Seitdem der Weiße Pfeil von der Plattform der „Kua“ gestartet war, hatten Gohati, Tivia, Azul, Sinio, Aerona und Kalaeno die Steuerzentrale nicht mehr verlassen. Sie beobachteten den Flug der Erkundungsrakete mit den Kontrollgeräten. Noch war sie außerhalb der Atmosphäre des Planeten.
Nach dem ersten Funkgespräch hatten das Raumschiff und die Erkundungsrakete mehrmals Verbindung miteinander gehabt. Alles nahm seinen planmäßigen Verlauf.
Doch Tivia spürte Unruhe, konnte man doch dem Flug des Weißen Pfeils nur zeitweilig folgen. In gleich langen Perioden schob sich immer wieder der Planet dazwischen. Das Beobachtungssystem müßte vervollkommnet werden, dachte Tivia. Sie trat an Gohati heran und sagte: „Wir sollten die Funk- und Fernsehsatelliten aufsteigen lassen.“
Waren die Satelliten schon jetzt von Nutzen? Gohati überlegte. Geplant war, sie erst später einzusetzen, wenn feststand, daß die Expedition wirklich auf dem bläulichen Planeten landete. Man würde dadurch ständig miteinander Verbindung haben, gleichviel, auf welchem Punkt seiner Oberfläche sich die einzelnen Landegruppen befanden. Doch Sil war jetzt auf dem Erkundungsflug. Die kritischsten Momente standen ihm noch bevor. Eine ständige Verbindung mit dem Weißen Pfeil war sehr notwendig. Er, Gohati, hätte es von vornherein besser planen sollen.
Der Kommandant bedeutete Tivia, daß sie recht habe. Schnell verständigte er sich mit den anderen.
Gohati wandte sich dann an Kalaeno, der am Regiepult saß und das Zusammensetzen des Atomicers, der großen Landungsrakete, auf der Plattform draußen kontrollierte. „Wie weit ist die Montage vorangeschritten?“ erkundigte er sich.
„Die Roboter haben erst begonnen“, kam die Antwort. „Bis jetzt sind nur einige Teile des Mittelrumpfes zusammengesetzt.“
„Wir müssen nämlich die Arbeiten auf der Plattform dreimal für Augenblicke unterbrechen. Die Funksatelliten sollen auf ihre Kreisbahn gebracht werden“, erklärte Gohati seine Frage.
„Achtung, Katapultstart!“ signalisierte das Lichtband bald darauf. Die Vorbereitungen für den Start des ersten Funksatelliten waren abgeschlossen.
Ein dumpfer Gongschlag durchhallte das Raumschiff. Er rührte von dem starken Stoß her, mit dem das Katapult eine Fernlenkrakete mit einer Relaiskapsel in den Kosmos hinausgeschleudert hatte. Sie durchflog die Sicherheitszone der „Kua“, und dann erst zündete ihr Triebwerk, das den Satelliten auf seine Bahn brachte.
Schnell entfernte sich die Rakete. Ein Kybernet steuerte sie auf die vorausberechnete Position.
Der erste Satellit konnte sofort in Betrieb genommen werden. Gohati atmete ein wenig auf. Die anderen beiden würden bald folgen. Sie sollten in großer Höhe in gleichmäßigen Abständen um die Mittelzone dieses Planeten verteilt werden.
Weitere Zeit verging. Azul begab sich wieder an seine Geräte, um den Weißen Pfeil zu suchen. Gleich mußte der helle Reflexionspunkt des Raumgleiters am Planetenrand erscheinen. Azul freute sich jedesmal aufs neue, wenn es ihm gelang, das Raketenflugzeug schnell zu finden. Auch diesmal entdeckte er es gleich, obwohl Sil schon mehrmals den Kurs gewechselt hatte.
Entsetzt klammerte sich Azul an seinen Sessel. Der Radarreflex bewegte sich senkrecht auf die Oberfläche des Planeten zu! „Er stürzt!“ schrie Azul.
Die Heloiden sprangen auf. Gohati drückte die Sprechfunk- und Bildtaste zugleich. Der Bildschirm blieb jedoch leer, obwohl der Funksatellit arbeitete und auch der Planet nicht zwischen ihnen stand. Was mochte geschehen sein?
Tivia lauschte angespannt. Nicht einmal Sils Atemzüge waren aus dem Funkempfänger zu hören. Die Zeit tropfte unendlich langsam für sie. Der Weiße Pfeil stürzte weiter. Mechanisch stieß sie Codeworte aus und drückte nichtvorhandene Steuertasten, so als säße sie selbst als Pilotin im Weißen Pfeil.
Furchtbare Angst brannte in ihr. In wenigen Augenblicken mußte er am Boden zerschellen. Da — endlich! Der Sturzflug hörte auf. Die Rakete flog wieder waagerecht. Tivia hatte das nicht mehr zu hoffen gewagt.
„Weißer Pfeil, bitte melden! Weißer Pfeil, bitte melden!“ rief Gohati jetzt. Die Antwort blieb aus. Der Kommandant wiederholte seinen Anruf. „Sil, wir hören dich nicht. Hier ›Kua‹! Bitte kommen!“
Gohati überlegte kurz. Dann sagte er schnell: „Die Montage des Atomicers muß beschleunigt werden. Er soll so bald wie möglich starten. Sil braucht Hilfe. Azul und Tivia, ihr beide werdet fliegen!“
„Ja, wir müssen ihm schnell helfen“, flüsterte Tivia, und sie wünschte sich, Sil doch wenigstens im Bildschirm sehen zu können.
Die Heloiden legten die schweren Raumanzüge an. Dann hasteten sie durch die Gänge und ließen sich zur Plattform ausschleusen. Während die Roboter den Atomicer noch zusammensetzten, beluden sie ihn schon mit Ausrüstungen.
Nur Azul blieb im Steuerraum. Er folgte dem Flug der Erkundungsrakete mit den Beobachtungsgeräten. In kurzen Abständen berichtete er zur Plattform: „Die Geschwindigkeit vermindert sich. — Der Weiße Pfeil ist jetzt über einer Kontinentalscholle — er kreist.“
„Sil hat also wieder volle Steuergewalt?“ fragte Gohati erleichtert zurück.
„Ja, er hält Kurs auf eine Wasserfläche“, sagte Azul, seine Geräte ablesend. Er versuchte noch einmal, die Funkverbindung mit der Erkundungsrakete herzustellen, und ließ das Rufzeichen der „Kua“ ausstrahlen, aber Sil meldete sich noch immer nicht. Dann schob sich der Planet erneut dazwischen und unterbrach die Beobachtung des Flugweges.
Die Montage der großen Landungsrakete ging währenddessen schnell voran. Auf der Plattform außerhalb des Raumschiffes wimmelte es von Robotern und Kyberneten. Sie alle schleppten Materialien, transportierten Rumpfteile, handhabten Werkzeuge oder bedienten Maschinen. Zwischen ihnen glitten die Heloiden hin und her.
Über alles war helles Licht gestreut. Ein riesiger Plastikballon war um die Plattform aufgebläht worden. Er hatte die Aufgabe, mit Hilfe seiner Gasfüllung das Licht der Scheinwerfer zu zerstreuen und überall Helligkeit zu verbreiten. Das Raumschiff glich jetzt einem Doppelrumpfkreisel.
Die größte Zusammenballung von Arbeitskräften und Geräten herrschte am Heck des Atomicers. Die Triebwerkteile wurden montiert. An der Kante der Plattform schlängelte sich ein dicker Schlauch zur Rakete, durch den flüssiger Wasserstoff geleitet wurde. Der Atomicer wurde mit Treibstoff betankt.
Plötzlich erstarb jegliche Arbeit. Roboter und Heloiden wichen bis an den Rand der Plattform zurück. Aus dem Schleusentor der „Kua“ kamen in einer langen Reihe grellrote Transportroboter hervor. Ihr genauer Abstand, ihre übereinstimmenden Bewegungen und die wie Leuchtfeuer auf den Rümpfen kreisenden und rhythmisch blinkenden Lichtsignale flößten Unbehagen ein. Über den Sprechfunk war ihr Kommen angekündigt worden, und auch jetzt strahlten sie ununterbrochen die Warncode für Radioaktivität aus.
„Die Aussätzigen!“ raunte jemand. Gohati blickte sich um.
Neben ihm stand Aerona und sah auf die lange Reihe. Die rote Kette verschwand im Heckteil des Atomicers.
„Sie bringen die Stäbe mit dem Kernbrennstoff und setzen sie in den Reaktor ein“, sagte Gohati.
Die „Aussätzigen“, wie die Heloiden die Gruppe der roten Roboter nannten, wurden immer dann eingesetzt, wenn Schäden an einem der Reaktoren zu beseitigen waren oder wenn Kernbrennstoff aufgefüllt werden mußte. Das war ihre einzige Aufgabe. Der Umgang mit radioaktivem Material und mit den Brennstäben hatte sie im Laufe der Zeit selbst radioaktiv werden lassen. Eine Begegnung im Inneren des Kreiselschiffes oder gar eine Berührung mit ihnen konnte Strahlenkrankheiten hervorrufen. Die Roboter wurden genauso wie die spaltbaren Materialien getrennt und abgesondert aufbewahrt. Es lohnte nicht, sie nach jedem Einsatz zu reaktivieren. Man ließ sie ungereinigt.
Der letzte Roboter war noch nicht im Heck verschwunden, als die ersten bereits wieder auftauchten, um sich zurück in ihr Verlies zu begeben. Sie bewegten sich rasch und dennoch vorsichtig, um nirgends anzustoßen und Spuren zurückzulassen.
Kaum waren die roten Roboter im Schlund der „Kua“ verschwunden, als von allen Seiten wieder die Montageroboter und die dick vermummten Heloiden herbeieilten. Die Rumpfteile, die das Heck vervollständigten, wurden herbeigeschafft und montiert, ebenfalls die kurzen Flügel und das Leitwerk.
Tivia, die eben aus der großen Landungsrakete herausgestiegen war, meldete dem Kommandanten: „Ich bin mit der Überprüfung des Piloten-Leitstandes fertig. Es ist alles in Ordnung. Der Atomicer ist startklar.“
Dann ging sie zum Rande der langgestreckten Plattform.
Nachdenklich betrachtete sie den Atomicer, zu dessen Pilot sie für den bevorstehenden Flug bestimmt worden war. Die Spitze des langhalsigen Rumpfes war ihr zugewandt. Sie sah auf den gepanzerten Bug, hinter dem die Kabinen lagen. Ihr war, als erblicke sie die große Rakete zum erstenmal. Die Aufgabe, die ihr bevorstand, die Suche nach Sil, ließ sie dem riesigen Flugzeug mit neuen Empfindungen gegenüberstehen. Der Atomicer verlor für sie plötzlich sein totes Wesen. Er wurde zum Gefährten, auf dessen Zuverlässigkeit es ankam, um Sil zu finden und ihm Hilfe bringen zu können.
Der Plasteballon schrumpfte zusammen, und die Montageroboter räumten die Plattform. Auch die Raumfahrer schleusten sich wieder ein. In der Steuerzentrale versammelt, hörten sie stumm und bedrückt zu, was Azul ihnen niedergeschlagen zu berichten hatte.
„Wir haben jetzt mit allen drei Satelliten Verbindung.
Trotzdem ist es nicht möglich, den Weißen Pfeil zu orten. Er bleibt unauffindbar.“ Azul seufzte. „Sil hätte schon längst die beiden Meßsonden aussetzen müssen. Aber ich habe weder den Radarreflex des Raumgleiters gefunden noch die Funkzeichen der Sonden gehört.“
Gohati zögerte noch. Er ließ Azul weitersuchen. Als aber die Geräte noch immer keine Anzeichen für den Verbleib des Weißen Pfeils meldeten, entschloß er sich, den Atomicer für die Suche des Vermißten einzusetzen.
Tivia saß bereits im Pilotensessel. Seitdem der Atomicer zusammengesetzt und beladen war, hatte sie sich in seiner Steuerkabine aufgehalten. Sie war nicht mit zur Steuerzentrale zurückgegangen. Als vor ihr ein Lichtzeichen aufleuchtete, ließ sie sofort den Reaktor anlaufen.
Da kam auch schon Azul über die Startfläche und glitt in die Eingangsschleuse des Atomicers. Hinter ihm verschloß sich der Einstieg der großen Landungsrakete fest und sicher. Roboter lösten die Verblockung. Der Atomicer war frei. Langsam schob er sich von der Plattform. Der Abstand zwischen Raumschiff und Atomflugzeug wurde größer und größer. Das Bremstriebwerk flammte auf. Der Abstieg begann.
Mit hoher Geschwindigkeit zog der Atomicer niedrig über den Planeten dahin. Er folgte den Aufzeichnungen, soweit die Geräte der „Kua“ den Kurs des Weißen Pfeils registriert hatten. Jetzt überquerte er eine große Wasserfläche. Zweimal schon hatte Tivia zur Landung angesetzt, einmal auf der kleinsten der fünf Festlandsschollen und ein anderes Mal auf dem Südzipfel des langgestreckten Doppelkontinentes.
Jedesmal hatten Tivia und Azul geglaubt, am Boden den Weißen Pfeil gesehen zu haben. Doch sie hatten sich getäuscht. Unablässig suchten sie nach dem verschwundenen Sil.
Gohati meldete sich von Bord der „Kua“. Über die drei gleichmäßig um den Äquator verteilten Übertragungssatelliten konnte er jederzeit mit ihnen sprechen, als säßen sie nebeneinander im Raumschiff. „Ich halte es für ausgeschlossen, daß der Weiße Pfeil noch in der Luft ist. Er hätte der Radarkontrolle längst auffallen müssen“, sagte der Kommandant. „Sucht besonders die tiefen Falten der Gebirge ab“, riet er und fügte hinzu: „Seid vorsichtig. Unsere Beobachtungsgeräte haben starke, orkanartige Luftströmungen, Windkanäle in der Atmosphäre des Planeten festgestellt, die ihn in großen Höhen mit hoher Geschwindigkeit umkreisen, ihn wie mit einem Netz von Straßen umspannen.“
„Ob Sil in einen solchen Windkanal geraten sein könnte?“
gab Azul zu bedenken.
„Das wäre möglich“, sagte Gohati.
„Die Küste der drittgrößten Festlandsscholle kommt in Sicht“, meldete Tivia kurz darauf.
Azul spähte nach unten. Tivia ließ den Atomicer eine riesige Schleife ziehen.
Da war wieder Gohatis Stimme zu hören. „Wir empfangen Funksignale der Festlandssonden!“ rief er. „Versucht, die Meßsender zu orten!“
Azul stand schon an den Geräten und stellte sie ein. Jetzt waren die Signale der Sonden auch im Atomicer zu hören.
Azul peilte sie an. Dann drehte er sich zu Tivia um und machte eine bedeutungsvolle Geste: „Beide Funksignale kommen aus derselben Richtung“, flüsterte er.
„Bitte sofort neuen Kurs!“ verlangte Tivia. Azul gab ihr die Werte an. Das Atomflugzeug beschrieb einen leichten Bogen und wechselte von Ost- auf Nordostkurs.
Azul prüfte die Berechnungen des Ortungsgerätes immer wieder. Doch es blieb dabei. Alle Messungen kreuzten sich an einem Punkt östlich eines Meeres, das, wie die Karte zeigte, in der Mitte zwischen zwei Festlandsschollen lag. Das mußte der Standort beider Meßsender sein, und das konnte auch nur die Position… Er wagte nicht, zu Ende zu denken. Er wollte keine falschen Hoffnungen in sich aufkommen lassen. Azul zeigte wortlos Tivia den Punkt auf der Karte, von dem die Sonden ihre Meßwerte ausstrahlten.
„Die Flugstrecke bis dorthin ist sehr lang“, sagte Tivia. „Wir müssen Höchstgeschwindigkeit fliegen und wieder in die dünnen Schichten der Atmosphäre aufsteigen.“
Plötzlich ertönte auch das Rufzeichen des Weißen Pfeils aus dem Schallgeber. Es kam für alle so unerwartet und überraschend, daß mehrere Augenblicke vergingen, bevor die Heloiden im Raumschiff und im Atomicer antworteten.
„Hier ›Kua‹!“
„Hier Atomicer!“ Sie meldeten sich zugleich.
Schließlich drang Gohatis Stimme durch. „Hier ›Kua‹ auf Kreisbahn! Wir hören dich. Dein langes Schweigen machte uns große Sorgen. Der Atomicer ist zu dir unterwegs. Welche Hilfe brauchst du?“
„Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil…“, tönte es statt einer Antwort Sils unentwegt und monoton in gleichmäßigem Rhythmus aus den Empfangsgeräten.
Tivia konnte auf dem Bildschirm sehen, wie Gohati im Raumschiff erstaunt die Funkapparatur überprüfte. Es war alles in Ordnung. Gohati versuchte es noch einmal: „Hier Raumschiff auf Kreisbahn! Wir hören dich. Sil, bitte antworten!“
„Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil, bitte…“, echote es weiter. Das Rufzeichen der Erkundungsrakete mutete wie Hohn an. Hatte Sil das Gehör verloren? Kein anderer als nur er allein konnte den Ruf eingeschaltet haben. Warum empfing er die Anfragen des Raumschiffes und des Atomicers nicht?
Azul ortete den Sender, der den Ruf des Weißen Pfeils ausstrahlte, und verglich ihn mit der Peilung der Festlandssonden.
„Die Standorte des Weißen Pfeils und der Meßsonden sind miteinander identisch“, meldete Azul an das Raumschiff. „Wir fliegen zum langen Tal östlich des Meeres der Mitte zwischen den beiden Kontinenten.“
Bald blinkte in der Ferne dieses Meer auf. Schnell schob sich die Wasserfläche heran. Der Atomicer überquerte das Meer, und schon wurden auch die beiden Gebirgsketten sichtbar.
Tivia mußte die Geschwindigkeit vermindern und ihr Atomflugzeug tiefer steuern. Azul achtete streng auf den Erider. Im Nu stoben sie über das Tal hinweg. Rasch glitten ihre Augen die Bodenfalte entlang. Aber es gelang ihnen nicht, aus dieser Höhe durch den flimmernden Dunst den Weißen Pfeil zu erkennen. Nur eines ihrer Geräte hatte für wenige Augenblicke einen hellen Reflex auf den Sichtschirm geworfen. Dieses Zeichen war eindeutig. Es konnte nur vom Weißen Pfeil herrühren.
Schnell fixierte Azul diesen Punkt auf dem Navigationsgerät des Pilotrons.
„Geschwindigkeit verringern, tiefer steuern und das lange Tal noch einmal überfliegen“, ordnete er an.
Sofort nahm Tivia die entsprechenden Schaltungen am Pilotron vor. Gehorsam neigte das Atomflugzeug seinen Bug und legte sich in eine weite Kurve. Der Flug wurde langsamer. Jetzt lag die Bodenfalte in ihrer ganzen, mehrere hundert Kilometer langen Ausdehnung unter ihnen.
„Landeplatz suchen“, stieß Azul hastig hervor.
Schon erschien erneut der Radarreflex der Erkundungsrakete. Deutlich zeichnete sich auf dem Schirm der helle Schattenriß des gepfeilten Rumpfes ab. Auch auf dem Erider war diesmal ein weißer Fleck im Tal zu erkennen. Wölkchen huschten vorbei.
„Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil, bitte kommen! — Hier Weißer Pfeil…“, tönte jetzt der Ruf des nahen Senders überlaut durch die Kabine der großen Landungsrakete. Sollte Sil den Atomicer noch nicht gesehen haben? Er könnte doch jetzt Sprechverbindung mit ihnen aufnehmen.
Azul zögerte, den Befehl zur Landung zu geben. Er hatte bemerkt, daß der eine der beiden Meßsender in der Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Anflug seinen Standort geändert hatte.
„Das Tal noch einmal überqueren!“
Der Atomicer beschrieb einen riesigen Kreis und ging noch tiefer herab. Die Geschwindigkeit war bis auf die Warnmarke unterhalb der Schallgrenze gesunken. Das Triebwerk heulte auf, als der Riesenvogel über der Bodensenke war. Die Geschwindigkeit erhöhte sich wieder. Mit einem Knall durchbrach das Atomflugzeug die Schallmauer.
Es war keine Täuschung gewesen. Der Abstand zwischen den beiden Meßsonden unter ihnen war noch größer geworden. Die Angaben des Funkmeßgerätes waren eindeutig. Die wandernde Sonde hatte inzwischen die andere Seite des Tales erreicht.
Bedeutete dies, daß sie nicht landen sollten? Es war, als habe die wandernde Sonde einen Strich quer durch das Tal gezogen.
Azul setzte sich mit der „Kua“ in Verbindung und schilderte Gohati seine merkwürdige Beobachtung.
Gohati gab ihm folgende Informationen durch: „Haben einseitige Verbindung herstellen können. Sil ist wohlauf. Wir hören und sehen ihn. Er kann uns aber nicht antworten. Er befindet sich im langen Tal. Der Weiße Pfeil scheint beschädigt zu sein, jedoch braucht Sil eure Hilfe nicht mehr so vordringlich. Wir vermuten, daß er Lebewesen beobachtet.
Landet deshalb nicht im langen Tal, sondern geht südlich des Meeres der Mitte in der gelben Einöde nieder.“
Die beiden Heloiden im Atomicer sahen sich erleichtert an.
Azul sank aufatmend in seinen Sessel zurück, und Tivia wiederholte erlöst: „Sil ist wohlauf. Sil lebt.“
Doch der schnellfliegende Atomicer ließ ihr keine Zeit, ihre frohe Stimmung voll auszukosten. Sie steuerte ihn zurück und überquerte abermals das Meer der Mitte. Azul bestimmte den Landepunkt unweit der Küste und gab dem Pilotron die entsprechenden Navigationsdaten an. Dann schalteten sie auf die automatische Steuerung um. Wenig später setzte der Atomicer zur Landung an, senkte sich feuerspeiend zur Wüste hinab.
Dann verstummten die donnernden Düsen. Das langhalsige Atomflugzeug der Heloiden war in der gelben Einöde nahe dem Meer der Mitte gelandet. Über den Bildschirm am Leitpult und vor den dicken Kugelscheiben der Kabinen im Kopfteil des Flugzeuges wirbelten dichte Schwaden aus Sand, Staub und Rauch. Die strahlende Scheibe des gelben Sterns war verhüllt. Sie vermochte den dichten Vorhang hochgeschleuderten Wüstenbodens nicht zu durchdringen. Nur manchmal war zwischen den Staubwolken der Kreis ihres Randes dunkelrot zu sehen. Ihre sengenden Strahlen vermischten sich mit der Hitze, die vom Landeplatz des Atomicers aufstieg. Die Thermoelemente meldeten von draußen hohe Temperaturen. Doch die Atemluft in der Kabine blieb frisch. Das Kühlsystem arbeitete zuverlässig.
„Hallo, ›Kua‹! Hier Atomicer! Landung geglückt. Sind südlich des Meeres der Mitte in der gelben Einöde niedergegangen. Wir entladen gleich den Ringflügler. Werden mit ihm umgehend zum langen Tal starten und den Standort des ›Weißen Pfeils‹ anfliegen. Tivia und…“
„Hier Weißer Pfeil! Hier Sil!“ tönte es plötzlich, laut dazwischen. „Meldung an die ›Kua‹: Der blaue Planet ist bewohnt! Er trägt verstandbegabte Lebewesen! Sie nennen sich Menschen! Habe Kontakt aufgenommen. Ihre Denkweise noch einfach! Sie stehen vermutlich noch am Anfang der Zivilisation!“
Aus Sils kurzen, atemlos hervorgestoßenen Worten klang deutlich seine Freude. Er vergaß sogar, über sich zu berichten.
Gohati konnte die Begeisterung gut verstehen. Er fragte deshalb nicht gleich nach den Ursachen der Notlandung.
„Hier ›Kua‹! Hier Gohati! Wir freuen uns, daß du lebst und unverletzt bist. Ich beglückwünsche dich zu der Begegnung mit Bewohnern dieses Planeten. Wir hatten seit einiger Zeit über die Funksatelliten Verbindung zum Weißen Pfeil und sahen deine Verständigungsversuche mit dem Menschenwesen. Azul und Tivia sind zu dir unterwegs. Erwarte sie. Die gegenwärtig wichtigste Aufgabe ist, einen Landeplatz für die ›Kua‹ zu suchen. Prüft, ob sich das lange Tal dazu eignet. — Ende.“
Azul und Tivia hatten ergriffen und voller Spannung auf die Worte gelauscht. Dann sprangen sie auf und verließen schnell den Kopfteil des Atomicers. Sie eilten in den angrenzenden Laderaum, in dem der Ringflügler stand, kletterten in die runde Vollsichtkanzel dieses kleinen Flugzeuges und nahmen ihre Plätze ein.
Geräuschlos rollte die große Ladeluke zur Seite. Sofort wollten die Schwaden radioaktiver Sandteilchen hereinwirbeln. Unsichtbare Kräfte, künstliche Antigravitationsfelder, stießen sie hinweg. Der Ringflügler wurde gepackt, hinausgehoben und draußen neben dem Atomicer auf den Boden der Wüste abgesetzt. Sie bemerkten, daß der Sand von den heißen Gasen, die das Triebwerk bei der Landung ausgestoßen hatte, zerschmolzen war und jetzt, bereits wieder abgekühlt, eine feste, grünglasige und rissige Schicht bildete. Schon begann der Ring mit den kurzen, schräggestellten Flügelstummem um die Kabine zu rotieren. Das Flugzeug erhob sich und gewann schnell an Höhe.
Die Schwebekabine stieg steil empor. Der hochaufragende Rumpf der großen Landungsrakete versank unter ihnen im wirbelnden Staub. Die Scheibe der Sonne wurde wieder sichtbar und gewann langsam an Leuchtkraft.
Plötzlich wurde es wieder dunkler. Wenig später prasselten Tropfen auf das runde, flache Kuppeldach der Kabine. Sie zerstoben augenblicklich und überzogen das scheibenartige Flugzeug mit einem Netz aus unzähligen ineinanderlaufenden Rinnsalen.
Der Ringflügler stieg schneller und schneller, stellte sich dann etwas schräg und begann geradeaus zu fliegen. Tivia führte das Flugzeug aus der Dunkelzone. Überraschend wurde es ringsherum hell und auch klar. Unter ihnen zog die gelbe, gewellte und unbelebte Landschaft schnell vorüber, und über ihnen spannte sich der wunderbare blaue Himmel.
Ein eigenartiger Anblick bot sich den Heloiden. Über der gelben Einöde lagerte unbeweglich eine große Staubglocke. Sie bedeckte den Landeplatz des Atomicers. Aus diesem Staubdom wuchs eine dicke Säule empor, die wie ein Schlauch bis in große Höhen aufstieg. Die Wüstenluft, vom Bremsfeuer der großen Landungsrakete und dem zerschmolzenen Sandboden überhitzt, strebte schnell empor. Dabei riß sie aufgewirbelten Staub und Sand mit. Dann stieß diese glühende Säule auf kalte Luftströmungen. Eine große, dicke Wolkenscheibe hatte sich über dem Landeplatz gebildet. Sie war von tiefgraublauer Farbe. Blitze zuckten auf, und Regenschauer ergossen sich aus ihr.
Tivia beobachtete, wie Schlangen und Schlieren von allen Seiten über den Wüstenboden auf das Staub- und Rauchkissen zukrochen und darin verschwanden. Die aufsteigenden heißen Winde verursachten einen heftigen Sog, mit dem vom Meer her feuchte Luftmassen herbeiströmten. Der Schlauch verschlang sie. Langsam kühlte die Heißluftsäule ab. Der Sog wurde schwächer, erstarb schließlich ganz, und der Staub- und Rauchpilz fiel in sich zusammen.
Höher und höher schraubte sich das Flugzeug. Tivia hing ihren Gedanken nach: Bald würde die „Kua“ landen. Das Navigationssystem, ihre Kreisel, ließen sich nur erneuern, wenn das Raumschiff unbewegt, wenn es außer Betrieb war.
Das war besonders bei der Justierung, bei der Abstimmung der Kreiselachsen, notwendig. Wo aber sollte man hier auf diesem fremden Planeten, der, wie Sil eben erst gemeldet hatte, bewohnt war, einen Landeplatz finden? Eine lange Flutbahn, wie sie auf Heloid üblich ist, müßte man haben, wünschte sich Tivia. Dann könnte die „Kua“ niedergehen, ohne die Ansiedlungen der Planetenbewohner, die es sicherlich überall gab, zu gefährden. Das Bremstriebwerk brauchte nur so lange zu arbeiten, wie sich das Raumschiff in den hohen Schichten der Atmosphäre befand. Danach würde es genügen, in einem langen Gleitflug den Widerstand der Luft für die weitere Abbremsung auszunutzen. Die „Kua“ hätte dann zwar noch eine beachtliche Geschwindigkeit beim Aufsetzen, aber die Flutbahn würde die härtesten Stöße abfangen und das kosmische Fahrzeug bis zum Stillstand hemmen.
Doch dafür war „zähes Wasser“ notwendig, eine Flüssigkeit, die keine Wellen schlug und die das hohe Gewicht des Raumschiffes trug, ohne es tief einsinken zu lassen. Dennoch müßte sie weich und nachgiebig sein. Eine solche Flutbahn aus eigenen Kräften und Mitteln zu schaffen, nähme allerdings sehr viel Zeit in Anspruch.
Azul riß Tivia aus ihren Überlegungen.
„Die Bergkette!“ rief er.
Runde, braune Bergrücken, von spitzen Felstürmen durchsetzt, reckten sich ihnen entgegen. Jetzt überflog die Schwebekabine mit dem rotierenden Flügelring das Hauptmassiv des Gebirges. Die Hänge fielen wieder ab, und dann tauchte das lange Tal auf. Tief unten auf dem Grund leuchtete winzig der Weiße Pfeil. Die Rufzeichen des kleinen Raketenflugzeuges waren zuverlässige Wegweiser gewesen.
Langsam schwebte der Ring herab.
Sil blickte ungeduldig auf den einen Gebirgskamm.
Entsprechend der letzten Durchsage mußte der Ringflügler bald über den Graten auftauchen.
Wie froh war er, daß er den Fehler im Empfangsgerät doch noch gefunden hatte. An der unterbrochenen Verbindung zur „Kua“ waren nicht nur die abgeschmolzenen Antennenstäbe schuld gewesen. Als der Atomicer über dem Tal erschien und Ia-du-lin mit den anderen Menschenwesen floh, war er zum Weißen Pfeil zurückgelaufen und hatte noch einmal in fiebernder Hast die Empfangsanlage untersucht und einen schadhaften Kontakt entdeckt. Wenige Handgriffe hatten genügt, die Verbindung war plötzlich dagewesen, und er hatte seine Meldung von der Begegnung mit Planetenbewohnern durchgegeben.
Sil blickte sich noch einmal um und prüfte die nähere Umgebung auf ihre Eigenschaften als Landeplatz. Der Weiße Pfeil stand auf einer kleinen Bodenwelle. Zwischen ihr und dem einsamen Felsen mit der einen der beiden Meßsonden war der Untergrund eben und von einer trockenen und fest miteinander verwobenen Vegetationsschicht bedeckt. Der fliegende Ring konnte hier sicher aufsetzen.
Über einem der Bergrücken schwebte jetzt der Flugkörper heran. Es sah aus, als seien es zwei Teile, die zusammen dahergeflogen kamen. Um einen linsenförmigen Mittelkörper wirbelte ein Ring. Der fliegende Ring hing plötzlich schief in der Luft, so, als bäume er sich auf. Er verharrte und sank leise summend herab. Ein kräftiger Luftzug beugte die Gräser. Dann setzte die Kabine, auf langen, schlanken Steifen wippend, zwischen dem einsamen Felsen und dem Weißen Pfeil auf. Der Flügelring machte die letzten trägen Umdrehungen.
Sil eilte auf den Ringflügler zu. Dort sprang eine Luke auf.
Zwei Gestalten stiegen aus. Sil erkannte an dem vulkanroten Skaphander Tivia und an dem sterngelben Azul. Beide liefen auf ihn zu und trafen mit ihm zusammen. Dieses Spiel wiederholte sich mehrere Male. Schließlich gelang es Tivia und Azul, Sil beim Anprall umzuwerfen. Sil rollte über den Boden, richtete sich aber gleich wieder auf. Dann ergriffen sie sich und wirbelten sich voller Freude über das Wiedersehen herum. Nachdem sie sich auf diese Weise begrüßt hatten, glitten sie nebeneinander zum Ringflügler.
„Wo sind die Planetenbewohner?“ fragte Azul. „Wir wollen sie sehen.“
„Ich bin bisher nur mit einem dieser Menschen zusammengekommen, und ihn habe ich fortgeschickt. Er sollte nicht in Gefahr geraten. Ich glaubte, ihr wolltet mit dem Atomicer hier landen.“
Azul suchte die Hänge mit einem kleinen #Taschenerider ab. Vielleicht hielt sich irgendwo noch eines dieser hier lebenden Wesen versteckt. Er sah mächtige Höhenzüge zu beiden Seiten und bewunderte die Wildheit der scharf gezackten Grate und die gewaltige, hochaufgetürmte Menge Gestein. Aus der Kabine des Atomicers und auch noch aus der Höhe des niedrig fliegenden Ringes hatte alles winzig ausgesehen. Auf Heloid gab es diese urwüchsige Mächtigkeit landschaftlicher Formen schon lange nicht mehr. Dort war das Land ausgeglichen, fast eine Ebene, höchstens von Bodenwellen und Hügeln unterbrochen. Azul lauschte in sich hinein. Die Empfindungen, die er beim Anblick dieser ungestümen Bergwelt hatte, glichen jenem Hochgefühl, das er verspürte, wenn der Raumkreisel, dem Willen des Astronauten gehorchend, fast so schnell wie das Licht durch den Kosmos stürmte und die Sternenwelt dennoch in erhabener und unerschütterlicher Ruhe verharrte.
Auch Tivia betrachtete das Panorama. Sie begeisterte sich an dieser Welt der scharf gezeichneten Gipfelsilhouetten und der schroff abfallenden Hänge. Schon dieser eine Zug im Antlitz des Planeten gefiel ihr. Wie schön mochte es werden, wenn sie auch die anderen Züge, die ihn prägten, kennenlernen würde.
Die Raumfahrer kletterten in die Kabine des Ringflüglers. Sie stiegen auf und flogen das Tal ab, um gemäß der Weisung Gohatis zu prüfen, ob es sich als Landeplatz für die „Kua“ eignete.
„Wie Dämme liegen die beiden Gebirge neben dem Tal“, stellte Sil fest. „Kaum ein Durchlaß ist zu finden. Radioaktive Staubmassen werden lange zwischen den Bergen schweben, abklingen und erst allmählich durch die wenigen Seitentäler und Pässe zum Meere oder zum dürren, braunen Land hin durchsickern, ohne dann noch Schaden anrichten zu können.“
Tivia hielt noch immer eine Flutbahn als Landemöglichkeit für geeigneter. Sie führte den Ringflügler zurück und setzte ihn wieder in der Nähe des Weißen Pfeils auf den Boden.
Die drei Heloiden nahmen Verbindung mit Gohati auf. „Wir haben das Tal untersucht. Es ist für die Landung der ›Kua‹ geeignet“, berichtete Sil. „Wir wollen einen Starttisch aus großen Felsblöcken fügen. Eine solch schwere und massive Startplatte würde verhindern, daß zuviel radioaktive Schwebeteilchen vom Boden losgerissen werden. Insgesamt müssen wir fünfundvierzig solcher Blöcke aus dem Gebirge schneiden, zu Triolithen zusammenfügen und nebeneinanderlegen. Sie bilden dann ein großes Quadrat, das die ›Kua‹ beim Niedergehen nicht verfehlen wird. Mit all diesen Arbeiten könnten wir drei in sechs Planetenrotationen fertig sein.“
Gohati verstand, daß auf diese Weise den Planetenbewohnern Schutz geboten werden konnte, und willigte ein. Den Rest des Tages verbrachten die Heloiden mit Vorbereitungen für die Landung der „Kua“. Azul und Tivia flogen zurück über das Meer in die gelbe Wüste, um den Atomicer, der die Ausrüstungsgegenstände an Bord hatte, zu holen.
Abends, nach der Ankunft des Atomicers, fanden sich die drei wieder in der kleinen Kabine des Ringflüglers zusammen. Sil schilderte seinen Erkundungsflug, berichtete vom Dilatationsflimmern und vom Sturz. Vor allem aber sprach er von der Begegnung mit Ia-du-lin. Währenddessen neigte sich die Scheibe des gelben Sterns zu den Gipfeln herab und versank hinter ihnen. Die Schatten der Nacht breiteten sich aus und wurden dichter und dichter.
Als die Sterne über dem Kanzeldach zu flimmern begannen, flammte in der Kabine das Licht auf. Es ergoß sich auf der einen Seite bis zum Weißen Pfeil und auf der anderen bis zum einsamen Felsen. Die flachgewölbte Kuppel des gläsernen Daches funkelte von innen wie ein Kristall, in dem farbige Tupfen einen Reigen tanzten.
Die Heloiden berieten, wie sie ihre Landebasis am besten herrichten könnten. Sie beugten sich über Karten, Tabellen, lichtschriftliche Aufzeichnungen und Myonenrechner. Erst tief in der Nacht erlosch im Tal der bunte Stern mit seinem vulkanroten, sterngelben und violetten Lichtspiel.
Am nächsten Tag stieg Tivia allein mit dem Ringflügler auf.
Sie sollte feststellen, wie das lange Tal in seiner südlichen Richtung beschaffen war. Niedrig überflog sie jene Stelle, aus deren felsigem Boden die Quadern für den Starttisch geschnitten werden sollten. Die Umrisse des ersten Blockes konnte sie schon erkennen. Azul war bereits bei der Arbeit. Der Ring schraubte sich empor. Sie beobachtete, wie Azul einen Strahlenwerfer bediente. Der feine Energiestrahl fraß sich rasch in den Fels. Er zerstach den harten Grund und drang tief in das Silikate Gefüge des Granits ein. Azul, im Skaphander, stand hinter einem Schild, das ihn gegen Strahlung schützte.
Der stetig steigende Ringflügler hatte Höhe gewonnen. Tivia blickte sich um. Das Tal wies kaum eine Krümmung auf. Es war nahezu gerade. Schon bald bemerkte die Heloidin tief unter sich einen Wasserlauf, der zusehends breiter wurde. Der Boden senkte sich mehr und mehr. Die Bergketten zu beiden Seiten wurden niedriger. Der Fluß schlängelte sich immer öfter hin und her und bildete große Bögen mit zahlreichen engen Schleifen. Die noch zeitweilig vorherrschenden grünen Vegetationsflecken wurden seltener und wichen schließlich ganz einem eintönigen Braun.
Da tauchte in der Ferne eine Wasserfläche auf. Tivia flog darauf zu. Auch der Fluß strebte dorthin. Ein kleines Binnenmeer dehnte sich unten aus. Gewohnheitsgemäß las Tivia die Meßwerte von den Instrumenten ab. Sie stutzte. Das kleine Meer lag vierhundert Meter unter dem Niveau der Ozeane. Das war wie ein Wunder. Tivias Interesse wurde wach. Sie führte den Ring herab. Dicht übler dem Wasser verharrte er. Nachdenklich blickte Tivia auf die spiegelglatte Fläche. War das überhaupt Wasser? Es verhielt sich so merkwürdig. Obwohl die rotierenden Ringflügel einen erheblichen Luftstrom erzeugten, wellte es sich nicht.
Die Heloidin steuerte zum Ufer hinüber und setzte die Kabine, auf den glatten Uferstreifen auf. Prüfend sah sie umher. Trostlos kahl war die Landschaft. Weit und breit konnte sie nicht die geringste Spur einer Vegetation entdecken. Grell und sengend hing die Scheibe des gelben Sterns über dem mächtigen Talkessel, dessen Grund zum größten Teil von diesen merkwürdig starren Wassern bedeckt war. Weiße Schichten von Ablagerungen verkrusteter Salze ließen den Strand und die Felswände darüber in den Sonnenstrahlen schmerzhaft grell glitzern und funkeln. In der hitzeflimmernden Luft über dem starren Meer und über dem Strand standen unbeweglich dunstige Schichten irgendwelcher Gase. Schillernde Flecken und schwarze Fladen trieben auf der Seenfläche. Es schien, als sei dies die Landschaft eines unbelebten und verwüsteten Planeten. Selbst der Himmel mit seinem so sanften und zarten Blau und auch die goldenen Strahlen der Sonne vermochten es nicht, dieser unfreundlichen Landschaft Leben einzuhauchen.
Tivia öffnete die Bodenluke und stieg aus. Vorsichtig berührte sie die weiße Salzschicht auf dem Strand. Der Wind der kreisenden Flügel riß an ihr. Sie schlüpfte unter ihnen hindurch und glitt in der Nähe auf eine Salzkuppel. Ihr Blick ging nach Süden zum anderen Ufer des kleinen Meeres. Die Szenerie der Bergwelt wirkte dort noch öder und wilder.
Zerrissene Steilwände fielen senkrecht ins Wasser ab. Auch dort umgrenzte ein breiter Streifen kristallenen Weißes das weite Becken. Wo am äußersten Ende die schweren, trägen Wasser endeten, brach die bedrückende Felskulisse zu beiden Seiten jäh ab. Sie öffnete sich wie ein schmales, hohes Tor zu einem flachen Salzsumpf. In der Ferne lag rötlicher Boden, von zahlreichen Rinnen durchfurcht.
Die Pilotin sprang von ihrem hohen Standpunkt zurück auf den salzigen Strand. Sie glitt bis dicht ans Wasser. Keine Muscheln und kein Tang waren ausgeworfen. Unter seiner Oberfläche und in seinen Tiefen bewegte sich keinerlei Leben.
Das Wasser war wie tot.
Tivia brach ein großes, schweres Stück aus der harten Salzkruste des Strandes und warf es auf die unbewegte Wasserfläche hinaus. Zu ihrer Verwunderung blieb der Brocken aufklatschend liegen. Er versank nicht. Die wenigen ringförmigen Wellungen, die der Aufschlag hervorrief, liefen nur träge und widerwillig ein kurzes Stück weiter.
Zähes Wasser! erkannte Tivia plötzlich. Das war es, wonach sie trachtete.
Dieses schmale und lange Wasser war eine Flutbahn.
So wie für Sil der Planetenbewohner die große Entdeckung blieb, war es für sie dieses Meer des zähen Wassers.
Tivia stürzte zum Ringflügler und verband sich über Funk gleichzeitig mit der „Kua“ auf der Kreisbahn sowie mit Sil und Azul im langen Tal.
„Hier Ring! Hier Ring!“ rief sie. „Ich habe eine Flutbahn entdeckt! Ich habe zähes Wasser gefunden! Ein Meer der toten Wasser! Es liegt südlich des Weißen Pfeils an der tiefsten Stelle des langen Tals!“
„Macht eine Landeprobe mit dem Weißen Pfeil“, riet Gohati.
„Bist du dir auch sicher, daß dein Meer der toten Wasser als Flutbahn benutzt werden kann?“ fragte Azul besorgt. „Sollten wir vielleicht nicht doch lieber bei unserem jetzigen Projekt bleiben? Drei große Blöcke sind bereits ausgeschnitten und liegen zum Abtransport durch deinen Ringflügler bereit.“
„Hier Tivia! Wahrscheinlich könnt ihr die Arbeiten bei euch einstellen. Das Wasser hier ist schwer und träge.“
Jahrtausendelang hatte eine enorme Hitze über dieser Steinwanne gebrütet. Ständig verdunsteten große Mengen Wasser. Nur die Salze blieben zurück. Der Fluß brachte fortwährend neue, im Wasser gelöste Stoffe herbei. Die Fluten sättigten sich so immer mehr und reicherten sich ständig weiter an.
„Das tote Wasser müßte das Gewicht des Atomicers tragen können. Ob die ›Kua‹ landen kann, wäre erst noch zu untersuchen. Die Gleitfähigkeit des Wassers scheint jedenfalls ausreichend zu sein“, fügte Tivia hinzu.
„Gut, ich werde mit dem Weißen Pfeil aufsteigen und eine Probelandung machen“, gab Sil durch.
Bald darauf erschien das kleine Raketenflugzeug am Horizont. Schnell näherte es sich. Im Tiefflug stob der gepfeilte Rumpf über die starre Wasserfläche. Sil machte sich mit der Länge der Flutbahn vertraut. Die steilen Felswände warfen ein vielfaches Echo des heulenden Triebwerkes zurück. Noch einmal überflog Sil das Meer. Dann stieg das Raketenflugzeug steil auf und kreiste.
„Für den Weißen Pfeil reicht die Flutbahn aus, aber für den Atomicer und für die ›Kua‹ fürchte ich, ist sie zu kurz“, hörte Tivia über Sprechfunk Sil sagen. „Ein- und Ausflug sind durch gegenüberliegende Gebirgseinschnitte ausreichend lang“, urteilte er. „Auf den Höhen ringsum würden sich leicht Richtfunkfeuer und Leitstationen aufstellen lassen, damit man auch bei Dunkelheit die Flutbahn anfliegen kann. Ich werde jetzt landen.“
Der Weiße Pfeil hörte auf zu kreisen. Er strebte dem Horizont zu und kehrte dann wieder um. Schnell näherte er sich. Im Tiefflug glitt er über die Flußmündung. Das Triebwerk spie während des Bremsvorganges einen langen, farblosen Gasstrahl aus. Kurz darauf schossen dampfend Gischtfontänen hinter Sils Flugzeug hoch. Der Weiße Pfeil huschte wie ein heller Schatten über die Meeresfläche, kaum daß er das Wasser berührte. Doch zusehends wurde sein Tempo langsamer.
Endlich glitt das Raketenflugzeug ruhig über die Flut. Auf der Hälfte der Bahn blieb es schwimmend liegen.
„Geschafft“, hörte Tivia ihn im Helmhörer rufen.
Tivia achtete auf die Ausläufer der Bugwelle. Sie lag mit ihrem Ringflügler auf dem Wasser. Langsam näherten sich zwei, drei unscheinbare Wellen. Hinter ihnen beruhigte sich die Wasserfläche erstaunlich schnell. Da pochten harte Schläge an die Wandung des Ringflüglers. Das schwere Wasser meldete seine Macht an. Bei Sturm würde man die Flutbahn räumen müssen, überlegte Tivia. Wenn schon diese kleinen Wellen so stark klopften, mußten höhere Wellen wie schwere Stöße wirken.
„Deine Entdeckung ist wertvoll“, hörte sie Sil sagen. „Dieser Landeplatz wird staubfrei und auch strahlungsfrei bleiben.
Dein Meer der toten Wasser läßt sich schneller zur zentralen Basis herrichten als das lange Tal. Die ›Kua‹ wird heute noch landen können. Nur sprengen müßten wir noch vorher, damit die Gleitstrecke lang genüg wird.“
„Aber womit wollen wir sprengen?“ fragte Tivia.
„Komm mit dem Ringflügler zum Weißen Pfeil herüber“, forderte Sil sie auf. „Ich steige zu dir um. In deiner Kabine können wir die Pläne für unser neues Projekt schneller entwerfen als bei mir in der Erkundungsrakete.“
Tivia ließ wieder die Ringflügel kreisen. Sie flog zur Mitte des Meeres. Knapp eine Körperlänge über dem Weißen Pfeil verharrte ihr Flugzeug in der Luft. Der Ausstieg des Raumgleiters klappte auf, und Sil stieg, von seinem glockenähnlichen Skaphander bekleidet, auf den Rumpf seiner Rakete hinaus. Auch Tivia öffnete den Einstieg zum Ring.
Eben wollte Sil den Griff erfassen und sich in den Ringflügler hineinziehen, als er ausglitt und auf der glatten Oberfläche der kleinen Rakete abrutschte. In seinem Helmhörer hallte Tivias Schreckensruf. Die helle Wand des Raumgleiters huschte vorbei, und gleich danach spürte er den Aufschlag.
Sil fühlte, wie ihn das Wasser trug. Vorsichtig streckte er sich. Auf dem Heimatplaneten Heloid, überlegte er, konnte man mit Spezialschuhen aufrecht über das Wasser der Flutbahn gehen. Vielleicht war das auch hier möglich.
Schon sein erster Versuch, aufrecht und frei auf dem Wasser zu stehen, gelang. Die weit ausladende Grundplatte sank nur wenig ein. Heftig schwankte er auf dem nachgiebigen Untergrund der Wasseroberfläche hin und her. Er hörte Tivia lachen. „Es ist zähes Wasser!“ rief Sil ihr zu. „Das Stehen beweist es!“
Tivia hatte inzwischen den fliegenden Ring auf dem Meer aufgesetzt und die kreisenden Flügel zum Stillstand gebracht.
Sil kam heran. Es war ihm jetzt leicht, sich in die Kabine zu schwingen.
„Der starke Luftzug des Ringflüglers hat mich vom Raumgleiter geweht“, sagte er. „Es ist kaum anders, als wenn man über die Flutbahn auf Heloid geht. Jetzt weiß ich es genau: Dieses Meer der toten Wasser ist der beste Landeplatz für den Raumgleiter, den Atomicer und die ›Kua‹, den wir auf diesem Planeten finden konnten.“
Die beiden Raumfahrer berieten das neue Projekt. „Laß uns, statt zu sprengen, ein künstliches Beben auslösen“, schlug Sil vor. „Dabei wird sich die Flutbahn, wenn wir es richtig berechnen, verlängern.“
Tivia hatte Bedenken. „Uns ist die geologische Struktur dieses Planeten noch zu unbekannt“, sagte sie.
„Eine tektonische Sprengung würde uns am schnellsten helfen“, verteidigte Sil seine Idee. „Es würde genügen, das Profil des Meeresgrundes grob zu erkunden, die Ausbreitung von Erschütterungen im Boden zu studieren und die oberen geologischen Schichten der, Planetenrinde mit dem Myonenstrahler zu durchleuchten. Die Werte müßten zur ›Kuß‹ gemeldet werden. Dort könnte uns das Rechenzentrum die günstigste Plazierung des Atomsprengstoffes ermitteln. Eine geologische Rakete müßte sich in die Erde unter den See bohren und die Ladung dort zünden. Der Atomicer hat eine geologische Rakete an Bord. — Übrigens, wie hoch liegt das Meer der toten Wasser über dem Niveau der Ozeane?“
Tivia lächelte. „Überhaupt nicht hoch. Wir befinden uns vierhundert Meter darunter.“
Sil erschrak. „Dann dürfen wir gar nicht tektonisch sprengen!“ rief er. „Ein Bodenriß zum Meer der Mitte könnte entstehen. Unsere Flutbahn würde überschwemmt werden!“
„Ich befürchte das nicht. Das Meer der Mitte ist weit genug davon entfernt“, entgegnete Tivia zuversichtlich. „Wir werden es am Myonenrechner nachprüfen.“
Der Ringflügler hatte vom Atomicer im langen Tal die geologische Rakete herbeigeschafft. Laut summend senkte er sich jetzt herab. Tivia setzte über der inzwischen ausgehobenen Startgrube für die unterirdische Rakete auf. Langsam löste sich die gedrungene Spindel vom Rumpf des Ringflüglers und glitt mit der Spitze voran herab. Nur die Düsenöffnung ragte noch aus dem Weißgrau des Salzstrandes hervor.
Die drei Heloiden kletterten in den Ringflügler zurück und stiegen auf. „Die Rakete muß tief in den Boden eindringen und sich unter den tiefsten Punkt des Meeres wühlen. Die Programmsteuerung ist eingestellt“, berichtete Sil.
„Entsprechend unseren Berechnungen wird der Meeresboden an dieser Stelle etwa um hundert Meter angehoben und dafür eine Überflutung des Sumpfes am Ende der Flutbahn bewirkt.“
Als der Ringflügler Höhe gewonnen hatte, betätigte Sil den Zündsender. Am Salzstrand fuhr eine lange, rötliche Stichflamme aus dem Boden. Das Triebwerk der geologischen Rakete hatte zu arbeiten begonnen. Zusehends wurde die Flamme kürzer. Der starke Schub des Gasstrahles drückte die gepanzerte Spindel in die Tiefe. Sie preßte sich durch das Gestein, drückte das Erdreich zur Seite und hinterließ einen langen, röhrenartigen Tunnel Ständig strömten heiße Gase daraus hervor. Eine Zeitlang stand eine blasse Fackel über dem Bohrloch. Dann erlosch sie. Eine Erschütterung mochte die Röhre verstopft und den Strom verbrannter Gase unterbrochen haben. Es dauerte nicht lange, bis mit einem Knall, der selbst hoch oben im Ringflügler zu hören war, Steine und Bodenteile, vermischt mit Wasser, aus dem Schacht herausgeschleudert wurden.
Gespannt sahen die Heloiden auf den Zeitgeber. Nur noch wenige Augenblicke trennten sie von der Bebenzeit. Jetzt war sie erreicht. Die Heloiden preßten sich an das Panzerglas der Kanzel und starrten hinab.
Über die Wasserfläche unter ihnen ging eine merkwürdige Bewegung. Es war, als krümme sich ein Leib unter Schmerzen zusammen. Die Ufer machten ein paar schlängelnde Bewegungen. Lautlos wankte die Felskulisse. Hier und da stürzte ein Quader hoch aufspritzend ins Wasser. Plötzlich wölbte sich die Flut zu einem Hügel auf. Tivia glaubte, ein Geysir spritze empor. Doch der Wasserberg wanderte als Flutwand den Ufern zu. Eine Sturzwelle kroch schäumend über das Meer. An mehreren Abschnitten des Strandes flossen die Wasser zurück. Am Ende der Flutbahn schoß eine Wasserzunge ins Land. Sie lief der großen Brandungswelle voraus. Schnell fraß der schäumende Streifen das Land.
Das Experiment, die tektonische Sprengung, war gelungen.
Noch hielt die Bodenbewegung an. Aber an dem Erfolg des Versuches war schon jetzt nicht mehr zu zweifeln. Die Flutbahn wurde länger und länger. Noch heute konnte die „Kua“ auf dem dritten, dem blauen Planeten landen.