Die Schatten der Heloiden

Die große Steuer- und Befehlszentrale im Zentrum des kreiselförmigen Raumschiffes lag im Dunkeln.

Nur die Streifen breiter Lichtbänder sandten einen matten, vielfarbigen Schein aus. Leuchtzeichen blinkten, Registrierkurven zuckten; Signale zahlreicher Meß- und Regelautomaten.

Kein Geräusch durchdrang die Stille. Nichts in diesem Reich lautlos arbeitender Steuerautomaten deutete auf Lebewesen hin.

Zeitweilig verstärkte sich das Blinken der Leuchtzeichen. Die Leuchtbänder dehnten sich, flossen zusammen und bildeten eine große, helle Fläche. Eine irrlichternde Kette lief im Zickzack über das ovale Rund der Wand.

Warnzeichen der Kyberneten!

Die flinke Lichterkette erstarb ebenso überraschend, wie sie unversehens begonnen hatte. Die Leuchtbänder mit den fremdartigen Zeichen trennten sich wieder. Die Symbole auf ihnen verblaßten. Blitzschnell hatten die Steuerautomaten die Gefahr gebannt.

Jedesmal, wenn das Kreiselschiff eine Zone intensiver kosmischer Strahlung durchstieß, glomm in der Kuppel über dem Raum warnend ein magischer violetter Schein auf. Der Rhythmus der Registrierkurven und der Lichtsymbole auf den Kontrollbändern wurde dann stets rascher oder auch beängstigend fiebrig.

Aber schon kurze Zeit später pulsierten sie wieder in gleichmäßigem Wechsel, Ruhe und Sicherheit ausströmend.

Unvermutet schwangen Laute durch das dämmrige Dunkel, eine Folge hoher Töne. Jemand fragte: „Sil, kannst du deine Kontrollbeobachtungen unterbrechen und mir zuhören?“

Plötzlich war ein langer Schatten da. Er schob sich quer durch die Zentrale.

Wo er verharrte, ballte sich bewegungslos ein zweiter Schatten. Eine neue Serie von Tönen klang auf. „Die Instrumente sagen nichts Beunruhigendes aus. Der Energieschirm vor unserem Raumschiff arbeitet einwandfrei und läßt keine kosmischen Teile durchdringen. Du hast meine volle Aufmerksamkeit, Azul.“

Der lange Schatten schrumpfte zusammen und verharrte ebenfalls bewegungslos. Kaum vernehmbar und nur schwer zu unterscheiden, folgten jetzt rasch und ununterbrochen hohe, sirrende Schallschwingungen, mit denen sich die beiden Wesen verständigten.

„Sil! Ich habe die Winkel zu den Sonnen gemessen und den Bahnbogen unseres Kurses überprüft. Das Ergebnis stimmt mit dem der automatischen Navigatoren überein. Wir stoßen in den Sektor nr. 16 — z 8198 pc vor. Die Mitte des Großen Abgrundes zwischen dem inneren und dem äußeren Arm unserer Sternspirale ist also fast erreicht. Wäre es nicht jetzt schon an der Zeit, eine erkaltete Raumkugel anzusteuern, zu landen und nach Urenergie für die Triebwerke zu suchen? Unsere Treibstoffe sind zwar für den Flug bis zu den Teloiden am Rande unserer Sternspirale ausreichend und erst zum Teil verbraucht. Wir sollten sie aber trotzdem ergänzen. Die Sicherheit für uns ist dann größer. Wer weiß, was uns auf dem Wege dorthin noch bevorsteht.“

Aus der Positionsangabe ging hervor, daß das Raumschiff auf seiner Fahrt von einem Planeten im Inneren der Galaxis zu einem Planeten an ihrem Rande ungefähr die Hälfte des vorgesehenen Weges zurückgelegt hatte und dabei bis weit in das Gebiet des Großen Abgrundes vorgestoßen war. Dieser sternenarmegroße Abgrund zwischen den beiden Hauptarmen der Milchstraße glich einer schwarzen Leere. Das bedachte Sil, bevor er sagte: „Es gibt hier wenige Sonnen und kaum erkaltete Raumkugeln.“

Eine kurze Pause entstand. Sils schattenhafter Gestalt war eine Bewegung anzumerken. Er schaltete ein Gerät ein, und sofort begann ein schmales, längliches Leuchtband zu schimmern. Lichtzeichen glitten flackernd darüber hinweg. Sil las sie. Dann sagte er: „Ich habe errechnet, daß die ›Kua‹ mit der bei uns vorhandenen Urenergie nicht nur die Sterne des äußeren Armes erreichen, sondern von dort durchaus auch noch ein Stück zurückkehren kann. Deshalb meine ich, sollten wir unseren schnellen Flug jetzt noch nicht unterbrechen, jetzt noch nicht.“

Azul fühlte, wie erstaunt Sil über seinen Vorschlag war, bald zu landen. Seine Furcht wuchs. Ich muß Sil überzeugen, dachte er, und er hörte sich sagen: „Je weiter wir in den Kosmos vordringen, um so mehr werden wir die Fluggeschwindigkeit herabsetzen und Umwege machen müssen, weil wir die Lage und Stärke der Gravitationsfelder, die geometrischen Eigenschaften des raumzeitlichen Kontinuums und die Verteilung der Materie in den unerforschten Randgebieten unserer Sternspirale nicht exakt kennen. Diese Vorsichtsmaßnahmen werden uns viel Energie kosten, besonders dann, wenn wir auf Grund unvorhergesehener Umstände die Lichtdruckschleuder, unser rationellstes Triebwerk, nicht mehr benutzen können und wir das altertümliche, die Urenergie verschwendende Atomtriebwerk einsetzen müssen. Die physikalischen Brennstoffe können also viel rascher zur Neige gehen als vorausberechnet. Der Kosmos kann uns jederzeit böse Überraschungen bereiten, für die wir gerüstet sein sollten. Die Vorräte müssen daher rechtzeitig…“

Azul verstummte jäh. Was rede ich da, fragte er sich. Sind das meine wirklichen Gründe?

Da war es wieder, das Grauen.

Plötzlich wußte er, was für eine Furcht in ihm hochstieg, was ihn in der letzten Zeit immer stärker bedrückte: die gefährliche Raumangst!

Je schneller sie flogen, um so mehr ballten sich die Lichtfünkchen der vielen Sterne vor ihnen in eigentümlicher Weise zusammen und nahmen merkwürdige Farben an. Hinter ihnen bot sich das gleiche Bild. Ringsum aber war es schwarz und leer. Kaum ein Stern war zu den Seiten hin sichtbar. Das waren Relativitätseffekte, Erscheinungen ihres fast lichtschnellen Fluges. Ihn fror. Rundherum Finsternis, Bodenlosigkeit, Unendlichkeit, Lautlosigkeit.

Azul unterdrückte ein Stöhnen. Warum hatte die Raumangst gerade ihn gepackt?

Durfte er den anderen seine Schwäche verheimlichen?

Durfte er die anderen damit belasten?

Ich muß mich gegen die Raumangst wehren, muß sie vertreiben} redete er sich ein.

Azul erschrak, als Sil sagte: „Ich habe Gohati aus seinem künstlichen Dauerschlaf geweckt. Wir werden mit ihm beraten, ob wir den Flug unterbrechen. Gohati wird bald erscheinen.“

Azuls Argumente waren der Besatzung nicht neu. Bereits vor dem Start der Expedition waren sie durchdacht und erwogen worden. Sil überlegte. Warum diese Mahnung zur Vorsicht?

Wogen bei Azul die Gründe jetzt schwerer als bisher? Schon zu landen war doch nicht notwendig, trotz aller Vorsicht. Es mußte da wohl noch etwas anderes sein, was er nicht zu erkennen vermochte. Was wird Gohati sagen, wenn er Azuls Vorschlag hört?

Während Sil noch grübelte, glitt ein dritter Schatten durch den zentralen Steuerraum. Er gesellte sich zu den beiden anderen und schrumpfte zu ihrer Größe zusammen. Es war Gohati, der Kommandant.

Die drei Schatten drängten aneinander und umwoben sich zur Begrüßung.

„Gruß unserer fernen Heimat“, sagte Gohati und erkundigte sich nach dem Befinden der beiden, die für alle wachten.

„Glück allem Leben“, erwiderten Sil und Azul. Ohne auf die Frage ihres Kommandanten einzugehen, bedeuteten sie ihm, daß sie seinen Rat brauchten.

Gohati studierte aufmerksam ringsum an den Wänden die Lichtsymbole der Steuerautomatik, die irrlichternden Signalketten und die pulsierenden Kurven auf den Bildschirmen. Er hatte zweiundfünfzig Rotationsperioden geschlafen. Deshalb mußte er sich erst einmal einen gründlichen Überblick verschaffen.

Die „Kua“ flog nahe der Geschwindigkeit des Lichtes, nur ein Zwanzigstel langsamer, stellte er fest. Die Instrumente zeigten auch, daß der Große Abgrund keine Meteoriten und keine kosmischen Staubpartikel hatte. Das Raumschiff konnte daher gefahrlos so schnell fliegen; der Antrieb arbeitete normal; die Geschwindigkeit stieg langsam weiter an. Der Druck dieser ständigen Beschleunigung entsprach einer heloidischen Gravitationseinheit. Er ließ die Raumfahrer ihr Körpergewicht nicht schwerer als auf ihrem Heimatplaneten empfinden.

Einzelne Tonfetzen schwirrten zirpend, von längeren Pausen unterbrochen, durch die Steuerzentrale.

„Wir altern also kaum“, stellte Gohati fest. Er war zufrieden mit der lichtnahen Geschwindigkeit. Die Zeitdilatation wirkte zu ihrem Vorteil.

„Ja“, sagte Azul sinnend, wie zu sich selbst. „Seitdem wir Heloid, unseren heimatlichen Planeten, verlassen haben, vergingen für uns erst sechs Sonnenumkreisungen. Daheim aber sind unzählige Lebensalter vorüber, und Heloid hat bereits viele, viele Male seine Sonne umkreist. Unsere ehemaligen Lebensgefährten, die zurückblieben, sind längst schon alle Vergangenheit. Von unserer Heimat trennt uns nicht nur die unwiederbringliche Zeit, sondern auch der Raum, der lange Weg, die…“

„Wir haben bisher über neuntausend Lichtzeiten zurückgelegt“, unterbrach ihn Sil ernst. Das Zirpen seiner Sprache hatte sich verlangsamt. „Wir sind die erste Expedition, die im Auftrag der Galaktischen Gemeinschaft solche Entfernungen bewältigt“, sagte er stolz.

Diese nüchterne Feststellung verfehlte nicht ihre Wirkung auf Azul. Seine aufkeimende Schwermut war vorerst gedämpft.

Gohati horchte auf. Was war mit den beiden? Er versuchte zu erfahren, was sie bewegte. Doch sie gingen nicht auf seine Frage ein.

Ohne Übergang berichtete Sil: „In der Periode, in der du schliefst, Gohati, gab es einige Vorfälle. So mußten wir beispielsweise manövrieren und den Flug stärker beschleunigen, um einem Kometen auszuweichen. Ein anderes Mal durchschlug ein Partikelchen kosmischen Staubes, ein Mikrometeorit, unseren Energieschirm und streifte das Raumschiff. Eine der kleinen Düsen am großen Radius des Kreiselschiffes fiel vorübergehend aus. Später erlosch das Myonenhirn der automatischen Steuerung und Navigation.

Azul übernahm solange die Steuerung, bis der Schaden behoben und das künstliche Gedächtnis mit allen notwendigen Angaben wieder aufgefüllt war.“

„Und warum habt ihr mich geweckt?“ drängte Gohati.

Azul unterbreitete dem Expeditionsleiter seinen Vorschlag zu landen.

An der Wand leuchtete eine Sternenkarte auf. Die dunklen Schatten der drei Lebewesen wuchsen empor, streckten sich und glitten zur Karte hinüber. Die Unterhaltung der Heloiden wurde lebhafter. Ein ununterbrochener Schwall ihrer Redetöne schwang zur Kuppel des Steuerraumes empor.

„Wo befinden wir uns zur Zeit?“ fragte Gohati.

Azul, erster Astronom und Navigator der Expedition, gab Auskunft: „Wir folgen gegenwärtig einer Linie, die ungefähr sechzehn Parallaxensekunden nördlich der galaktischen Ebene verläuft. Hier sind die Sterne seltener. Südlich der Ebene stehen die Systeme dichter beieinander. Zur Zeit befinden wir uns etwa gleich weit entfernt von dem weißen Stern Sirian, dem roten Tari und dem namenlosen gelben Stern, nämlich sechs Lichtzeiten. Wir sollten uns einer dieser drei Sonnen zuwenden, um in ihrer Nähe nach erkalteten Raumkugeln zu suchen.“

Gohati sann nach. Wie beiläufig sagte er: „Wir müßten den gelben Stern einordnen und ihm einen Namen geben.“

Sil war erstaunt. Er hatte erwartet, daß Gohati sich auf das Wichtigste, auf eine Entscheidung für oder gegen die Landung konzentrieren würde. Statt dessen verblüffte er ihn mit einer solchen Nichtigkeit. Warum wollte der Kommandant diesem unbekannten und unbedeutenden Stern einen Namen geben?

Aber so war Gohati. In Augenblicken großer Gefahr oder bei wichtigen Entscheidungen tat er oft scheinbar Unwichtiges oder sagte Belangloses. Später stellte es sich stets heraus, daß das Unwichtige und Belanglose richtig oder sogar von entscheidender Bedeutung gewesen war. Gohati bewies damit immer wieder eine Überlegenheit, die ihn so hervorragend zur Führung dieser Expedition befähigte.

„Geben wir doch dem gelben Stern einen unserer Namen“, schlug Azul vor. „Wir könnten ihn ›Sil‹ nennen. Alle werden damit einverstanden sein.“

Gohati stimmte überraschend schnell zu.

Sils Schatten zeigte eine heftige Bewegung. Bis zu diesem Augenblick hatte es sich dieser Kosmonaut nicht träumen lassen, daß eines der zahlreichen Gestirne im All einmal seinen Namen tragen würde. Ich habe mich doch weder um die Expedition noch bei der Beobachtung des gelben Sterns besonders verdient gemacht, dachte er verwundert.

„Mir scheint es richtig zu sein, wenn wir im Verlauf der Expedition unsere Namen an die Sterne heften. Das Recht dazu erwächst uns aus unseren Leistungen bei der wissenschaftlichen Eroberung der sternschimmernden Weiten“, sagte Gohati.

„Das waren auch meine Gedanken“, pflichtete Azul dem Kommandanten bei.

„Und nun wollen wir beraten, zu welchem dieser drei Sterne wir uns wenden sollten, falls wir landen“, sagte Gohati. „Was schlägst du vor, Azul?“

Gewonnen, dachte Azul. Aber er empfand dennoch keine richtige Freude. Es quälte ihn, daß er sich noch nicht entschieden hatte, von seiner Raumangst zu sprechen.

„Der hellste dieser drei Sterne ist der Sirian“, begann er mechanisch. „Er leuchtet zwanzigmal so hell wie zum Beispiel der gelbe Stern.“

„Wie ›Sil‹“, verbesserte Gohati lächelnd.

„Richtig. Sirian ist aber nur zwei- bis dreimal größer. Es ließ sich noch nicht feststellen, ob in seiner Umgebung größere erkaltete Raumkugeln vorhanden sind, die für eine Landung geeignet wären. Ich würde dazu raten, den Sirian nicht anzufliegen, denn er ist ein Doppelstern. Unsere astronomischen Beobachtungsgeräte registrierten nämlich eine der gefürchteten zwergenhaften Kompressionssonnen in seiner Nähe. Der Zwergstern könnte uns unangenehm werden. Er hat sowohl eine hohe Temperatur als auch eine sehr große Dichte.

Seine Substanz ist ungewöhnlich stark zusammengepreßt. Dies bedeutet, daß auch die Gravitation nahe seiner Oberfläche enorm sein muß. Kämen wir in seine Nähe, so wären die Triebwerke unseres Raumschiffes auf die Dauer kaum in der Lage, ihm Widerstand zu leisten. Die Düsen müßten auf Hochtouren laufen und ihre volle Kraft wirken lassen. Dennoch könnte uns die weiße Zwergsonne beim Sirian einfangen und an sich ziehen. Sie würde unserem Raumschiff mit ihrer ungeheuren Anziehungskraft ein riesiges Gewicht verleihen.“

Azul verstummte. Ihm kam es zu Bewußtsein, daß er sich zu sehr in Einzelheiten verlor, die ohnehin bekannt waren. Das brachten die langen einsamen Zeiten mit sich, in denen er Steuerwache zwischen der geisterhaft anmutenden Elektronik hielt. Man verfiel dabei oft in ausführliche Gedankengänge, die leicht beim Sprechen zur Gewohnheit werden konnten. Auch seine Liebe zur Astronomie hatte ihn verleitet, sich längeren Schilderungen über die Zwergsonne hinzugeben.

Ich muß mich kürzer fassen, ermahnte er sich und setzte seinen Bericht fort.

„Auch die rote Sonne Tari ist ein doppelsterniges System.

Hierbei, handelt es sich aber um zwei ungefährliche, abgekühlte rote Sonnen. Ihre Oberflächentemperatur ist niedrig. Die beiden roten Glutbälle gehören dem Spektraltyp Me an.“ Gedrängt nannte er Zahlen, Bezeichnungen und Formeln.

„Besteht theoretisch die Möglichkeit, in diesem doppelsternigen System erkaltete Raumkugeln zu finden?“

erkundigte sich Sil.

„Ja, man muß sie allerdings auf stark gestörten Bahnen suchen, weil sie um zwei Sonnen kreisen. Kühle Sterne wie die beiden roten Taris weisen in ihrer Umgebung günstige Bedingungen für eine Flugunterbrechung auf. In ihrem Bereich ist es am einfachsten zu landen, um Urenergie zu suchen und zu bergen.“

Azul wartete einige Augenblicke. Würde Gohati diesem Vorschlag zustimmen? Dann sprach er schnell weiter und beschrieb den gelben Stern.

„Die gelbliche Sonne ist ein normaler Stern. ›Sil‹ gehört dem Spektraltyp Gr an. Er strahlt über lange Zeiten gleichmäßig, ohne sich periodisch auszudehnen und wieder zusammenzuziehen.“

Gohati horchte auf. Was Azul da berichtete, hatte große Ähnlichkeit mit der früheren Entwicklung der Sonne ihrer Heimat. Es deutete darauf hin, daß auch beim gelblichen Stern „Sil“ Leben tragende Raumkugeln vorhanden sein könnten.

Wenn schon eine Landung notwendig sein sollte, dann in der Nähe dieses Sternes. Aber noch gab es keinen ausreichenden Grund für eine solche Unterbrechung des Expeditionsfluges.

Jede Landung unterwegs bedeutete nicht nur Zeitverlust, sondern auch Verlust der Zeitdehnung, bedeutete die Gefährdung des Expeditionsauftrages: nämlich über den Großen Abgrund hinweg direkte Verbindung mit den Teloiden aufzunehmen, von denen man nur durch undeutliche Radiosignale wußte, daß sie existierten. Von diesem Flug hing ab, ob nun endlich nach langer Zeit und vielen vergeblichen Versuchen eine Brücke der Verständigung zwischen der Gemeinschaft galaktischen Lebens im Inneren der Sternspirale und den viel älteren Kulturen hochentwickelter Lebewesen am Rande zustande kam. In der Gemeinschaft der Welten galaktischen Lebens, zu denen auch Heloid zählte, vermutete man, daß diese Teloiden sogar Verbindung zu Lebewesen anderer Galaxen, fernen Spiralnebeln und Sternenwolken haben. All dies durfte nicht außer acht gelassen werden, wenn über eine Zwischenlandung entschieden werden sollte.

Eine andere Überlegung drängte sich in Gohatis Gedanken.

Wenn beim Stern „Sil“ eine Welt des Lebens sein sollte, weit genug entwickelt, dann konnte doch sie, inmitten des schwer überbrückbaren Großen Abgrundes, der Pfeiler dieser Brücke der Verständigung werden, dann war es doch diese Welt, die einbezogen werden mußte in den Großen Ring der Informationssendungen, dann war sie vielleicht das fehlende Glied in der Kette. Der Weiterflug zu den Teloiden würde von viel größerem Erfolg gekrönt sein, wenn man landete und sich Gewißheit verschaffte.

Gohatis Gedanken kehrten zurück. An das alles hatten die beiden sicher nicht gedacht, als sie die Landung vorschlugen.

Es mußte noch einen anderen Grund für sie geben, dachte Gohati. Er spürte, daß nicht so sehr Sil als vielmehr Azul diesen wahren Grund wußte. Warum sagte er ihn nicht? Gohati hatte sehr wohl die Veränderung bemerkt, die in Azul vorgegangen war, seitdem er ihn das letzte Mal gesehen und gesprochen hatte.

Azul hatte seinen Bericht schon längst beendet. Eine Pause war im Gespräch zwischen ihnen entstanden.

„Du weißt doch, Azul, in welchem Zustand sich die Sonne unserer heimatlichen Wohnkugel Heloid befand, als das Leben auf ihr begann?“ knüpfte der Kommandant das Gespräch wieder an.

„Gewiß. Unsere Sonne zählte damals ebenfalls zur Gruppe der gelben Sterne.“ Azul war so betrübt, daß der hohe sirrende Ton seiner Laute um einige Nuancen tiefer wurde. Bedächtig setzte er hinzu: „Jetzt allerdings ist sie schon merklich abgekühlt, und man muß sie der nächst kälteren Gruppe zuordnen.“ Es war ein Glück, daß das Wissen der Heloiden rechtzeitig heranreifte, um dieser Gefahr zu begegnen, dachte er. Wäre unser Heimatplanet in einer vergangenen Epoche nicht schon absichtlich aus seiner Bahn näher zur Sonne gedrängt worden, sähe es jetzt trostlos auf ihm aus. Alles wäre eine Öde.

„Wird das Leben in unserer Heimat nicht doch einmal verlöschen müssen?“ sagte Azul wie zu sich selbst. „Wer weiß, wann und ob wir zurückkehren?“

Gohati sah betroffen auf. Also das war es. Jetzt wußte er, welche Gefahr ihnen drohte: die Raumangst und Zweifel an der Rückkehr. Azul, der für alle in der Steuerzentrale wachte, hatte die Raumangst zuerst betroffen. Und Sil? Und die anderen, die jetzt schliefen? Gohatis Gedanken jagten sich. Wie lange quälte sich Azul schon? Wußte er überhaupt, wie es um ihn bestellt war? Hatte er es bisher verborgen? Nein, Azul war ehrlich genug, seinen Gemütszustand offen zu zeigen. Warum wohl hatte er sonst verlangt, den Flug jetzt zu unterbrechen.

Da sprach Azul auch schon weiter. „Wer weiß, wann und ob wir zurückkehren“, wiederholte er leise. „Es ist die Raumangst, die mir solche dunklen Gedanken aufdrängt.“ Es klang wie eine Entschuldigung.

Der lange Flug durch das All hat ihn deprimiert, dachte Gohati. Ich muß ihm helfen und alles richtig erklären.

„Glaubst du, der Wissenschaftliche Rat unserer Heimat hätte uns auf eine solche weit ins Morgen reichende Expedition geschickt, wenn wir nicht mit Gewißheit die Teloiden träfen und von ihnen Urenergie für den Rückflug bekämen, wenn wir nicht bestimmt zurückkämen?

›Wird das Leben in unserer Heimat nicht einmal verlöschen müssen?‹ fragst du. Der Geist auf Heloid wird bis zu unserer Rückkehr solche Höhen erklommen haben und so fähig werden, daß die Bedingungen, die für das Leben der ganzen Planetenbevölkerung notwendig sind, erhalten oder noch besser und idealer geschaffen werden können.“

Gohatis Rede steigerte sich zu einem hohen, singenden Pfeifen, so begeistert war er.

„Das Wissen der Lebewesen aller Planeten der Galaktischen Gemeinschaft, aller Lebewesen im Bund der benachbarten Sonnensysteme des inneren Spiralarmes zusammengenommen, wird ausreichen, um zu triumphieren. Vielleicht trifft man daheim bereits jetzt alle Vorbereitungen, um auf die Kernprozesse im Inneren unserer Sonne einzuwirken, damit sie für die Heloiden in alter Kraft und Schönheit erstrahlt und erneut…“ Jäh stockte Gohati. Wie leer waren doch solche Worte, wenn grenzenlose Weite und Dunkelheit ihr Raumschiff umhüllten. So konnte die Raumangst nicht gebannt werden. Da gab es nur eines: landen, auf einem Lebensplaneten landen. Das würde eine Prüfung sein. Wer danach weiterfliegen wollte, hatte bestanden und war gefeit. Sonst aber würde man dort bleiben oder umkehren müssen.

Sil war inzwischen seinen eigenen Gedanken gefolgt. Ihm entging daher, welch tiefer Pessimismus sich aus Azuls Worten offenbart hatte und was Gohati sagte, um ihn aufzurichten.

Auch seine Gedanken kreisten darum, daß vielleicht ein Lebensplanet beim gelben Stern zu finden war.

Wenn die physikalische Zustandgröße einer Sonne, also vor allem Temperatur und Strahlungsmenge, lange genug gleichmäßig wirkt, so können sich in ihrer Umgebung Lebewesen entwickeln, lautete ein Lehrsatz. Der gelbe Stern ähnelte der Heloiden-Sonne. Er strahlte wahrscheinlich schon über lange Zeit gleichmäßig. Vielleicht also existierte in seiner Nähe Leben. Gohati jedenfalls vermutete es.

„Und du, Gohati, meinst, der gelbe Stern müsse unbedingt auch einen Lebensplaneten in seinem Gravitationsbereich haben?“ sagte Sil plötzlich in die entstandene Stille hinein.

„Ja, ich halte es für sehr wahrscheinlich!“

„Wunderbar!“ begeisterte sich Sil. „Werden wir den gelben Stern ansteuern?“

„Ja, wir sollten dorthin fliegen“, sagte Gohati. „Aber wir müssen über eine solche Unterbrechung unseres Fluges auch noch mit den anderen, die jetzt schlafen, beraten.“

Sil war mit den Vorbereitungen für eine Geschwindigkeitsänderung beschäftigt. Es war wieder einmal an der Zeit, von der Beschleunigung zur Abbremsung überzugehen. Die Dehnung der Zeit, die Verlängerung ihres Lebens über den Jahrtausende währenden Expeditionsflug, war nur möglich, wenn die Geschwindigkeit der „Kua“ nahe der des Lichtes gehalten und in bestimmter Weise abwechselnd beschleunigt und gebremst wurde. Jetzt stand wieder eine Bremsperiode bevor. Sie sollte zur nächsten heloidischen Zenitzeit beginnen, und das war bald.

Plötzlich richtete sich Sils schattenhafte Gestalt steil auf und verharrte. Gespannt blickte er auf die tanzenden Lichtzeichen an der Wand. Einer der ständig leuchtenden Kreise hatte sich aufgelöst. Seine Lichtpunkte liefen jetzt in schnellem Zickzack um das Rund der Steuerzentrale, die selbsttätige Reaktion vieler automatischer Geräte andeutend. Ununterbrochen blinkte ein rotes Licht. Sil schaltete die Fernbeobachtung ein, aber der Bildschirm blieb blind und leer.

Eine kurze Lautfolge klirrte empor, einem Schrei ähnlich.

„Ein Heloid… Die Navigationskreisel!“ Sil schnellte durch die Zentrale und eilte davon.

Azul begriff. Die Steuerung, ein System schnell rotierender Kreisel, drohte zu versagen. Das ging aus der Auflösung des Kreises auf dem Kontrollgerät hervor. Das flackernde Zeichen aber über dem Kreis bedeutete, daß sich ein Lebewesen in der Kreiselzelle befand und daß ihm große Gefahr drohte.

Die „Kua“ enthielt im Inneren ein Kreiselsystem, das seine Lage ständig beibehielt, unabhängig davon, in welcher Richtung das Sternenschiff gesteuert wurde und welche Lage es im dreidimensionalen Raum einnahm. Es diente der Navigation. Die Kreisel waren trotz ihrer imposanten Umdrehungsgeschwindigkeiten gewissermaßen der ruhende Punkt in der Rakete. Bei der Navigation und bei der Steuerung konnte stets von ihrer unveränderlichen Lage ausgegangen werden. Ohne diese Einrichtung, die etwa einem künstlichen Horizont gleichkam, hätten sich die Raumfahrer bei der lichtnahen Geschwindigkeit ihres Schiffes sehr bald rettungslos unter der Vielzahl der Sterne im All verirrt.

Azul beugte sich vor, bereit zum Handeln. Die Umdrehungszahl der drei Kreisel des defekten Systems sank rapide ab. Gleich war der kritische Punkt erreicht, an dem sie ausfallen mußten.

Wer von der Besatzung der „Kua“ war bei den Kreiseln, überlegte der Kosmonaut. Es schliefen doch alle.

Tivia erwachte. Irgend etwas beunruhigte sie. Die Heloidin lauschte und überlegte, warum sie vorzeitig aufgewacht war.

Aus der Schiffszelle unter ihrer Kabine drang wie immer der hohe singende Ton vom Kontrollpunkt der Kreisel zu ihr. Eben noch hatte sie von ihrem liebsten Platz im Raumschiff, von der Kreiselzelle, geträumt. Dort hielt sie sich oft auf. Ja, jetzt erinnerte sie sich. Im Traum des Halbschlafes hatte sie wieder hinter der durchsichtigen Wand der Vakuumzelle mit den Kreiseln gekauert. Der majestätische Tanz der bauchigen Doppelkegel, die starr zu sein schienen und dennoch von gebändigter Bewegung erfüllt waren, fesselte sie immer wieder aufs neue. Diese unerschütterlichen Diener der Raumfahrer strahlten mit ihrer Zuverlässigkeit große Ruhe aus. Trotz ihrer mannshohen Größe wirkten sie manchmal auf Tivia wie zierliche, federleichte Tänzer, die, soeben verzaubert, erstarrt waren. Tivia hatte den Kreiseln sogar Namen gegeben: Tobor, Tektor und Talus; und im Raumschiff neckte sie deswegen ein jeder.

Wer nicht mit den Kreiseln vertraut war, würde beim ersten Anblick erschrecken und glauben, sie müßten im nächsten Augenblick umstürzen. Sie standen fast frei. Lediglich an ihrer kardanischen Aufhängung befestigt, balancierten sie auf ihrem kleinen spitzen Fuß. Nur wer genau achtgab, vermochte die winzigen Anzeichen ihres rasenden Laufes zu erkennen, der sie aufrecht hielt und so standhaft sein ließ.

Tivia fuhr hoch. Das war es, was die Grenzen des Halbschlafes durchbrochen und ihr Bewußtsein wachgerüttelt hatte: Der Ton von dem Kontrollpult der Kreisel hatte sich verändert. Langsam und kaum wahrnehmbar sank er ab. In diese ferne vertraute Musik drang gedämpft und dennoch störend ein befremdendes, alarmierendes Zischen.

Schlaftrunken schwankte Tivias Schattengestalt zur Kabine hinaus. Ihr Körper wollte ihr noch nicht gehorchen. Sie zwang sich vorwärts, taumelte und stieß gegen die Wände. Je weiter sie vorankam, um so deutlicher hörte sie das zischende Geräusch.

Endlich stand sie vor der Vakuumkammer. Überlaut schlug ihr ein scharfes Tosen entgegen. Tivias Bewegung erstarb. Sie fühlte, wie sie ein Zittern überlief. Beklemmende Furcht überfiel sie. Jetzt erst war sie vollends wach, und ihr wurde bewußt, wo sie sich befand.

Tivias Blick tastete nach den Ursachen des pfeifenden Zischens. Fast alle Lichtzeichen auf dem Kontrollpult waren erloschen. Das beunruhigte sie sehr. Gebannt starrte sie durch die große Glaswand in die Vakuumzelle. Voller Sorge ließ sie ihren Blick über die drei Kreisel gleiten. Noch rotierten sie, wie ihr schien, mit unverminderter Geschwindigkeit. Ihnen war kein Defekt anzumerken. Der Schaden mußte anderswo zu suchen sein.

Tivias Gedanken arbeiteten mühsam. Woher kam dieses nervenschneidende Zischen? Es drang von allen Seiten auf sie ein. Trotz größter Anstrengung vermochte die Heloidin nicht, die Höhe des Kontrolltons zu erlauschen. Das gräßliche Geräusch überdeckte ihn. Offenbar strömte die heloidische Atemluft durch einen Riß oder ein Loch in die Vakuumkammer des Kreiselsystems. Das wäre schlimm. Sie wußte, die sich mit Überschallgeschwindigkeit bewegende Oberfläche der rotierenden Kreisel würde sich an der ständig dichter werdenden Atmosphäre reiben und erhitzen. Doch viel gefährlicher dabei war das rasche Absinken der Rotation. Die Gewalt der allzu schnellen Abbremsung würde die empfindlichen Kreiselachsen verzerren und das System unbrauchbar machen.

Der Riß konnte nur hier in ihrer Nähe sein. Schnell glitt Tivias Blick über die Glaswand. Da! Dicht über dem Boden flirrten Staubteilchen auf. Sie wurden von der Glaswand eingesogen. Dort mußte ein winziges, kaum sichtbares Loch sein. Die Ingenieurin erschrak. Um einen der drei Kreisel lag ein dunkelroter Gürtel, zuerst schmal wie ein Faden, dann sich ausbreitend.

Talus glüht, durchfuhr es Tivia.

Impulsiv warf sie sich zu Boden und preßte ihren Körper gegen das Leck.

Im selben Augenblick verstummte das scharfe Zischen.

Gleichzeitig durchzuckte Tivia ein stechender Schmerz. Sie stöhnte. Ihr war, als werde sie ausgesaugt. Gewaltsam kämpfte sie gegen den Wunsch an, sich, loszureißen.

Zusammengekauert lehnte ihre Gestalt an der Glaswand. Tivia heftete ihren Blick noch einmal auf Talus. Sein roter Gürtel war jetzt schon breiter. Warum arbeiten die Vakuumpumpen nicht, dachte sie ungeduldig. Dann schwanden ihr die Sinne.

Hinter der Weltraumfahrerin polterte es. Eine lange Reihe von Robotern schob sich heran und drang in die benachbarte Pumpenkammer ein. Die Automaten hatten Befehl, die Fehler zu suchen und die Pumpen schnell wieder funktionsfähig zu machen. Einer von ihnen wurde im Kontrollraum belassen.

Sicher und systematisch tastete sein Gammastrahler die Wand ab, mit dem der feinste Riß und die winzigste Pore im Material registriert werden konnten.

Sil eilte durch die Räume.

Da war die Vakuumkammer.

Havarieroboter Verschwanden im Pumpenraum.

Mit einem Blick erfaßte Sil die Gefahr.

Die Kreisel glühten schon.

Gleich mußten sie bersten.

Ein Roboter stellte sich ihm entgegen und drängte ihn zurück.

Da lag doch ein Körper an der Glaswand!

„Tivia!“

Sil rang sich los und stürzte zu ihr.

Ein Roboter löste eben den Körper Tivias von der Glaswand. Es zischte noch einmal auf.

Dann hatte der Roboter den Spalt in der Glaswand mit einer Plastemasse abgedichtet. Doch zu spät. Die Kreisel waren bereits unbrauchbar.

Sil packte Tivia und riß sie hoch.

Nur schnell weg von hier!

„Die Ventile öffnen!“ befahl er keuchend dem Führungsroboter.

Sil hastete mit seiner Last hinweg.

Einige Kabinen weiter hielt er inne.

Tivia war gerettet. Die berstenden Kreisel konnten ihr hier nichts mehr anhaben. Aus der Richtung der Vakuumkammer dröhnte es wie von Titanenschlägen. Sil preßte Tivia unwillkürlich fester an sich. Wie froh war er, daß sie dort nicht mehr lag. Doch noch brauchte sie Hilfe, noch war sie bewußtlos. Behutsam trug Sil sie weiter.

In der Vakuumkammer kam der Kreisel Talus ins Schleudern. Seine Achse hatte Schaden genommen, aber noch rotierte er schnell. Es galt, Schlimmes zu verhüten. Der die Robotergruppe leitende Kybernet schaltete und erteilte seine Anweisungen. Während Sil mit seiner Last zurück zum Steuerraum hastete, öffneten die Automaten nicht nur die Ventile, den vollen Strom der Atemgase einlassend, sondern auch die hermetisch dichtenden Zugänge. Die Roboter drangen in die sechseckige Vakuumkammer ein und setzten die magnetischen Rotationsverzögerer an.

Der Kreisel Talus zerfiel mit einem gräßlichen Knacken und Knirschen. Viele Bruchstücke schlugen gegen die Wände, so daß es dröhnte. Ein Kreiselteil hob Tobor aus dem Sockellager. Weitere Splitter legten die durchsichtige Wand in Scherben und zerschlugen das Kontrollpult. Umherfliegende Trümmer prallten gegen Roboter und zerschmetterten sie. Unbeeindruckt von dieser Zerstörung arbeiteten die anderen Automaten weiter. Große Greifer schoben sich aus der Wand, packten den zweiten stürzenden Kreisel und hielten den dritten, der träge seine letzten Umdrehungen machte.

Keines der Bruchstücke hatte mehr die Kraft gehabt, die Wände zu durchschlagen. Die Roboter hatten rechtzeitig den torkelnden Lauf gestoppt und so die Fliehkraft des berstenden Kreisels gemildert.

Azul half im Steuerraum Sil, die Verletzte auf eine schwebende Scheibe unter dem Teroplaten zu betten, einem Diagnose-Automaten, der Tivia untersuchte und zugleich Erste Hilfe leistete. Bald zeigte er an, daß die Wunde nicht gefährlich, wohl aber schmerzhaft war.

Sie muß doch noch unter dem Schlafzwang des Ruheautomaten gestanden haben, als sie sich vor das Leck warf, überlegte Sil. Woher wußte sie von der Gefahr?

Liebevoll beugte er sich über Tivia und versuchte, die Antwort aus ihrem Antlitz zu lesen. „Dein Opfer wäre zwecklos gewesen“, flüsterte er. „Hast du das nicht erkannt?“

Tivia seufzte. Ihr Bewußtsein kehrte wieder.

„Haben die Kreisel Schaden genommen?“ fragte sie plötzlich mit unerwartet lauter und klarer Stimme.

„Talus ist zerfallen“, sagte Azul zögernd. „Tobor und Tektor sind auch unbrauchbar geworden.“

Jäh richtete sich Tivia auf. „Wo sind die Gefährten?“ fragte sie voller Entsetzen. „Und die ›Kua‹?“ Sie wußte um die vernichtende Gewalt berstender Kreisel.

„Niemand ist verletzt, außer dir. Nichts ist zerstört, nur die Vakuumkammer“, sagte Sil schnell, um sie zu beruhigen.

Tivia sank erleichtert zurück. Aufatmend schloß sie wieder die Augen. Die „Kua“ flog also wie zuvor. Dann überlegte sie, wie sie in den Steuerraum gekommen war. Roboter werden mich in Sicherheit gebracht haben, dachte Tivia. Lange schwieg sie und dachte an ihre Kreisel.

„Wie konnte das geschehen?“ fragte sie. „Habt ihr keine Warnzeichen aus der Zelle bekommen? Ihr hättet doch die Gefahr viel früher als ich bemerken müssen? Alle Abweichungen vom normalen technischen Verlauf werden doch hierher, in die Zentrale, gemeldet.“

„Wir können froh sein, daß die Vorgänge in der Kreiselzelle überhaupt zu uns signalisiert wurden und daß Sil dich noch rechtzeitig in Sicherheit bringen konnte.“

Tivia richtete sich erneut auf. „Du hast mich aus der Vakuumkammer geholt?“ rief sie. Erschrocken sah sie Sil an.

Es schien ihr unfaßbar, daß er unverletzt war. Sie sah Sil auf sich zukommen. Sanft drückte er sie auf ihr weiches Schwebelager unter dem Teroplaten zurück.

„Gruß unserer fernen Heimat. Achtung und Ehre allem Leben“, sagte er ernst, der Eingebung dieses Augenblickes folgend. „Der Tod ist an dir vorübergegangen. Für mich war die Gefahr nicht so groß. — Ich muß dich jetzt festschnallen.

Die nächste Zenitzeit, du weißt!“

„Glücklicherweise waren einige wenige Kontrollinstrumente intakt geblieben“, berichtete Azul weiter. „Talus ist an dem Defekt schuld: Die Umdrehungszahl nahm plötzlich zu — winzige Körnchen lösten sich schlagartig von seiner Oberfläche — Ermüdungserscheinungen des Materials — zu große Fliehkraft. Die Splitterchen, von enormer Schleuderkraft getrieben, sind meteoritengleich durch die enge Zelle geflogen. Ihr zerstörender Schauer hat fast alle Meß-, Regel-, Kontroll- und Beobachtungsinstrumente auf einen Hieb zerstört. Die Wände sind voll tiefer Scharten. Die durchsichtige Wand zum Kontrollraum bekam ein Leck. Von dort strömte geraume Zeit unsere Atemluft in die Vakuumkammer. Die Pumpen arbeiteten auch nicht. Die dichter und dichter werdende Atmosphäre in der Kammer legte sich drückend und hemmend auf die Oberfläche der Kreisel. Besonders Talus verlor an Geschwindigkeit. Seine Oberfläche war ja aufgerauht und bremste am meisten. Er erhitzte sich zuerst.“

Azul schwieg. Nach einer Weile sagte er wie zu sich selbst: „Nun müssen wir landen.“

Ein akustisches Signal schrillte auf. Die Tätigkeit der automatischen Systeme wuchs an. Reihenweise begannen Meßbildschirme zu arbeiten. Ganze Felder von Signallichtern an den Wänden flammten auf. Die Zenitzeit war erreicht.

Überall stellten sich die technischen Einrichtungen selbsttätig von der Beschleunigung auf die Verzögerung des Fluges um.

„Spezialanzüge anlegen und Tivia festschnallen!“ ordnete Azul an. Sil mußte sich beeilen. In wenigen Augenblicken würde die Programmsteuerung einsetzen und von der hinteren auf die vordere Lichtdruckschleuder umschalten. Die Schwerkraft der bisherigen Beschleunigung ließ schon merklich nach. Da, der Signalkomplex für das hintere Triebwerk erlosch! Es wurde abgeschaltet. Schwerelosigkeit herrschte.

Sil konzentrierte sich auf die vordere Lichtdruckschleuder. Er kontrollierte die Temperatur des vorgewärmten Photonenspiegels, die Einstellung des Annihilationspunktes, des Brennpunktes sowie die Einsatzbereitschaft des Teilchenbeschleunigers und des Antiteilchenbeschleunigers. Das vordere Triebwerk war im vorgeschriebenen Zustand.

Indessen hatte Azul dafür gesorgt, daß die in das Kreiselschiff eingelagerte Wohnkugel, die die Kabinen der Heloiden, die Arbeits- und Gemeinschaftsräume sowie die Befehlszentrale umschloß, gedreht wurde. Dort, wo sich vorhin die violett leuchtende Kuppel befunden hatte, war jetzt der Boden, und wo der Boden gewesen war, befand sich die Kuppel. So kam es, daß die Raumfahrer, als das vordere Triebwerk einsetzte, durch den Andruck der Abbremsung nicht in die Kuppel geschleudert, sondern wieder zum Boden gedrückt wurden, normale Schwerkraft empfanden und sich wie gewöhnlich bewegen konnten.

Das Manöver war vollzogen. Die vordere Lichtdruckschleuder arbeitete. Die „Kua“ stieß weiter in den Großen Abgrund vor.

Gohati und Tivia waren allein. Jetzt hatten sie Steuerwache.

Die Signallichter an den Wänden blinkten, und die Symbole auf den Bildschirmen pulsten.

Bald nach jenem Zwischenfall mit den Kreiseln hatte das Raumschiff Kurs auf das System des gelben Sterns genommen.

Gohati hatte die gesamte Besatzung wecken lassen, um über die Unterbrechung des Fluges zu beraten. Seine Begründungen für die Zwischenlandung waren stichhaltig. Die Aussicht, begabtes Leben beim gelblichen Stern „Sil“ zu finden, bewog sie alle zuzustimmen. Der Kreiseldefekt schließlich ließ es auch ratsam erscheinen, einen Dunkelkörper, einen Planeten, für die Landung zu suchen. Nach der Beratung waren wieder alle, bis auf Tivia und den Kommandanten, in Dauerschlaf versetzt worden. Noch sechs Lichtzeiten waren bis zum gelben Stern zurückzulegen.

Sorgfältig hatte Tivia seitdem alles vorbereitet, um, sobald das Raumschiff den Flug unterbrach und landete, zusammen mit den anderen Kosmonauten neue Kreisel bauen zu können.

Solange mußte man ohne die Navigationskreisel auskommen.

Das kurze Stück bis zum gelben Stern vermochte man zu fliegen, ohne die Orientierung zu verlieren.

Das Bremstriebwerk arbeitete schon seit längerem stärker.

Die Körper der Heloiden waren schwerer geworden. Tivia überwachte die schwache Lebenstätigkeit der Organismen bei den schlafenden Raumfahrern. Die Komplikatoren, medizinische Geräte über den Schwebescheiben der Heloiden, signalisierten alle Vorgänge zur Zentrale. Tivia konnte jederzeit regulierend eingreifen.

Noch ertrugen Gohati und Tivia das Anwachsen ihres Körpergewichtes. Nun würden sie bald Kombinationen anlegen müssen, die den Körper stützten.

Tivia liebte es, in den einsamen Stunden der Steuerwache Streitgespräche zu führen. Auch jetzt schwirrten wieder die leise zirpenden Lautfolgen der heloidischen Sprache hin und her. „Man sagte voraus, daß sich uns unsere Sternspirale aus der Entfernung des Großen Abgrundes als ein schmales Lichtband auf dem dunklen Hintergrund des Alls zeigen wird.

Und es stimmt“, stellte Tivia fest.

In der letzten Zeit war auf dem Sichtschirm mehr und mehr ein ungleichmäßig starkes Lichtband hervorgetreten, das das ganze Himmelsgewölbe durchzog.

„Die funkelnde Pracht der Sterne ist verblaßt. Über Heloid bedeckte ihr glitzernder Vorhang den ganzen Himmel.“ Tivia seufzte.

„Von den fernen Welten des äußeren Spiralarmes aus kann man wahrscheinlich nur noch einen dünnen, schwach leuchtenden Strich erkennen“, sagte Gohati. „Dafür wird sich uns die Schönheit ferner Sternspiralen und unendlich weit weg kreisender Lichtwolken offenbaren“, tröstete er. „Ihr Anblick wird wunderbar sein.“

„Wäre unsere Sternspirale ein gigantisches Karussell, würde es schneller und schneller rotieren, müßten dann die am Rande existierenden Wesen nicht bedeutend langlebiger sein als die, die nahe dem Zentrum wohnen?“ fragte sie. Tivia wußte, daß ihre Frage purer Unsinn war, aber sie neigte zuweilen dazu, widerspruchsvolle, phantasievolle Behauptungen aufzustellen.

Gohati faßte Tivias Frage als eine Neckerei auf. Dennoch rechnete er am kleinen Myonenzyklon. „Ja“, bestätigte er dann. „Formal betrachtet, würden infolge der Dilatation die Lebewesen eines solchen überdimensionalen, starr rotierenden Karussells im Zentrum nur hundert Perioden, am Rande aber rund zehntausend Perioden alt werden können.“

„Vielleicht treffen wir tatsächlich langlebige Wesen auf den Welten des äußeren Spiralarmes“, mutmaßte Tivia.

„Das glaube ich nicht“, führte Gohati das Gespräch fort.

„Unsere Sternspirale ist doch kein Navigationskreisel.“

Insgeheim lächelte er bei dieser Vorstellung. „Sie dreht sich nur langsam“, setzte er hinzu.

Tivia wußte es selbst. Die Fähigkeit, lange zu leben, wurde vor allem von biologischen Faktoren bestimmt. Je intensiver der Stoffwechsel mit der Umwelt ablief und je ökonomischer ein Organismus sich bewegte, um so existenzfähiger, um so langlebiger war er. Wie mochten die Lebewesen beim gelblichen Stern „Sil“ beschaffen sein, wenn es sie überhaupt gab, überlegte sie.

Ein Prasseln erklang aus den Meßgeräten. Das violette Leuchten in der Kuppel des Raumes verstärkte sich. „Starke kosmische Strahlung“, sagte Gohati ruhig. „Mesonen- Einschläge.“ Der weit voraus reichende Energieschirm steigerte seine Leistung, um den Strom der Strahlung und des kosmischen Staubes, der ihnen plötzlich entgegenkam, abzuwehren und zur Seite zu drängen.

Wenig später fluteten violette Strahlenbündel alarmierend aus der Kuppel des Steuerraumes herab. Ein vielzackiger Stern flammte auf.

„Schauer von Antiteilchen“, stellte Gohati unmutig fest. Über eine Regieanlage befahl er: „Testroboter ausschleusen! Äußere Hülle und die Gittertürme zu den Triebwerken untersuchen!“

Antiteilchen konnten gefährlicher als Meteoriten sein. Eine Berührung mit ihnen rief winzige Atomexplosionen hervor, die bei schauerartiger Konzentration durchaus ernst zu nehmenden Schaden anrichten konnten.

Die Roboter verließen das Kreiselschiff und suchten es von außen systematisch ab, um eventuell aufgetretene Schäden sofort zu beseitigen.

„Glaubst du, daß es beim gelben Stern Lebewesen gibt?“

nahm Tivia ihre Gedanken wieder auf, als die Strahlenschauer vorbei waren. „Wie könnten sie aussehen? Werden sie geistig hochentwickelt sein? Ob wir vor ihnen erschrecken werden?“

„Ungeheuer mit vielen Köpfen und Gliedern werden es nicht sein. Die biologischen Entwicklungsgesetze bedingen, daß sie uns ähnlich sehen. Wir werden also kaum vor ihnen erschrecken.“

„Ich glaube, daß es keine Raumkugel mit wissenschaftlich denkenden Existenzformen beim gelben Stern gibt“, sagte Tivia. „Sonst hätten wir schon Anzeichen ihres Wirkens, elektromagnetische Ausstrahlungen, also Funkwellen, oder das tickende Geräusch ihrer Radarbeobachtung wahrnehmen müssen. Unsere Lichtdruckschleuder ist sehr hell. Sie hätten uns längst bemerkt. Ich hatte gehofft, dort Lebewesen, die wie wir sind, vorzufinden, die vielleicht sogar schon die Sternenwelten des äußeren Spiralarmes erkundet haben. Wir könnten uns dann den Weg zu den Teloiden sparen und bald wieder umkehren.“

Gohati wurde nachdenklich. Sollte auch Tivia Heimweh haben? Er war ihr noch eine Antwort schuldig. „Sie müssen nach den gleichen Prinzipien entwickelt sein wie wir“, sagte er nach kurzem Zögern. „Sie müssen ein empfindliches Nervensystem mit einem Nervenzentrum, einem Kopf, haben.

Dieses Denkorgan könnte am zweckmäßigsten in der oberen Hälfte des Rumpfes oder sogar als Komplex extra darüber angeordnet sein. Auf dem kürzesten Weg nach außen werden sich aus diesem Nervenzentrum die Sinnesorgane, also beispielsweise die lichtempfindlichen Organe, herausgebildet haben.“ Gohati geriet in Eifer. Zur aktiven Anpassung an die Umwelt hätte ein solches denkfähiges Wesen Glieder zur Fortbewegung. Da sich die Anzahl der Beine im Verlauf der Entwicklung stets verringerte, könnten sie über zwei oder sogar nur ein Fortbewegungsorgan verfügen.

„Wie du weißt, folgt die Entwicklung auf ihrem Weg vom niederen zum höchsten, zum vernunft- und verstandbegabten Lebewesen, gleichgültig, in welchem Teil des Weltalls sie stattfindet, bestimmten Prinzipien“, schloß Gohati.

„Intelligente Bewohner von Planeten irgendwo im Kosmos müßten einander ziemlich ähnliche Merkmale aufweisen. Allzu große Überraschungen kann uns also der gelbliche Stern ›Sil‹ in dieser Hinsicht kaum bringen.“

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