigentlich war es ja auch Fred gewesen, der das veranlaßt hatte. Jedenfalls war es auf Veranlassung von irgend jemandem geschehen, und nun vollbrachten diese Geräte ein paar Kunststückchen, die ein wenig denen ähnelten, die Barris’ diverse elektronische Geräte dessen eigener Aussage nach angeblich auch vollbrachten. Was sie aber natürlich in Wirklichkeit nicht taten.

Beispielsweise strahlt jedes Polizeifahrzeug auf der vollen Breite des Frequenzspektrums ein besonderes Interferenzsignal ab, das in einem normalen Autoradio den gleichen Effekt erzeugt wie ein nicht hinreichend entstörter Motor. Jeder gewöhnliche Autofahrer würde höchstens mutmaßen, daß die Zündung des Polizeiwagens defekt sei. In seiner Eigenschaft ab Geheimer Rauschgift-Agent war Bob Arctor jedoch von der Gerätestelle der Behörden eine Apparatur ausgehändigt worden, die ihm, nachdem er sie ins Autoradio eingebaut hatte, eine Menge über das verriet, was um ihn herum vorging, wohingegen die Geräusche anderen Leuten – jedenfalls den meisten anderen Leuten – überhaupt keine Informationen gaben. Diese anderen Leute erkannten nicht einmal, daß das statische Rauschen ein Informationsträger war. Zuerst einmal verrieten die verschiedenen Untertöne Bob Arctor, wie weit das jeweilige Polizeifahrzeug sich seinem eigenen Wagen genähert hatte und zu welcher Abteilung oder Behörde es gehörte – zur Stadtpolizei, zur Polizei des County, zur Autobahnpolizei, zur Bundespolizei oder wozu auch immer. Ferner empfing er auch die in einminütigen Abständen abgestrahlten Piepser, die zur Zeitkontrolle für Beamte in einem parkenden Fahrzeug dienten; dank dieser Signale konnten sie feststellen, wie lange sie schon warteten, ohne dauernd auf die Uhr zu schauen, was ja Verdacht erregen mochte. Das war zum Beispiel dann von Nutzen, wenn man beschlossen hatte, in exakt drei Minuten ein bestimmtes Haus zu stürmen. Das zt zt zt im Autoradio verriet den Beamten präzise, wann diese drei Minuten verstrichen waren.

Er wußte auch über die AM-Station Bescheid, die pausenlos nur Top-Ten-Hits und ähnliches Zeug plus eine wahre Sturzflut von DJ-Gelaber sendete – DJ-Gelaber, das sich manchmal auf merkwürdige Weise in etwas ganz anderes verwandelte. Wenn jemand das Radio auf diese Station einstellte und das Gedudel der Musik den Wagen erfüllte, dann würde dieser Jemand, falls er nur mit halbem Ohr zuhörte, den Eindruck gewinnen, einen ganz gewöhnlichen Popmusiksender mit typischem, ödem DJ-Gelaber erwischt zu haben, und entweder nicht auf dieser Welle bleiben oder wenigstens nicht merken, daß der vorgebliche Disc-Jockey manchmal in genau demselben gedämpften Plauderton, in dem er sagte: »Und hier ist eine Nummer für Phil und Jane, ein neuer Song von Cat Stevens, mit dem Titel –« plötzlich Sachen sagte, die eher klangen wie: »Blaues Fahrzeug, rücken Sie eine Meile weiter nach Norden in Richtung Bastanchury vor. Alle anderen Einheiten –« und so weiter. Er hatte noch nie erlebt, daß einer der vielen Macker oder eine der Puppen, die mit ihm fuhren, irgend etwas davon bemerkt hatte – nicht einmal dann, wenn er aufgrund einer dienstlichen Anweisung dazu gezwungen war, den Polizeifunk laufen zu lassen, weil gerade irgendwo eine Razzia oder eine andere Großaktion anlief, in die er vielleicht einbezogen werden mochte. Möglicherweise hatten jene seiner Mitfahrer, die doch etwas mitkriegten, einfach geglaubt, auf einem privaten Horrortrip oder paranoid zu sein, und die ganze Sache schnell wieder vergessen.

Und er erkannte auch die vielen nicht als solche gekennzeichneten Polizeifahrzeuge – alte Chevys zum Beispiel, die mit dröhnenden (und gesetzlich verbotenen) Doppelröhren und Rallyestreifen aufgemotzt waren und von wild aussehenden Freaktypen gesteuert wurden, die sich weder um Geschwindigkeitsbeschränkungen noch um andere Verkehrsregeln kümmerten –, weil die besondere Art von informationstragender Statik, die aus dem Radio drang, ihm ihre wahre Natur verriet, wenn sie an seiner Stoßstange klebten oder an ihm vorbeischossen. Er hatte längst gelernt, gar nicht mehr darauf zu achten.

Wenn er die Taste drückte, mit der man normalerweise das Autoradio von AM auf FM umstellte, dann quoll nicht nur ein von einer ganz bestimmten Station auf einer ganz bestimmten Frequenz gesendeter Strom sich endlos wiederholender, stupider Disco-Musik aus dem Lautsprecher, sondern zugleich schaltete sich dadurch auch ein innerhalb des Radios verborgenes, mit einem Sender gekoppeltes Mikrophon ein, das von diesem Zeitpunkt an alles, was die Insassen seines Wagens sagten, aufnahm, zerhackte und ins Behördenzentrum abstrahlte, während zugleich die lärmende Musik, die aus dem Lautsprecher flutete, mit Hilfe eines Spezialfilters unterdrückt wurde. Von der Musik – egal, wie laut sie auch immer dudeln mochte – bekamen die Leute im Behördenzentrum nichts mit. Sie störte ihre Abhörtätigkeit nicht im geringsten; der Spezialfilter eliminierte sie vollständig.

Das, was Barris zu besitzen behauptete, hatte tatsächlich ein gewisse Ähnlichkeit mit dem, was er, Bob Arctor, in seiner Eigenschaft als Geheimer Rauschgift-Agent wirklich in seinem Autoradio hatte; aber über das hinaus waren an seinem Wagen keinerlei weitere Modifikationen vorgenommen worden, weder an der Radaufhängung noch am Motor noch sonstwo. Das wäre zu plump und auffällig gewesen. Und außerdem konnten ja Millionen von Autofanatikern die gleichen haarigen Umbauten an ihren Wagen vornehmen; darum hatte er sich nur darum bemüht, einen Wagen mit möglichst vielen PS zugeteilt zu bekommen, und es dabei bewenden lassen. Ein Fahrzeug mit hoher Motorleistung kann nun einmal jeden anderen Wagen überholen und abhängen. In dieser Hinsicht redete Barris viel Stuß; ein Ferrari verfügt schon serienmäßig über Radaufhängungen, Fahreigenschaften und eine Lenkung, gegen die keine wie auch immer gearteten »geheimen Modifikationen« ankommen können, also zum Teufel damit. Und Bullen können sich keine Sportwagen leisten, nicht mal billige. Von Ferraris gar nicht zu reden. Letztendlich ist es immer das fahrerische Können, das alles entscheidet.

Über eine Spezialausstattung verfügte sein Wagen allerdings doch – nämlich über sehr ungewöhnliche Reifen. Vor Jahren hatte die Firma Michelin in ihrer X-Serie damit begonnen, Reifen mit eingezogenen Stahlbändern auf den Markt zu bringen. Die Reifen an Bob Arctors Wagen hingegen waren ganz aus Metall. Sie nutzten sich zwar schnell ab, hatten aber Vorteile hinsichtlich der Geschwindigkeit und der Beschleunigung. Ihr größter Nachteil war ihr Preis, aber er bekam sie umsonst – von einer behördlichen Zuteilungsstelle, die im Gegensatz zu der, von der er sein Geld erhielt, kein Dr.-Pepper-Automat war. Die Behördenstelle arbeitete sehr zuverlässig, aber natürlich erhielt er immer nur dann eine neue Zuteilung, wenn es unumgänglich notwendig war. Die Reifen zog er selbst auf, wenn ihn niemand beobachtete. Wie er auch die Zusatzgeräte in seinem Radio selbst montiert hatte.

Seine einzige Sorge wegen des Radios war nicht die mögliche Entdeckung der Umbauten durch jemanden, der – wie Barris – herumschnüffelte, sondern die Möglichkeit eines ganz gewöhnlichen Diebstahls. Wegen der zusätzlichen Geräte würde es eine teure Angelegenheit werden, das Radio im Falle eines Diebstahls zu ersetzen; er würde sich bei der Zuteilungsstelle wahrscheinlich den Mund fusselig reden müssen, bevor man ihm ein neues Radio zugestand.

Natürlich hatte er in seinem Wagen auch eine Waffe versteckt. Barris, gefangen in seinen grellen, ausgeklinkten Acid-Phantasien, würde das Versteck wohl niemals gerade da eingerichtet haben, wo es sich wirklich befand. Barris hätte bestimmt einen möglichst exotischen Platz gewählt, um die Waffe zu verbergen, etwa einen Hohlraum in der Lenksäule. Oder den Benzintank. Ja, wahrscheinlich hätte er die Waffe – ähnlich wie die Helden in dem klassischen Streifen Easy Rider ihre Ladung Koks – an einem Draht in den Benzintank baumeln lassen. Nebenbei bemerkt war gerade dieser Ort wohl das ungeeignetste Dope-Versteck, das man sich nur vorstellen konnte. Jedem Bullen, der den Film mitgekriegt hatte, war wohl sofort das klargewesen, was clevere Psychiatertypen später aufgrund hochwissenschaftlicher Analysen herausgefunden hatten: nämlich, daß die beiden Motorradfahrer es unterbewußt darauf anlegten, erwischt und möglichst auch getötet zu werden. Seine Waffe – die in seinem Wagen – lag im Handschuhfach.

Die angeblich so raffinierten Apparätchen, auf die Barris dauernd anspielte, wenn er von seinem eigenen Wagen sprach, hatten möglicherweise sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit der Wirklichkeit, der Wirklichkeit von Arctors umgerüsteten Wagen, weil viele der radiotechnischen Gimmicks, die Arctor zur Verfügung standen, längst weite Verbreitung gefunden hatten und in TV-Spätprogrammen und in Talkshows von Elektronik-Experten vorgeführt worden waren, die an ihrer Entwicklung beteiligt gewesen waren oder in Fachzeitschriften darüber etwas gelesen hatten oder sie mal gesehen hatten oder aus den Polizeilaboratorien gefeuert worden waren und nun einen Groll gegen ihren früheren Arbeitgeber hegten. Daher wußte der Durchschnittsbürger (oder, wie Barris in seiner pseudo-gebildeten Art stets sagte, der typische Durchschnittsbürger) inzwischen, daß kein gewöhnlicher Bulle das Risiko einging, einen mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Gegend rasenden, hochfrisierten und mit Rallyestreifen aufgemotzten 57er Chevy, hinter dessen Steuer ein Etwas saß, das wie ein wildgewordener Teenager aussah, der ausgeflippt war, weil er zu viel Coors-Bier intus hatte, anzuhalten – nur um herauszufinden, daß er einen Geheimen Rauschgift-Agenten gestoppt hatte, der seiner Beute dicht auf den Fersen war. Demnach wußte der typische Durchschnittsbürger also heutzutage, wie und warum diese ganzen Geheimfahrzeuge, die durch die Straßen röhrten, alte Damen erschreckten und manche Spießer so abschockten, daß sie sich hinsetzten und entrüstete Briefe an die Regierung schrieben, im munteren Hin und Her Identifikationssignale miteinander oder mit ihrer jeweiligen Leitstelle austauschten … aber was machte das schon aus? Wirkliche Probleme – erschreckende Probleme sogar –würde es erst geben, wenn die Puks, die Hot-Rod-Freaks, die Motorradrocker und besonders die Dealer, Zwischenträger und Großhändler es fertigbrachten, auch in ihre Fahrzeuge solche ausgeklügelten Vorrichtungen einzubauen.

Dann nämlich konnten sie einfach an jedem Bullen vorbeirauschen. Ungestraft.

»Dann gehe ich eben zu Fuß«, sagte Arctor. Genau das hatte er ja ohnehin tun wollen; er hatte sowohl Barris als auch Luckman elegant ausgetrickst. Er mußte zu Fuß gehen.

»Wo willst du hin?« erkundigte sich Luckman.

»Rüber zu Donna.« Es war unmöglich, zu Fuß bis zu ihrer Bude zu gelangen; mit dieser Ankündigung stellte er sicher, daß keiner der beiden Männer auf die Idee kam, ihn zu begleiten. Er zog sich den Mantel an und trabte zur Haustür. »Bis später, Jungs.«

»Mein Wagen –« setze Barris ein wenig schuldbewußt noch einmal zu einer Erklärung an.

»Wenn ich versuchen würde, deinen Wagen zu fahren«, sagte Arctor, »würde ich bestimmt den falschen Knopf drücken und plötzlich wie der Goodyear-Zeppelin hoch über Los Angeles schweben, und dann würde ich dazu engagiert werden, borsaueres Salz über brennenden Ölquellen abzuwerfen.«

»Ich bin froh, daß du meine schwierige Lage zu würdigen weißt«, murmelte Barris, während Arctor die Tür hinter sich schloß.


*


Fred saß in seinem Jedermann-Anzug vor dem Holo-Schirm von Monitor Zwei und betrachtete teilnahmslos die in rascher Folge vor seinen Augen wechselnden Bilder. Im Kontroll-Zentrum waren noch weitere Beobachter mit der Durchsicht holografischen Bildmaterials beschäftigt, das die an allen möglichen anderen Orten installierten Kameras hierher übermittelt hatten. Meist handelte es sich um Aufzeichnungen. Fred jedoch betrachtete eine Live-Übertragung gerade jetzt ablaufender Ereignisse; zwar zeichnete das ihm zugewiesene Gerät auch auf, aber er hatte das Speicherband mit einer besonderen Schaltung umgangen, damit die Bilder, die eben in diesem Moment aus Bob Arctors angeblich so heruntergekommenem Haus übertragen wurden, gleichzeitig auch auf den Holo-Schirmen erschienen.

Im Innern des Hologramms saßen – in naturgetreuen Farben und mit sehr guter Auflösung – Barris und Luckman. Barris kauerte im besten Wohnzimmersessel und beugte sich über eine Hasch-Pfeife, an der er schon seit Tagen herum werkelte. Er umwickelte den Kopf der Pfeife in endlosen Lagen mit weißem Bindfaden; er konzentrierte sich so sehr auf diese Arbeit, daß sein Gesicht zu einer Maske erstarrt war. Am Kaffeetisch hockte Luckman über einer Portion Swanson’s Hühnchen-Schlemmermahl für frohe Fernsehstunden, die er in großen Bissen herunterschlang, während er sich einen Western im Fernsehen ansah. Vier Bierdosen, allesamt leer, lagen auf dem Tisch, von seiner mächtigen Faust zerquetscht; gerade griff er nach einer fünften, noch halbvollen Dose, warf sie um, verschüttetete das Bier, packte sie und fluchte. Bei diesem Fluch schaute Barris auf, betrachtete ihn wie Mime im Siegfried und nahm dann seine Arbeit wieder auf.

Fred beobachtete weiter.

»Scheiß Sparprogramm«, gurgelte Luckman, den Mund vollgestopft mit Essen, und dann, ganz plötzlich, ließ er den Löffel fallen und kam stolpernd auf die Füße, wankte, drehte sich zu Barris um, beide Hände erhoben, gestikulierend, aber ohne etwas zu sagen. Sein Mund stand offen, und halbzerkautes Essen fiel heraus, auf seine Kleider, auf den Boden. Die Katzen kamen gierig herangestürzt.

Barris hielt in seiner Arbeit an der Hasch-Pfeife inne, blickte auf, musterte den unglücklichen Luckman. Der verfiel regelrecht in Raserei, gurgelte jetzt noch viel schrecklicher als zuvor und fegte mit einer Hand die Bierdosen und das Essen vom Kaffeetisch; alles klapperte zu Boden. Die Katzen hetzten erschrocken davon. Immer noch saß Barris da, Luckman starr anglotzend. Luckman schwankte ein paar Schritte in Richtung Küche; er geriet jetzt in den Aumahmebereich der dort installierten Kamera, und auf einem der anderen Holo-Schirme vor Freds schreckgeweiteten Augen erschien ein Bild davon, wie Luckman im Halbdunkel der Küche zunächst blind nach einem Glas tastete und dann versuchte, den Kran anzudrehen und das Glas mit Wasser zu füllen. Am Monitor sprang Fred auf; betäubt sah er auf Monitor Zwei, daß Barris, der noch immer ruhig im Sessel saß, zu seiner alten Beschäftigung zurückkehrte und sorgfältig immer mehr Bindfaden um den Kopf einer Hasch-Pfeife wand. Barris schaute nicht wieder auf; Monitor Zwei zeigte ihn wieder ganz in seine Arbeit vertieft.

Aus den Lautsprechern klirrten die berstenden und röchelnden Geräusche der Agonie; das erstickte Würgen eines Menschen und der scheppernde Lärm von Gegen­ständen, die zu Boden polterten, weil Luckman in dem verzweifelten Versuch, Barris’ Aufmerksamkeit zu erregen, Töpfe und Pfannen und Geschirr und Besteck um sich schleuderte. Barris, ganz ruhig inmitten des Lärms, arbeitete methodisch an seiner Hasch-Pfeife weiter und schaute nicht wieder auf.

In der Küche, auf Monitor Eins, stürzte Luckman wie vom Schlag getroffen zu Boden. Er sank nicht langsam in die Knie, sondern schlug einfach mit einem widerwärtig dumpfen Geräusch lang hin und lag dann reglos da, alle viere von sich gestreckt. Barris fuhr fort, Bindfaden um seine Hasch-Pfeife zu wickeln, und jetzt stahl sich ein kleines Lächeln auf sein Gesicht, in seine Mundwinkel.

Wie unter Schockeinwirkung stand Fred vor den Schirmen und starrte sie an. Alles in ihm drängte danach, zu handeln, und doch war er zugleich wie paralysiert. Er langte nach dem Polizeitelephon neben dem Monitor, hielt inne, schaute immer noch zu.

Mehrere Minuten lang lag Luckman reglos auf dem Boden der Küche, während Barris wickelte und wickelte. Barris beugte sich vornüber wie eine alte Dame, die gänzlich in ihrer Strickarbeit aufgeht; er lächelte still vor sich hin, wiegte sich vor und zurück, lächelte, lächelte … und warf dann übergangslos die Hasch-Pfeife weg, stand auf, starrte durchdringend auf Luckmans reglose Gestalt auf dem Küchenfußboden, auf das zersplitterte Glas neben ihm und auf all die Trümmer und Pfannen und zerbrochenen Teller. Sein Gesicht verzog sich zu einer höhnischen Parodie plötzlichen Erschreckens. Barris riß sich die Sonnenbrille herunter, seine Augen weiteten sich grotesk, er flatterte wie ein aufgescheuchter Vogel in hilfloser Furcht mit den Armen, rannte ziellos ein bißchen hin und her, wieselte dann auf Luckman zu, hielt ein paar Schritte von ihm entfernt inne, rannte zurück, keuchte heftig.

Er stimmt sich ein, begriff Fred. Er bereitet sich drauf vor, seine ›ich-habe-gerade-etwas-Schreckliches-entdeckt‹ - Nummer abzuziehen. So, als habe er gerade erst die Szene betreten. Barris, auf dem Schirm von Monitor Zwei, krümmte sich zusammen, atmete schwer vor Kummer, dunkelrot im Gesicht, und hüpfte dann zum Telefon. Er riß es mit einem Ruck hoch, ließ es fallen, hob es mit zitternden Fingern wieder auf … er hatte gerade entdeckt, daß Luckman dort in der Küche einen entsetzlichen, einsamen Tod gestorben war, erstickt an einem Essensbrocken, begriff Fred; und keiner war da gewesen, der ihn hätte hören oder ihm gar hätte helfen können. Und jetzt versuchte Barris gerade verzweifelt, Hilfe herbeizurufen. Natürlich zu spät.

Langsam und mit hoher, gepreßter Stimme sprach Barris jetzt in das Telefon. »Fräulein, können Sie mir sagen, wo ich anrufen muß, wenn ich einen dieser speziellen Notdienst-Rettungswagen brauche? Ich meine, einen von denen, die …. wie heißt das doch gleich? Wiederbelebungsversuche? Künstliche Beatmung?«

»Sir«, quietschte die Simme in der Ohrmuschel aus dem Lautsprecher dicht neben Fred, »bekommt da jemand keine Luft mehr? Soll ich –«

»Ich glaube, es handelt sich um einen Herzstillstand«, sagte Barris mit seiner tiefen, ruhigen und irgendwie zugleich drängend und professionell klingenden Stimme in das Telefon, einer Stimme, der man sofort anhörte, daß sich der Sprecher über den tödlichen Ernst der Lage und die Knappheit der noch verbleibenden Zeit sehr wohl im klaren war. »Entweder das, oder er hat versehentlich einen Fremdkörper durch die Luftröhre in –«

»Wie ist die Adresse, Sir?« unterbrach ihn das Fräulein von der Auskunft.

»Die Adresse«, sagte Barris »Moment, die Adresse ist –«

Fred, der immer noch stand, sagte laut: »Mein Gott.«

Luckman, der ausgestreckt auf dem Boden lag, atmete plötzlich krampfhaft. Ein konvulsivisches Zittern durchlief seinen Körper, und dann würgte er das Zeug, das seine Kehle verstopfte, aus, schlug um sich und öffnete seine Augen, die verquollen und verwirrt ins Leere starrten.

»Äh, es scheint ihm jetzt wieder besserzugehen«, sagte Barris glatt in das Telefon. »Vielen Dank; anscheinend braucht er jetzt doch keine Hilfe mehr.« Rasch legte er den Hörer auf.

»Himmel«, murmelte Luckman undeutlich, während er sich aufsetzte. »Scheiße«. Er schnaubte geräuschvoll, hustete und schnappte nach Luft.

»Wieder okay?« fragte Barris voller Besorgnis.

»Ich muß was in die falsche Kehle gekriegt haben. Bin ich ohnmächtig geworden?«

»Nicht eigentlich ohnmächtig. Du bist allerdings in einen anderen Bewußtseinszustand übergewechselt. Für ein paar Sekunden. Vielleicht in einen Alpha-Zustand.«

»Gott! Ich hab’ mich vollgesaut!« Obwohl er taumelte und vor Schwäche zitterte, schaffte Luckman es doch irgendwie, auf die Füße zu kommen; schließlich stand er da, haltsuchend an die Wand gelehnt, und schwankte vor und zurück. »Ich verkomme langsam wirklich«, murmelte er angeekelt. »Wie ein alter Weinsäufer.« Mit unsicheren Schritten tappte er in Richtung Ausguß, um sich zu waschen.

Fred, der alles beobachtete, fühlte, wie die in ihm aufgestaute Angst wieder verschwand. Luckman würde bald wieder ganz okay sein. Aber Barris! Was für eine Art von Mensch war das bloß? Luckman hatte sich nicht dank, sondern trotz seiner »Hilfe« erholt. Was für ein Freak, dachte Fred. Was für ein bekloppter Freak. Was muß eigentlich in seinem Kopf los sein, daß er in einer solchen Situation einfach müßig rumstehen kann?

»Man könnte durch so etwas abkratzen«, sagte Luckman, während er sich am Ausguß mit Wasser bespritzte.

Barris lächelte.

»Gut, daß ich so eine kräftige Konstitution hab’«, sagte Luckman. In großen Schlucken leerte er eine Tasse mit Wasser. »Was hast du eigentlich gemacht, als ich da lag? Dir einen runtergeholt?«

»Du hast doch gesehen, daß ich telefoniert habe«, sagte Barris. »Ich wollte einen Rettungswagen rufen. Ich habe sofort gehandelt, als –«

»Wichs«, sagte Luckman säuerlich und kippte immer mehr von dem frischen, sauberen Wasser herunter. »Ich weiß, was du tun würdest, wenn ich tot umfiele – du würdest meinen Stash klauen. Du würdest sogar meine Taschen nach Stoff filzen.«

»Wirklich faszinierend«, sagte Barris, »diese Beschränkungen der menschlichen Anatomie. Ich meine, daß Nahrung und Luft sich einen gemeinsamen Durchgang teilen müssen. So daß jederzeit die Gefahr besteht, daß –«

Wortlos bedeutete Luckman ihm, sich doch einen runterzuholen.


*


Das Kreischen von Bremsen. Eine Hupe. Bob Arctor blickte hastig auf, spähte hinaus in den nächtlichen Verkehr. Am Bordstein ein Sportwagen mit laufendem Motor; am Steuer ein Mädchen, das ihm zuwinkte.

Donna.

»Mein Gott«, sagte er wieder. Mit einem langen Schritt war er am Randstein.

Während sie die Tür ihres MGs öffnete, sagte Donna: »Hab’ ich dich etwa erschreckt? Ich war auf dem Weg zu deiner Bude und bin erst glatt an dir vorbeigefahren, bis ich plötzlich gecheckt hab’, daß du das warst, der da entlangtrabte. Darum hab’ ich umgedreht und bin zurückgekommen. Steig ein.«

Schweigend stieg er ein und schloß die Wagentür.

»Warum bist du um diese Zeit hier draußen unterwegs?« sagte Donna. »Wegen deines Wagens? Ist er immer noch nicht wieder in Ordnung?«

»Ich hab’ grad’ eine total ausgeflippte Sache erlebt«, sagte Bob Arctor. »Nicht auf’m Trip, sondern …« Er schauderte.

Donna sagte: »Ich hab’ dein Zeug.«

»Was?« sagte er.

»Tausend Tabletten Tod.«

»Tod?« echote er.

»Yeah, hochgradigen Tod. Ich fahr’ besser los.« Sie schaltete in den niedrigsten Fahrbereich, fuhr los und fädelte sich in den Verkehr ein; fast augenblicklich hatte sie den Wagen bis über die zulässige Höchstgeschwindigkeit hochgejagt. Donna fuhr immer zu schnell und zu dicht auf, aber zugleich auch sehr gekonnt.

»Dieser Scheißkerl Barris!« sagte er. »Weißt du, wie er arbeitet? Wenn er jemanden um die Ecke bringen will, tötet er ihn nicht etwa eigenhändig; er wartet nur ganz einfach, bis eine Situation eintritt, in der der Betreffende von selbst stirbt. Und Barris sitzt ganz ruhig dabei, während der andere stirbt. Er richtet es sogar gezielt so ein, daß sie sterben und er sich raushalten kann. Aber ich bin mir nicht sicher, wie er das macht. Jedenfalls arrangiert er alles so, daß sie abkratzen können, einfach abkratzen.« Dann verfiel er in tiefes Schweigen und brütete vor sich hin. »Beispielsweise«, sagte er, »würde Barris nie selbst eine Ladung Plastiksprengstoff an die Zündung deines Wagens anschließen. Statt dessen würde er –«

»Hast du das Geld?« sagte Donna. »Für den Stoff? Er ist wirklich primo, und ich brauche das Geld sofort. Ich muß es noch heute abend haben, weil ich mir ‘n paar andere Sachen besorgen muß.«

»Sicher.« Er hatte das Geld in seiner Brieftasche.

»Ich mag Barris nicht«, sagte Donna, während sie den Wagen durch den Verkehr lenkte, »und trauen tue ich ihm auch nicht.

Weißt du, er ist verrückt. Und wenn du mit ihm rumhängst, dann wirst du auch verrückt. Und wenn du nicht mit ihm rumhängst, dann bist du okay. Im Moment bist du auch wieder verrückt.«

»Echt?« sagte er erschrocken.

»Ja«, sagte Donna ruhig.

»Hm«, sagte er. »Himmel.« Er wußte nicht, was er darauf antworten sollte. Besonders, weil Donna sich nie irrte.

»Hey«, sagte Donna voller Begeisterung, »könnten wir nicht mal zusammen zu einem Rockkonzert gehen? Nächste Woche im Anaheim Stadium? Ja?«

»Klar doch«, sagte er mechanisch. Und dann kapierte er erst, was Donna da eigentlich gesagt hatte – sie hatte ihn gefragt, ob er mit ihr ausgehen sollte.

»Alll riiiight!« sagte er überglücklich; neue Lebenskraft durchpulste ihn. Einmal mehr hatte ihn die kleine, dunkelhaarige Puppe, die er so sehr liebte, wieder auf die Erde zurückgeholt. »Wann denn?«

»Sonntag nachmittag. Ich werd’ was von dem dunklen, öligen Hasch mitnehmen und mir richtig einen reinknallen. Das wird schon keiner merken, weil bestimmt Tausende von Freaks da sein werden.« Sie blickte ihn kritisch an. »Aber du mußt dir was Duftes anziehen, nicht diese gammeligen Klamotten, in denen du manchmal rumläufst. Ich meine –« ihre Stimme wurde weich. »Ich möchte, daß du scharf aussiehst, weil ich dich ganz schön scharf finde. «

»Okay«, sagte er entzückt.

»Wir fahren jetzt in meine Bude«, sagte Donna, als sie in ihrem kleinen Wagen durch die Nacht schossen. »Du hast ja das Geld bei dir, und wenn du’s mir gegeben hast, pfeifen wir ‘n paar von den Tabs ein und hauen uns so richtig bequem hin und machen uns ‘nen schönen Abend. Und wenn du Lust drauf hast, kannst du ja losziehen und uns ‘ne Pulle Southern Comfort holen, und die können wir uns dann auch noch reinziehen.«

»Oh wow«, sagte er mit aufrichtiger Begeisterung.

»Worauf ich heute abend aber am meisten Bock hätte«, sagte Donna, während sie herunterschaltete, in die Straße einbog, an der sie wohnte, und den Wagen in ihre Auffahrt lenkte, »das war’, in ein Drive-in-Kino zu fahren. Ich hab’ mir eine Zeitung gekauft und nachgeschaut, was heute läuft, aber ich hab’ nichts Vernünftiges finden können, außer im Torrance Drive-in, und die haben schon angefangen. Um halb sechs. Die Ärsche.«

Er sah auf die Uhr. »Dann haben wir schon ‘ne Menge verpaßt, mindestens –«

»Nein, wir können immer noch das meiste sehen.« Sie schenkte ihm ein kurzes, warmes Lächeln, als sie den Wagen zum Stehen brachte und den Motor ausschaltete. »Die zeigen da alle Planet der Affen-Filme, alle elf; das Hauptprogramm geht von heute abend halb acht durch bis morgen früh um acht. Ich werde direkt vom Drive-in zur Arbeit gehen, darum muß ich mich jetzt umziehen. Wir werden total stoned im Kino sitzen und Southern Comfort trinken, die ganze Nacht lang. Wow, war’ das nicht ‘ne echte Superschaffe?« Sie guckte ihn hoffnungsvoll an.

»Die ganze Nacht lang«, echote er.

»Yeah yeah yeah.« Donna sprang aus dem Wagen und kam herüber auf seine Seite, um ihm dabei zu helfen, die kleine Beifahrertür aufzukriegen. »Wann hast du zuletzt alle Planet der Affen-Filme gesehen? Ich hab’ die meisten davon schon früher dieses Jahr gesehen, aber als die letzten liefen, wurde ich krank und mußte’s drangeben. Lag an einem Schinkensandwich, das sie mir im Drive-in verkauft haben. Das hat mich echt sauer gemacht; Ich hab’ grad’ den letzten Film verpaßt, du weißt schon, den, in dem enthüllt wird, daß alle berühmten Persönlichkeiten der Menschheitsgeschichte wie etwa Lincoln oder Nero insgeheim Affen waren, die die gesamte menschliche Geschichte von Anfang an gelenkt haben. Darum will ich unbedingt da reingehen.« Sie senkte ihre Stimme zu einem verschwörerischen Flüstern, als sie auf die Haustür zugingen. »Die haben mich mit diesem ollen Schinkensandwich ganz schön abgelinkt. Weißt du, was ich deshalb gemacht hab’? Jetzt lach aber nicht – als wir das nächste Mal ins Drive-in gefahren sind, drüben in La Habra, da hab’ ich eine verbogene Münze in den Münzschlitz gesteckt, vorne an der Einfahrt. Und auch ‘n paar in die anderen Verkaufsautomaten, damit sich’s auch richtig lohnte. Ich hab’ zusammen mit Larry Tailing – du erinnerst dich doch bestimmt an Larry, wir sind damals zusammen gegangen? – einen ganzen Haufen von Quarters und Fünf-Cent-Stücken verbogen, mit seinem Schraubstock und einem großen Schraubenschlüssel. Ich hab’ natürlich vorher nachgeforscht, ob die Automaten auch alle der richtigen Firma gehörten. Und dann haben wir ‘ne ganze Ladung davon hopsgehen lassen, praktisch alle, wenn ich ehrlich sein soll.«

Langsam und irgendwie feierlich schloß sie im Halbdunkel die Vordertür mit ihrem Schlüssel auf.

»Scheint nicht gerade ratsam zu sein, dich ablinken zu wollen, Donna«, sagte er, als sie ihre hübsche kleine Bude betraten.

»Tret nicht auf den Plüschteppich«, sagte Donna.

»Wo soll ich dann hintreten?«

»Bleib stehen. Oder tritt auf die Zeitungen.«

»Donna –«

»Nun mach’ mich bloß nicht an, nur weil du auf den Zeitungen gehen mußt. Weißt du eigentlich, wieviel es mich gekostet hat, diesen Teppich hier reinigen zu lassen?« Sie stand da und knöpfte ihr Jäckchen auf.

»Du bist ja sparsam wie ‘n französischer Bauer«, sagte er, während er seinen eigenen Mantel ablegte. »Wirfst du eigentlich jemals irgendwas weg? Wahrscheinlich bewahrst du sogar noch Bindfadenstücke auf, die zu kurz für –«

»Eines Tages«, sagte Donna und schüttelte ihr langes, schwarzes Haar, als sie aus der Lederjacke schlüpfte, »werde ich mal heiraten, und dann werd’ ich all das brauchen, alles, was ich beiseite gelegt hab’. Wenn man heiratet, braucht man alles, was man nur kriegen kann. Nimm nur mal den großen Spiegel, den wir neulich nebenan im Hof entdeckt haben; drei Leute haben zusammen über eine Stunde malocht, um ihn über den Zaun zu hieven. Eines Tages –«

»Wieviel von dem, was du zurückgelegt hast, hast du eigentlich gekauft?« fragte er, »und wieviel davon gestohlen?«

»Gekauft?« Sie studierte unsicher sein Gesicht. »Was meinst du mit kaufen?«

»Etwa, wie wenn du Dope kaufst«, sagte er. »Das, was bei einem Dope-Deal vor sich geht. Jetzt zum Beispiel.« Er zückte seine Brieftasche. »Ich gebe dir Geld, richtig?«

Donna nickte und blickt ihn an, gehorsam (das jedoch wohl mehr aus Höflichkeit), aber trotzdem würdevoll. Und ein wenig reserviert.

»Und dann gibst du mir dafür eine Ladung Dope«, sagte er, während er ihr zugleich die Scheine hinhielt. »Was ich mit kaufen meine, ist eine Ausdehnung dessen, was wir hier gerade machen, wir beide, bei diesem Dope-Deal, in die größere Welt menschlicher Geschäftsbeziehungen.«

»Ich glaube, das versteh’ ich«, sagte sie. Ihre großen, dunklen Augen waren sanft, aber lebhaft. Sie war immer bereit, etwas dazuzulernen.

»Als du kürzlich diesen Coca-Cola-Lieferwagen gestoppt und leergemacht hast – wie viele Flaschen Coke hast du da eigentlich geklaut? Wie viele Kästen?«

»Genug für einen Monat«, sagte Donna. »Für mich und meine Freunde. «

Er starrte sie tadelnd an.

»Das ist auch eine Art von Tauschhandel«, sagte sie.

»Aber was –« Er begann zu lachen. »Was gibst du denn zurück?«

»Ich gebe etwas von mir selbst.«

Jetzt lachte er lauthals. »Wem? Dem Fahrer des Lastwagens, der den Schaden vielleicht ersetzen –«

»Die Coca-Cola-Company ist ein kapitalistisches Monopolunternehmen. Kein anderer außer denen kann Coca-Cola herstellen. Das ist wie bei der Telefongesellschaft. Wenn du jemanden anrufen willst, meine ich. Alles kapitalistische Monopole. Wußtest du schon« – ihre dunklen Augen blitzten – »daß die Formel von Coca-Cola ein sorgfältig gehütetes Geheimnis ist, das von Generation zu Generation weitervererbt wird und das jeweils nur wenige Personen kennen, die alle der gleichen Familie angehören? Und daß es keine Coke mehr geben wird, wenn der letzte von denen, die die Formel auswendig kennen, stirbt? Darum ist ja auch sicherheitshalber eine Niederschrift der Formel irgendwo in einem Safe deponiert«, fügte sie nachdenklich hinzu. »Ich möchte zu gerne wissen, wo«, sagte sie wie im Selbstgespräch. Ihre Augen flackerten.

»Du und deine Klaubrüder werden die Coca-Cola-Formel niemals finden, nicht in einer Million Jahren.«

»WARUM ZUM TEUFEL SOLLTE MAN ÜBERHAUPT EIN INTERESSE DARAN HABEN, COKE HERZUSTELLEN, WENN MAN ES DOCH VON IHREN LIEFERWAGEN KLAUEN KANN? Die haben eine Menge Lieferwagen. Du siehst sie doch dauernd auf der Straße, und sie fahren richtig schön langsam. Ich häng’ mich immer an sie dran, wenn sich die Gelegenheit dazu bietet; das macht sie echt sauer.« Sie bedachte ihn mit einem verstohlenen, listigen, lieblichen kleinen Koboldlächeln, als wolle sie versuchen, ihn durch die Magie dieses Lächelns in ihre eigene, seltsame Wirklichkeit hinüberzuziehen, in der sie mit blitzender Lichthupe immer wieder gefährlich dicht auf einen der langsamen Lieferwagen auffuhr und dabei immer wütender und ungeduldiger wurde und dann, wenn der Fahrer des Lastwagens auf den Randstreifen fuhr, um sie vorbeizulassen, nicht wie andere Fahrer mit ihrem Wagen vorbeizog, sondern ebenfalls anhielt und alles stahl, was auf dem Lieferwagen war. Und das letztlich nicht, weil sie ein Dieb war oder etwa gar aus Rache, sondern weil sie zu dem Zeitpunkt, da der Lieferwagen endlich an den Rand fuhr, schon so lange auf die Kisten mit Coke gestarrt hatte, daß sie mittlerweile einen Verwendungszweck für das Zeug gefunden hatte. Schiere Wut hatte sich in praktisches Denken verwandelt. Sie hatte ihren Wagen – nicht den MG, sondern den größeren Camaro, den sie damals noch nicht zu Schrott gefahren hatte – mit einer Menge von Coke-Kästen vollgeladen, und dann hatten sie und ihre Langfingerfreunde einen Monat lang so viel Coke getrunken, wie ihr Herz begehrte. Und im Anschluß daran – hatte sie das Leergut in verschiedene Läden zurückgebracht. Wegen des Flaschenpfandes.

»Was hast du eigentlich mit den Schraubverschlüssen gemacht?« hatte er sie einmal gefragt. »Sie in Kattun gewickelt und sie in deiner Zedernkiste gehortet?«

»Ich hab’ sie weggeworfen«, hatte sie mürrisch geantwortet. »Man kann doch mit diesen Coke-Ver­schlüssen überhaupt nichts anfangen. Es gibt nicht mal mehr Sammelwettbewerbe oder sonst was in der Art.«

Donna verschwand jetzt im Nebenraum und kam unmittelbar darauf mit mehreren Polyäthylen-Tüten zurück. »Willste nachzählen?« erkundigte sie sich. »Es sind ganz bestimmt tausend. Ich hab’ sie auf meiner Feinwaage abgewogen, bevor ich bezahlt hab’.«

»Ist schon okay«, sagte er. Er nahm die Beutel entgegen und sie das Geld, und er dachte: Donna, einmal mehr könnte ich dich in den Knast bringen, aber das werde ich vielleicht nie machen, ganz egal, was du tust, selbst wenn es gegen mich gerichtet ist, weil du so etwas Wundervolles und Lebendiges und Süßes an dir hast, und das würde ich nie zerstören können. Ich verstehe es nicht, aber es ist da.

»Könnte ich zehn haben?« fragte sie.

»Zehn? Zehn Tabs zurück? Klar.« Er öffnete einen der Beutel – er ließ sich nur schwer aufknoten, aber er verfügte über die nötige Fingerfertigkeit – und zählte genau zehn für sie ab. Und dann zehn für sich selbst. Dann band er den Beutel wieder zu und brachte alle Beutel zu seinem Mantel im Schrank.

»Weißt du, was die jetzt in den Cassetten-Läden machen?« sagte Donna mit sichtlicher Wut, als er zurückkam. Die zehn Tabs waren nirgendwo zu sehen; sie hatte sie schon ihrem Stash einverleibt. »Wegen der Cassetten, meine ich?«

»Sie nehmen dich fest«, sagte er, »wenn du welche davon stiehlst.«

»Das haben sie doch schon immer gemacht. Aber jetzt haben sie einen neuen Trick – hängt mit dem Preisschild zusammen, das die Verkäufer immer abmachen, wenn du eine LP oder eine Cassette mit zur Kasse bringst. Rat mal, welchen. Du wirst nie draufkommen, was ich herausgefunden hab’. Beinah’ hätt’s mich dabei übrigens erwischt.« Sie warf sich in einen Sessel, grinste erwartungsvoll und holte einen kleinen, in Alufolie eingewickelten Würfel aus der Tasche, den er sofort als einen Brocken Hasch identifizierte, noch bevor sie ihn ausgewickelt hatte. »Das ist nicht einfach, nur ein aufgeklebtes Preisschild. Es enthält auch ein winziges Stückchen einer ganz bestimmten Metallegierung, und wenn der Verkäufer an der Kasse das Preisschild nicht abgemacht hat und du damit durch die Tür zu gehen versuchst, dann geht eine Alarmsirene los.«

»Und wie hast du das rausgekriegt?«

»Direkt vor mir war so ‘n Teenybopper, die mit ‘ner Cassette unter dem Mantel rausmarschieren wollte. Die Alarmsirene ging los, und die Angestellten schnappten sie sich und riefen die Bullen.«

»Wie viele hattest du denn unter deinem Mantel?«

»Drei.«

»Hattest du auch Dope im Wagen?« fragte er. »Wenn sie dich nämlich erst mal beim Cassettenklauen erwischt haben, dann beschlagnahmen sie auch deinen Wagen, wenn du auch nur ‘n bißchen so aussiehst, als könntest du noch mehr auf dem Kerbholz haben. Und wenn sie ihn dann abschleppen und bei der Routinedurchsuchung den Stoff finden, lochen sie dich auch dafür noch ein. Ich wette, das war nicht mal hier in L. A. oder? Ich wette, du hast das irgendwo gemacht, wo –« Er hatte gerade ansetzen wollen zu sagen: Wo du niemanden vom Rauschgiftdezernat kennst, der sich für dich einsetzen könnte. Aber das durfte er nicht sagen, weil er sich selbst damit meinte; falls Donna jemals wegen Drogenbesitz hopsgenommen werden würde, würde er sich, wenigstens im Rahmen seiner Möglichkeiten, den Arsch abrackern, um ihr zu helfen. Aber er konnte überhaupt nichts für sie tun, wenn sie nicht in Los Angeles selbst, sondern beispielsweise im L. A. County festgenommen wurde! Und wenn das jemals passierte, womit man eines Tages wohl rechnen mußte, dann würde es wahrscheinlich ausgerechnet dort geschehen: zu weit weg, als daß er davon erfahren würde oder ihr helfen konnte. In seinem Kopf spulte er eine Phantasienummer ab, eine echte Horrorshow: Donna, die ähnlich wie Luckman starb, ohne daß jemand es hörte oder sich dafür interessierte oder etwas unternahm. Selbst wenn sie es hörten, mochten sie genau wie Barris unbeteiligt und träge abwarten, bis für Donna alles zu spät war. Sie würde nicht richtig sterben, nicht so, wie Luckman gestorben war – war? Beinahe gestorben war, verbesserte er sich. Aber weil sie süchtig nach Substanz T war, würde sie nicht nur einfach ins Gefängnis wandern, sondern zugleich auch zwangsweise auf Entzug gehen müssen. Cold Turkey. Und da sie nicht nur Drogen konsumierte, sondern auch dealte – und schließlich war da ja auch noch die Sache mit dem Diebstahl –, würde sie eine ganze Weile im Knast sitzen, und während dieser Zeit mochten ihr noch eine ganze Reihe anderer Dinge, schrecklicher Dinge, zustoßen. Und wenn sie dann wieder rauskam, würde sie völlig verändert sein – eine ganz andere Donna. Ihre sanfte, fürsorgliche Art, die er so sehr liebte, ihre Wärme – das alles würde sich in Gott weiß was verwandelt haben. Auf jeden Fall würde sie leer sein, leer und verbraucht. Donna, verwandelt in ein Ding; und das blühte ihnen eines Tages allen. Aber hoffentlich nicht Donna, dachte er. Jedenfalls nicht, solange ich lebe, und nicht an einem Ort, wo ich ihr nicht helfen kann.

»Lebendig«, sagte er jetzt todunglücklich zu ihr, »ohne Besessenheit.«

»Was soll’n das heißen?« Nach einem Augenblick begriff sie, was er meinte. »Ach so, Transaktionsanalyse, stimmt’s? Aber wenn ich Hasch rauche …« Sie hatte ihre eigene kleine Hasch-Pfeife aus Ton herausgeholt, die sie selbst gemacht hatte und deren Kopf wie ein Seeigel aussah, und zündete sie gerade an. »Dann fühle ich mich beireit.« Sie blickte mit glänzenden Augen glücklich zu ihm auf, lachte und streckte ihm die kostbare Hasch-Pfeife entgegen. »Ich lade dich jetzt auf«, erklärte sie. »Setz dich hin.«

Während er sich setzte, erhob sie sich und paffte im Stehen so lange, bis der Shit im Pfeifenkopf kräftig glomm. Dann watschelte sie auf ihn zu und beugte sich über ihn, und als er den Mund öffnete – wie ein Vogeljunges, dachte er, ein Gedanke, der ihm jedesmal in diesen Augenblicken kam –, atmete sie den Hasch-Rauch in einem großen, kraftvollen Strom in ihn hinein und erfüllte ihn so mit ihrer eigenen heißen und kühnen und unverbesserlichen Energie, die zugleich ein Beruhigungsmittel war, das sie beide zusammen entspannte und ganz gelöst werden ließ: sie, die ihn auflud, und Bob Arctor, der diese Gabe entgegennahm.

»Ich liebe dich, Donna«, sagte er. Dieses Aufladen war für ihn an die Stelle sexueller Beziehungen mit ihr getreten, und vielleicht war es sogar besser als Sex; es bedeutete ihm so viel; es war so unglaublich intim und so ganz anders im Vergleich zu Sex, denn hierbei konnte zuerst sie etwas in ihn einströmen lassen und dann, wenn sie das Bedürfnis danach hatte, er etwas in sie. Ein gleichberechtigter Austausch, ein Geben und Nehmen, bis der letzte Krümel Hasch verglommen war.

»Yeah, das kann ich dir nachfühlen, daß du mich liebst, meine ich«, sagte sie, kicherte und setzte sich neben ihn, um einen Zug aus der Hasch-Pfeife zu nehmen, diesmal für sich selbst.


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