Die Nacht im Tempel

Das Boot mit dem hohen Schnabel trieb lautlos auf dem dunklen Wasser des Pu-rat-tus dahin. Ia-du-lin sah dem Abendrot nach, das zu seiner Rechten über dem Ufer des Stromes verglomm. Zu seiner Linken lauerte die dunkle Wand der Nacht.

Es war die Stunde der Angst. Je dichter sich die Abenddämmerung über das Land legte, desto stärker wurde Ia- du-lin von Schauder und Verzagtheit gepackt. Er rückte näher zum heiligen Stein und zog Sils gelbes Tuch fest um seine Schultern.

Erst als von Horizont zu Horizont der Himmel überall gleichmäßig schwarz war, wich der Druck von seiner Seele. Er spürte wieder den warmen Lufthauch, der von der Hitze des Tages geblieben war und ihn umfächelte. Dann traten Sterne aus der Tiefe des Himmels hervor und blinzelten ihm zu. Die Nacht wurde ihm so zum Freund, die alles verhüllte, die alles Ungemach auslöschte und deren Schutz er sich ruhig anvertrauen konnte.

Heute blieb Ia-du-lin auf dem Wasser. All die Tage hatte er zu dieser Zeit angelegt, um das Nachtlager am Ufer des Stromes zu bereiten. Heute trennte ihn nur noch ein kurzes Stück Weg von E-rech, das er noch erreichen wollte. Bald würde der Mond aufgehen und es ihm erleichtern, seinen Weg dicht entlang dem Ufer zu finden.

Ia-du-lin versuchte, die Nacht vor ihm mit den Blicken zu durchdringen. Wäre es Tag, könnte man jetzt sicher schon die Spitze der Ziggurat, des siebenstufigen Tempelturmes, sehen, dachte er. Plötzlich horchte er auf. Unweit fielen Steinchen in das Wasser. Er hörte es deutlich viermal platschen. Das war doch eines der verabredeten Zeichen!

Das Boot wendete den hohen Schnabel dem Ufer zu. Dann knirschte der Sand unter dem Kiel. Ein leichter Stoß folgte, und das Boot lag still. Ia-du-lin sprang an Land.

Aus dem dunklen Ufergesträuch rief jemand leise: „Wieviel Pfeile stecken in deinem Köcher?“

„Sieben Stück, und nur einer, der zu Nan-nar hinauffliegt“, antwortete Ia-du-lin vereinbarungsgemäß.

Blätter raschelten, und ein Zweig knackte. Oben an der Uferböschung erschien, gegen den Nachthimmel gut sichtbar, eine dunkle Gestalt, die ihm winkte. Ia-du-lin arbeitete sich den Abhang hinauf. Der unbekannte Eingeweihte ergriff seine Hand und zog ihn zu sich heran. Ia-du-lin erkannte einen der Priester, die dem Mondgott Nan-nar in seinem Tempel in E- rech dienten. Wortlos wies der Priester in Richtung der Stadt.

Dort stand groß die Scheibe des Mondes über dem Horizont.

Unwillkürlich schirmte Ia-du-lin die Augen gegen den rötlichen Schein ab. Da erkannte er in der Ferne eine Kette heller Lichtpünktchen.

„Fackelträger?“ fragte Ia-du-lin.

„Nein, Lagerfeuer“, flüsterte der Nan-nar-Priester.

„Was ist geschehen?“ Ia-du-lin ahnte Schlimmes.

„E-rech ist belagert“, sagte der Priester. „Der Gal-Uku-Patesi aus Ur ist mit seinem Heer vor den Toren unserer Stadt erschienen. Er hat En-mer-kar aufgefordert, das oberste Kriegsrecht im Zweistromland an Ur abzutreten.“

Der Nan-nar-Priester hatte schon mehrere Tage und Nächte hier am Ufer des Pu-rat-tu versteckt gewartet, um den Tamkare des Herrschers zu warnen.

„Sprich weiter“, verlangte Ia-du-lin.

„En-mer-kar hat die Ältesten befragt. Sie rieten ihm, der Stadt den Frieden zu erhalten und das oberste Kriegsrecht dem Gal- Uku-Patesi zu überlassen“, berichtete der Priester. „En-mer-kar war nicht mit diesem Rat zufrieden. Er befragte auch seine Berater und den Nubanda, seinen höchsten Beamten. Diese sagten, man müsse die Würde E-rechs verteidigen. Ebendas wollte auch En-mer-kar. Er lehnte die Förderung Urs ab. Da schloß der Gal-Uku-Patesi den Ring der Belagerung um E- rech.“

„Wie kommen wir nun in die Stadt?“ flüsterte Ia-du-lin.

Der Nan-nar-Priester gab ihm zu verstehen, daß er nur den Auftrag habe, ihn zu warnen. Er selbst wolle warten, bis die Belagerer abgezogen seien.

Ia-du-lin überlegte, wie er die Postenkette um die Stadt durchbrechen könnte. Es gab für ihn gar keinen Zweifel, daß er dies wagen mußte. Sollte sein Plan, mit Hilfe Sils die Stellung eines Tamkare-Patesi, Hohenpriesters oder gar eines Herrschers zu erlangen, Wirklichkeit werden, dann mußte er in die Stadt gelangen, weniger, um En-mer-kar das Ergebnis seiner Mission mitzuteilen, als vielmehr, die augenblickliche Lage zu prüfen und eine Möglichkeit zu suchen, die Belagerung zu beenden und den Gal-Uku zu besiegen. Nur ein starkes, erfolgreiches E-rech würde erste Stadt im Zweistromland bleiben und würde den erträumten Stellungen jenen Glanz verleihen, der sie über alle gleichartigen der anderen Städte des Landes erhob. Es galt, geschickt zu Werke zu gehen. Weder die Priester noch die Beamten und erst recht nicht En-mer-kar oder gar der Himmelssohn Sil durften merken, welche Absichten er hatte. Jetzt jedenfalls mußte er zunächst erst einmal unbemerkt in die Stadt gelangen und den Gal-Uku vertreiben. Am einfachsten war es, schon jetzt die Hilfe Sils in Anspruch zu nehmen.

Ia-du-lin hatte lange zur fernen Lichterkette der Wachfeuer hinübergestarrt. Jetzt wandte er sich um und stieg die Uferböschung zu seinem Boot hinab. In der Mitte des Kahnes lag der spitze Stein. Ia-du-lin warf ihm den gelben Umhang über. Dann ging er zum Priester zurück.

Der Mond war inzwischen höher gestiegen und leuchtete heller.

Am Ufer wartete der Priester geduldig und sah derweil hinaus auf das silbern schimmernde Land im Mondlicht. Wehmütig dachte er daran, daß in solchen Nächten die Priester des Mondgottes Nan-nar und auch des Tempels der Nin-Gal, der Mondgöttin, nicht schlafen gingen. Sie durchzogen die Tempelhöfe und umkreisten die Statuen. Opfertiere wurden geschlachtet, und aus dem lautlosen Tempelreigen wurde nach und nach der große Gesang an Nan-nar und Nin-Gal.

Die Feuer in der Ferne um die Stadt brannten noch, sie wirkten jetzt aber blaß und unscheinbar im Licht des Mondes, bemerkte Ia-du-lin, als er vom Boot zurückkehrte. Er stellte sich breit und unbekümmert auf die Wiese am Ufer. Die Mahnung des Priesters, sich in die Schatten des Gesträuchs zurückzuziehen, um nicht umherstreifenden Patrouillen aufzufallen, ließ er unbeachtet. Ia-du-lin fühlte sich sicher. Der Himmelssohn würde bald kommen und ihn vor allem Unheil schützen. Deshalb sagte er: „Mir geschieht nichts. Der Sohn der I-na-nua, Sil, wacht über mich. Er wird bald erscheinen und mich durch die Lüfte in die Stadt tragen.“

Welcher Geist ist in ihn gefahren, dachte der Priester mit bangem Unbehagen. Hat die Nachricht von der Belagerung seinen Sinn verwirrt? — I-na-nua hatte doch keinen Sohn. Und durch die Luft vermochte ein Mensch doch auch nicht zu fliegen. Vorsichtig zog er sich ein paar Schritte zurück.

Der Priester schaute zum Mond, der jetzt schon hoch am Himmel stand. Eine Sternschnuppe zog dicht an seiner gelben Scheibe vorbei. Doch wie seltsam, sie erlosch nicht nach kurzem Flug, sondern flog weiter, kam zur Erde herab und fiel langsam geradewegs auf ihn zu. Über dem Fluß blieb der Stern, nun groß und hell, leise summend stehen. Ein matter rötlicher Strahl tastete das Flußufer ab.

Der Priester stand starr da und sah mit ungläubigem Staunen auf diese Erscheinung. Ia-du-lin lief heftig winkend über die Wiese und rief, unbekümmert um den Feind vor der Stadt, mehrmals laut: „Sil!“

Der Stern schwankte leicht, wich vom Fluß ab und setzte sich am Ufer auf der Wiese nieder. Der Nan-nar-Priester wandte sich um und rannte, von panischem Entsetzen gepackt, in die Dunkelheit davon.

Ia-du-lin trug die Meßsonde aus dem Boot herbei und ging auf den fliegenden Ring zu. Sil war schon ausgestiegen und kam ihm entgegen.

„Ich grüße dich, Ia-du-lin. Du brauchst unsere Hilfe? Wollen dir andere Menschen wieder Gewalt antun?“

Ia-du-lins Schritt stockte. Die wortreiche Begrüßung Sils verblüffte ihn. Der Himmelssohn war doch sonst immer schweigsam gewesen.

Sil sagte: „Unsere unsichtbaren Diener haben für uns bei den Sandwanderern das Sprechen gelernt. Wir können nun mit dir reden und auch alles verstehen, was du uns sagst.“

Ia-du-lin überwand seine Überraschung schnell und bat Sil, ihn in die Stadt zu bringen, die dort drüben von einem Flammenkranz umgeben sei. Dabei wies er mit ausgestrecktem Arm durch die Dunkelheit zur Lichterkette. Die Stadt sei seine Heimat und heiße E-rech. Er habe eine Botschaft, auf eine Tontafel geschrieben, bei sich, die er dem Herrscher der Stadt bringen müsse. Aber fremde, gewalttätige Krieger bewachten E-rech und ließen niemand hinein und heraus. Es sei die Absicht der Soldaten, bald in die Stadt einzudringen.

Gefangene zu machen und sie als Sklaven abzuführen.

Sil verstand den Myonendolmetscher, der Ia-du-lins Sprache in den Helmhörer übertrug, nicht vollständig. Worte wie „Sklaven, Gefangene, Soldaten und abführen“ waren ihm fremd. Er würde ihren Sinn erst noch durch eine Rückfrage bei der „Kua“ klären müssen. Soviel stand jedoch fest, daß Ia-du- lin in die Stadt wollte, aber von anderen Menschen daran gehindert wurde.

„Wir erfüllen dir gern diesen Wunsch“, sagte Sil. „Steig ein!“ Er hob die Sonde in den Ringflügler und schob auch das Reisebündel des Menschenfreundes hinein. Zaghaft kletterte Ia-du-lin über eine schmale Leiter durch die Luke. Sil führte ihn zu einem Sitz, der wie eine Schale aussah, und drückte ihn sanft hinein.

Nur kurze Zeit verblieb Ia-du-lin, um die verwirrende Umwelt, die so ganz anders war als das Zimmer im Feuervogel, zu betrachten. Das rötliche Licht erlosch, der Fußboden wurde durchsichtig, und Ia-du-lin sah den Fluß immer kleiner werden. Dabei fühlte er, wie der Boden des Zimmers schwankte. Dann vermochte er unter sich nichts mehr zu erkennen. Nur der Mond lief plötzlich am Himmel hin und her und schaute einmal von der einen und dann wieder von der anderen Seite in das fliegende Zimmer der Himmelssöhne.

Azul, der diesmal den Ring steuerte, hielt, als sie über der Stadt schwebten, nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau.

In dem Geschachtel der Wohnzellen lagen nur wenige hofartige Plätze, die kaum Raum zum Landen und Starten boten. Im hellen Mondlicht sah Azul einen größeren Platz im Zentrum. Dort setzte er den Ringflügler auf.

Ia-du-lin sprang aus der Kabine, erstaunt, schon wieder aussteigen zu können. Seine Sandalen berührten klatschend harten Boden. Er trat unter dem noch kreisenden Flügelring hervor, sich unter dem Luftstrom unwillkürlich bückend. Ja, unverkennbar, das war E-rech, das war der heilige Bezirk der Stadt mit seinen in weitem Halbkreis angeordneten fünf Tempeln. Der Mond stand hinter der Ziggurat. Die wuchtigen Konturen des Stufenturmes reckten sich in den Nachthimmel.

Das bleiche Licht des Mondes floß in langen Bahnen über den Platz, ließ hier grell eine hellgetünchte Mauer aufleuchten und versteckte dort im Halbdunkel die Ecken und Winkel.

Auch Sil und Azul waren ausgestiegen. Der weite Platz um sie erschien menschenleer. Allein bei jedem der Gebäude, im Schatten einer Treppe, einer Säule oder einer vorspringenden Ecke versteckt, waren deutlich Wärmeflecken zu erkennen.

„Wer steht vor den großen Häusern?“ fragte Sil über den Myonendolmetscher.

„Es sind Tempelwächter, die die Ruhe der Götter und die Schätze der heiligen Stätten bewachen“, antwortete Ia-du-lin. „Kommt mit mir. Ich führe euch. Nan-nar und Nin-Gal werden euch gastlich aufnehmen.“

Die beiden folgten Ia-du-lin, der auf eines der großen Gebäude zuschritt. Wer mochten Nan-nar und Nin-Gal sein, daß sie so gastfreundlich Kosmonauten aufnahmen?

Ia-du-lin sprang schnell die breiten Stufen zum Hauptportal hinauf und eilte auf den Tempeldiener zu, der das Tor bewachte. „Zwei Götter kommen. Es sind die Söhne der I-na- nua. Öffne uns, rasch!“ flüsterte er ihm zu.

Der Tempelwächter hatte mit Grausen die Vorgänge auf dem Tempelplatz beobachtet. Willenlos tat er, was man von ihm forderte. Dann stürzte er davon, die Oberpriester zu verständigen.

Ia-du-lin tastete sich durch die Dunkelheit der Tempelhallen.

Er hatte Mühe, den Weg zu finden. Wäre er hier nicht oft ein und aus gegangen und fiele nicht ab und zu ein Mondstrahl durch eine Öffnung in der Decke oder in der Mauer, hätte er nur schwer zum Hauptsaal gefunden. Die Himmelssöhne, die kleine dunkelrote Lampen trugen, bewegten sich so sicher, als sei für sie alles hell erleuchtet. Sie durchschritten Gänge und Räume. Im Hauptsaal angelangt, blieben sie vor der Statue des Mondgottes stehen, eines alten, hageren Mannes mit einer Mondsichel in der Hand. Öl-lichte erhellten spärlich die geräumige Halle.

Zwei Tempeldiener sprangen mit einem Ruf des Entsetzens auf, als lautlos zwei unbekannte Gestalten erschienen. Sie preßten sich rückwärts an die Wand. Verwundert bemerkten sie einen Menschen zwischen ihnen, und sie lauschten seiner Stimme.

„Hier bitte ich euch zu warten“, sagte Ia-du-lin zu Sil und zu Azul. „Wir sind im Tempel des Mondgottes Nan-nar. Es ist der größte Tempel in E-rech. Ich werde zu En-mer-kar gehen und ihm von euch berichten. Noch heute nacht komme ich wieder.

Zeigt euch keinem Menschen. Sie würden erschrecken und aus der Stadt in die Speere und Pfeile der Belagerer laufen. Nur die Priester dürfen euch sehen.“

„Ich sehe aber, daß auch die Priester sich vor uns fürchten“, sagte Sil. „Was werden die Menschen erst sagen, wenn sie unseren fliegenden Ring auf dem Platz vor diesem großen Haus stehen sehen?“

„Bis zum Morgengrauen wird sich Rat finden“, sagte Ia-du- lin.

Dann wandte er sich den beiden Priestern zu. „En-mer-kar wird kommen und die Söhne der I-na-nua befragen. Verhaltet euch ehrfurchtsvoll“, forderte er sie auf.

Als Ia-du-lin aus dem Portal des Tempels hinaus auf die Stufen trat, sah er, daß sich überall in weitem Rund Gruppen von Priestern versammelt hatten, ängstlich bemüht, im Schatten der Bauten zu bleiben. Sie starrten zum fliegenden Ring hinüber, dessen Flügelstummel sich immer noch langsam drehten.

Ia-du-lin erinnerte sich des wundersamen Steins, der im fliegenden Haus der Himmelssöhne geblieben war. Für das, was er noch heute nacht alles zu tun gedachte, brauchte er ihn.

Er hastete quer über den Platz auf den fliegenden Ring zu.

Kaum war ihm Ia-du-lin auf einen Steinwurf nahe gekommen, als das Gefährt plötzlich aufsummte und sich ein Stück in die Luft erhob. Erstaunt blieb Ia-du-lin stehen. Waren die Himmelssöhne doch aus dem Tempel herausgekommen und hatten noch vor ihm ihr fliegendes Haus bestiegen? Aber hinter den matt erleuchteten durchsichtigen Wänden des fliegenden Hauses regte sich nichts. An seinem Boden zwischen den drei Füßen pendelte die Klappe, die Tür dieses Hauses. Ia-du-lin ging ein Stück zurück und überlegte, was zu tun sei. Da senkte sich der Ringflügler wieder herab und stellte sich auf den Platz, langsam und ruhig den Wind fächelnd. Erfreut ging Ia-du-lin wieder auf ihn zu, und wieder erhob sich das runde Haus, heftig mit seinen Flügeln kreisend. Es stellte sich erst auf den Boden, als Ia-du-lin sich erneut entfernte.

Da kam ihm ein Gedanke. Er zog den gelben Umhang aus dem Brustausschnitt seines Kittels, warf ihn sich über und ging abermals auf das Haus der Himmelssöhne zu. Diesmal blieb es am Boden.

Ia-du-lin fand den Stein neben dem Schalenstuhl. Schnell eilte er mit ihm davon.

Am gewaltigen Ziegelwürfel der Ziggurat mit dem siebenstufigen Turm stockte sein Schritt. Dort stand eine wohlgeordnete Gruppe. Das konnten nur der Hohepriester mit den Oberpriestern sein. Ia-du-lin näherte sich der Gruppe, wie es das Zeremoniell vorschrieb. Sich tief verneigend, flüsterte er: „Hoher Gebieter! Die Söhne der I-na-nua sind in unsere Stadt gekommen. Sie haben sich mir auf dem Weg durch das Gebirge und das Dürrland gezeigt und sich Sil und Azul genannt. Sie sind im Tempel Nan-nars und harren Eurer. Ich eile zu En-mer-kar, es ihm zu berichten.“

Eine Hand schob sich aus dem Umhang des Hohenpriesters und gebot zu bleiben. „Was tragt ihr da in eurem Arm, Tamkare?“ fragte der Herr der Tempel leise, der Ia-du-lin erkannt hatte.

Wieder verneigte sich Ia-du-lin. „Es ist ein heiliger Stein, hoher Gebieter! Sil, der Himmelssohn, trug mir auf, ihn stets bei mir zu führen.“

„Bedroht jenes Unwesen mit den kurzen, kreisenden Armen unsere Heiligtümer?“ fragte der Hohepriester.

„Das ist das fliegende Haus der Himmelssöhne, mit dem sie von den Sternen herabkommen“, raunte der Tamkare. „Es schadet niemandem, aber man darf sich ihm nicht nähern, es sei denn auf Geheiß der Himmelssöhne.“ Der Hohepriester gab sich zufrieden und entließ den Tamkare mit einem kaum merklichen Wink. Ia-du-lin glitt aus dem Schatten in das helle Mondlicht hinaus. Eilends verließ er den Tempelbezirk. Er sah noch, wie sich der geordnete Zug der Oberpriester zögernd in Bewegung setzte und dem Tempel des Mondgottes zustrebte.

In den schmalen Gassen zwischen den Lehmhäusern war es still. Nur Ia-du-lins hastige Tritte hallten wider und weckten wohl jene Schläfer, die in diesen unruhigen Tagen der Belagerung bei jedem Schritt einen Unglücksboten wähnten.

Als er in die Nähe des Herrscherpalastes kam, verstellten Soldaten ihm den Weg. Ia-du-lin wurde dem Wachoffizier vorgeführt.

„Nin-Gal schickt Nan-nar einen Federpfeil“, gab Ia-du-lin leise die Parole. Schweigend führte der Offizier den fürstlichen Boten an die Palastmauer und übergab ihn der Torwache.

Ein Sklave erschien und führte ihn durch Gänge, Zimmer und Hallen, über Höfe und Treppen.

Dann stand Ia-du-lin dem Herrscher E-rechs gegenüber. Die Ratgeber und der Nubanda waren bei ihm. En-mer-kar hielt mitten in der Nacht eine Beratung ab. Es mußte schlimm um E- rech stehen. Der Herrscher hatte jetzt keinen Sinn für den Auftrag zur Ausschmückung des Tempels der I-na-nua. Andere Sorgen bedrückten ihn. Achtlos legte er die Tontafel mit der Botschaft A-rats zur Seite. Allein die Tatsache, daß der Tamkare trotz der Belagerung in die Stadt gelangt war, gab ihm zu denken.

„Du bist pünktlich zur Zeit des vollen Mondes zurück von deiner Mission, trotz des weiten Weges und trotz der Soldaten und der Wachfeuer vor den Mauern unserer Stadt. Berichte uns, was du gesehen hast und welche Lücke der Feind dir ließ“, forderte En-mer-kar seinen Boten auf.

„Großer Herrscher des Zweistromlandes!“ begann Ia-du-lin. „Der Gal-Uku-Patesi aus Ur wird morgen mit seinem Heer abziehen, wenn du, hoher Gebieter, heute nacht noch in den Tempel Nan-nars gehst. Dort erwarten dich die Söhne der I-na- nua, die dir ihre Gunst bezeigen, weil du der Göttin einen Tempel erbaust. Ihre Söhne Sil und Azul haben mich als ihren heiligen Priester auserkoren und mir zum Zeichen meiner Würde und als Beweis für die Richtigkeit meiner Botschaft an dich diesen heiligen Stein und diesen heiligen Mantel geschenkt. Als ich heute nacht im Boot nahe der Stadt anlangte und ein Nan-nar-Priester mich vor den Soldaten aus Ur warnte, erschienen die Himmelssöhne mit ihrem fliegenden Haus und brachten mich durch die Lüfte ungesehen in die Stadt. Jetzt weilen sie im Tempel des Mondgottes.“

Ein Beamter trat ein und flüsterte dem Herrscher etwas zu.

„Du hast wahr gesprochen, Ia-du-lin, großer Bote“, sagte der Herrscher danach. „Laßt uns die Götter befragen und sie um ihren Rat bitten.“

Sil und Azul betrachteten den großen Tempelsaal, den drei Reihen massiger Säulen zerteilten. Wie anders war das auf Heloid, wo auch nicht die dünnste Säule zu sehen war und sich dennoch bedeutend größere Hallenbögen wölbten. An den Wänden bemerkten sie neben Tier- und Mondbildern zahlreiche Darstellungen von Menschen, die in die steinernen Wände eingearbeitet waren.

„Was mag das für ein übergroßer Mann sein?“ fragte Sil seinen Gefährten. „In fast jedem Bild ist er dargestellt.“

„Seine Größe ist nur symbolisch und deutet die Macht an, die er besitzt und mit der er über die Menschen herrscht“, erklärte Azul, der sich schon an Bord der „Kua“ bei der Entzifferung der Tontäfelchen auftragsgemäß für alles interessiert hatte, was Auskunft über den Götterkult der Planetenbewohner gab. Sil und Azul gingen im Tempelsaal umher. „Auf diesem Bild bringen sie ihm das Ergebnis ihrer Arbeit, Pflichtabgaben oder Opfergaben für die Götter, Früchte der Felder oder der Gärten und Tiere.“

Auf einem anderen Bild ging ein großer Mensch kleinen voran. Er trug auf seinem Kopf einen mächtigen Korb. Azul mühte sich, die Schriftzeichen darunter zu entziffern. „Hier wird von einem Herrscher berichtet, der einen Bewässerungskanal bauen ließ“, sagte er dann. „Er trägt allen voran die ersten Ziegelsteine, mit denen das Kanalbett befestigt werden soll.“

Azul vermochte nicht alle Bilder zu erklären, auf die der helle Schein ihrer Handlampe traf. Manches erschien gar zu rätselhaft dargestellt. Häufig waren auf den Steinbildern Menschen zu erkennen, die, an den Händen mit einem Strick gefesselt oder mit einem Seil um den Hals, wie die Esel und andere Tiere im Zug mitgeführt wurden.

Einer der beiden Priester war fortgegangen und kam jetzt mit Stäben wieder, von denen offene gelbe Flammen züngelten. Er stellte sie zwischen den Säulenreihen auf.

„Wäre Sinio hier, würde er sagen: ›Merkwürdig, sie bevorzugen gelbes Licht.‹ Übrigens, mir fällt auf, daß uns die Menschenwesen nie direkt ansehen, sondern ihre Augen stets nur unseren Umrissen folgen. Auch wenn sie ihnen bekannte Gegenstände erblicken, umgleiten ihre Blicke sie so. Ihre Sehorgane sind also noch nicht soweit entwickelt wie die unseren.“

Azul unterbrach Sil und deutete auf ein Bild an der Wand, das nur eine Gestalt zeigte. Es war eine Frau, aus deren Leib Zweige mit Blättern herauswuchsen.

Lächelnd sagte Azul: „Das soll unsere Mutter sein. Das ist die Göttin I-na-nua. Die Zweige und Blätter an ihr bedeuten, daß sie für die Natur, für das Leben und für die Geburt zuständig ist.“

„Dann haben wir eigentlich eine sehr wichtige Mutter, nicht wahr? Mir gefällt aber nicht, daß Ia-du-lin uns als Söhne der Göttin I-na-nua bezeichnet. Er macht uns damit zu Göttern“, sagte Sil unwillig.

Geräusche aus der Tiefe des Tempels ließen Sil und Azul aufhorchen. Leises Scharren und Raunen zog heran. Ein Luftzug durchwehte die düstere Halle und ließ die Flammen der Fackeln flackern. Starker gelber Lichtschein kam aus einem der Gänge, die in diesen Saal mündeten, und verschärfte die Schatten, die die Säulen warfen.

Die beiden Tempeldiener wurden unruhig. Sie gewannen ihre Sicherheit zurück und verloren zusehends ihr ängstliches Aussehen.

„Der Hohepriester!“ rief der eine dem anderen Tempeldiener zu.

Azul glitt schnell neben die zyklopische Statue des Mondgottes Nan-nar, weil von dort der Überblick besser war.

Sil blieb zwischen den Säulenreihen stehen und wartete voller Spannung. Plötzlich stürzten die beiden Tempelwächter aus ihren Nischen hervor, packten Sil und drängten ihn auf die andere, noch freie Seite der Statue. Sil war viel zu überrascht, als daß er widerstrebte. Er ließ sich wie eine Figur verrücken, die aus Versehen verstellt worden war und nun schleunigst auf den ihr gebührenden Platz geschoben wurde. Woher hatten die beiden Priester plötzlich den Mut genommen, ihn zu berühren und ihm ihren Willen aufzuzwingen?

„Wenn sie mich noch einmal berühren, neutralisiere ich die Antigravitationsplatte meines Skaphanders unter meinen Füßen“, sagte Sil zu Azul über den Sprechfunk. „Dann schwebe ich nicht mehr dicht über dem Boden, sondern stehe unverrückbar fest.“

Die ersten Gestalten, Fackelträger, traten aus dem Gang heraus. Sie wichen nach rechts und links aus und stellten sich dicht an die Mauer, die Fackel weit vor sich her haltend.

Wenige Schritte danach erschien mit gemessenen Bewegungen ein einzelner Priester, von dessen Schultern ein dunkles, sehr weites Gewand herabfiel, das selbst die Füße verhüllte und nur den Kopf frei ließ. Er war sparsam geschmückt. Mehrere ähnlich gekleidete Gestalten folgten ihm.

Die Gruppe der Oberpriester mit dem Hohenpriester an der Spitze schritt bis zur Mitte der Säulenhalle und verharrte dann, prüfend die Himmelssöhne musternd. Sie warteten auf eine Bewegung, auf ein Zeichen der fremden, noch nie gesehenen Götter.

Hinter den Oberpriestern kam ein langer Zug von Menschen herein. Sie waren wie der Hohepriester gekleidet, aber schmucklos. Am Ende der Halle drängten sie sich zusammen und reckten die Köpfe.

Der Hohepriester überlegte: In der höchsten Wissenschaft ihres Glaubens, in dem „Geheimnis der Vision“, hieß es seit einiger Zeit, I-na-nua wurde mit A-nu, dem obersten aller Götter, vermählt. Vielleicht war nun diese Zeit gekommen, und die Göttin schickte als Beweis ihre Söhne, um es zu verkünden. Vielleicht aber sollten diese beiden jungen Götter auch die Ämter ihrer Mutter übernehmen, damit sie sich ganz A-nu widmen und ihm zur Seite stehen konnte, wenn er die Götterwelt regierte. Ganz sicher aber schien ihm, daß die Götter gekommen waren, um der Stadt, die I-na-nua einen Tempel erbaute, Beistand zu geben gegen die Belagerer.

Einer der beiden Tempelwächter dachte? Der Hohepriester hat die Zeremonien, die sonst in mondhellen Nächten wie heute stattfinden, wegen der Belagerung abgesagt. Wenn er geahnt hätte, daß zwei Götter kommen, wäre wohl mindestens ein Opferfest vorbereitet worden. Mir scheint, wir werden in dieser Nacht doch noch Tempelmusik hören und feiern.

Azul fühlte, daß etwas geschehen mußte und daß sie hier nicht regungslos stehenbleiben durften. Die Menschenwesen erwarten irgendeine Geste, dachte er, ergriff eine Fackel und stieg von seinem erhöhten Platz herab. Er benötigte diese fahle gelbe Flamme nicht, um zu leuchten, denn für seine Augen war es hier im großen Tempelsaal trotz der Nacht hell genug, aber die Fackel wirkte auf ihn merkwürdig feierlich und schien zwischen ihm und den Priestern eine Brücke zu schlagen. Azul schritt auf die Gruppe der Ältesten-Priester in der Mitte des Säulensaales zu. Sie knieten nieder, als er sich ihnen näherte, und gleich ihnen sanken auch alle anderen im Saal ehrfurchtsvoll zu Boden.

„Nimm die Fackel“, forderte er sanft, „und zeigt mir euer Haus.“

Der Hohepriester ergriff freudig die geweihte Fackel.

Da erschien plötzlich wieder Ia-du-lin. Sein eigentümlicher gelber Umhang und der wundersame Stein in seiner Hand fielen allgemein auf. Der Hohepriester gab ein Zeichen.

Tempeldiener führten Ia-du-lin, der dem Herrscher vorausgeeilt war, zur Statue des Mondgottes Nan-nar und gesellten ihn zu Sil und Azul.

Der Hohepriester gab erneut ein Zeichen. Ein Zug begann sich zu formieren, der sich dann feierlich an der Statue Nan- nars, an Sil, Azul und Ia-du-lin vorbeibewegte. Irgendwo im Hintergrund klangen dumpfe, schlagende Töne, vermischt mit anderen Geräuschen; eine rituale Tempelmusik.

Ia-du-lin registrierte voller Freude und mit wachsendem, stillem Jubel, daß hier der Zauber des geheimnisvollen Steines zu wirken begann und ihm unerwartet schnell hohe Ehre zuteil wurde. Gespannt verfolgte er den Gang der Dinge, wobei er immer wieder bestätigt fand, daß sich das Glück ihm voll und ganz zuwandte.

Der Prozessionszug war vorbei. Zwei kurzbekleidete Gestalten brachten eine große Schale mit Öl und stellten sie vor Azul zu Boden. Dann tauchten sie eine Fackel hinein, und sofort lohten und züngelten gelbe Flammen mit roten Spitzen dicht vor ihm hoch. Der lange Zug der Priester hatte diesmal nur wenige Schritt entfernt Aufstellung genommen. Sie begannen im Rhythmus der Tempelmusik kaum merklich ihre Körper zu bewegen. Azul verblüffte es, daß diese Bewegungen stark ihrem Gang ähnelten, wenn sie den Raumanzug anhatten: ein wenig schwankend und wiegend. Das dauerte so lange an, bis die Schale leergebrannt war und der Zug sich erneut in Bewegung setzte. An der Spitze gingen Azul, Sil, Ia-du-lin, der Hohepriester und die Oberpriester. Zu den Fackelträgern, die vorausschritten, gesellten sich noch Tempeldiener mit Stäbchen, von denen weißlicher Dunst aufstieg.

Der Zug verließ den großen Saal und bewegte sich durch Gänge. In kurzen Abständen knieten zu beiden Seiten vornübergeneigt murmelnde Priester.

„En-mer-kar wartet draußen auf dem Tempelplatz. Er möchte euch kennenlernen und mit euch sprechen“, flüsterte Ia-du-lin Sil und Azul zu. „Nach dem Umzug wird er in den Tempel kommen.“

Azul wies auf die knienden und murmelnden Priester rechts und links des Ganges. „Was tun sie?“

„Sie beten.“ Und als er merkte, daß Azul das nicht so recht verstand, erläuterte er noch: „Sie loben und preisen euch Himmelssöhne, danken den Göttern, daß ihr gekommen seid.“

Der Hohepriester verhielt jedesmal seinen Schritt ein wenig vor den Betern, so daß auch Sil und Azul kurz verweilen mußten. Der Gang mündete in einen kleineren Raum. Hier stand ebenfalls die Statue des alten Mannes mit der Mondsichel. Doch weniger Bildnisse schmückten die Wände, und in der Mitte lag ein Ziegelwürfel, von tiefen Kerben überzogen. Unwillkürlich blieb Sil vor diesem: Würfel stehen.

Wozu mochte er dienen? Das Murmeln der Beter, die überall anzutreffen waren, erstarb, und auch die hackende Tempelmusik verstummte.

„Willst du, Himmelssohn Sil, Opfer?“ fragte Ia-du-lin leise.

Noch stärker als er deuteten die Priester das Verweilen des Gottes vor dem Opfertisch. ES schien ihnen ein Zeichen besonderer Weihe und des Wohlwollens des neuen Gottes zu sein.

Schnell ging Sil weiter. Also ein Opfertisch war das, auf dem Tiere, wie die Tontafeln berichteten, geschlachtet wurden, um damit eine besondere Bitte der Menschen, etwa nach Regen und nach reicher Ernte, zu bestärken. Er spürte Widerwillen.

„Nein, keine Opfer“, antwortete er hastig.

Als die Gruppe der führenden Priester mit Azul, Sil und Ia- du-lin wieder auf den Gang hinaustrat, stand ein hellhaariger Esel bereit, der vor Azul einhergeführt wurde. Ia-du-lin verzog sein Gesicht, erklärte dann aber, um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen: „Das ist ein heiliger Esel. Er gehört dem Hohenpriester.“

Azul verstand zwar nicht, warum der Esel heilig war und warum das Tier nachts im Haus herumlaufen mußte, aber er begriff, daß es eine besondere Ehrung für ihn sein sollte.

Der Prozessionszug bewegte sich weiter durch andere Räume. Die Tempelmusik hatte wieder eingesetzt. Ein neuer Raum tat sich auf. Er war mit Matten ausgelegt. Auf ihnen knieten viele Priester und Tempeldiener. Es wird ein besonderes Zimmer für die Beter sein, dachte Azul. In einem anderen Raum sah er ganze Stapel von Tontafeln.

„Die Tempelschule“, flüsterte ihm Ia-du-lin zu. „Hier werden die einfachen Weisheiten gelehrt: Schreiben, Rechnen, Sternbeobachtung und Sterndeutung. In dieser Tempelschule habe ich auch einmal gelernt.“

Dann öffnete sich ihnen wieder die große Säulenhalle.

Kurze Zeit nur verging, als erneut gelber Fackelschein aus einem Gang hervorflackerte. Fünf Gestalten kamen aus ihm heraus und betraten den großen Säulensaal. Voran schritt ein langer und schwerer Mann mit breitem Gesicht, dichten, bis auf die Schulter reichenden Haaren und eckigem Bart. Unter dem engen, groben Lederüberwurf sahen kräftige, muskulöse Beine hervor. Das war En-mer-kar. Ihm folgten der Nubanda und andere Ratgeber und Beamte. Durch die Reihen der Priester lief beim Erscheinen des Herrschers Bewegung.

En-mer-kar hielt Abstand von den beiden fremden Göttern. Er verneigte sich leicht. Die anderen vier Würdenträger aber knieten nieder.

Sil fühlte, daß ein großer Augenblick bevorstand, und ihm drängte sich die Frage auf: Was sind eigentlich Priester? Dieses Wort war oft in den Ideogrammen aufgetaucht, aber verstanden hatte er es bis jetzt noch nicht. Es schienen ihm Menschen zu sein, die sich die Aufgabe gestellt, hatten, große Bauwerke zu behüten und zu pflegen. Ihnen oblag wohl auch, kulturelle Werte zu schaffen und wichtige Ereignisse sowie das Abbild des Menschen in Stein zu formen. Nicht anders als so vermochte Sil diese große Statue zu verstehen, zu deren Seite sie standen und die die Menschen einen Gott nannten. Es war eindeutig als eine Menschenfigur zu erkennen, als die Gestalt eines alten, weisen, ehrwürdigen, etwas hageren Menschen, der eine Mondsichel in der Hand hielt und der vielleicht ein bedeutender, aber schon verstorbener Astronom war. Sil wußte von den Tontäfelchen, daß die Priester sich auch dieser Wissenschaft widmeten. Sicher versammelten sie sich jetzt hier, um sie, Gäste aus dem All, trotz der nächtlichen Stunde feierlich zu empfangen. Ich muß zu ihnen sprechen, dachte er.

Sie warten darauf. Schnell verständigte er sich mit Azul darüber.

„Menschenwesen!“ begann er. „Wir, Azul und ich, Sil, sind Bewohner eines fernen Sternes. Auf unserer Wanderung von Stern zu Stern gelangten wir auch zu eurer Welt und stiegen zu euch herab. Wir wollen euch, euer Leben und eure Gewohnheiten kennenlernen, damit wir unseren Gefährten von euch berichten können. Ich bewundere eure großen Häuser und besonders dieses hier, in denen ihr die Wissenschaften pflegt und in denen ihr große Statuen schafft. Ia-du-lin, der uns hierhergeführt hat, hat uns jetzt auch mit En-mer-kar, eurem obersten Beschließenden, bekannt gemacht. Wir sind erfreut, daß ihr so zahlreich erschienen seid, um uns zu begrüßen.

Fürchtet euch nicht vor uns, auch wenn wir eine Gestalt haben, die euch erschreckt. In Wirklichkeit sehen wir euch ähnlich.

Was ihr seht, ist nur unsere äußere Hülle, die wir aber nicht verlassen dürfen, weil wir sonst sterben müßten. Wir bitten, bei euch verweilen zu dürfen.“

Armer Sil. Er ahnte nicht, wie so ganz anders seine Worte von den Priestern aufgenommen wurden. Er, der ehrlich bemüht war, den Götternimbus, der sich immer dichter um sie wob, zu beseitigen und den Menschen in einfachsten Worten ihre Herkunft zu erklären, war von Anfang an dazu verurteilt, gegen den eingefleischten Götterglauben zu verlieren.

Die Priester verstanden die Rede Sils so: „Menschen! Wir, die Söhne des Himmels, Azul und Sil, die wir bei den Sternen und bei den Göttern wohnen und die wir jede Nacht von Stern zu Stern wandern, sind zu euch herabgestiegen, um euer Leben und eure Taten zu prüfen und um davon unseren Gefährten, den Göttern, zu berichten. Ihr sollt neue große Häuser, neue Tempel bauen, so groß wie diese hier, und ihr sollt die Wissenschaft der Vision pflegen und neue große Götterbilder schaffen. Ia-du-lin wird so bekannt werden wie euer Herrscher En-mer-kar. Wir sind erfreut, daß ihr uns so zahlreich ehrt. Wir werden jedoch eine andere, noch viel schlimmere Gestalt annehmen und euch erschrecken, wenn ihr uns nicht fürchtet.

Unsere Seelen, die der euren ähnlich sind, weilen in diesen Hüllen, die sie aber nicht verlassen dürfen, weil ihr sonst sterben müßtet bei ihrem Anblick. Wir bleiben bei euch und verweilen noch.“

Die Reihen der Priester hinten im Saal begannen zu wogen, und ihre murmelnden Stimmen durchzogen die Halle. Die Götter hatten verkündet, daß Ia-du-lin bald berühmt werden würde. Sollte En-mer-kars Macht zu Ende gehen?

Der Lärm verebbte, denn der Hohepriester hatte ein Zeichen gegeben. Jetzt würde er sprechen.

„Söhne des Himmels und der Sterne! In tiefer Demut und in hoher Ehrfurcht werden wir uns stets dieser Nacht erinnern, da ihr uns erschienen seid und ihr euch uns gezeigt habt. Wir haben eure weise Botschaft vernommen und sind euch, Gott Azul und Gott Sil, dankbar, daß ihr so deutlich zu uns gesprochen habt mit eurer gewaltigen Stimme. In welcher furchterregenden Gestalt ihr auch erscheinen möget, wir werden immer eure gehorsamen Diener und die der anderen Götter sein und euch jeden Wunsch erfüllen. Möge euch dieses große Haus gefallen, und möget ihr recht lange bei uns wohnen bleiben.“

Sil schaltete den Myonendolmetscher ab und setzte sich mit Azul über den Sprechfunk ihres Skaphanders in Verbindung. „Hast du gehört? Man hat uns eingeladen, recht lange bei ihnen zu wohnen. Unsere Raumanzüge scheinen ihnen also längst nicht ein so schrecklicher Anblick zu sein, wie wir immer glaubten. Jetzt werden wir das Leben der Bewohner des dritten Planeten richtig studieren können. Wie gut ist es, daß unsere Myonendolmetscher ihre Sprache sprechen und wir sie verstehen.“ Sil freute sich über den Erfolg. Ihm mißfiel nur, daß die Menschenwesen Götter in ihnen sahen und nicht verstanden, was Sternenwanderer waren.

Sil überlegte, wie er noch eindeutiger ausdrücken könnte, daß sie Raumfahrer waren. Doch Ia-du-lin kam ihm zuvor.

„Das, o göttlicher Himmelssohn Sil und göttlicher Himmelssohn Azul, ist unser großer Herrscher und Gebieter über die Stadt E-rech und über alle Städte des Zweistromlandes, En-mer-kar. Er ist gekommen, um die Söhne der Göttin I-na-nua zu begrüßen und sie zu lobpreisen.“

„Geachteter En-mer-kar“, sagte Sil. „Wir sind zwar Söhne des Himmels, aber Ia-du-lin irrt, wenn er uns als Söhne der Göttin I-na-nua bezeichnet. Wir sind Wanderer zwischen den Sternen.“

„Es ehrt die Himmelssöhne sehr, wenn sie so bescheiden sind“, unterbrach Ia-du-lin ihn sofort.

En-mer-kar kam es so unwahrscheinlich traumhaft vor, daß ausgerechnet in diesen Tagen, da seine Macht und seine Herrschaft angefochten wurden, lebende Götter erschienen. Ia- du-lin erwies sich zudem als treuer Tamkare, nahm die hohe Ehrung, die ihm hier im Tempel widerfuhr, bescheiden hin und lenkte die Aufmerksamkeit der Himmelssöhne auf ihn, den Herrscher. Das alles konnte nur ein gutes Omen für ihn sein. Er hatte nie gedacht, daß der Bau eines neuen Tempels für I-na- nua derartige Gunstbezeigungen der Göttin hervorrufen würde.

Der Hohepriester schien außerordentlich vorausschauend gewesen zu sein, als er damals den Stand der Sterne prüfte, die Wissenschaft der Vision zu Rate zog, die Götter befragte und ihm dann empfahl, einen neuen Tempel zu bauen. Warum bloß hatten die Götter diese eigenartigen, kegelstümpfigen Gestalten ohne Gesicht und ohne Glieder angenommen. Doch sie standen da und waren wirklich vorhanden. Niemand vermochte das zu bezweifeln oder zu bestreiten. Es galt, die Zeit zu nützen, sie zu befragen, bevor sie wieder unsichtbar wurden.

„Weise und gütige Himmelssöhne, die ihr bei den Sternen lebt. Den Bewohnern unserer Stadt ist eine große Ehre durch euren Besuch widerfahren. Keine andere Stadt weit und breit kann sich rühmen, je einen lebenden Gott in den Mauern ihrer Tempel gehabt zu haben. Ihr trefft zu einer Zeit ein, da Hungersnot die Männer, Frauen und Kinder bedroht. Fremde Krieger einer benachbarten Stadt, die uns unseren durch Fleiß erworbenen Reichtum neiden und die scheel auf die Kraft unserer Krieger sehen, belagern unsere Häuser, Tempel und Paläste. Sie wollen die Stadtmauern einrennen, in die Stadt eindringen, morden, brennen und plündern. I-na-nua, die Göttin allen Lebens, schickt euch zur rechten Zeit. Flößt unseren Kriegern, die bereit sind, zu kämpfen und die Feinde zu töten, Mut und Vertrauen auf unseren Sieg ein und gebt ihnen Kraft und Geschicklichkeit, damit sie ihre Waffen richtig führen.“ Jetzt erst kniete En-mer-kar nieder, Sil und Azul um Beistand bittend.

Sil war empört. Zornbebend schaltete er den Myonendolmetscher ab und stellte eine Verbindung zur „Kua“ her. Schnell berichtete er Gohati und den anderen Raumgefährten, wo er sich augenblicklich befand und welcher Aufgabe er sich gegenübersah. „Dieser En-mer-kar ist ja ein gefährliches Menschenwesen“, rief er. „Erwartet von uns, daß wir ihm beim Töten helfen. Vielleicht sollen wir auch noch mit unseren Strahlenwerfern die andere Stadt vernichten.“

„Ob wir es wollen oder nicht, En-mer-kar und sein Gegner werden ihre Krieger gegeneinander kämpfen lassen. Sieger wird sein, wer die größere und besser ausgerüstete Streitmacht hat“, hörte Sil Gohati im Helmhörer sagen.

„Ich werde dafür sorgen, daß sie es nicht tun!“

„Wie?“

„Ich werde meinen göttlichen Einfluß geltend machen“, entschloß sich Sil.

„Du?“ warf Azul neben ihm staunend ein.

„Ich sehe keine andere Möglichkeit.“

„Gerade du hast doch alles getan, um nicht als Gottheit angesehen zu werden.“

„Die Menschenwesen zwingen mich dazu“, sagte Sil.

„Du verhinderst vielleicht dieses eine Mal das Morden“, sagte nun wieder Gohati von der „Kua“ aus. „Sie werden weitertöten, so wie es die Heloiden in ihrer Vorzeit taten, sobald wir diesen Planeten verlassen!“

„Wir sollten hierbleiben und nicht weiterfliegen“, sagte Sil.

„Unmöglich! Was nützt das? Außerdem müssen wir weiterfliegen“, mahnte Gohati zur Vernunft.

„Wir könnten ihnen helfen, schneller mehr Wissen und schneller hohes, reines Denken zu erwerben.“

„Wir können ihnen nicht helfen. Sie müssen sich selbst vor dem Töten bewahren“, sagte nun auch Tivia vom Meer der toten Wasser her.

„Sie werden nicht die Kraft dazu haben und untergehen! Die schwerste Klippe steht ihnen doch noch auf der Stufe ihrer Entwicklung bevor, auf der sie lernen, die Atomkräfte zu beherrschen! Wenn dann der Ungeist nicht vertrieben und die Macht der Priester und einzelner Herrscher nicht gebrochen ist, stirbt dieser Planet.“

„Sobald wir bei den Welten des äußeren Spiralarmes eintreffen, haben sie diese Stufe, haben sie den Ungeist überwunden“, sagte Gohati zuversichtlich.

„Aber jetzt!“ rief Sil.

„Ja, gut, versuche es“, stimmte Gohati zu. „Dieses eine Mal können wir ihnen helfen. Niemand auf Heloid wird uns verurteilen, wenn wir in diesem Fall als Götter auftreten. Nur liegt es nicht in unserer Kraft, ihnen ihren Weg in die Zukunft zu ebnen, auch wenn wir bis zu unserem Tode hier bleiben.“

En-mer-kar wartete mit Ungeduld auf die Worte der Himmelssöhne. Für ihn würde mit dieser Antwort viel entschieden werden.

Nun wird sich zeigen, ob En-mer-kar noch kurze Zeit die Gunst der Götter behält oder ob Ia-du-lin seinen Platz als neuer Herrscher antritt, dachte der Hohepriester.

Warum zögern sie so lange, überlegte Ia-du-lin. Es beunruhigte ihn. Ihm war, als hörte er ihre eigenartig singende Sprache. Aber sie standen nur nebeneinander und bewegten sich kaum.

„Geachteter En-mer-kar!“ begann Sil, nachdem er das Übersetzungsgerät wieder eingeschaltet hatte. „Wir haben eben noch einmal Zwiesprache mit den Göttern gehalten. So höre denn ihren Ratschluß, den sie dir durch uns mitteilen: Die Krieger der Stadt E-rech sollen alle ihre Waffen auf einen Haufen legen. Du, ihr Herrscher, sollst diesen Männern Arbeitsgerät geben, damit sie in den Werkstätten und auf den Feldern durch Arbeit Wohlstand bringen. Gleiches werden wir Himmelssöhne auch von den Soldaten, die vor den Toren der Stadt bei den Wachfeuern stehen, verlangen. Führe uns, sobald die Sonne aufgeht, vor die Stadt zum Befehlenden der fremden Soldaten. Handelt eines der Heere dem Willen der Götter zuwider oder mißachten Soldaten ihren Ratschluß und die Forderungen der Himmelssöhne, so wird am Mittag ein Feuervogel am Himmel erscheinen und die Menschenwesen mit Schrecken peinigen.“

Ich bin gerettet. Ich behalte die Macht. Der Gal-Uku-Patesi ist besiegt, dachte En-mer-kar zufrieden.

Das ist das Ende En-mer-kars, überlegte der Hohepriester.

Die Götter nehmen ihm die Soldaten, und er wird machtlos. Ia- du-lin wird an seine Stelle treten. Er trägt schon seinen Herrschermantel.

Ia-du-lin war unzufrieden. Mit dem Rat der Himmelssöhne war seinen Plänen schlecht gedient. Sie sollten doch mit ihrem unsichtbaren Feuer die Soldaten aus Ur versengen. Jetzt aber behielt der Gal-Uku-Patesi all seine Soldaten. Wenn die Himmelssöhne weg sind, wird er neuen Streit mit E-rech suchen, dachte er.

Ia-du-lin hat recht behalten, stellte der Nubanda bei sich fest.

Er hatte vorhin im Palast vorausgesagt, der Gal-Uku-Patesi aus Ur werde morgen mit seinem Heer abziehen, wenn En-mer-kar noch heute nacht in den Tempel Nan-nars gehe.

In En-mer-kar sprang ein Gedanke auf, noch unklar, aber erfolgverheißend.

„Weise und gütige, allwissende Himmelssöhne, die ihr bei den Sternen wohnt!“ hörte er sich da schon sprechen. „Der unerforschliche Ratschluß der Götter ist Gesetz. Meine Soldaten werden von den Mauern der Stadt steigen und ihre Waffen im Hofe meines Palastes zu Bergen türmen, sobald ich von meinem Weg vor die Tore der Stadt zurückgekehrt bin.

Der Feuervogel der Götter wird nicht zu erscheinen brauchen.

Doch gewährt mir eine Bitte: Erlaubt mir, daß ich die hohe und weise Botschaft der Götter dem Heerführer der Soldaten aus Ur selbst überbringe, falls ihr, Söhne des Himmels, mir das Vertrauen dazu und auch das Geleit dorthin gebt.“

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