Azul verharrte im Schatten des hohen Tempelportals. Sein Blick ging furchtsam zum sternenbesäten Schwarz des Nachthimmels empor und tastete dann suchend die Front der Monumentalbauten im Halbkreis des großen Tempelplatzes ab.
Wenn er sich bis zum Abflug der „Kua“ verbergen wollte, durfte niemand, auch kein Menschenwesen, sehen, wohin er ging. Vorsichtig glitt er die Stufen vor dem Portal hinab.
An verschiedenen Stellen des Platzes sah er die infraroten Wärmepunkte von Priestern vor den Tempeln. Sie standen fast unbeweglich nahe den Eingängen und hüteten die Ruhe und Stille ihrer steinernen Götterbilder.
Die Priester waren ungewöhnlich wachsam, denn sie fühlten sich von einer hohen Mission erfüllt und mit einer besonders wichtigen Aufgabe betraut. Azul hatte es bemerkt, als er nachts keine Ruhe mehr gefunden hatte und von Tempel zu Tempel gewandert war. Fast nie hatte er unbemerkt die Eingänge passieren können. Nun, bald würden sie auch seinen Schlaf bewachen.
Es war gut für ihn, daß ihre menschlichen Sinne die Wärmeausstrahlungen seines Körpers nicht wahrzunehmen vermochten. Sonst wäre es für ihn unmöglich gewesen, diesmal unbemerkt zu bleiben. Auch fehlte heute der helle Mondschein, der ihm die Flucht erschwert hätte. Mit Leichtigkeit konnte er das Tempelviertel verlassen. Niemand entdeckte ihn.
Die dicke Antigravitationsplatte seines Skaphanders trug ihn, ein wenig schaukelnd, durch die Gassen der Stadt, dicht an den Mauern der Häuserzeilen entlang.
Überall war es still und reglos, so, als hätte die Last der Schwärze die Menschen alle schon erdrückt, wie sie auch ihn erdrücken wollte. Ihn würde der dunkle Schlund des Kosmos nie wieder verschlingen. Er wollte, solange er noch zu leben hatte, festen Boden unter sich haben und Begrenzungen um sich wissen, an denen er Halt finden konnte. Die dienstbare Welt lebloser Automaten stieß ihn ab, ihm winkte die Dienstbarkeit lebender Menschenwesen.
Azul war an der Stadtmauer angelangt. Er mied die Tore, die bewacht und ohnehin verschlossen waren. Doch die Mauer bildete kein Hindernis für ihn. Hier half die Antigravitationsplatte. Er schaltete, verstärkte die Wirkung des Gegenfeldes, und schon hob sie ihn über die Mauer hinweg.
Sanft stieß der Skaphander jenseits der Mauer am Boden auf. Noch nie hatte Azul einen Stoß so wohltuend empfunden wie diesen hier. Er wußte, jetzt lag die Weite des Landes, eine von Wäldern, Flüssen, Bergen, Schluchten und Meeresufern begrenzte Weite, vor ihm. Nie mehr sollte ihn Uferlosigkeit schrecken können.
Mit dem infraroten Licht seiner Handlampe leuchtete Azul seinen Weg ab, der ihn jetzt quer über das Land führte.
Lehmtafeln in den Archiven der Tempel mit den Schriftzeichen der Bewohner des Zweistromlandes hatten ihm verraten, daß südöstlich der Stadt in einem stark hügligen Gelände zahlreiche Höhlen waren. Dorthin wollte er. Sie mußte er finden. Umgaben ihn erst einmal genügend dicke Erdschichten, war er sicher genug abgeschirmt, und keines der Suchgeräte würde ihn entdecken können.
Azul löste den Blick vom Weg und sah argwöhnisch aufwärts. Dort oben, irgendwo in der Finsternis, kreisten die drei Funksatelliten. Er brauchte nur seinen Standortgeber, einen winzigen Sender, einzuschalten, und schon würden die Satelliten gewissenhaft dafür sorgen, daß ein Kontrollgerät in der „Kua“ den Weg, den er jetzt nahm, aufzeichnete. Aber er hütete sich, es zu tun. Auch sein Sprechfunkgerät hatte er abgeschaltet. Sollte ihn einer der Raumfahrer rufen, würde er es nicht hören. Ob das kleine Antischwerefeld unter seinen Füßen ihn verriet?
In einigen Tagen konnte es soweit sein, daß die „Kua“ abflog. Bis dahin mußte er im verborgenen ausharren.
Azul hatte dafür gesorgt, daß der Ringflügler bald nicht mehr brauchbar sein würde. Man würde Sil mit dem Weißen Pfeil abholen und den fliegenden Ring zurücklassen müssen. Denn Gohati durfte es nicht wagen, mit der „Kua“ vom Meer der toten Wasser aufzusteigen und nochmals kurz im Zweistromland niederzugehen, um den defekten Ringflügler zu bergen und an Bord zu nehmen. Dazu war dieses Land zu sehr bevölkert. Würde der Ringflügler auf diesem Planeten zurückgelassen, hatte er alles, was zur Erhaltung seines Lebens notwendig war. Mit den Geräten, die der Ring enthielt, würde er sich alles Notwendige schaffen können.
Azul ertappte sich dabei, wie er erneut die endlose Finsternis über sich prüfend durchforschte. Dort oben hatte irgendwo auch die „Kua“ auf ihrer Kreisbahn den Planeten stetig umrundet, bevor Tivia den Landeplatz am Meer der toten Wasser fand. Dorthin mußte das Raumschiff wieder zurückkehren, bevor es — eine kleine Welt für sich, die durch ihren schnellen Flug Jahrtausende überdauerte — auf immer verschwand.
Er wollte nicht mit ihnen weiterfliegen. Was nutzten ihm die Jahrtausende? Sollten die anderen einstmals zum Heloid zurückkehren, fänden sie dort ohnehin nur eine Welt vor, die sich während ihres Expeditionsfluges stark verändert haben würde. Die Heloidenheit sähe wahrscheinlich auf die alten Raumfahrer mit ähnlichen schwer zu verbergenden Gefühlen herab wie er jetzt auf die erst am Anfang der Zivilisation stehenden Menschenwesen.
Azul passierte eine dunkle Baumgruppe. Jetzt konnte es nicht mehr weit bis zu den Höhlen sein.
Je länger er unterwegs war, um so dichter schien die Schwärze über ihm zu werden. Ihm war, als laste sie mehr als je auf ihm. Das lag wohl aber an dem schmalen, hellen Streifen am östlichen Horizont, der den neuen Tag ankündete und der den Nachthimmel noch schwärzer erscheinen ließ.
Der Boden wurde steiniger, und die ersten flachen Hügel zeigten ihre Umrisse. Die untere Kante des glockenförmigen Skaphanders stieß an einen größeren Steinblock und ließ Azul stark hin und her taumeln. Er erstieg eine der Erhebungen und hielt Umschau.
Ja, sein Ziel, das Hügelgelände, war erreicht. Es lag vor ihm, unverkennbar an den stärkeren Kontrasten der Bodenschattierungen. Doch warum sah er auf einigen Hügelkuppen Wärmepunkte? Waren es die Wachen eines Lagers von Kriegern?
Doch da fiel ihm ein, was er in den Tontafeln über diese Hügel gelesen hatte: Die Hügel waren die Grabstätten für die Lu-guls, die reichen und angesehenen Bürger der Stadt. Die Wärmepunkte konnten also nur wachende Priester sein.
Azul fand bald eine offene, leere Höhle. Nahe dem Eingang lag ein großer Felsbrocken. Azul wälzte ihn vor den Eingang und schloß sich so ein. Der Stein verdeckte die Öffnung nur zu drei Viertel und ließ noch einen ausreichend breiten Beobachtungsspalt frei.
Hier in der Grotte empfand Azul abermals, wie wohltuend es war, feste, fühlbare Begrenzungen um sich zu haben und zu wissen, daß es nicht nur dünne Raumschiffwände waren. Diese undurchdringliche Dunkelheit bedeutete für ihn Geborgenheit.
Wie war es überhaupt möglich, daß er, ein Raumfahrer, ein verstandbegabtes Lebewesen einer technisch hochentwickelten Welt, ein Astronom, dessen Leidenschaft das All und die Sterne waren, den Kosmos plötzlich haßte? Azul mühte sich vergebens um eine Antwort. Zu stark war in ihm das Gefühl der Angst, die unerklärliche, bedrückende Furcht. Sie ließ keine klaren Gedanken zu.
Azul versuchte sich sein künftiges Leben bei den Menschen vorzustellen. Zweifellos würde er die Rolle einer Gottheit spielen müssen. Aber würde das nicht wunderbar sein, hoch geehrt, geachtet und angebetet zu sein und bei allen Festen im Mittelpunkt zu stehen? Er konnte sich dann in ihren größten und gepflegtesten Bauten aufhalten. Seine göttliche Rolle würde ihn sicherlich auch ablenken, wenn er eines Tages vielleicht doch seine heloidischen Gefährten vermissen sollte.
Einmal mußte die Erinnerung an sie verblassen, und es würde ihm dann leichtfallen, sich die Menschenwesen, die den Heloiden in manchem ähnelten, als seinesgleichen vorzustellen.
Wenn er auch ihren Götterglauben nährte und sie über seine wahre Herkunft täuschte, so konnte er das wiedergutmachen, indem er ihnen sein Wissen vermittelte. Azul war sich gewiß, daß sie ihm ein… ja, was eigentlich? Ihm fehlte das passende Wort in der Sprache der Heloiden. Auf Heloid kannte man so etwas nicht. Was war En-mer-kar? Ja richtig, ein Herrscher.
Man würde ihm also ein herrschaftliches Leben bereiten.
Im Spalt am Eingang zeichnete sich Morgendämmerung ab.
Der Eingang war gegen Westen gerichtet. Azul bedauerte das.
Im Osten zipfelte jetzt bestimmt das erste Morgenrot. Aber er konnte es nicht sehen. Dafür stand für ihn um so besser sichtbar im Westen die schwarzviolette Wand der Nacht wie ein Riese, der bereit war, jederzeit zurückzukehren und das Land mit seinem schweren Tuch erneut zu ersticken.
Diese graue Morgenstunde wurde für Azul zur Stunde seiner größten Angst. Er war sich unschlüssig, ob er bei den Menschen bleiben oder ob er zu Sil, zum Ringflügler, zur „Kua“ zurückkehren sollte, bevor es für immer zu spät war.
Schon all die Tage über, die er im Morgengrauen auf irgendeinem der Tempelhöfe verbrachte, hatte er sich am meisten vor dieser Stunde gefürchtet. Unwiderstehlich hatte das Morgenrot immer wieder seinen Blick angezogen. Es glomm licht und warm im Osten auf und ließ plötzlich die ganze Fülle des Tages aufflammen.
Um so fürchterlicher war dafür jedesmal der schwarze Riese gewesen, den er im Rücken gespürt hatte und der nicht weichen wollte.
Doch je dünner heute das Grau um ihn wurde, um so zuversichtlicher fühlte er sich.
So kommt das Leben, dachte Azul, das Leben dieses lichterfüllten Planeten, von dem er nicht in den Abgrund des Alls zurückzukehren brauchte.
Erst als ringsum von Horizont zu Horizont der Himmel überall gleich hell und lichterfüllt war, wich der Druck aus seinem Gemüt. Die Sterne waren schnell verblaßt, und begütigend wölbte sich der wunderbar reine blaue Himmelsdom über dem Land. Azul lehnte sich an den Eingang und sah durch den Spalt hinaus. Am liebsten wäre er aus seinem Versteck hervorgetreten, um seine Sehnsucht nach dem vollen Licht der Sonne zu stillen. Der Tag überstrahlte alle Furcht mit seiner Lichtfülle und löschte alle Bedenken aus. Jetzt hätte er ruhig schlafen können, um Mut und Kraft zu sammeln. Aber Azul blieb an der Spalte des Höhlenausganges stehen. Er mochte immerfort nur schauen.
Sein Blick streifte umher. Am Hügelhang gegenüber standen ein paar niedrige Büsche, nur spärlich mit grünen Blättern bewachsen. Fleckchen trockenen, dürren Grases bedeckten hier und da zwischen Geröll, Sand und festem Grund den Boden.
Im gegenüberliegenden Hügel schien auch eine Höhle zu sein.
Jedenfalls führten Räderspuren bis dicht an einen senkrechten Hangeinschnitt. Sie schienen sogar mitten in das Erdreich hineinzuführen. Je länger Azul dorthin schaute, um so deutlicher glaubte er, einen Eingang zu erkennen. Er war vielleicht erst gestern verschlossen worden, denn noch war der Lehmbewurf feucht. Man konnte sogar die Fugen zwischen den einzelnen Steinen sehen. Sie zeichneten sich als dunkle, nasse Linien und Striche unter der dünnen Lehmdecke ab.
Wahrscheinlich hatten die Menschenwesen erst gestern einen ihrer Toten dort drüben beigesetzt.
Auch vor seiner Höhle lag ein Haufen feuchter Lehm und eine Anzahl gleichmäßiger, langgestreckter und viereckiger Steine. Sollte in den nächsten Tagen hier ebenfalls ein Begräbnis stattfinden?
Azul schob den großen Felsblock vom Eingang fort, um mehr Tageslicht hereinzulassen. Er wollte die Höhle genauer untersuchen. Sie ist für nur einen Toten erstaunlich geräumig, stellte Azul fest. Den Boden hatten die Menschenwesen ein wenig geebnet, aber die Wände und die Decke waren unregelmäßig und ungeglättet. Es war trocken und warm. Trotz des voll einfallenden Tageslichtes blieb es im Hintergrund dämmrig. Azul schwankte dorthin.
Er entdeckte, daß die Höhle noch einen aufsteigenden Seitengang hatte, der unvollendet geblieben zu sein schien. Ein Vorsprung der Höhlenwand verbarg den Stollen. Die Spuren des Arbeitsgerätes waren noch deutlich zu erkennen. Ein mit Kieselstein bewehrter Holzdorn zum Lockern der Erde und ein flaches Grabgerät aus Hornstein lagen am Boden. Welchen Zweck mochte dieser schräge Stollen zu erfüllen haben?
Azul glitt zum Eingang zurück.
Erstaunt lauschte er. Kam da nicht ein monotoner Klang vieler Menschenstimmen näher?
Azul spähte hinaus, zog sich aber gleich wieder zurück.
Ein Zug von Menschen bewegte sich zwischen den Hügeln daher. Laut knarrten die hölzernen Radscheiben eines Karrens.
Den großen Felsblock vor den Eingang zu ziehen, war jetzt nicht mehr möglich. Die Menschen waren schon zu nahe. Sie würden es bemerken.
Der Zug hielt vor seinem Versteck. Azul hörte das Schnaufen der Ochsen vor dem Karren. Schnell zog er sich in den Hintergrund der Grotte zurück. Das war eine unangenehme Situation, in die er hier unversehens hineingeriet.
Vor der Höhle tauchte eine Gestalt auf. Sie wandte dem Eingang den Rücken zu. An der lang bis zu den Knöchern der Füße herabfallenden Kleidung erkannte Azul, daß es ein Priester war. Er sprach laut und tröstend auf den Zug der Trauernden und Klagenden ein, seine Arme dabei würdevoll hin und her bewegend.
Auf den Tontafeln, die das Myonenhirn der „Kua“ übersetzt hatte, war das Ritual der Bestattung ausführlich beschrieben gewesen. Fast zum Schluß war das Zumauern der Gruft geschildert worden, erinnerte sich Azul. Die letzten Sätze aber hatte das Myonenhirn nicht mehr klar übersetzen können. Ihr Sinn war verworren und rätselhaft. Würde er jetzt das Geheimnis dieser Bestattungen erfahren? Sollte er sich mit einmauern lassen? Es würde ihm leichtfallen, sich jederzeit wieder zu befreien. Auch die Gegenwart des toten Menschenwesens würde zu ertragen sein. Wichtig war einzig und allein, daß er unentdeckt blieb.
Aber wie, wenn sie nicht gekommen waren, um einen ihrer Toten beizusetzen, sondern seinetwegen? Vielleicht hatte einer der wachenden Priester auf den Hügeln ihn doch bemerkt, als er kurz vor Morgengrauen hier eingedrungen war? Vielleicht bereiteten sie ihm dort draußen eine besondere Weihe? Wie sollte er wissen, was ihnen ihr Götterglaube in solch einer Situation für Handlungen vorschrieb.
Azul zwängte sich hinter den Vorsprung in den Schräggang hinein, um sich zu verbergen.
Er mochte wohl etwas zu hastig in den Gang eingedrungen sein, denn plötzlich spürte er einen heftigen Stoß, und eine Last sank auf ihn herab. Der Schlag raubte ihm die Besinnung.
Als Azuls Denkvermögen wieder zurückkehrte, spürte er immer noch die schwere Last auf sich ruhen. Nur der Helm war frei. Der Zeitgeber im Skaphander gab an, daß inzwischen bereits viele Erdenstunden vergangen waren. Der Tag mußte draußen schon längst verstrichen sein. Sicher war es abermals Nacht.
Matter Fackelschein flackerte hinter dem Vorsprung an der Decke der Höhle. Azul erkannte, daß er fast verschüttet war.
Der Skaphander schien dem Stoß standgehalten zu haben.
Jedenfalls spürte Azul keine Atemnot. Dicht neben ihm lag ein Gesteinsbrocken. Er war zusammen mit den Erd- und Sandmassen auf ihn herabgestürzt.
Vorsichtig wühlte sich Azul heraus. Vorsichtig auch glitt er um den Vorsprung herum, um nach dem Fackelschein zu sehen.
Überrascht hielt er inne!
Entsetzen stieg in ihm auf!
Die Gruft war voller Menschenwesen, lebender Menschenwesen!
Und der Eingang war zugemauert!
Alles in Azul sträubte sich, das Ungeheuerliche zu glauben!
Wenige Schritte entfernt lag an der Grottenwand ein junger Bursche mit halbgeöffneten Augen. Ein Sklave. Sein Oberkörper war nackt.
Ein Mädchen, wohl noch ein Kind, drückte ihm ein paar trockene Grashalme in die schlaffe Hand. Sie mochte sie ihm wohl auf dem Weg hierher heimlich aus dem Boden gezupft haben. Sie war eine Sklavin.
An die Mauer des Einganges gelehnt, stand kraftlos mit hochgeworfenen Armen und blutigen Fäusten, sich mühsam stützend, eine muskulöse Gestalt. Es hätte ein Krieger sein können. Aber der Schurz, den er trug, verriet den Sklaven. Er krächzte noch einmal heiser mit trockener Kehle und sank dann zu Boden. Wie lange mochte er zuvor in ohnmächtiger Wut und Angst geschrien und mit den nackten Fäusten gegen die Mauer getrommelt haben!
Quer durch die Höhle kroch auf Händen und Füßen eine alte Frau. Das Haar hing ihr strähnig um den Kopf. Vor einem Napf mit Wasser verhielt sie. Nach wenigen Schlucken sank ihr Kopf neben dem Napf erschöpft und kraftlos zu Boden. Das Wasser, das sie mühsam und qualvoll langsam eingesogen hatte, floß ihr wieder aus dem Mund.
Mitten in der Höhle stand ein zweirädriger Karren. Auf ihm lag eine in prächtige Gewänder gehüllte Gestalt aufgebahrt.
Viel Schmuck bedeckte Hals und Arme. Es war der einzige Tote in dieser Gruft, ein Lu-gul, ein Reicher.
Zwei langhörnige Ochsen lagen erschlagen, noch in den Zugseilen, vor dem Karren. Um den Wagen herum standen Körbe mit Speisen und Früchten und Krüge mit Trank.
In der gegenüberliegenden Ecke, dort, wo der schwache Schein der Flamme kaum noch hindrang, erkannte Azul zwei engumschlungene Gestalten.
Ein weißhaariger Alter kniete beim Karren neben dem Aufgebahrten. Er lallte fortwährend, und sein Kopf pendelte langsam hin und her.
Eine Gruppe von sechs Frauen hockte auf der anderen Seite des Karrens. Sie hatten stumpfe, irre Blicke.
Nur vor der Fackel saß ein hagerer Mann, der einen ruhigen und noch klaren Blick hatte. Mit knapper Handbewegung bedeutete er dem Mädchen, das dem Jüngling eben langsam und sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht strich, sich auf den Boden zu legen und ruhig zu atmen.
„Er ist nicht tot“, sagte der Hagere. „Er wird bald wieder erwachen und zu Kräften kommen. Wir können uns dann durch den Gang freigraben.“
Da erblickten der Hagere und das Mädchen Azul. Das Mädchen schrie vor dieser schrecklichen Erscheinung auf. Der Mann an der Fackel stieß einen Fluch aus. Seine Augen blitzten haßerfüllt. Fast sah er aus, als wolle er aufspringen und sich auf Azul stürzen.
Azul fand nicht die Kraft, sich aus seiner Erstarrung zu befreien. Schmerz und Traurigkeit durchdrangen ihn. Jetzt kannte er das schauerliche Geheimnis dieser Hügelgruften, das das Myonenhirn der „Kua“ nicht zu enträtseln vermochte: Wenn ein Wohlhabender starb, wurde er in einer dieser Höhlen beigesetzt. All seine Sklaven hatten ihm in das Grab zu folgen, um den Toten auf seinem Weg in die Weite, in das schönere, ewige Leben zu begleiten und um ihm auch im Jenseits zu dienen. So lehrte es der Glaube, so forderten es die Priester der Tempel, so war es Brauch.
Auch bei diesem Toten war es gewiß so. Die Sklaven hatten den Toten, Klagelieder singend und Gebete murmelnd, in die Gruft begleitet und sich einmauern lassen. Speise und Trank für die große Wanderung führten sie genug mit sich, und sogar ein Wagen mit zwei Ochsen war bei ihnen. Was konnte ihnen da schon Schlimmes geschehen? Sie hofften auf das Bessere und Schönere, was ihnen die Wissenschaft vom Geheimnis der Vision am Ende der großen Wanderung verhieß, beteten, sangen und beklagten ihren toten Herrn in der vermauerten Gruft.
Dann mußten sie die geheimnisvollen weißen Kügelchen zu sich genommen haben, die ihnen die Priester am Eingang zur Höhle gegeben hatten.
War es ein Gift?
„Wenn ihr sie eßt, schlaft ihr sanft ein. Ihr seid dann im anderen Leben“, pflegten die Priester zu sagen. „Die Götter werden euch freundlich aufnehmen.“
„Fluch dem Götterglauben!“ stieß Azul voller Verachtung hervor. Was für ein schrecklicher Fehler war es von ihm, bei den Menschenwesen bleiben zu wollen und sich als Gottheit feiern zu lassen. Sie würden dann auch in seinem Namen Unschuldige lebend einmauern und vergiften.
Azul zwang sich, schnell und klar zu überlegen: Die Flamme der Fackel brannte noch ruhig und hell. Es war also nicht Sauerstoffmangel, der die Menschen hier in der Höhle zu Boden zwang, sondern die „weiße Nahrung“, wie die Tontafeln sagten, dieses Gift. Warum tötete es so langsam?
Vielleicht war ihnen noch zu helfen. Sie brauchten schnell Hilfe.
Azul hob seine Hand. Ein nadelfeiner Strahl flog durch die Grotte zum zugemauerten Eingang. Es zischte, und ein Rauchfaden quoll dort auf. Der zerstörende Strom des kleinen Strahlenwerfers schmolz eine dünne Röhre durch die Mauer des Eingangs. Die Mauer war dicker, als Azul vermutet hatte.
Eine ganze Energiepatrone wurde verbraucht, bevor der Strahl ins Freie jenseits der Mauer stieß.
Eile tat not. Azul verzichtete darauf, auch seine anderen Energiepatronen zu verstrahlen und ein größeres Loch in die Mauer zu schneiden, durch das sie alle hätten ins Freie kriechen können. Das würde die Eingeschlossenen ohnehin nicht von dem schleichenden Gift befreien. Ein Loch zu schneiden, hätte zu lange gedauert. Azul mußte, sollte die Hilfe nicht zu spät kommen, seine Gefährten herbeirufen.
Er löste seinen kleinen Standortgeber aus dem Skaphander, stellte den Notruf auf das Zeichen für Gift ein und schob ihn dann durch die ausgeschmolzene Röhre hinaus ins Freie. Das kleine Funkgerät fiel draußen an der Eingangsmauer herab.
Im gleichen Augenblick stiegen die Signale in den Äther hinauf. Die Funksatelliten nahmen den Notruf auf und gaben ihn weiter. In der „Kua“, die wuchtig auf dem Meer der toten Wasser lag, schrillten die Alarmzeichen.
Im fliegenden Ring saß Sil. Er konnte nicht schlafen und hatte über das Verschwinden Azuls nachgedacht. Alarmzeichen flackerten auf. Selbsttätig begann der Flügelring, von den Signalen der Funksatelliten ausgelöst, zu wirbeln. Das Erkennungszeichen Azuls stand scharf und deutlich auf dem Lichtband des Funkschreibers. Es flammte für Sil so unerwartet auf, und seine Freude war so groß, daß er noch unbeweglich in seinem Sessel saß, als der Ringflügler, der Standortpeilung des Notrufes folgend, bereits über den Dächern der Stadt schwebte und Kurs in südöstliche Richtung nahm.
Sil ließ ihn niedrig fliegen.
Sinio meldete sich gerade über Funk vom Boden, als plötzlich der Flügelring zusehends langsamer wirbelte und stehenzubleiben drohte. „Ich muß landen, ein Defekt, ausgerechnet jetzt“, rief Sil erschrocken Sinio zu. Da fiel auch schon die Stromversorgung für die Beleuchtung der Skalen und der Kabine aus. Es wurde finster. Sil fühlte, wie der Ringflügler unter ihm wegsackte. Dann schleuderte ihn das Sicherheitskraftfeld hinaus.
Kaum war er mit einem unsanften Stoß in der Nähe des abgestürzten Ringflüglers zu Boden gefallen, als in hoher Fahrt kettenrasselnd ein Ungetüm heranraste, dem Ringflügler mit einer scharfen Wendung auswich und nun geradewegs auf ihn zurollte. Eine schwere, massige Wand wuchs vor Sil auf. Der Pilot schaltete, um die Energie in seiner Bodenplatte zu verstärken und sich hochzuschleudern, aber der Hebel hatte sich verklemmt. Da stand das Ungetüm mit einem Ruck. Sil atmete auf. Er hätte es auch kaum noch geschafft, sich aus eigener Kraft zur Seite zu stoßen.
Heulend mahlte das Ungetüm mit nur einer Kette, vollzog stampfend eine Drehung auf der Stelle, überschüttete ihn mit Schwaden aufgewirbelten Sandes und Erdbrocken und fuhr dann rasselnd davon. Das war der Durug gewesen, das gepanzerte Bodenfahrzeug der Expedition.
Sinio erwachte nach kurzem Schlaf mitten in der Nacht von dem Mahlen der Ketten seines gepanzerten Durugs und den harten Stößen, mit denen sich die Unebenheiten des Bodens bei hoher Fahrtgeschwindigkeit selbst über die gute Federung bis auf ihn übertrugen.
Als Azul gestern spurlos verschwunden war, hatte Gohati Anweisung gegeben, den Durug mit dem Ringflügler schnell ins Zweistromland zu transportieren. Sinio erhielt den Auftrag, sich vom Boden aus an der Suche nach dem Verschollenen zu beteiligen, während Sil aus der Luft mit dem Ringflügler das Land nach einer Spur Azuls durchforschen sollte.
Sinio war die Umgebung E-rechs systematisch kreuz und quer abgefahren. Gegen Mitternacht hatten er und auch Sil ihre Suchaktion erst einmal abgebrochen. Während der Ringflügler zum Tempelhof in der Stadt zurückgekehrt war, führte Sinio sein Fahrzeug bis dicht an die Stadtmauer und hielt dort an. Bei Sonnenaufgang sollte eine Funkberatung aller Kosmonauten über weitere Suchmaßnahmen stattfinden. Azul mußte gefunden werden.
Noch mitten in der Nacht hatte sich der Durug plötzlich in Bewegung gesetzt. Sinio sah schlaftrunken zum Lichtband über dem Steuerpult hinüber. Leuchtete dort das Rufzeichen Azuls?
Sofort war Sinio hellwach. Eine Standortangabe und das Symbol für Gift blinkten auf. Sollte Azuls Skaphander einen Riß bekommen haben? Drohte ihn die giftige Stickluft dieses Planeten zu töten? Warum hatte er so lange geschwiegen?
Woher kam der Notruf? Viele Fragen auf einmal durchschwirrten Sinios Kopf.
Der Richtungsweiser zeigte an, daß der Durug nach Südosten fuhr. Das Notzeichen Azuls hatte ihn selbsttätig anfahren lassen und in diese Richtung gelenkt. Die Stadtmauer war längst hinter dem Fahrzeug im Dunkel der Nacht versunken.
Selbst die Umrisse der hohen Tempelbauten im Stadtinneren waren nicht mehr gegen den sternenhellen Nachthimmel zu sehen. Geschickt wich der Panzer größeren Hindernissen aus. Mit unsichtbaren Strahlenfühlern tastete er den Weg vor sich ab.
Eben schwirrte der Ringflügler dicht über ihn hinweg. Sinio erkannte ihn an der hell erleuchteten Kabine und seinen linsenförmigen Umrissen. Er setzte sich mit Sil in Verbindung: „Merkwürdig! Warum hören wir nur den Notruf des Standortgebers? Warum meldete sich Azul nicht selbst über sein Sprechfunkgerät?“ fragte Sinio.
Statt einer Antwort hörte er es nur stöhnen: „Ich muß landen, ein Defekt, ausgerechnet jetzt.“
Sinio rief eben für den Steuerautomaten das Codewort zum Langsamfahren, als das Kettenfahrzeug in voller Geschwindigkeit eine scharfe Wendung machte, so, als umfahre es ein unerwartetes Hindernis. Sinio mußte sich am Sessel festklammern. Dann gab es einen heftigen Ruck. Der Durug stand, mahlte auf der Stelle, drehte sich und zog dann wieder kräftig an. Sinio blickte schnell auf den Rückblickschirm. Verschwand dort hinten im hohen Gras nicht die Silhouette des Ringflüglers? Sinio erschrak.
„Ich bin abgestürzt, wäre fast auf den Durug gefallen“, meldete sich da auch schon Sil. „Du hättest mich beinahe überrollt.“
„Und du bist unverletzt?“ fragte Sinio bangend. Er wollte wenden, zurückfahren und Sil im Durug aufnehmen.
„Mir ist nichts geschehen“, antwortete Sil. „Ich will aber hierbleiben und den Schaden sofort beheben. Wir brauchen den Ring jetzt doch ganz dringend. Du solltest weiterfahren, du bist der einzige von uns allen, der Azul am schnellsten helfen kann. Wenn ich den Ringflügler nicht startklar bekomme, kannst du mich später immer noch nachholen.“
Der Durug rollte weiter. Sinio beugte sich über die Luftaufnahmen der Umgebung E-rechs und trug Azuls Standort ein. Der Weg dorthin war wirklich nicht weit. Die Notzeichen kamen vom Rande eines hügelreichen Geländes.
Das Luftbild zeigte solch einfache Bodenverhältnisse an, daß er dem Panzer bedenkenlos die Eigensteuerung überlassen konnte. Der steuernde Kybernet hatte keine schwere Aufgabe zu lösen. Nur die Geschwindigkeit müßte ein wenig herabgesetzt werden. Eine Baumgruppe huschte vorüber. Die ersten Hügel tauchten auf. Merkwürdig, dachte Sinio. Der Steuerkybernet führt das Fahrzeug nicht über die Hügel hinweg, obwohl sie sanft und flach, also spielend zu bezwingen waren. Statt dessen machte der Durug Umwege und wand sich zwischen den Bodenwellen hindurch. Jetzt aber fuhr er direkt auf eine Höhe zu. Da verstummte das kräftige Summen des Motors. Das Fahrzeug rumpelte noch ein kleines Stückchen weiter und hielt dann an.
Hier also irgendwo mußte Azul sein. Sinio schwang sich hinaus. Aber sosehr er sich auch umblickte, nirgends war die Gestalt eines Heloiden zu sehen. Sinio leuchtete mit dem Handscheinwerfer die Umgebung ab. Nichts! Nur ein paar Karrenspuren zeigten an, daß am Tage hier Menschenwesen langgefahren sein mußten. Der Standortgeber Azuls tönte jedoch so laut aus dem Funkgerät, daß er sich nur einige Schritte weit weg vom Durug befinden konnte.
Sinio sah sich weiter um. Der Durug stand vor einem schmalen, senkrechten Hangeinschnitt. Sinio sah genauer hin, denn dort glitzerte die Tropfentraube geschmolzenen Gesteins, so spröde und glasartig, wie sie nur von einem Strahlenwerfer herrühren konnte. Sinio näherte seinen Helm der Tropfentraube, um sie genauer zu betrachten. Radioaktive Strahlung knisterte in seinem Tongeber. Das Gestein war vor kurzem noch flüssig gewesen. Es konnte nur aus dem kleinen Loch dicht darüber im Hangeinschnitt herausgeflossen sein.
Da erblickte Sinio auf dem Boden eine kleine Kapsel. Es war Azuls Standortgeber. Hatte er sie hier verloren?
Sinio neigte sich noch einmal zur Tropfentraube hinüber, um aus dem Verlauf des ausgeschmolzenen Kanals die Schußrichtung festzustellen. Die Strahlung mußte lange angehalten haben, denn der Schußkanal war ungewöhnlich tief in das Gestein eingedrungen.
Merkwürdig! Waren da zwischen dem Knistern im Tongeber nicht auch eben die Atemzüge eines Heloiden zu hören gewesen? Sinio lauschte angestrengt. Da waren sie wieder!
Jedesmal, wenn er mit der Helmglocke in die Nähe der Einschußstelle kam, hörte er leise und regelmäßig Atemzüge.
„Azul?“ fragte er unsicher in sein Helmmikrophon hinein.
Nachdem der Standortgeber draußen herabgefallen sein mußte, wandte sich Azul wieder den Menschen in der Höhle zu. Der Hagere saß noch immer nahe der Fackel. Er schien keine Furcht zu kennen. Mit wachem, argwöhnischem Blick folgte er allen Bewegungen des Himmelssohnes. Hinter seinem Rücken versteckte sich ängstlich das Mädchen. Allen anderen hatte das Gift die Sinne geraubt oder den Verstand so weit getrübt, daß sie nichts Außergewöhnliches an der großen, ungefügen Gestalt fanden, die da plötzlich unter ihnen erschienen war.
Azul schob sich um den Karren herum auf den Hageren und das Mädchen zu. Der Hagere stand langsam auf und reckte sich stolz. Seine Augen sprühten funkelnd Verachtung. So sah man jemanden an, den man für schuldig hielt am sinnlosen Tod unschuldiger Gefährten. Plötzlich bückte sich der Hagere blitzschnell, packte die Fackel und hieb sie dem Gott, dem Sohn der I-na-nua, mit aller Kraft gegen den Leib. Das Mädchen schrie auf und floh im Funkenregen der wirbelnden Flamme in die Tiefe der Grotte zurück. Der Hagere hieb auch noch weiter, als die Fackel schon längst erloschen war und dichte Dunkelheit die Gruft füllte. Er tat es langsam, in überlegtem Rhythmus und tief und gleichmäßig atmend.
Endlich hielt er inne, warf den Fackelstiel von sich und rief das Mädchen.
Der Blick des Menschen hatte Azul aufgewühlt. Er sah die Glut auf sich zufliegen und fühlte gedämpft die dumpfen Schläge an Helm und Skaphander. Azul ließ es regungslos geschehen. Eine große Ruhe war über ihn gekommen. Nicht weil er wußte, daß der Skaphander dem Feuer und den Schlägen standhalten würde, sondern weil er fühlte, daß diese Schläge dem galten, der er nicht war, der er aber fast geworden wäre.