Aus der sicheren Deckung seines Jedermann-Anzugs heraus beobachtete der vage Fleck, der unter dem Decknamen »Fred« zur Berichterstattung erschienen war, einen anderen vagen Fleck, der ihm an einem großen Schreibtisch gegenübersaß und den er nur unter dem Namen Hank kannte.
»So viel zu Donna, zu Charles Freck und – einen Moment bitte …« Das metallische, monotone Klicken, das Hanks Stimme war, setzte eine Sekunde lang aus. »Richtig, Jim Barris können wir auch abhaken.« Hank machte sich eine kurze Notiz auf dem Block, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sie glauben, daß Doug Weeks möglicherweise tot ist oder unseren Bezirk verlassen hat?«
»Oder er ist untergetaucht und stellt sich nur tot«, sagte Fred.
»Haben Sie mal gehört, daß jemand diesen Namen erwähnt hat: Earl oder Art de Winter?«
»Nein.«
»Was ist mit einer Frau namens Molly? Ziemlich korpulent?«
»Nein.«
»Und was ist mit zwei Negern, Brüder, ungefähr zwanzig, ziemlich dunkle Haut? Sie sollen Hatfield oder so ähnlich heißen. Möglicherweise handeln sie mit Kilopäckchen Heroin.«
»Kilopäckchen? Kilopäckchen Heroin?«
»Stimmt.«
»Nein«, sagte Fred. »Daran würde ich mich bestimmt erinnern.«
»Jemand aus Schweden, groß, schwedisch klingender Name? Männlich. Vorbestraft, trockener Humor. Ein kräftiger Mann, aber dünn. Trägt eine Menge Bargeld mit sich rum, vielleicht aus dem Erlös einer Lieferung zu Beginn des Monats?«
»Ich werd’ die Augen offenhalten«, sagte Fred. »Kilopäckchen!« Er schüttelte den Kopf – oder besser gesagt: Der vage Fleck schwankte hin und her.
Hank kramte in seinen holografischen Aufzeichnungen herum. »Hm, der hier ist im Gefängnis.« Er hielt kurz ein Bild hoch und las dann den Text auf der Rückseite. »Nein, dieser hier ist tot; sie haben die Leiche unten.« Er suchte weiter. Zeit verstrich. »Glauben Sie, daß die kleine Jora auf den Strich geht?«
»Ich bezweifle es.« Jora Kajas war erst fünfzehn. Trotzdem hing sie schon an der Nadel, fixte Substanz T. Sie wohnte in einem Slum in Brea, in einer Dachkammer, die nur von der Streu wärme eines Wassererhitzers notdürftig geheizt wurde. Joras einzige Einkommensquelle war ein Schulgeldstipendium des Staates Kalifornien, für das sie sich vor Beginn ihrer Sucht durch gute schulische Leistungen qualifiziert hatte. Fred wußte, daß sie seit sechs Monaten nicht mehr zum Unterricht gegangen war.
»Wenn Sie’s tut, lassen Sie’s mich wissen. Dann können wir die Eltern belangen. «
»Okay. « Fred nickte.
»Junge, die Teenies gehen wirklich besonders schnell den Bach runter. Kürzlich hatten wir ein Mädchen hier – die Kleine sah aus wie fünfzig. Strähniges graues Haar, fast keine Zähne mehr, Augen tief in den Höhlen, Arme wie Pfeifenreiniger … Wir haben sie gefragt, wie alt sie sei, und sie sagte: ›Neunzehn‹. Wir haben uns bloß angesehen. ›Weißt du eigentlich, wie alt du aussiehst?‹ sagte meine Kollegin – wissen Sie, so eine Matrone – zu ihr. ›Schau dich doch mal im Spiegel an.‹ Und die Kleine hat in den Spiegel geschaut, und dann hat sie angefangen zu weinen. Ich habe sie gefragt, wie lange sie denn schon schießen würde.«
»Ein Jahr«, sagte Fred.
»Vier Monate.«
»Das Zeug, was momentan im Straßenhandel verkauft wird, ist wirklich unheimlich schlimm«, sagte Fred. Er versuchte krampfhaft, sich nicht vorzustellen, wie das Mädchen da saß: neunzehn Jahre alt, mit Haaren, die ihr büschelweise ausfielen. »Mit noch üblerem Dreck gepanscht als sonst.«
»Wissen Sie, wie sie an die Nadel gekommen ist? Ihre Brüder, beides übrigens Dealer, sind eines Nachts in ihr Schlafzimmer gegangen, haben sie festgehalten und dann vollgeschossen. Anschließend haben sie sie noch durchgebumst. Beide.
Vermutlich, um sie schon mal so richtig auf ihr neues Leben einzustimmen. Die Kleine ging mehrere Monate lang auf den Strich, bevor wir sie schnappten.«
»Und ihre Brüder?« Fred dachte daran, daß sie ihm vielleicht irgendwann einmal über den Weg laufen würden.
»Die sitzen jetzt sechs Monate wegen Rauschgiftbesitz ab. Die Kleine hat sich auf dem Strich den Tripper geholt, ohne es überhaupt zu merken. Darum hat er sich in ihr hochgefressen … na ja, Sie wissen ja, wie das bei Tripper so geht. Ihre Brüder fanden das lustig.«
»Nette Jungs«, sagte Fred.
»Ich will Ihnen mal ‘ne Geschichte erzählen, die Ihnen bestimmt an die Nieren geht. Sie erinnern sich doch noch an die drei Babys drüben im Fairfield-Krankenhaus, denen sie jeden Tag eine Dosis H geben müssen, weil sie noch zu klein sind, um einen Entzug durchstehen zu können? Tja, und eine Krankenschwester hat versucht –«
»Sie haben recht. Das geht mir an die Nieren«, sagte Fred mit seiner monotonen Maschinenstimme. »Ich habe genug gehört, danke.«
Hank fuhr fort: »Wenn man sich überlegt, daß neugeborene Babys heroinsüchtig sind, weil –«
»Danke«, wiederholte der vage Fleck, der Fred genannt wurde.
»Was sollte man Ihrer Meinung nach mit einer Mutter tun, die einem neugeborenen Baby eine Fixe mit Heroin setzt, um es ruhigzuhalten, damit es nicht mehr weint? Sie eine Nacht lang ins Distriktgefängnis sperren?«
»Etwas in der Art«, sagte Fred tonlos. »Vielleicht ein Wochenende lang, wie’s mit den Säufern gemacht wird. Manchmal wünsche ich mir, daß ich wüßte, wie man vor Wut durchdreht. Ich hab’ vergessen, wie das geht.«
»Ja, das ist eine verlorengegangene Kunst«, sagte Hank. »Vielleicht existiert irgendwo ein Handbuch dafür.
»So um 1970 rum gab’s mal einen Streifen«, sagte Fred, »The French Connection, der handelte von einem Zwei-Mann-Team vom Rauschgiftdezernat. Als die sich mal selbst einen Schuß H setzten, klinkte der eine davon total aus und erschoß jeden, der ihm vor die Flinte kam, seine Vorgesetzten eingeschlossen. Dem Typen war inzwischen alles ganz egal.
»Dann ist es vielleicht gar nicht so schlecht, daß Sie nicht wissen, wer ich bin«, sagte Hank. »Sie könnten mich höchstens rein zufällig erwischen. «
»Irgend jemand«, sagte Fred, »wird uns sowieso alle irgendwann einmal erwischen.«
»Und das wird für uns alle eine Erlösung sein. Eine wirkliche Erlösung.« Hank wühlte sich noch tiefer in den Stapel mit Aufzeichnungen. »Jerry Fabin. Den können wir wohl endgültig von der Liste streichen. Spezialklinik. Die Jungs unten im Büro sagen, Fabin habe den zuständigen Beamten auf der Fahrt zur Klinik erzählt, ein angeheuerter Killer – ein kleines Männchen ohne Beine, so ungefähr neunzig Zentimeter groß – sei Tag und Nacht auf einem Wägelchen hinter ihm hergerollt. Aber er hätte niemandem was davon erzählt, weil ihn sonst bestimmt alle für übergeschnappt gehalten hätten und sich schleunigst aus dem Staub gemacht hätten, und dann hätte er ja gar keine Freunde mehr gehabt, niemanden, mit dem er sprechen könnte.«
»Ja«, sagte Fred stoisch. »Fabian ist weg vom Fenster. Ich habe die EEG-Analyse aus der Klinik gelesen. Den können wir vergessen.«
Immer, wenn er Hank so gegenübersaß und seine Rapportnummer abzog, beobachtete er eine tiefgreifende Verwandlung seines innersten Selbst. Normalerweise wurde ihm diese Verwandlung erst nach der Sitzung bewußt, obwohl er schon während des Rapports selbst spürte, daß er aus irgendeinem Grund eine geschäftsmäßige und unbeteiligte Haltung einnahm. Ganz gleich, was in diesem Raum besprochen wurde und um wen sich das Gespräch auch immer drehen mochte – all das hatte für ihn während dieser Sitzungen keinerlei gefühlsmäßige Bedeutung.
Zuerst hatte er geglaubt, das rühre von den Jedermann-Anzügen her, die sie beide trugen; sie konnten beide die körperliche Nähe ihres jeweiligen Gegenüber nicht spüren.
Später kam er jedoch zu dem Schluß, daß es letztlich keinen Unterschied machte, ob sie die Anzüge trugen oder nicht; die Veränderung lag in der Situation selbst begründet. Aus beruflichen Gründen spielte Hank absichtlich die menschliche Wärme und die verschiedenen Gefühle herunter, die manchmal aufzukommen drohten; weder Zorn noch Liebe noch andere tief ergehende Emotionen, gleich welcher Art, würden ihm oder Hank helfen. Was nützte es ihnen denn, ihrer starken persönlichen Betroffenheit freien Lauf zu lassen, wenn sie über Verbrechen – noch dazu Kapitalverbrechen – diskutierten, die von Personen begangen worden waren, die Fred nahestanden und ihm sogar, wie im Falle von Luckman und Donna, teuer waren? Nein, sie mußten ihre Gefühle ausklammern. Und das taten sie beide, er noch mehr als Hank. Sie wurden neutral; sie sprachen in einem neutralen Tonfall; sie sahen neutral aus. Und langsam wurde es immer einfacher, die eigenen Empfindungen zu unterdrücken, selbst ohne vorherige Einstimmung.
Und hinterher sickerten dann alle seine Gefühle wieder in ihn zurück.
Entrüstung angesichts der Geschehnisse, die er hatte mit ansehen müssen. Entrüstung und sogar Entsetzen und, im Nachhinein, lähmender Schock. Große, überwältigende Gefühlssequenzen, die ohne Beispiel waren. Bildfolgen mit viel zu lautem Ton in seinem Kopf.
Aber während er hier saß, nicht nur durch den Schreibtisch von Hank getrennt, fühlte er keine dieser Emotionen. Theoretisch konnte er alles, was er ab Zeuge miterlebt hatte, völlig teilnahmslos beschreiben. Oder sich teilnahmslos alles anhören, was Hank ihm erzählte.
Zum Beispiel konnte er jetzt beiläufig sagen: »Donna stirbt langsam an Hepatitis und benutzt ihre Nadel dazu, noch so viele ihrer Freunde mitzunehmen, wie sie eben kann. Ich würde empfehlen, daß wir sie unter Druck setzen, bis sie damit aufhört.« Seine eigene Puppe … falls er das beobachtet hatte oder wenigstens wußte, daß es zutraf. Oder: »Donna hat ein Mickymaus-LSD-Analog geschluckt und leidet jetzt unter akuter Gefäßverengung im letzten Stadium. Die Hälfte der Blutgefäße in ihrem Gehirn ist schon dicht.« Oder: »Donna ist tot.« Und Hank würde das seelenruhig notieren und vielleicht fragen: »Wer hat ihr den Stoff verkauft, und wo wird er hergestellt?« oder. »Wo ist die Beerdigung? Wir sollten auf jeden Fall die Autonummern registrieren und so die Namen der Leute herausfinden, die an der Beerdigung teilnehmen.« Und er, Fred, würde völlig emotionslos mit Hank darüber diskutieren.
Das war Fred. Aber später irgendwann verwandelte sich Fred wieder in Bob Arctor, irgendwo auf dem Bürgersteig zwischen dem Pizza-Schuppen und der Arco-Tankstelle (wo das Normalbenzin jetzt einen Dollar und zwei Cent pro Gallone kostete), und die fürchterlichen Farben sickerten wieder in ihn zurück, ob ihm das nun gefiel oder nicht.
Diese Verwandlung, die er in seiner Identität als Fred erlebte, war eine Art »Ökonomie der Leidenschaften«, Auch Feuerwehrleute und Ärzte und Leichenbestatter gingen bei ihrer Arbeit auf den gleichen Trip. Keiner von ihnen konnte alle paar Augenblicke aufspringen und losschreien; durch ein solches Verhalten würden sie sich zuerst selbst aufreiben und nutzlos werden und anschließend auch die Menschen in ihrer Umgebung fertigmachen. Und das gleichermaßen als Techniker während der Arbeitszeit und als Menschen in ihrem Privatleben. Jedes Individuum hat nur eine beschränkte Menge von Energie, über die es verfugen kann.
Hank zwang Fred diese Leidenschaftslosigkeit nicht auf; er gestattete ihm vielmehr, so zu sein. Um seinetwillen. Fred rechnete ihm das hoch an.
»Was ist mit Arctor?« fragte Hank.
Zu allem Überfluß erstattete Fred in seinem Jedermann-Anzug auch noch über sich selbst Bericht. Tat er das nicht, dann würde sein Vorgesetzter – und durch ihn die gesamte Behörde – gewahr werden, wer Fred war, Anzug oder nicht. Und die Spitzel, die die ST-Agentur in den Polizeiapparat eingeschleust hatte, würden der Agentur diese brandheiße Neuigkeit natürlich sofort melden. Und dann würde Fred, der als Bob Arctor in seinem Wohnzimmer saß und zusammen mit anderen Dopern Dope rauchte und Dope einpfiff, plötzlich entdecken, daß auch hinter ihm ein neunzig Zentimeter großer Killer auf einem Wägelchen herrodelte. Und er, Bob Arctor, würde nicht halluzinieren, wie Jerry Fabin das getan hatte.
»Arctor rührt sich im Moment nicht«, sagte Fred – seine Standardantwort. »Arbeitet bei der Briefmarkensammelstelle des Blauen Chip, schluckt täglich ein paar Tabletten Tod, der mit Methedrin gepanscht ist –«
»Ich bin mir da nicht so sicher.« Hank spielte mit einem Blatt Papier, das er aus dem Stoß vor sich gekramt hatte. »Wir haben hier einen Tip von einem Informanten, dessen Hinweise für gewöhnlich sauber sind, daß Arctor wesentlich mehr Geld zur Verfügung hat, als ihm die Leute vom Blauen Chip bezahlten. Wir haben deshalb dort angerufen und uns nach Arctors Nettoeinkommen erkundigt. Hoch ist es nicht. Und als wir dann nachhakten, um festzustellen, woran das liegt, da haben wir erfahren, daß er nicht die ganze Woche über dort arbeitet. Also muß Arctor einen Nebenverdienst haben, von dem wir bisher nichts wußten.«
»Ach wirklich?« sagte Fred niedergeschlagen. Er begriff natürlich, daß es sich bei dem »Nebenverdienst«, von dem Hank sprach, um die Einkünfte aus seiner Tätigkeit als Rauschgiftagent handelte. Jede Woche erhielt er von einer Maschine, die sich als Automat für Dr. Pepper’s Diät-Sprudel in einem mexikanischen Stehimbiss in Placentia tarnte, eine bestimmte Geldsumme in kleinen Scheinen – hauptsächlich Honorare für Informationen, die er geliefert hatte und die vor Gericht zu einem Schuldspruch geführt hatten. Manchmal war diese Summe außergewöhnlich groß, etwa dann, wenn dank Arctors Hilfe eine besonders große Lieferung Heroin abgefangen werden konnte.
Hank las nachdenklich weiter. »Unser Informant sagt weiter, daß Arctor unter geheimnisvollen Umständen kommt und geht, besonders gegen Sonnenuntergang. Wenn er zu Hause ankommt, ißt er zunächst und geht dann bald wieder weg, wobei er oft Gründe angibt, die Vorwände sein könnten. Manchmal verläßt er das Haus sogar in großer Hast. Aber er bleibt nie sehr lange weg.« Hank – oder genauer gesagt: der Jedermann-Anzug – schaute auf und blickte Fred an. »Haben Sie das schon einmal beobachtet? Können Sie die Angaben unseres Informanten bestätigen? Lassen sich irgendwelche Schlüsse daraus ziehen?«
»Höchstwahrscheinlich geht er zu seiner Puppe – Donna«, sagte Fred.
»›Höchstwahrscheinlich‹, hm. Wir erwarten von Ihnen, daß Sie so etwas genau wissen.«
»Natürlich liegt’s an Donna. Er ist drüben bei ihr und vögelt Tag und Nacht mit ihr rum.« Sein Unbehagen wuchs. »Aber ich werd’s mal überprüfen und Sie darüber informieren, was ich herausfinde. Wer ist eigentlich dieser Informant? Vielleicht will da einer Arctor eins reinwürgen.«
»Wissen wir nicht, zum Teufel. Kam per Telefon. Wir haben nicht mal ‘nen Stimmabdruck – der Bursche benutzte eine elektronische Abschirmung, wahrscheinlich selbst zusammengefutschelt.« Hank kicherte; ein seltsam fremdartiges Geräusch, dieses Kichern, das da metallisch aus dem Sprechteil des Anzugs schepperte. »Aber es hat funktioniert. Gut genug.«
»Meine Güte«, begehrte Fred auf, »das war bestimmt bloß dieser ausgeflippte Säurekopf Jim Barris, der aus irgend einem Grund sauer auf Arctor ist und ihn jetzt reinreiten will. Barris hat während seiner Zeit beim Militär pausenlos Elektronikkurse belegt und dazu noch einen Kurs für die Wartung von schwerem Gerät. Ich an Ihrer Stelle würde ihm nicht mal glauben, wenn er Ihnen die Uhrzeit sagt. «
Hank schüttelte ablehnend den Kopf. »Wir wissen nicht, ob es überhaupt Barris war. Und außerdem ist Barris vielleicht doch nicht nur ein ›ausgeflippter Säurekopf‹. Wir haben mehrere Leute auf die Sache angesetzt. Allerdings haben wir keine Erkenntnisse gewonnen, die für Sie von Nutzen sein könnten – jedenfalls bisher nicht.«
»Auf jeden Fall war es einer von Arctors Freunden«, sagte Fred.
»Ja, der Tip ist zweifellos ein Racheakt. Diese verrückten Doper – rufen uns jedesmal an, wenn sie Wut aufeinander haben. Mir schien es übrigens tatsächlich so, als würde er Arctor sehr gut kennen. Also gehört er zu seinem engsten Bekanntenkreis.«
»Netter Junge«, sagte Fred verbittert.
»Tja, auf diese Weise kommen wir nun mal an unsere Informationen«, sagte Hank. »Wo liegt da der Unterschied zu dem, was Sie machen?«
»Ich tu’s nicht, weil ich einen persönlichen Groll gegen jemanden hege«, sagte Fred.
»Und warum tun Sie’s eigentlich dann?«
Nach einer langen Pause sagte Fred: »Sie können mich totschlagen, aber ich weiß es nicht, verdammt noch mal.«
»Sie haben doch im Moment nichts mehr mit Weels am Hut. Ich glaube, ich werde Sie vorläufig dazu einteilen, in erster Linie Bob Arctor zu observieren. Hat er einen zweiten Vornamen? Er verwendet die Initialen –«
Fred gab ein abgewürgtes, roboterartiges Geräusch von sich. »Warum ausgerechnet Arctor?«
»Arctor bezieht Geld aus einer unbekannten Quelle, also geht er auch einer unbekannten Nebentätigkeit nach. Außerdem macht er sich durch seine Aktivitäten offenbar Feinde. Wie lautet Arctors zweiter Vorname?« Hanks Stift schwebte geduldig über dem Papier. Hank erwartete eine klare Antwort.
»Postlethwaite. «
»Wie wird das buchstabiert?«
»Weiß ich nicht. Scheiße noch mal, weiß ich nicht«, sagte Fred.
»Postlethwaite«, sagte Hank und schrieb ein paar Buchstaben hin. »Aus welchem Sprachraum kommt denn das?«
»Walisisch«, sagte Fred kurz. Er konnte kaum noch verstehen, was Hank sagte; in seinen Ohren verschmolz alles zu einem großen Rauschen, und auch seine übrigen Sinne versagten jetzt einer nach dem anderen.
»Sind das nicht die Leute, die immer dieses Lied über die Männer von Harlech singen? Was ist ›Harlech‹? Eine Stadt irgendwo?«
»Harlech ist der Ort, wo im Jahre 1468 der heldenhafte Widerstand gegen die Yorkisten –« Fred verstummte. Scheiße, dachte er. Das ist alles so fürchterlich.
»Moment, ich möchte das zu den Akten nehmen.« Hanks Stift flog über das Papier.
Fred sagte: »Bedeutet das, daß sie Arctors Haus und seinen Wagen verwanzen lassen werden?«
»Ja, mit dem neuen Holografie-System; das ist wesentlich leistungsstärker, und außerdem haben wir im Augenblick sowieso mehr Geräte zur Verfügung, als angefordert werden. Sie wollen doch sicher die kompletten Speicheraufzeichnungen und die Ausdrucke aller Auswertungen haben?« Hank notierte sich auch das.
»Ich nehme alles, was ich kriegen kann«, sagte Fred. Er fühlte sich vollständig von allen Vorgängen um sich herum isoliert; er wünschte sich nichts sehnlicher, als daß diese Besprechung endlich vorbei sein möge. Und er dachte: Wenn ich bloß ein paar Tabletten einpfeifen könnte –
Jenseits des Tisches schrieb der andere formlose Fleck immer weiter, übertrug Kennziffern aus einer Inventarliste in die dafür vorgesehenen Formblätter – die Kennziffern jener elektronischen Spielereien, über die Fred würde verfügen können, sobald Hanks Vorhaben von oben abgesegnet worden war, und mit denen sich ein lückenloses, dem modernsten Stand der Technik entsprechendes Überwachungssystem installieren ließ, das auf sein eigenes Haus gerichtet war.
Und auf ihn selbst.
*
Seit über einer Stunde arbeitete Barris nun schon daran, einen Schalldämpfer zu fabrizieren, der nur aus Haushaltsmaterialien bestehen sollte, die nicht mehr als elf Cent kosteten. Und jetzt hatte er es fast geschafft – mit Alufolie und einem Stückchen Schaumgummi. In der nächtlichen Dunkelheit von Bob Arctors Hinterhof, zwischen all den Stapeln Unkraut und Abfall, machte er sich nun bereit, seine Pistole mit dem hausgemachten Schalldämpfer abzufeuern.
»Die Nachbarn werden’s hören«, sagte Charles Freck unbehaglich. Er konnte überall erleuchtete Fenster sehen, Fenster, hinter denen vielleicht Leute in die Glotze starrten oder sich Joints drehten.
Luckman, der im Schatten herumlungerte und alles beobachtete, ohne selbst sichtbar zu sein, sagte: »In diesem Viertel rufen die nur die Bullen wenn ein Mord passiert.«
»Wozu brauchst du überhaupt einen Schalldämpfer?« fragte Charles Freck Barris. »Ich meine … äh … die sind doch illegal, oder?«
Barris sagte düster: »In einer Zeit wie dieser, da die Gesellschaft degeneriert ist und die Gottlosigkeit unter den Menschen um sich greift, braucht jeder aufrechte Mann, der etwas auf sich hält, eine Pistole, um sich zu schützen. Und er sollte sie ständig bei sich tragen.« Er kniff die Augen zusammen und feuerte seine Pistole mit dem selbstgebastelten Schalldämpfer ab. Ein gewaltiger Knall ertönte, der vorübergehend alle drei taub machte. In weit entfernten Höfen begannen Hunde zu bellen.
Lächelnd machte sich Barris daran, die Alufolie von dem Schaumgummi abzuwickeln. Er schien amüsiert zu sein.
»Mann, das is’ ja ‘n toller Schalldämpfer«, sagte Charles Freck und fragte sich, wann die Polizei wohl kommen würde. Mit einer ganzen Armada von Polizeiwagen.
»Wirklich faszinierend«, erklärte Barris und zeigte Freck und Luckman die schwarz versengten Brennkanäle im Schaumgummi. »Er hat den Sound verstärkt, statt ihn zu dämpfen. Aber ich hab’ den Dreh beinahe raus. Im Prinzip jedenfalls.«
»Wie teuer ist so eine Pistole eigentlich?« erkundigte sich Charles Freck. Er selbst hatte noch nie eine Pistole gehabt. Mehrere Male hatte er ein Messer besessen, aber irgendwer stahl es ihm immer. Einmal hatte eine Puppe das getan, während er gerade im Badezimmer war.
»Nicht besonders teuer«, sagte Barris. »Gebraucht ungefähr dreißig Dollar. Die hier ist gebraucht.« Er hielt sie Freck hin, der sofort nervös zurückwich. »Ich verkaufe sie dir«, sagte Barris. »Du solltest wirklich eine Waffe haben, damit du dich gegen all die Leute schützen kannst, die dir was antun wollen.«
»Soll ja ‘ne ganze Menge davon geben«, grinste Luckman in seiner ironischen Art. »Ich hab’ kürzlich in der L. A. Times gelesen, daß jeder, der Freck erfolgreich eins verpaßt, kostenlos ‘n Transistorradio kriegt.«
»Ich geb’ dir ein Borg-Warner-Tacho dafür«, sagte Freck.
»Das du aus der Garage unten an der Straße gestohlen hast«, sagte Luckman.
»Na, und wenn schon«, sagte Charles Freck. »Vielleicht ist ja auch die Knarre gestohlen.« Praktisch alles, was irgendwie wertvoll war, war ursprünglich irgendwem abgeklaut worden; erst der Diebstahl bewies, daß ein Stück überhaupt einen Wert hatte. »Und überhaupt«, sagte er, »hat der Typ unten an der Straße das Tacho zuerst geklaut. Es hat vielleicht fünfzehn Mal oder so den Besitzer gewechselt. Ich meine, das ist ja auch wirklich ein superheißes Tacho.«
»Woher weißt du, daß er es geklaut hat?« fragte Luckman ihn.
»Hölle, Mann, er hat acht Tachos da in seiner Garage, und an allen baumeln noch die abgeschnittenen Kabel rum. Was würde er sonst mit ihnen tun, mit so vielen, meine ich? Wer geht denn los und kauft sich acht Tachos?«
Luckman sagte zu Barris: »Ich dachte, du wärst mit dem Cephskop beschäftigt. Bist du schon damit fertig?«
»Ich kann nicht pausenlos Tag und Nacht daran arbeiten, weil der Schaden so groß ist«, sagte Barris. »Ich muß da manchmal einfach ‘ne Pause machen.« Er schnitt mit einem komplizierten Taschenmesser noch ein Stück Schaumgummi ab. »So, das nächste Modell wird völlig lautlos sein.«
»Bob denkt, du wärst dabei, sein Cephskop zu reparieren«, sagte Luckman. »Er liegt da in seinem Zimmer im Bett und stellt sich das vor, während du hier draußen rumstehst und mit deiner Pistole rumballerst. Hast du nicht mit Bob ausgemacht, daß er dir die überfällige Miete streicht, wenn du –«
»Wie gutes Bier«, sagte Barris, braucht auch die gewissenhafte Rekonstruktion einer beschädigten elektronischen Vorrichtung –«
»Na, wenn das so ist, dann schieß halt den großartigsten Elf-Cent-Schalldämpfer aller Zeiten noch mal ab«, sagte Luckman und rülpste.
*
Jetzt haben sie mich am Arsch, dachte Robert Arctor.
Er lag allein auf dem Rücken im trüben Licht seines Schlafzimmers und starrte grimmig ins Nichts. Unter seinem Kopfkissen spürte er seinen Polizei-Spezial-Revolver, Kaliber 32; nach dem Knall, den der Abschuß von Barris’ 22er im Hinterhof verursacht hatte, hatte er reflexartig seine eigene Knarre unter dem Bett hervorgeholt, um sie in bequemerer Reichweite zu haben – eine Sicherheitsmaßnahme gegen alle nur vorstellbaren Gefahren; er hatte nicht einmal bewußt darüber nachgedacht.
Aber der 32er unter dem Kopfkissen würde nicht viel gegen solche indirekten Angriffe wie etwa die Sabotage seines kostbarsten und teuersten Besitzes nützen. Sofort, nachdem er von der Besprechung mit Hank heimgekommen war, hatte er all die anderen Hilfsmittel überprüft und festgestellt, daß sie okay waren – auch der Wagen, und in einer Situation wie dieser mußte man immer zuerst den Wagen überprüfen. Was immer auch vorgehen mochte, und von wem auch immer es ausging –es würde heimtückisch und link sein. An der Peripherie seines Lebens lauerte irgendein feiger, hinterhältiger Freak, der sich nicht traute, ihm offen entgegenzutreten, sondern ihn aus dem Verborgenen heraus fertigzumachen versuchte. Eigentlich gar kein richtiger Mensch, sondern eher eine Unperson, ein als Mensch verkleidetes Symptom ihres Lebensstils.
Früher einmal hatte es eine Zeit gegeben, da hatte er nicht so gelebt wie jetzt. Und dieses Jetzt bestand aus einem 32er unter seinem Kopfkissen, einem Verrückten, der aus Gründen, die nur der Herrgott selbst erahnen mochte, wieder und wieder im Hinterhof eine Pistole abfeuerte, und einem anderen Idioten (der vielleicht sogar mit dem im Hinterhof identisch war), den ein Kurzschluß in seinem Oberstübchen dazu getrieben hatte, auch das unglaublich teure und wertgeschätzte Cephskop kurzzuschließen, das alle Bewohner dieses Hauses – und alle ihre Freunde nicht minder – liebten und genossen. Ja, früher einmal hatte Bob Arctor ein anderes Leben geführt. Da waren eine Ehefrau gewesen, die sich in nichts von anderen Ehefrauen unterschied, zwei kleine Töchter, ein solider Haushalt, der täglich gefegt und geputzt und ausgeleert wurde, und nichtssagende Zeitungen, die nie aufgeschlagen, sondern gleich vom Briefkasten zur Mülltonne getragen wurden – oder manchmal sogar gelesen. Aber eines Tages dann, während er gerade den elektrischen Popcornautomaten unter dem Ausguß hervorholte, hatte Arctor sich den Kopf an der Ecke eines Küchenschränkchens gestoßen. Dieser Schnitt in seiner Kopfhaut, dieser unerwartete und unverdiente Schmerz, hatte aus irgendeinem unerfindlichen Grund die Spinnweben zerrissen. Und er begriff mit wundersamer Klarheit, daß er nicht das Hängeschränkchen haßte: Er haßte seine Ehefrau, seine beiden Töchter, das ganze Haus, den Hinterhof mit dem elektrischen Rasenmäher, die Garage, die Zentralheizung und ihre gleichmäßige Wärme, den Vorhof, den Zaun, dieses ganze beschissene Heim – und jeden einzelnen, der darin lebte. Er beschloß, sich scheiden zu lassen; er wollte sich von allem lösen. Und das hatte er auch getan, sehr bald schon. Und dann war er Schritt um Schritt in ein neues Leben eingetreten, dem es an all dem mangelte.
Vielleicht hätte er diese Entscheidung bedauern sollen. Er tat das nicht. Sein früheres Leben war ohne Aufregung gewesen, ohne Abenteuer. Es war zu sicher gewesen. Alle Bestandteile, aus denen sich dieses Leben zusammensetzte, standen vorgefertigt da, stets sichtbar. Nichts würde sich jemals ändern. Sein Leben, so hatte er einmal überlegt, war wie ein kleines Boot aus Plastik, das auf ewig weitersegeln würde, ohne Zwischenfälle, bis es schließlich sank, was für alle eine Erlösung war.
Aber in dieser dunklen Welt, in der er nun lebte, strömten dauernd häßliche und überraschende Dinge auf ihn ein – und gelegentlich gab es auch einmal ein winziges, wunderbares Ding. Er konnte mit nichts fest rechnen; jeder Tag bot neue Überraschungen. Wie die absichtliche, böswillige Beschädigung seines Altec-Cephalochromoskops, um das herum er den Vergnügungsteil seines Tagesablaufs aufgebaut hatte, den Abschnitt des Tages, in dem sie sich alle entspannten und aus dem sie eine innere Ruhe und Zufriedenheit gewannen. Rational betrachtet, ergab es für niemanden Sinn, das alles zu zerstören. Aber nicht viel inmitten dieser langen, dunklen Abendschatten war wirklich rational, wenigstens nicht im exakten Wortsinn. Jeder konnte diese rätselhafte Handlung begangen haben, und das aus fast jedem erdenklichen Grund. Jeder, den er kannte oder dem er jemals flüchtig begegnet war. Jeder einzelne von acht Dutzend ausgeklinkten Säureköpfen, exotischen Freaks, kaputten Fixern oder psychotischen Paranoikern, die ihren halluzinierten Groll gegen ihn nun nicht mehr bloß in ihrer Phantasie, sondern in der Wirklichkeit auslebten. Oder sogar jemand, dem er nie begegnet war und der ihn einfach nach Zufallskriterien aus dem Telefonbuch ausgewählt hatte.
Oder sein bester Freund.
Vielleicht hat Jerry Fabin es getan, dachte er, bevor sie ihn weggekarrt haben. Diese ausgebrannte, vergiftete Hülse, die einmal ein Mensch gewesen ist. Jerry Fabin und seine Milliarden von Blattläusen. Jerry Fabin, der Donna – und eigentlich alle Puppen – beschuldigt hat, ihn »verseucht« zu haben. Dieser ausgeflippte Homo. Aber, dachte Arctor, wenn Jerry jemanden hätte fertigmachen wollen, dann wäre das Donna gewesen und nicht ich. Und außerdem hätte Jerry bestimmt nicht mal herausfinden können, wie man die Bodenplatte des Geräts entfernt; wenn er das versucht hätte, wäre er jetzt wahrscheinlich immer noch dabei, dieselbe Schraube loszuschrauben und wieder festzuschrauben. Oder er hätte gleich versucht, die Platte mit einem Hammer abzukriegen. Und überhaupt: Wenn Jerry Fabin es getan hätte, dann wäre der Kasten voller Wanzeneier, die von ihm abgefallen wären … Bei diesem Gedanken mußte Bob Arctor innerlich grinsen.
Armes Schwein, dachte er, und sein innerliches Grinsen erstarb. Arme, unglückliche Tunte. Sobald sich erst einmal die Spuren der hochkomplexen Schwermetalle in seinem Gehirn abgelagert hatten, war’s mit ihm vorbei gewesen. Game over.
Einer mehr in einer langen Reihe von Gehirngeschädigten, eine weitere traurige Existenz wie so viele andere vor ihm. Völlig debil. Das biologische Leben geht weiter, dachte Arctor, aber die Seele, der Verstand – das ist alles tot. Was bleibt, ist eine Reflexmaschine. Wie irgendein Insekt, verdammt dazu, düstere Verhaltensmuster zu wiederholen. Ein einziges Verhaltensmuster, wieder und wieder. Ob dieses Muster nun angemessen ist oder nicht.
Möchte wissen, wie er früher war, grübelte er. Er hatte Jerry noch nicht sehr lange gekannt. Charles Freck behauptete, daß Jerry früher mal ziemlich gut funktioniert habe. Das hätte ich mit meinen eigenen Augen sehen müssen, um es zu glauben, dachte Arctor.
Vielleicht sollte ich Hank von der Sabotage meines Cephskops erzählen, dachte er. Sie würden auf der Stelle wissen, wer und was dahintersteckt. Aber was können sie überhaupt für mich tun? Das ist nun mal das Risiko, das man eingeht, wenn man diese Art Arbeit macht.
Und sie ist das nicht wert, diese Arbeit, dachte er. So viel Geld gibt es auf dem ganzen beschissenen Planeten nicht. Aber er tat diese Arbeit sowieso nicht des Geldes wegen. »Und warum tun Sie’s eigentlich dann?« hatte Hank ihn gefragt. Aber was wußte denn ein Mann – gleich, welche Art von Arbeit er tat – schon über seine tatsächlichen Motive? Langeweile, vielleicht; die Sehnsucht nach ein bißchen Action. Oder eine unterschwellige Feindseligkeit gegenüber den Menschen, die einen umgaben, gegenüber allen seinen Freunden und sogar den Puppen. Oder es mochte eine positive Motivation sein, die das Ergebnis einer schrecklichen persönlichen Erfahrung war. Vielleicht kannte man ein menschliches Wesen, das man aus ganzem Herzen liebte, dem man wirklich nahegekommen war, das man im Arm gehalten und mit dem man geschlafen hatte, das man geküßt und um das man sich gesorgt hatte, das man als Freund behandelt und vor allem bewundert hatte – und dann mußte man mit ansehen, wie diese warme, lebendige Person innerlich ausbrannte, vom Herzen an nach außen verbrannte. Bis sie klickt und klackt wie ein Insekt. Wieder und wieder den gleichen Satz wiederholt. Eine Bandaufnahme. Eine Endlosschleife.
»… wenn ich bloß noch einen einzigen Schuß haben könnte …«
Keine Probleme mehr, dachte er. Drei Viertel des Gehirns Brei, und immer wieder dieser eine Satz. Wie bei Jerry Fabin.
»… wenn ich bloß noch einen einzigen Schuß haben könnte, würde mein Gehirn ganz bestimmt von selbst wieder in Ordnung kommen. «
Dann hatte er eine Vision – Jerry Fabins Gehirn als die ruinierte Verkabelung des Cephalochromoskops, mit zerschnittenen Drähten, Kurzschlüssen, herausgerissenen Leitungen, überladenen und zu undefinierbaren Klumpen zusammengeschmolzenen Kondensatoren, verschmorten Kontakten, beißendem Qualm und einem widerwärtigen Geruch. Und da sitzt jemand mit einem Voltmeter, mißt die Stromkreise durch und murmelt düster: »O weh, o weh! Eine Menge Widerstände und Transistoren müssen ersetzt werden« und so weiter. Und dann würde von Jerry Fabin nur ein mattes Summen kommen, und sie würden aufgeben.
Und in Bob Arctors Wohnzimmer würde ein Tausend-Dollar-Qualitäts-Cephskop, eine Maßanfertigung der Firma Altec, das nun angeblich wieder repariert war, eine Schrift in fahlem Grau auf einen winzigen Fleck an der Wand werfen:
WENN ICH BLOSS NOCH EINEN EINZIGEN SCHUSS HABEN KÖNNTE …
Danach würden sie das Cephskop, das irreparabel beschädigt war, und Jerry Fabin, der irreparabel beschädigt war, in denselben Abfalleimer werfen.
Nun ja, dachte Arctor. Wer braucht Jerry Fabin? Außer vielleicht Jerry Fabin selbst, der einmal davon geträumt hatte, als Geschenk für einen Freund ein drei Meter langes Konsolensystem mit einer Quadrophonieanlage und einem Fernseher darin zu entwerfen und zu bauen. Und als man ihn gefragt hatte, wie er es von seiner Garage zum Haus seines Freundes transportieren wollte, wo es doch nach der Fertigstellung so groß sein und so viel wiegen würde, da hatte er erwidert: »Überhaupt kein Problem, Mann! Ich werde es einfach zusammenklappen – hier, ich habe die Scharniere schon gekauft – ich werd’s also zusammenklappen, verstehst du, das ganze Ding zusammenklappen, es in einen Briefumschlag stecken und es ihm per Post schicken.«
Jedenfalls, dachte Bob Arctor, müssen wir jetzt wenigstens nicht dauernd Blattläuse aus dem Haus fegen, nachdem Jerry zu Besuch gekommen ist. Er verspürte das Bedürfnis zu lachen, als er daran dachte. Einmal hatten sie eine Theorie entwickelt, mit der sich Jerrys Blattlaus-Trip psychoanalytisch erklären ließ. Den Löwenanteil dazu hatte der clevere, stets zu Spaßen aufgelegte Luckman beigetragen – bei solchen Sachen hatte er wirklich was auf dem Kasten. Natürlich setzte die Erklärung bei Jerry Fabins Kindheit an. Eines schönen Tages also kommt Jerry Fabin aus der ersten Klasse nach Hause, den Ranzen unter den Arm geklemmt, fröhlich pfeifend. Und da sitzt im Eßzimmer neben seiner Mutter diese große Blattlaus, ungefähr einen Meter groß. Jerrys Mutter schaut sie stolz an.
»Was is’n los?« erkundigt sich der kleine Jerry Fabin.
»Das hier ist dein älterer Bruder«, sagt seine Mutter, »den du bisher noch nicht kennengelernt hast. Er wird von jetzt an bei uns wohnen. Ich mag ihn viel lieber als dich. Er kann viel mehr als du.«
Und von da an vergleichen Jerry Fabins Eltern ihn pausenlos mit seinem älteren Bruder, der Blattlaus, und immer schneidet Jerry dabei schlecht ab. Als die beiden heranwachsen, entwickelt Jerry nach und nach einen starken Minderwertigkeitskomplex – was unausbleiblich ist. Nach der Oberschule erhält sein Bruder ein Stipendium für ein College, während Jerry in einer Tankstelle zu arbeiten beginnt. Danach wird dieser Bruder, die Blattlaus, ein berühmter Arzt oder Wissenschaftler, ja sogar Nobelpreisträger. Jerry hingegen wechselt immer noch für einen Dollar fünfzig in der Stunde Reifen an der Tankstelle. Seine Mutter und sein Vater hören nie damit auf, ihn daran zu erinnern. Sie sagen immer:
»Wenn du doch bloß nach deinem Bruder geraten wärst!« Schließlich läuft Jerry von zu Hause fort. Aber in seinem Unterbewußtsein fühlt er immer noch, daß Blattläuse ihm überlegen sind. Zuerst glaubt er, sicher zu sein, aber dann fängt er an, in seinen Haaren und in seinem Haus überall Blattläuse zu sehen, weil sich sein Minderwertigkeitskomplex inzwischen in eine Art sexuellen Schuldkomplex verwandelt hat, und die Blattläuse sind nun eine Strafe, die er sich selber auferlegt, etc.
Jetzt fand Arctor das nicht mehr so spaßig wie damals – jetzt, da Jerry mitten in der Nacht auf Betreiben seiner eigenen Freunde weggeschleppt worden war. Sie selbst – alle, die in jener Nacht mit Jerry zusammengewesen waren – hatten beschlossen, die Klinik zu verständigen; die Lage hatte sich so zugespitzt, daß man diesen Schritt nicht länger hinauszögern konnte. Er war absolut unvermeidlich. In jener Nacht nämlich hatte Jerry die Vordertür seines Hauses verbarrikadiert – mit allem, was er in seinem Haus nur finden konnte, so ungefähr neunhundert Pfund gottverdammter Kram, einschließlich der Couch und der Stühle und des Eisschranks und des Fernsehers. Und dann hatte er allen erzählt, daß eine gigantische, superintelligente Blattlaus von einem anderen Planeten da draußen sei und sich darauf vorbereitete, hereinzukommen und sich ihn zu schnappen. Und weitere würden später noch landen, selbst wenn er diese hier erwischte. Diese außerirdischen Blattläuse waren bei weitem gewitzter als alle Menschen und würden, wenn nötig, auch geradewegs durch die Wände kommen, denn das sei für sie dank ihrer übernatürlichen Fähigkeiten gar kein Problem. Um sich selbst so lange wie möglich zu retten, würde er das Haus mit Zyanidgas fluten müssen, worauf er vorbereitet war. Welche Vorkehrungen er denn getroffen habe, hatten seine Freunde wissen wollen. Nun, hatte Jerry daraufhin erklärt, er habe bereits alle Fenster und Türen mit Klebeband luftdicht versiegelt. Dann schlug er vor, die Wasserhähne in der Küche und im Badezimmer aufzudrehen und das Haus zu überfluten. Er behauptete, daß der Heißwassertank in der Garage mit Zyanid gefüllt sei, nicht mit Wasser. Er habe das schon seit langer Zeit gewußt, das Gas aber bis zum Schluß aufgespart, sozusagen als letzte Verteidigung. Zwar würden auch sie selber alle dabei sterben, aber wenigstens würden sie auf diese Weise die superintelligenten Blattläuse daran hindern, ins Haus einzudringen.
Seine Freunde riefen daraufhin die Polizei an. Die Polizisten brachen die Vordertür auf und karrten Jerry weg in die Staatliche Nervenklinik. Das letzte, was Jerry zu ihnen allen sagte, war: »Bringt mir später meine Sachen – bringt mir mein neues Jackett mit den Perlen auf dem Rücken mit.« Er hatte sich dieses Jackett gerade erst gekauft, und er hing sehr daran. Das Jackett war so ungefähr alles, woran er noch hing; alles andere, was er besaß, hielt er für verseucht.
Nein, dachte Bob Arctor, jetzt scheint es nicht mehr so spaßig zu sein. Er fragte sich, warum es ihm jemals so vorgekommen war. Vielleicht kam das von der Furcht, der schrecklichen Furcht, die sie alle in den letzten Wochen in Jerrys Gegenwart verspürt hatten. Jerry hatte ihnen erzählt, daß er manchmal nachts das Haus mit einer Schrotflinte durchstreifte, weil er die Anwesenheit eines Feindes spürte. Er hoffte darauf, selbst noch einen Schuß abfeuern zu können, bevor er erschossen wurde. Aber seinen eigenen Tod hatte er schon mit einkalkuliert.
Und nun, dachte Bob Arctor, habe ich einen Feind. Oder jedenfalls bin ich auf seine Fährte gestoßen. Auf die Zeichen, die er hinterläßt. Noch so ein drogenverseuchtes Wrack im letzten Stadium, ganz wie Jerry. Und wenn dieses letzte Stadium der Scheiße zuschlägt, dann knallt es wirklich in deinen Kopf rein. Nachhaltiger als jeder Werbespot von Ford oder General Motors zur besten Sendezeit.
Ein Klopfen an seiner Schlafzimmertür.
Er berührte die Pistole unter seinem Kissen und sagte:
»Yeah?«
Murmel-murmel. Barris’ Stimme.
»Komm rein«, sagte Arctor. Er knipste die Nachttischlampe an.
Barris trat ein; seine Augen funkelten. »Noch wach?«
»Ein Traum hat mich wachgemacht«, sagte Arctor. »Ein religiöser Traum. Urplötzlich klafften die Himmel mit einem gewaltigen Donnerschlag auseinander, und Gott der Herr erschien, und seine Stimme grollte mich an – was, zum Teufel, sagte Er doch gleich? – ach ja, richtig. »Ich ärgere mich über dich, mein Sohn‹, sagte Er. Sein Gesicht war sehr finster. Ich zitterte, in meinem Traum, und sagte, zu Ihm aufblickend: ›Was habe ich getan, o Herr?‹ Und Er sprach: ›Du hast schon wieder den Verschluß deiner Zahnpastatube nicht zugeschraubte Und dann merkte ich plötzlich, daß Er meine Ex-Ehefrau war.«
Barris setzte sich, legte die Hände auf seine lederbedeckten Knie, straffte sich, schüttelte den Kopf und blickte Arctor geradeheraus an. Er schien allerbester Laune zu sein. »Tja«, sagte er lebhaft, »ich habe eine erste Theorie, wer böswillig und systematisch dein Cephskop zerstört haben könnte und das auch wieder tun mag. «
»Wenn du sagen willst, es sei Luckman –«
»Hör zu«, sagte Barris und schaukelte aufgeregt vor und zurück. »W-w-was würdest du denken, wenn ich dir sagen würde, daß ich bereits vor Wochen eine ernsthafte Fehlfunktion einer der Apparaturen in diesem Haushalt vorausgesehen habe, und zwar speziell in einer Apparatur, die teuer und schwer zu reparieren ist? Meine Theorie schrie geradezu danach, daß das passieren mußte! Der Schaden an deinem Cephskop ist die Bestätigung meiner allumfassenden Theorie!«
Arctor musterte ihn mißtrauisch.
Barris sank langsam zurück und setzte wieder sein ruhiges, breites Lächeln auf. »Du«, sagte er und zeigte mit dem Finger auf Arctor.
»Du denkst also, ich hätte es getan«, sagte Arctor. »Ich hätte mein eigenes Cephskop kaputtgemacht, obwohl es nicht mal versichert war.« Ekel und Zorn schwollen in ihm an. Und es war schon spät in der Nacht; er brauchte seinen Schlaf.
»Nein, nein«, sagte Barris rasch, mit angstvollem Blick. »Du schaust auf die Person, die es getan hat. Die dein Cephskop zu Klumpatsch gemacht hat. Nichts anderes wollte ich sagen, aber du hast mich ja nicht ausreden lassen!«
»Du hast es getan?« Verwirrt starrte er Barris an, aus dessen trüben Augen eine Art schaler Triumph sprach. »Warum?«
»Ich meine, es paßt in meine Theorie, daß ich es getan haben muß«, sagte Barris. »Offenkundig unter dem Einfluß eines posthypnotischen Befehls, der mit einem Amnesie-Block gekoppelt ist, damit ich mich nicht daran erinnern kann.« Er begann zu lachen.
»Darüber sprechen wir später noch mal«, sagte Arctor und schaltete die Nachttischlampe aus. »Am besten viel später. «
Barris stand zitternd auf. »Hey, aber begreifst du denn nicht – nur ich verfüge über das hochspezialisierte elektronische Fachwissen, und außerdem hatte ich jederzeit Zugang zu deinem Cephskop – schließlich wohne ich ja hier. Was ich aber partout nicht ergründen kann, ist mein Motiv.«
»Du hast es getan, weil du bekloppt bist«, sagte Arctor.
»Vielleicht bin ich von geheimen Mächten angeworben worden«, murmelte Barris verwirrt. »Aber dann erhebt sich wiederum die Frage nach deren Motiven. Vielleicht wollen sie erreichen, daß wir uns gegenseitig verdächtigen und einander zu mißtrauen beginnen, so daß Zank und Hader zwischen uns keimt und wir einander schlußendlich in offener Feindschaft gegenüberstehen – daß wir alle unsicher werden, wem wir noch vertrauen können und wer unser Feind ist? Oder jedenfalls was in der Art.«
»Das ist ihnen schon gelungen«, sagte Arctor.
»Aber warum würden sie so etwas tun wollen?« sagte Barris, während er sich zur Tür bewegte; seine Hände wirbelten aufgeregt in der Luft. »Ein derartig großer Aufwand – das Abmontieren der Bodenplatte, ein Nachschlüssel für die Vordertür –«
Ich werde froh sein, dachte Bob Arctor, wenn wir endlich die Holo-Kameras kriegen und sie überall in diesem Haus eingebaut sind. Er berührte seine Pistole und fühlte sich sofort sicherer. Dann fragte er sich, ob er vielleicht überprüfen sollte, ob sie noch geladen war. Aber dann, begriff er plötzlich, werde ich mich als nächstes fragen, ob der Abzugbolzen überhaupt noch da ist oder ob nicht jemand das Pulver aus den Patronen entfernt hat… und so weiter, und so weiter, in manischer Besessenheit, wie ein kleiner Junge, der die Risse im Bürgersteig zählt, um seine Angst zu verringern. Der kleine Bobby Arctor, der aus der ersten Klasse nach Hause kommt, den Ranzen unter den Arm geklemmt, voller Angst vor dem Unbekannten, das vor ihm liegt.
Mit einer Hand tastete er an der Unterkante des Bettrahmens entlang, weiter und weiter, bis seine Finger schließlich den Klebestreifen berührten. Obwohl Barris noch im Raum war und ihm zuschaute, riß er zwei Tabletten Substanz T los, führte sie zum Mund und warf sie ein, schluckte sie ganz ohne Wasser hinunter. Dann legte er sich mit einem Seufzer zurück.
»Angenehme Träume«, sagte er zu Barris.
Und schlief ein.