VI

Item. Was ein Geheimer Rauschgift-Agent am meisten fürchtet, ist nicht etwa, daß er erschossen oder zusammengeschlagen wird, sondern daß man ihm einen Hit irgendeiner psychedelischen Droge unterjubelt, die bewirkt, daß sich für den Rest seines Lebens ein endloser Horrorfilm in seinem Kopf abspult, oder man ihn mit einem Mex-Hit vollpumpt, der zur Hälfte aus Heroin und zur Hälfte aus Substanz T besteht und manchmal auch aus einer Mischung dieser beiden Drogen plus einem Gift wie etwa Strychnin, das ihn beinahe umbringen wird – aber eben nur beinahe, damit er auch ja nicht dem obengenannten Schicksal entgeht: der lebenslänglichen Sucht, dem lebenslänglichen Horrorfilm. Er wird auf eine Stufe der Existenz absinken, auf der sich sein ganzes Denken nur noch um Nadel und Spritzbesteck dreht, oder er wird wieder gegen die Wände einer Gummizelle in einer psychiatrischen Klinik anrennen oder – was am schlimmsten ist – in einer Staatlichen Nervenklinik landen. Er wird Tag und Nacht versuchen, die Blattläuse von sich abzuschütteln oder bis an sein Lebensende darüber nachgrübeln, warum er es nicht länger fertigbringt, einen Fußboden zu bohnern. Und all dies wird man ihm mit voller Absicht antun, weil jemand herausgefunden hat, daß er für die Behörden arbeitet, und ihn dann hinterrücks erwischt hat. Eigentlich auf die naheliegendste und übelste Art, die man sich nur vorstellen konnte: nämlich mit dem Zeug, das diese Leute verkauften und wegen dem der Rauschgift-Agent schließlich hinter ihnen her war.

Und das, dachte Bob Arctor, während er vorsichtig heimfuhr, bedeutet, daß sowohl die Dealer als auch die Rauschgift-Agenten wissen, was die Drogen, die auf den Straßen verkauft werden, dem Menschen antun. Wenigstens ein Punkt, in dem beide Seiten sich einig waren.

Von einer nahe gelegenen Union-Tankstelle war ein Automechaniker zu der Stelle herausgekommen, wo Arctors Wagen stand, hatte den Wagen durchgecheckt und ihn schließlich für dreißig Dollar wieder in Ordnung gebracht. Alles sonst schien okay zu sein; allerdings hatte der Automechaniker ziemlich lange die linke Vorderradaufhängung untersucht.

»Stimmt da was nicht?« hatte Arctor sich erkundigt.

»Möglich, daß Sie Ärger kriegen, wenn Sie scharf um die Ecke biegen«, hatte der Automechaniker gesagt. »Schwimmt der Wagen?«

Der Wagen schwamm nicht; jedenfalls hatte Arctor das bisher nicht bemerkt. Aber der Automechaniker ließ sich nicht dazu herab, genauere Erläuterungen abzu­ge­ben; er betastete nur immer wieder die Achsschenkel und den ölgefüllten Stoßdämpfer. Arctor bezahlte die Rechnung, und der Abschleppwagen fuhr weg. Dann stieg er wieder in seinen eigenen Wagen und steuerte ihn nordwärts, zurück nach Orange County. Luckman und Barris saßen jetzt beide hinten.

Während er so dahinfuhr, dachte Arctor über verschiedene andere ironische Parallelen zwischen Rauschgift-Agenten und Dealern nach. Mehrere Rauschgift-Agenten, die er kennengelernt hatte, hatten sich bei ihrer Arbeit als Dealer getarnt und schließlich wirklich Hasch und am Ende manchmal sogar Smack verkauft. Eine hübsche Tarnung, die aber zudem im Laufe der Zeit dem jeweiligen Agenten einen Profit brachte, der weit über seinem offiziellen Gehalt lag – selbst dann noch, wenn man die Summen dazurechnete, die der Agent jedesmal dann kassierte, wenn durch seine Hilfe eine große Lieferung Stoff abgefangen werden konnte. Außerdem erlagen die Agenten nach und nach immer stärker der Versuchung, das Zeug, mit dem sie zur Tarnung handelten, selbst zu konsumieren. Auf diese Weise verstrickten sie sich immer tiefer in die Scene, und bald nahm ihre Existenz als Dealer und Süchtige einen ebenso großen Raum in ihrem Leben ein wie ihre Tätigkeit als Rauschgift-Agenten – was am Schluß dazu führte, daß einige von ihnen ihre dienstlichen Pflichten zu vernachlässigen begannen und sich statt dessen lieber als Full-Time-Dealer etablierten. Andererseits wiederum gab es Dealer, die ihre eigenen Kollegen verpfiffen, weil sie auf diese Weise persönliche Feinde fertigmachen wollten oder hoffen durften, aufgrund ihrer Informantentätigkeit davor geschützt zu sein, in nächster Zeit selber hochgenommen zu werden. Diese Dealer entwickelten sich dann manchmal zu einer Art inoffizieller Geheimer Rauschgift-Agenten. Die Grenzen waren fließend; alles war dunkel und undurchschaubar. Die Drogenscene war ohnehin für alle, die in ihr lebten, eine dunkle Welt. Für Bob Arctor zum Beispiel war sie seit diesem Nachmittag dunkler geworden als je zuvor: Während er und seine beiden Kumpels draußen am San Diego Freeway gerade noch einmal dem Teufel von der Schippe gesprungen waren, hatten die Beamten vom Amt für Drogenmißbrauch ihr Haus – wie er hoffte – sorgfältig verwanzt, und wenn das der Fall war, würde er von jetzt an vor solchen Dingen, wie sie heute geschehen waren, sicher sein. Diese Verwanzung­aktion war ein Glücksfall, der letztendlich darüber entscheiden mochte, ob er, Arctor, vergiftet oder erschossen oder süchtig gemacht wurde oder ob es ihm statt dessen gelingen würde, seinen Feind festzunageln – seinen Feind, dessen Identität er nicht kannte, der ihn aber längst im Fadenkreuz hatte und ihn heute sogar beinahe schon erwischt hätte. Wenn erst einmal die Holo-Kameras an den vorgesehenen Stellen eingebaut sind, dachte Arctor, dann werden kaum noch weitere Sabotageakte oder Angriffe auf mich möglich sein. Zumindest aber wird dadurch der Erfolg solcher Aktionen in Frage gestellt.

Das war so ungefähr der einzige Gedanke, der ihm etwas Beruhigung verschaffte. Jemand, der gejagt wird, überlegte er, als er den Wagen vorsichtig durch den dichten Spätnachmittagsverkehr lenkte, flieht manchmal vielleicht schon, wenn ihm noch niemand unmittelbar auf den Fersen ist – er hatte einmal so etwas gehört, und vielleicht traf das ja wirklich zu. Was aber mit Sicherheit zutraf, war, daß jemand, der gejagt wurde, rasch eine Reihe von Vorsichtsmaßnahmen ergriff und floh, als sei der Teufel höchstpersönlich hinter ihm her, wenn ihm wirklich jemand auf den Fersen war – eine reale Person, die in solchen Dingen erfahren war und zudem aus dem Verborgenen heraus operierte. Und wenn dieser Jäger sehr dicht hinter ihm war. So dicht, dachte Arctor, wie der Rücksitz dieses Wagens. Und wenn der Jäger seine seltsame kleine Kugelspritze vom Kaliber 22, hergestellt in Deutschland, mit seinem ebenso seltsamen und lächerlichen Pseudo-Schalldämpfer darauf dabei hat und Luckman wie gewöhnlich eingeschlafen ist, dann kann er mir ein Hohlmantelgeschoß durch die Rückseite meines Schädels jagen, und ich werde so tot sein wie Bobby Kennedy, der an einer Kugel vom gleichen Kaliber gestorben ist. So ein kleines Kaliber, und doch so tödlich …

Und das kann nicht nur heute passieren, sondern an jedem beliebigen Tag. Und in jeder beliebigen Nacht.

Aber ich habe wenigstens noch einen Trumpf im Ärmel. Denn wenn ich die Speichertrommeln im Haus überprüfe, werde ich bald ziemlich genau wissen, was alle, die in diesem Haus leben, tun und wann sie es tun und möglicherweise sogar, warum sie es tun – mich selbst eingeschlossen. Ich werde die Person, die zugleich ich selbst bin, dabei beobachten können, dachte er, wie sie mitten in der Nacht aufsteht, um zu pinkeln. Ich werde, alle Zimmer täglich vierundzwanzig Stunden lang überwachen … obwohl es dabei natürlich zwangsläufig immer eine zeitliche Verzögerung gibt. Es wird mir nicht viel nützen, wenn die Holo-Kameras aufnehmen, wie ich jeden Kontakt zur Realität verliere, weil mir jemand eine gehirnzerstörende Droge in den Kaffee getan hat, die die Hell’s Angels aus einem geheimen Militärdepot geklaut haben; ein anderer Beamter, der die Speichertrommeln durchgeht, wird zuschauen müssen, wie ich tobe oder mich in Agonie auf dem Boden winde, und er wird nicht einmal wissen, wo und was ich in Zukunft sein werde. Er wird nur wissen, daß mich jetzt jemand erwischt hat – eine reichlich verspätete Erkenntnis, die eben nicht einmal mehr mir selbst vergönnt sein wird, sondern nur diesem anderen Beamten.

Luckman sagte: »Ich frage mich, was daheim im Haus vor sich gegangen sein mag, während wir den ganzen Tag über weg waren. Weißt du, Bob, dieser Vorfall beweist doch, daß jemand hinter dir her ist und dich fertigmachen will, so richtig auf die üble Tour. Ich hoffe nur, daß das Haus noch da ist, wenn wir zurückkommen. «

»Oh, verdammt«, sagte Arctor. »Daran habe ich ja noch gar nicht gedacht. Und wir haben nicht mal ein Cephskop auftreiben können.« Er achtete sorgfältig darauf, daß seine Stimme dumpf und resigniert klang.

Überraschend fröhlich sagte Barris: »Ich an eurer Stelle würde mir da nicht zu viele Sorgen machen.«

Wütend sagte Luckman: »Ach nein? Herr im Himmel, die können bei uns eingebrochen sein und alles gestohlen haben, was wir besitzen. Jedenfalls alles, was Bob gehört. Und vielleicht haben sie sogar die Tiere umgebracht oder totgetrampelt. Oder –«

»Ich habe für alle, die in unserer Abwesenheit das Haus betreten haben, eine kleine Überraschung zurückgelassen«, sagte Barris. »Ich bin erst heute morgen damit fertig geworden … hab’ pausenlos gearbeitet, bis ich den richtigen Dreh raushatte. Eine hübsche kleine elektronische Überraschung.«

Arctor verbarg mühsam seine Betroffenheit und sagte scharf: »Was für eine elektronische Überraschung? Das ist immer noch mein Haus, Jim, und du kannst nicht einfach anfangen, irgendwelche Manipulationen –«

Reg dich doch nicht künstlich auf«, sagte Barris. »Wie unsere deutschen Freunde zu sagen pflegen: leise[1] Was übrigens bedeutet: immer schön cool bleiben.«

»Was zum Teufel hast du denn gemacht,«

»Wenn während unserer Abwesenheit die Vordertür geöffnet wird«, sagte Barris, »schaltet sich automatisch mein Cassettenrecorder ein. Er steht unter der Couch, und ich habe ihn mit einer Cassette von zwei Stunden Spieldauer bestückt. Sodann habe ich an drei verschiedenen Stellen drei Sony-Mikrophone plaziert und sie –«

»Du hättest mir das sagen sollen«, sagte Arctor.

»Was ist, wenn sie durch die Fenster kommen?« sagte Luckman. »Oder durch die Hintertür?«

»Um die Wahrscheinlichkeit dafür zu erhöhen, daß sie durch die Vordertür ins Haus eindringen und nicht auf anderen, weniger gebräuchlichen Wegen« fuhr Barris fort, »habe ich in weiser Voraussicht einfach die Vordertür unverschlossen gelassen.«

Nach einem Moment der Verblüffung begann Luckman zu kichern.

»Mal angenommen, Sie wissen nicht, daß die Tür unverschlossen ist?« sagte Arctor.

»Ich habe einen Zettel drangemacht«, sagte Barris.

»Hör mal, du willst mich wohl verarschen?«

»Ja«, sagte Barris prompt.

»Verarschst du uns nun oder nicht?« sagte Luckman. »Bei dir weiß ich das nie so recht. Verarscht er uns, Bob?«

»Wir werden’s ja feststellen, wenn wir heimkommen«? sagte Arctor. »Wenn ein Zettel an der Tür hängt und sie nicht abgeschlossen ist, dann wissen wir, daß er uns nicht verarscht.«,

»Sie würden den Zettel vielleicht abmachen und die Tür abschließen, nachdem sie alles Brauchbare geklaut und den Rest der Einrichtung zertrümmert haben«, sagte Luckman. »Das ist also kein zuverlässiges Kriterium. Wir werden’s nie genau wissen können. Jedenfalls nicht mit letzter Sicherheit. Wieder einmal diese Grauzone.«

»Natürlich scherze ich nur!« sagte Barris mit Nachdruck. »Nur ein Psychopath würde so etwas tun – die Vordertür seines Hauses unverschlossen zu lassen und einen Zettel an der Tür zu hinterlassen.«

Arctor wandte sich zu ihm um. »Was hast du auf den Zettel geschrieben, Jim?«

»An wen ist der Zettel gerichtet?« stimmte Luckman ein. »Ich wußte nicht mal, daß du überhaupt schreiben kannst.«

Herablassend sagte Barris: »Ich habe draufgeschrieben: ›Donna, komm ruhig rein; die Tür ist offen. Wir –‹« Barris hielt inne »Die Nachricht ist für Donna«, schloß er, jetzt weniger selbstbewußt.

»Er hat’s tatsächlich gemacht«, sagte Luckman. »Er hat’s echt gemacht. Alles, was er uns erzählt hat.«

»Auf diese Weise«, sagte Barris glatt, »werden wir herausfinden, wer hinter der ganzen Sache steckt, Bob. Und das ist von vorrangiger Wichtigkeit.«

»Außer, sie klauen«, sagte Arctor. Er dachte fieberhaft darüber nach, ob diese neue Entwicklung wirklich ein ernsthaftes Problem darstelle. Warum mußte dieser Kindskopf Barris auch jede mögliche und unmögliche Gelegenheit dazu benutzen, um sein verdrehtes elektronisches Genie unter Beweis zu stellen? Ach, zum Teufel, beruhigte er sich schließlich selbst, sie werden die Mikros schon innerhalb der ersten zehn Minuten finden und dann die Kabel zum Recorder zurückverfolgen. Sie werden genau wissen, was in einer solchen Situation zu tun ist. Sie werden das Band löschen, es zurückspulen, die ganze Konstruktion so lassen, wie sie war, die Tür nicht abschließen und auch den Zettel daran hängen lassen. Vielleicht wird die offene Tür ihnen ihren Job sogar erleichtern. Scheiß-Barris, dachte er. Immer voller grandioser, genialer Pläne, die das Universum aus den Angeln heben sollen! Möglicherweise hat er sogar vergessen, den Recorder überhaupt in die Steckdose einzustöpseln. Moment mal … wenn er feststellt, daß der Recorder nicht eingestöpselt ist …

Schlagartig begriff Arctor, daß Barris gerade das als Beweis dafür werten würde, daß in ihrer Abwesenheit tatsächlich jemand ins Haus eingedrungen war. Und von diesem Augenblick an würde er keine Ruhe mehr geben und ihnen allen tagelang damit in den Ohren liegen, daß jemand hereingekommen sein müsse, der seine Vorrichtung entdeckt und schlauerweise den Stecker herausgezogen habe. Und darum, dachte Arctor, kann ich eigentlich nur hoffen, daß sie den Recorder einstöpseln, wenn sie feststellen, daß er gar nicht eingestöpselt war, und außerdem noch sicherstellen, daß das Gerät betriebsbereit ist. Noch besser wäre es natürlich, wenn sie Barris’ Überwachungsanlage mit der gleichen Sorgfalt durchtesten würden wie die, die sie selber einbauen; sie sollten absolut sicher sein, daß Barris’ System perfekt funktioniert, bevor sie das Band dann bis Null zurückspulen und dabei alle etwaigen Aufzeichnungen löschen, damit nur eine Tafel zurückbleibt, auf der nichts steht – eine Tafel, auf der aber mit absoluter Sicherheit etwas stehen würde, wenn jemand (zum Beispiel eben das Verwanzungsteam) das Haus betreten hätte. In jedem anderen Fall würde Barris unweigerlich zu dem Schluß kommen, daß etwas nicht in Ordnung war. Und nichts und niemand würde ihn wieder davon abbringen können.

Während des restlichen Heimwegs setzte Arctor die theoretische Analyse seiner derzeitigen Situation fort, indem er ein zweites Beispiel heranzog, das in Fachkreisen eine gewisse Berühmtheit erlangt hatte. Während seines Polizeitrainings auf der Akademie war dieses Beispiel oft von seinen Instruktoren herangezogen worden; sie hatten es Arctor regelrecht in seinen eigenen Gedächtnisspeicher eingehämmert. Oder hatte er doch vielleicht nur mal etwas darüber in der Zeitung gelesen?

Item. Eine der effektivsten Formen industrieller oder militärischer Sabotage besteht darin, die Sabotageakte auf Beschädigungen zu beschränken, bei denen nie mit letzter Sicherheit – oder sogar überhaupt nicht – bewiesen werden konnte, daß sie absichtlich herbeigeführt worden waren. Das ist wie mit einer unsichtbaren politischen Bewegung: Vielleicht gibt es sie ja gar nicht. Wenn eine Bombe mit der Zündung eines Wagens gekoppelt wird, dann existiert offensichtlich ein Feind; wenn ein öffentliches Gebäude oder das Hauptquartier einer politischen Partei in die Luft gejagt wird, dann existiert offensichtlich ein politischer Feind. Aber wenn sich ein Unfall oder eine Serie von Unfällen ereignen, wenn – besonders über einen längeren Zeitraum hinweg verteilt – diverse Gerätschaften einfach nur versagen, wenn es zu lauter kleinen Pannen und Fehlzündungen kommt, die ja schließlich auch am natürlichen Verschleiß liegen können – dann wird das Opfer, sei es nun eine Einzelperson, eine politische Partei oder ein ganzes Land, nicht in der Lage sein, geeignete Verteidigungsmaßnahmen zu ergreifen.

Und es kann sogar so weit kommen, dachte Arctor, während er sehr langsam den Freeway entlangfuhr, daß das jeweilige Opfer – nehmen wir einmal an, es ist ein Mann – sich selbst für paranoid zu halten beginnt und glaubt, er habe gar keinen Feind; er zweifelt an sich selbst. Sein Wagen geht kaputt; gut, da kann vorkommen, er hat halt eine Pechsträhne. Und seine Freunde bestärken ihn darin. Er bildet sich das alles nur ein. Und diese Vorgehensweise löscht eine Person gründlicher aus als alle direkten, offenen Aktionen; allerdings nimmt sie auch mehr Zeit in Anspruch. Die Person oder die Personen, die ihn fertigmachen wollen, müssen eifrig tüfteln und immer neue Tricks ausknobeln und über einen langen Zeitraum jeden sich bietenden Zufall ausnützen. Falls das Opfer aber in der Zwischenzeit herausfinden kann, wer seine Feinde sind, hat er eine gute Chance, sie zu erwischen – und die hätte er nicht, wenn sie ihn, sagen wir mal, mit einem Zielfernrohrgewehr erschießen würden. Das ist sein Vorteil.

Arctor wußte, daß jedes Land auf der Welt eine große Zahl von Agenten ausschickte, die dazu ausgebildet waren, hier einen Bolzen anzusägen, da ein Gewinde zu lockern, Leitungskabel zu unterbrechen und kleine Brände zu entfachen, Dokumente verschwinden zu lassen – eben lauter kleine Pannen auszulösen. Ein Kaugummi in einem Xerox-Fotokopierer, der in einem Regierungsbüro steht, kann ein unersetzliches – und für die nationale Sicherheit lebenswichtiges – Dokument zerstören: statt daß eine Kopie herauskommt, wird das Original vernichtet. Zu viel Seife und Toilettenpapier (das wußten schon die Hippies in den sechziger Jahren) kann das Abwässersystem eines Behördenhochhauses ruinieren und alle Angestellten dazu zwingen, ihre Büros für eine Woche zu räumen. Eine Mottenkugel im Benzintank eines Wagens zerstört den Motor erst nach zwei Wochen, wenn der Wagen längst in einer anderen Stadt ist, und hinterläßt keine Spuren im Benzin, die analysiert werden könnten. Jede beliebige Radio- oder Fernsehstation ist dazu gezwungen, ihre Sendungen einzustellen, wenn bei Straßenbauarbeiten eine Ramme ein Mikrowellen- oder Energieversorgungskabel kappt. Und so weiter.

Und schon die Angehörigen der adeligen Herrscherschichten früherer Jahrhunderte wußten ein Lied von den seltsamen kleinen Mißgeschicken zu singen, die ihren Dienstmädchen, Gärtnern und sonstigen Bediensteten bisweilen unterliefen: eine zerbrochene Vase hier, ein hingefallenes, unbezahlbares Erbstück da, das aus einer eigensinnigen Hand rutscht…

»Warum hast du das getan, Rastus Brown?«

»Oh, ick hap nuar fagessn su –« Und davor gab es keinen Schutz, oder jedenfalls fast keinen. Niemand konnte etwas dagegen unternehmen, weder ein reicher Grundbesitzer, ein politisch engagierter, dem Regime mißliebiger Schriftsteller, noch ein kleines, gerade unabhängig gewordenes Land, das es wagte, mit geballter Faust der USA oder der UdSSR zu drohen …

Einmal hatte die Gattin eines amerikanischen Botschafters in Guatemala, der für seine rüden Methoden berüchtigt war, mit stolzgeschwellter Brust öffentlich herumerzählt, daß ihr Mann die linksgerichtete Regierung Guatemalas sozusagen im Alleingang gestürzt habe. Nach dem abrupten Regierungswechsel war der Botschafter in eine kleine asiatische Nation beordert worden, um sich dort neuen Taten zuzuwenden. Während eines Ausflugs mit seinem Sportwagen bemerkte er plötzlich einen langsam fahrenden Heuwagen, der direkt vor ihm aus einer Seitenstraße kam. Einen Augenblick später war außer ein paar blutigen Fleischfetzen von dem Botschafter nichts mehr übrig. Weder seine rüden Methoden noch die CIA-Privatarmee, die seinem Kommando unterstand, hatten ihm etwas genützt. Seine Gattin schrieb darüber keine stolzen Gedichte.

»Häh, was ich getan?« mochte der Fahrer des Heuwagens zu den örtlichen Behörden gesagt haben. »Was ich getan, Massah? Nee, ich nix –«

Oder zum Beispiel seine Ex-Ehefrau, erinnerte sich Arctor. Damals hatte er Ermittlungen für eine Versicherungsfirma durchgeführt (»Trinken Ihre Nachbarn gegenüber eigentlich viel«), und seine Frau war gar nicht damit einverstanden gewesen, daß er spät nachts noch seine Berichte schrieb, statt bei ihrem bloßen Anblick vor Begierde zu erzittern. Gegen Ende ihrer Ehe hatte sie aber gelernt, wie sie seine spätnächtlichen Arbeitsperio­den sabotieren konnte – sie verbrannte sich immer beim Zigarettenanzünden die Hand, bekam irgend etwas ins Auge, putzte in seinem Büro Staub oder suchte in oder direkt neben seiner Schreibmaschine irgendwelche obskuren Gegenstände. Zuerst hatte er grollend seine Arbeit unterbrochen und sich in das Schicksal ergeben, bei ihrem bloßen Anblick vor Begierde zu erzittern aber dann hatte er sich ja in der Küche den Kopf gestoßen, als er den Popcornautomaten hervorkramte, und eine bessere Lösung gefunden.

»Wenn sie unsere Tiere umbringen«, sagte Luckman gerade, »werde ich sie ausräuchern. Ich werde sie alle kriegen. Ich werde eine professionelle Schlägertruppe anheuern, zum Beispiel ein paar Panthers aus L. A.«

»Das tun sie schon nicht«, sagte Barris. »Was hätten sie davon, wenn sie die Tiere quälen würden? Die armen Viecher haben noch niemandem was getan.«

»Ich etwa?« sagte Arctor.

»Offenbar glauben sie das«, sagte Barris.

Luckman sagte: »Wenn ich gewußt hätte, daß es harmlos war, hätte ich es selber umgebracht. Erinnert ihr euch noch daran?«

»Aber sie war ein Spießer«, sagte Barris. »Die Kleine ist nie in die Scene eingestiegen, und sie hatte mächtig Moos. Wißt ihr noch, wie ihr Apartment eingerichtet war? Die Reichen wissen überhaupt nicht, was für ein kostbares Gut das Leben ist. Und darum hinkt dein Vergleich, Ernie. – Erinnerst du dich noch an Thelma Kornford, Bob? Das stämmige Mädchen mit den riesigen Brüsten – sie trug nie einen BH, und wir saßen einfach nur rum und guckten uns ihre Brustwarzen an. Sie kam rüber in unsere Bude, um uns zu fragen, ob wir nicht für sie dieses Rieseninsekt totmachen konnten. Und als wir ihr dann erklärten –«

Bob Arctor, der verkrampft hinter dem Steuer des langsam dahinrollenden Wagens hockte, vergaß seine theoretischen Überlegungen und spulte in seinem Kopf noch einmal jene Szene ab, die bei ihnen allen einen solchen bleibenden Eindruck hinterlassen hatte: Thelma, diese gezierte und elegante Spießertochter mit den irren Titten, wie immer in Rollkragenpullover und Glockenrock, war zu ihnen gekommen und hatte allen Ernstes von ihnen verlangt, ein großes, harmloses Insekt, das zudem noch nützlich war, weil es Moskitos fraß, totzuschlagen – und das in einem Jahr, in dem man im Orange County mit dem Ausbruch einer Meningitisepidemie rechnete, deren Erreger von den Moskitos übertragen wurde. Als sie festgestellt hatten, um was für ein Insekt es sich handelte, und ihr erklärt hatten, daß es harmlos und außerdem nützlich war, da hatte Thelma jenen Satz ausgesprochen , der nun für Bob Arctor und seine Freunde zu einem geflügelten Wort geworden war – zu einem geflügelten Wort, das wie ein in flammenden Lettern geschriebenes Motto über allem stand, was sie fürchteten und verabscheuten:


WENN ICH GEWUSST HÄTTE, DASS ES HARMLOS WAR, HÄTTE ICH ES SELBER UMGEBRACHT!


Diese Bemerkung brachte in ihren Augen all das auf einen Nenner, worauf sich der Argwohn gründete, den sie gegenüber ihren Feinden unter den Spießern empfanden, mal angenommen, sie hatten Spießerfeinde; Thelma Kornford jedenfalls, dieses wohlerzogene Geschöpf, das weidlich alle Segnungen des Reichtums genoß, war sofort zum Feind geworden, als sie diese Worte ausgesprochen hatte. Und darum waren die drei zu Thelmas Verblüffung auf der Stelle aus dem Apartment gelaufen und in ihre eigene, abfallübersäte Bude zurückgekehrt. In diesem einen Augenblick war der Abgrund offenkundig geworden, der zwischen der Welt Bob Arctors und seiner Kumpel und der Welt Thelmas klaffte – und der Spalt war geblieben, auch wenn die drei nach wie vor darüber nachsannen, wie sie es anstellen sollten, Thelma mal zu bumsen. Thelmas Herz, überlegte Bob Arctor, war wie eine leere Küche: Fußbodenkacheln und Wasserrohre und eine Spüle mit blankgescheuerter Oberfläche. Und dazu ein auf der Kante des Ausgusses stehengelassenes Glas, um das sich niemand kümmerte.

Einmal, bevor er endgültig nur noch als Geheimer Rauschgift-Agent arbeitete, hatte er die Schadensmeldung eines wohlbetuchten Spießerehepaares aufgenommen, dem sämtliche Möbel geklaut worden waren, als sich niemand daheim aufhielt. Die Täter waren offenbar Junkies gewesen; damals kam es noch vor, daß Spießer in Gegenden wohnten, wo umherziehende Banden alles stahlen, was sie nur eben stehlen konnten; meist blieb nicht viel in den Häusern zurück. Diese professionell organisierten Banden hatten sogar Aufpasser mit Walkie-talkies, die sich mehrere Kilometer vom Tatort entfernt an der Straße postierten und nach Anzeichen dafür Ausschau hielten, ob die Bewohner des jeweiligen Hauses oder Apartments zurückkamen. Bob Arctor erinnerte sich noch daran, wie der Spießer und seine Ehefrau zu ihm sagten: »Leute, die einem das Haus ausrauben und den Farbfernseher stehlen, sind doch vom gleichen Schlag wie diese Verbrecher, die Tiere abschlachten oder unschätzbare Kunstwerke besudeln.« Nein, hatte Bob Arctor erklärt und das Formular für die Schadensmeldung sinken lassen, wieso glauben Sie das? Seiner Erfahrung nach jedenfalls taten Süchtige nur selten Tieren etwas zuleide. Er hatte selbst miterlebt, wie Junkies über lange Zeiträume hinweg verletzte Tiere fütterten und pflegten, die die Spießer bestimmt schon längst hätten »einschläfern« lassen. Wenn es überhaupt so etwas wie einen typischen Spießerausdruck gab, dann war das bestimmt »einschläfern« – übrigens zugleich der alte Syndikatsausdruck für Mord. Eines Tages hatte Bob Arctor zwei völlig ausgeflippten Dopern bei der deprimierenden Aufgabe geholfen, eine Katze zu bergen, die in einem zerbrochenen Fenster hängengeblieben war. Die Fixer, die kaum noch in der Lage waren, ihre Umwelt einigermaßen klar zu erkennen oder gar zu begreifen, hatten sich mit unendlicher Geduld über eine Stunde lang abgemüht, die Katze, die aus mehreren kleinen Wunden blutete, wieder freizubekommen. Auch die Freaks hatten sich an den scharfen Glassplittern die Hände aufgeschnitten, und mit diesen blutigen Händen hatten sie die Katze während der ganzen Prozedur sanft festgehalten, damit sie sich nicht noch mehr verletzte, und das arme Tier immer wieder beruhigend gestreichelt. Einer der Typen war mit Arctor im Haus gewesen, der andere hatte draußen gestanden, wo das Hinterteil und der Schwanz der Katze waren. Schließlich hatten sie es mit vereinten Kräften geschafft, die glücklicherweise nicht ernsthaft verletzte Katze zu befreien. Und dann hatten die Freaks sie gefüttert. Sie wußten nicht, wem die Katze gehörte; offenbar war sie hungrig gewesen und hatte durch das zerbrochene Fenster des Hauses, in dem die Freaks lebten, Nahrung gerochen. Wahrscheinlich hatte sie laut miaut, aber als niemand darauf reagiert hatte, mußte sie wohl versucht haben, hineinzuspringen. Die Freaks hatten die Katze erst bemerkt, als sie jämmerlich zu kreischen begann, aber dann hatten sie ihre Trips und Träume für eine Weile vergessen, um dem Tier zu helfen.

Und was die »unschätzbaren Kunstwerke« anging – nun, auch in diesem Punkt konnte er dem Spießerehepaar nicht beipflichten. Wahrscheinlich, weil er von einer ganz anderen Definition ausging. Während des Vietnamkrieges waren in My Lai auf Befehl des CIA 450 unschätzbare Kunstwerke unwiederbringlich zerstört worden – 450 unschätzbare Kunstwerke plus Ochsen und Hühner und andere, auf keiner Liste verzeichnete Tiere. Wenn er darüber nachdachte, hakte in seinem Kopf immer etwas aus, und man konnte schlecht mit ihm über Gemälde und Museen und andere solche Dinge diskutieren.

»Was meint ihr«, sagte Bob Arctor laut, während er konzentriert fuhr. »Wenn wir sterben und am Tage des Jüngsten Gerichts vor Gott treten, werden unsere Sünden dann in chronologischer Folge oder nach ihrer Schwere geordnet, also von den leichten Sünden aufsteigend über die mittleren bis hin zu den schweren oder umgekehrt? Oder vielleicht alphabetisch? Irgendwie gefällt mir der Gedanke nicht, daß ich im Alter von 86 Jahren sterbe und Gott mich dann anknurrt: ›Also du bist der kleine Junge, der die drei Flaschen Coke von dem Coca-Cola-Liefer­wagen gestohlen hat, der 1962 auf dem Parkplatz vor dem 7-11-Laden stand? Tja, da wirst du dir jetzt aber schnell was zu deiner Verteidigung einfallen lassen müssen …‹.«

»Ich denke mir, daß sie lexikalisch nach Sachgebieten geordnet sind«, sagte Luckman. »Und die da oben geben dir einfach einen Computerausdruck, auf dem schon die Endsumme steht, die der Computer durch das Zusammenzählen aller Einzelposten deines langen Sündenregisters ermittelt hat.«

»Sünde«, sagte Barris kichernd, »ist ein total veralterter jüdisch-christlicher Mythos.«

Arctor sagte: »Vielleicht haben sie alle deine Sünden in einem großen Einmachglas« – er wandte sich um, damit er Barris, diesen alten Antisemiten, direkt anblicken konnte –, »einem koscheren Einmachglas, und sie heben den Deckel ab und kippen dir den ganzen Inhalt auf einmal ins Gesicht. Und du stehst einfach da, während die Sünden an dir heruntertropfen. Deine eigenen Sünden, und dazu vielleicht ein paar Sünden von jemand anders, die versehentlich dazwischengerutscht sind.«

»Die Sünden von jemand anders mit dem gleichen Namen«, sagte Luckman. »Ein anderer Robert Arctor. Was meinst du, Barris? Wie viele Robert Arctors gibt’s wohl?« Er stieß Barris heimlich an. Könnten uns die Computer vom Cal Tech uns das verraten? Und im gleichen Arbeitsgang auch noch alle Jim Barris’ raussuchen?«

Im stillen dachte Bob Arctor: Wie viele Bob Arctors gibt es wohl? Ein abartiger und total verwirrender Gedanke. Zwei fallen mir schon mal ein, dachte er. Der eine wird Fred genannt, und er beobachtet den zweiten, der Bob genannt wird. Beides dieselbe Person. Wirklich? Ist Fred tatsächlich dieselbe Person wie Bob? Weiß das überhaupt jemand?

Ich müßte es wissen, eher als jeder andere, weil ich die einzige Person auf der ganzen Welt bin, die weiß, daß Fred Bob Arctor ist.

Aber, dachte er, wer bin ich? Welcher der beiden ist ich?

Als sie in der Einfahrt stehenblieben, den Wagen abschlossen und bedächtig auf die Vordertür zugingen, stellten sie fest, daß Barris’ Zettel noch da und die Tür unverschlossen war, aber als sie vorsichtig die Tür öffneten, schien alles noch so zu sein, wie es gewesen war, als sie das Haus verlassen hatten.

Sofort regte sich der Argwohn in Barris. »Ah«, murmelte er, als er über die Schwelle trat. Rasch langte er hinauf zum obersten Brett des Bücherregals neben der Tür und holte seine 22er-Pistole herunter, die er mit festem Griff umklammerte, während die beiden anderen Männer im Raum umhergingen. Wie üblich stürmten die Tiere auf sie zu und veranstalteten zu ihren Füßen einen Höllenspektakel, weil sie Hunger hatten und gefüttert werden wollten.

»Tja, Barris«, sagte Luckman, »jetzt sehe ich mit eigenen Augen, daß du recht gehabt hast. Es kann gar kein Zweifel mehr daran bestehen, daß jemand hier war, weil man ja auf den ersten Blick erkennen kann – du erkennst das doch auf den ersten Blick, nicht wahr, Bob? –, mit welch peinlicher Sorgfalt sie alle Spuren verwischt haben, die sie andernfalls zurückgelassen hätten, was ja ihre Anwesenheit verraten hätte, und –« Dann furzte er verächtlich und schlenderte in die Küche, um im Kühlschrank nach einer Dose Bier zu schauen. »Barris«, sagte er, »dir hamse ins Gehirn geschissen.«

Barris ignorierte Luckman einfach und schlich weiter in höchster Alarmbereitschaft auf der Suche nach verräterischen Spuren umher, die Pistole um Anschlag. Arctor, der ihm dabei zuschaute, dachte: Vielleicht findet er ja wirklich welche. Kann sein, daß sie welche zurückgelassen haben. Seltsam, dachte er, wie paranoide Wahnvorstellungen und die Wirklichkeit sich manchmal für kurze Zeit decken können. Unter ganz besonderen Bedingungen, so wie heute. Als nächstes wird Barris behaupten, ich hätte alle absichtlich aus dem Haus gelockt, um heimlich Eindringlingen eine Möglichkeit zu verschaffen, hier was anzustellen. Und später wird er sich Gedanken darüber machen, warum ich das wohl getan haben mag und wer die Eindringlinge gewesen sein könnten. Und vielleicht hat er das sogar schon längst getan. Und wenn dem so ist, dann könnte das der Grund dafür sein, daß er das Cephskop zerstört, den Wagen sabotiert und Gott weiß was für Dinge in die Wege geleitet hat. Vielleicht brennt ja das Haus ab, sobald ich in der Garage das Licht anknipse? Aber die wichtigste Frage im Augenblick ist, ob das Verwanzungsteam da war und alle Überwachungsanlagen eingebaut und richtig angeschlossen hat. Das aber würde er erst sicher wissen, wenn er mit Hank gesprochen hatte und nachprüfbare Informationen darüber in der Hand hielt, wo die Kameras und Mikros installiert waren und wo er die Speichertrommeln und die Überwachungsmonitoren vorfinden würde. Und bei dieser Unterredung würde er auch erfahren, was der Boß der Verwanzungscrew und all die anderen Experten, die an dieser Aktion beteiligt waren, sonst noch an Informationen gesammelt hatten, mit denen sich Fred dann im Rahmen dieser konzertierten Aktion gegen Bob Arctor, den Verdächtigen, würde herumschlagen müssen.

»Schaut euch das mal an!« sagte Barris. Er beugte sich über einen Aschenbecher auf dem Kaffeetisch. »Los, kommt her!« rief er mit schneidender Stimme, und beide Männer kamen seiner Aufforderung nach.

Als er sich vorbeugte, spürte Arctor Hitze aus dem Aschenbecher aufsteigen.

»Ein Zigarettenstummel, der noch warm ist«, sagte Luckman ungläubig. »Mich laust der Affe!«

Herr im Himmel, dachte Arctor. Sie haben wirklich Mist gebaut. Einer der Crew hat geraucht und dann die Zigarette ausgedrückt, ohne sich dabei etwas zu denken. Also konnte das Verwanzungsteam gerade erst wieder verschwunden sein. Wie immer quoll der Aschenbecher über; möglicherweise hatte der Mann von der Crew angenommen, daß eine Kippe mehr gar nicht auffallen würde, und ein paar Augenblicke später wäre sie ja schon erkaltet gewesen.

»Moment mal«, sagte Luckman, der jetzt den Inhalt des Aschenbechers genauer unter die Lupe nahm. Zwischen den anderen Zigarettenstummeln fischte er die Kippe eines Joints heraus. »Von wegen Zigarette! Sie haben sich einen Joint angesteckt, während sie hier waren. Aber was haben sie gemacht? Was, zum Teufel, haben sie gemacht?« Mit finsterer Miene schaute er umher. Er war todsauer. »Bob, verdammt noch mal – Barris hat recht gehabt. Es war wirklich jemand hier! Dieser Joint ist noch warm, und du kannst den Shit sogar noch riechen, wenn du dran schnüffelst.« Er hielt ihn Arctor direkt unter die Nase. »Yeah, da innen drin glimmt noch ein Krümel Shit. Muß ein Anfänger gewesen sein. Hat das Zeug nicht richtig verteilt, bevor er ihn gedreht hat. «

»Dieser Joint«, sagte Barris, der nicht weniger grimmig dreinschaute als Luckman, »ist möglicherweise nicht zufällig hier zurückgelassen worden. Ich glaube nicht, daß es sich um eine Panne handelt, sondern würde eher mutmaßen, daß ein teuflischer Plan dahintersteckt.«

»Und welcher?« sagte Arctor und fragte sich, was das für eine Verwanzungscrew sein mochte, die jemanden in ihren Reihen hatte, der während des Dienstes vor den Augen seiner Kollegen einen Joint rauchte.

»Vielleicht waren sie nur aus dem Grunde hier, um das ganze Haus mit Stoff zu spicken«, sagte Barris. »Und später rufen sie einfach die Bullen an und geben ihnen den freundschaftlichen Tip, doch mal eine kleine Hausdurchsuchung bei uns zu veranstalten. Und dann ist Hängen im Schacht … Die können das Zeug praktisch überall versteckt haben, zum Beispiel im Telefon oder in den Steckdosen. Wir müssen das ganze Haus auf den Kopf stellen und es absolut sauber kriegen, bevor die sich ans Telefon klemmen. Und wir haben vielleicht nur Stunden.«

»Du überprüfst die Wandsteckdosen«, sagte Luckman. »Ich werde das Telefon auseinandernehmen.«

Barris hob die Hand. »Moment«, sagte er. »Wenn sie sehen, wie wir direkt vor der Razzia das ganze Haus durchwühlen –«

»Was für eine Razzia?« sagte Arctor.

»Wenn wir wie die Irren herumlaufen und die Hände voller Dope haben«, sagte Barris, »dann können wir doch nicht glaubhaft machen – obwohl es die reine Wahrheit ist –, daß wir nicht wußten, daß der Stoff im Haus war. Sie werden uns schnappen, wenn wir sozusagen gerade den Joint in der Hand halten. Und vielleicht ist auch das ein Teil ihres Plans.«

»So eine Scheiße«, sagte Luckman angeekelt. Er warf sich auf die Couch. »Scheiße, Scheiße, Scheiße. Wir können überhaupt nichts tun. Vielleicht haben sie den Stoff an tausend Stellen versteckt, die wir nie finden werden. Wir sind erledigt.« Er starrte Arctor in hilfloser Wut an. »Wir sind erledigt!«

Arctor sagte zu Barris: »Was ist eigentlich mit deinem elektronischen Cassetten-Spielzeug, das du mit der Vordertür gekoppelt hast?« Er hatte gar nicht mehr daran gedacht. Barris offenbar auch nicht. Und Luckman auch nicht.

»Ja, das müßte uns bei diesem Stand der Dinge einige außerordentlich nützliche Informationen liefern«, sagte Barris. Er kniete neben der Couch nieder, griff darunter, grunzte und zog dann einen kleinen Cassettenrecorder mit Plastikgehäuse hervor. »Das hier dürfte uns eine ganze Menge verraten«, begann er. Dann verfiel sein Gesicht. »Tja, vielleicht mag es sich doch nicht als so wichtig erweisen.« Er zog den Stecker für die Energiezuführung aus der an der Rückseite des Geräts angebrachten Buchse und stellte den Recorder auf den Kaffeetisch. »Den wichtigsten Tatbestand kennen wir ja schon – nämlich daß während unserer Abwesenheit jemand hereingekommen ist. Und das festzustellen war die Hauptaufgabe dieses Geräts.«

Betretenes Schweigen.

»Ich wette, ich kann erraten, was passiert ist«, sagte Arctor.

Barris sagte: »Das erste, was sie überhaupt gemacht haben, als sie hereingekommen sind, war, den Recorder auf Aus zu stellen. Als wir gingen, stand das Gerät natürlich auf Ein, aber wie ihr selber sehen könnt – jetzt ist es auf Aus umgestellt. Und trotz meiner –«

»Es hat nichts aufgezeichnet?« sagte Luckman enttäuscht.

»Sie haben blitzschnell reagiert«, sagte Barris. »Bevor auch nur ein Zentimeter Band durch den Aufnahmekopf gelaufen ist. Ein nettes kleines Apparätchen, nebenbei bemerkt – ein Sony, mit gesonderten Tonköpfen für Playback, Löschen und Aufnahme und einem eingebauten Dolby-Rauschfiltersystem. Ich hab’s ganz billig bekommen, auf einem Tauschtag. Und ich hab’ noch nie Ärger damit gehabt.«

Arctor sagte: »Dann können wir also nur noch die Hände in den Schoß legen und Trübsal blasen.«

»Genau«, stimmte Barris zu. Er setzte sich in einen Sessel, lehnte sich bequem zurück und nahm seine Sonnenbrille ab. »Wir sind an einem Punkt angelangt, wo es einfach keine kurz- oder mittelfristigen Strategien mehr gibt, um diesem heimtückischen Angriff zu begegnen. Wahrscheinlich bist du dir im klaren darüber, Bob, daß es nur noch eines gibt, was du tun könntest, obwohl das natürlich Zeit kostet.«

»Das Haus verkaufen und ausziehen«, sagte Arctor.

»Aber, zum Teufel, noch mal«, protestierte Luckman. »Das hier ist unser Heim!«

»Was sind Häuser wie dieses in dieser Wohngegend derzeit wert?« fragte Barris und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Auf dem Immobilienmarkt? Ich frage mich auch, wie groß wohl im Moment die Nachfrage sein mag. Vielleicht könntest du einen ansehnlichen Gewinn herausschlagen, Bob. Andererseits mußt du vielleicht bei einem schnellen Verkauf immer damit rechnen, daß du ein Verlustgeschäft machst. Aber, mein Gott, Bob, die Leute, die dir an den Kragen wollen, sind Professionals!«

»Kennt ihr eine guten Makler?« fragte Luckman die beiden.

Arctor sagte: »Womit sollte ich den plötzlichen Verkauf begründen? Sie fragen immer danach.«

»Yeah, wir können dem Makler schließlich nicht die Wahrheit sagen«, pflichtete Luckman ihm bei. »Wir könnten sagen …« Er grübelte, während er mürrisch ein Bier trank. »Mir fällt kein Grund ein. Barris, weißt du keine Geschichte, die wir ihm auftischen können?«

Arctor sagte: »Wir werden einfach geradeheraus sagen, daß überall im Haus Rauschgift versteckt ist. Und weil wir nicht wußten wo, hätten wir beschlossen, auszuziehen, damit nicht wir, sondern der neue Besitzer von der Polizei hopsgenommen wird.«

»Nein«, widersprach Barris, »ich glaube nicht, daß wir uns erlauben dürfen, so direkt zu sein. Ich würde eher vorschlagen, daß du sagst, Bob … genau, du sagst, daß deine Firma dich in eine andere Stadt versetzt hat.«

»Wohin?« sagte Luckman.

»Nach Cleveland«, sagte Barris.

»Ich finde, wir sollten ihnen die Wahrheit sagen«, sagte Arctor. »Wir könnten sogar eine Anzeige in die L.A. Tïmes setzen:

›Modernes Wohnhaus mit fünf Zimmern, Küche und zwei Toiletten zur problemlosen Beseitigung von Shit jeder Art; Dope (garantierte Spitzenqualität) in allen Räumen ist im Verkaufspreis eingeschlossen^«

»Aber dann würden wir dauernd Anfragen kriegen, um was für Dope es sich eigentlich handelt« sagte Luckman. »Und das wissen wir nicht; es kann jeder x-beliebige Stoff sein.«

»Und sie würden wissen wollen, wieviel überhaupt davon da ist«, murmelte Barris. Mögliche Kaufinteressenten könnten sich nach der Menge erkundigen.«

»Es könnten zum Beispiel fünfzig Gramm Marijuana sein«, sagte Luckman, »oder einfach ganz banaler Shit wie der in dem Joint, den wir gefunden haben. Oder kiloweise Heroin.«

»Was ich vorschlagen würde«, sagte Barris, »ist, daß wir das Amt für Drogenmißbrauch anrufen, die zuständigen Beamten von der Situation in Kenntnis setzen und sie bitten, herzukommen und das Dope zu entfernen – das Haus zu durchsuchen, den Stoff zu finden und ihn wegzuschaffen. Wenn wir die ganze Angelegenheit einmal realistisch betrachten, dann müssen wir doch wohl einsehen, daß uns nicht genügend Zeit bleibt, das Haus zu verkaufen. Ich habe vor längerer Zeit einmal die juristischen Implikationen untersucht, die sich aus einer Lage wie dieser ergeben, und dabei festgestellt, daß die meisten Gesetzeskommentare darin übereinstimmen, daß –«

»Du bist verrückt«, sagte Luckman und starrte ihn an, als sei er eine von Jerrys Blattläusen. »Wir sollen das Amt für Drogenmißbrauch anrufen? Aber dann wimmelt es hier doch in null Komma nichts von Bullen, und –«

»Eben darauf hoffe ich doch«, fuhr Barris glatt fort. »Wir könnten uns alle freiwillig einem Lügendetektor-Test unterziehen, um zu beweisen, daß wir nicht wissen, wo der Stoff ist, um welche Art von Stoff es sich handelt und wer ihn hier versteckt hat. Der Stoff ist ohne unser Wissen und ohne unsere Zustimmung ins Haus gebracht worden. Wenn du den Beamten das erzählst, Bob, wird das etwaige Anschuldigungen gegen dich entkräften. »Nach einer Pause räumte er ein: »Möglicherweise jedenfalls. Und natürlich müssen alle Fakten erst von einem ordentlichen Gericht gewürdigt werden.«

»Aber andererseits«, sagte Luckman, »haben wir doch unsere eigenen Vorräte. Und von denen wissen wir, wo sie sind … und so weiter. Bedeutet das, daß wir unsere gesamten Vorräte durchs Klo spülen müssen? Und mal angenommen, wir lassen einen Stash aus? Herr im Himmel, ist das alles schrecklich!«

»Also gibt es keinen Ausweg«, sagte Arctor. »Wir scheinen wirklich erledigt zu sein.«

Aus einem der Schlafzimmer erschien Donna Haw­thorne. Sie trug eine merkwürdige, knielange Hose. Offenbar hatte sie geschlafen, denn ihr Haar war zerwühlt und ihr Gesicht aufgedunsen.

»Ich bin einfach reingekommen«, sagte sie, »wie’s auf dem Zettel stand. Und ich hab’ eine Weile rumgesessen und mich dann aufs Ohr gelegt. Aus dem Zettel war nicht zu ersehen, wann ihr zurückkommen würdet. Warum habt ihr so rumgeschrien? Mann, ihr, wart vielleicht laut! Ihr habt mich wach gemacht.«

»Sag mal, hast du gerade eben einen Joint geraucht?« fragte Arctor sie. »Bevor du dich aufs Ohr gelegt hast?«

»Klar«, sagte Donna. »Ohne Joint kann ich nie einschlafen.«

»Es ist Donnas Kippe«, sagte Luckman. »Gib sie ihr wieder.«

Mein Gott, dachte Arctor. Ich war voll auf dem gleichen Trip wie Barris und Luckman. Wir sind alle drei gleich stark auf diesen Wahnsinn abgefahren. Er schüttelte sich, erschauerte und blinzelte. Obwohl ich genau gewußt habe, was hinter der ganzen Sache steckte, bin ich zusammen mit ihnen in dieses ausgeflippte, paranoide Niemandsland hineingeschliddert und habe alles ganz genau so betrachtet wie sie auch – nämlich total vermorscht, dachte er. Wieder dieser trübe Schmant; der gleiche Schmant, der sie bedeckt, bedeckt mich auch; der Schmant dieser traurigen, öden Traumwelt, in der wir ziellos treiben.

»Du hast uns gerettet«, sagte er zu Donna.

»Was hab’ ich?« sagte sie, verwirrt und schläfrig.

Nicht das, was ich bin, dachte er, oder das, was ich über die Vorgänge wußte, die heute hier ablaufen sollten, sondern diese Puppe – sie hat meinen Kopf wieder zurechtgerückt, hat uns alle drei aus diesem Niemandsland herausgeholt. Eine kleine, schwarzhaarige Puppe mit irren Klamotten, über die ich regelmäßig Bericht erstatte, der ich mit allen nur denkbaren Tricks meine wahre Identität verheimliche und die ich hoffentlich bald mal ficken werde … noch so eine Welt, in der Tricks und Ficks alles sind, was wirklich zählt, dachte er. Und dieses scharfe Mädchen ist der Mittelpunkt davon: ein Vorposten der Vernunft, durch dessen Existenz wir abrupt wieder eingeklinkt sind. Was wäre sonst wohl noch mit unseren Köpfen passiert? Wir waren ja schon total weggetreten, wir alle drei.

Und das nicht zum erstenmal, dachte er. Nicht einmal heute.

»Dir solltet eure Bude nicht so offenlassen«, sagte Donna. »Man könnte euch das ganze Haus leerräumen, und ihr wärt selber schuld daran. Sogar die gigantischen kapitalistischen Versicherungsgesellschaften sagen, daß sie nichts zahlen, wenn man eine Tür oder ein Fenster offenläßt. Das ist eigentlich der Hauptgrund, warum ich reingekommen bin, als ich den Zettel gesehen habe. Ich dachte mir, es wäre schon jemand hier, wenn das Haus nicht abgeschlossen ist.«

»Wie lange bist du schon hier?« fragte Arctor sie. Vielleicht hatte ihre Anwesenheit die Verwanzung verhindert; vielleicht nicht. Wahrscheinlich nicht.

Donna warf einen Blick auf ihre elektrische Timex-Armbanduhr, die Arctor für zwanzig Dollars gekauft und ihr geschenkt hatte. »Ungefähr seit 38 Minuten. Hey.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Bob, ich hab’ das Buch über Wölfe mitgebracht – hast du Lust, dir’s jetzt mal anzuschauen? ‘ne echte Schaffe, das Buch, wenn du auf so was stehst.«

»Das ganze Leben«, sagte Barris wie im Selbstgespräch, »ist nur eine einzige große Schaffe und sonst gar nichts; es gibt nur diesen einen Trip, und der schafft dich wirklich. Eine Schaffe, die am Ende jeden und alles ins Grab bringt.«

»Sag mal, hab’ ich wirklich gehört, daß du das Haus verkaufen willst?« fragte Donna Arctor. »Oder hab’ ich … hab’ ich das alles bloß geträumt? Ich könnte es nicht mit Bestimmtheit sagen; was ich gehört hab’, klang alles so weggetreten und verrückt.«

»Wir sind alle am Träumen«, sagte Arctor. Wenn ein Süchtiger der einzige in seiner Umgebung ist, der nicht weiß, daß er süchtig ist, dann wird vielleicht gerade der, der nicht weiß, ob ein Mann meint, was er sagt, dieser Mann selbst sein, überlegte er. Er fragte sich, wie viel von dem Geschwafel, das Donna mitbekommen hatte, er ernst gemeint hatte. Und er fragte sich, wieviel von dem heute zutage getretenen Wahnsinn – seinem heute zutage getretenen Wahnsinn – echt und wieviel sozusagen induziert gewesen war – eine Art Kontakt-Irresein, das sich aus der Situation heraus ergeben hatte. Donna war stets für ihn ein Dreh- und Angelpunkt der Wirklichkeit; für sie war die Frage, die sie ihm gestellt hatte, grundsätzlich und naheliegend. Und er sehnte sich von ganzem Herzen danach, ihr eine Antwort darauf geben zu können.

Aber er konnte es nicht.


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