Der Sohn der I-na-nua

Als die Schläge aufhörten, stand Azul noch lange unbeweglich und lauschte in sich hinein. Er fühlte sich wieder eins mit seinen Gefährten.

Dann suchte Azul im Licht seiner infraroten Handlampe alle Fackeln zusammen, die in der Höhle noch zu finden waren. Er zündete sie mit seinem Strahlenwerfer an und stellte sie ringsum an den Wänden auf.

Verwundert sahen das Mädchen und der Hagere seinem Treiben zu. Beide standen dicht nebeneinander. Sie hatten den Zorn des Gottes erwartet und geglaubt, er werde sie als Strafe für die Schläge auf der Stelle töten. Aber nichts dergleichen geschah.

Azul trat erneut auf sie zu und sagte: „Ihr braucht euch nicht durch den geheimen Gang ins Freie zu graben. Die Sternenwanderer werden bald kommen, die Mauer am Eingang niederreißen und euch in das Dürrland zu den Sandwanderern bringen. Ihr seid dann Freie und sollt keinen Göttern und keinen Reichen mehr dienen.“

Das Mädchen möge ihr Ohr an den Boden halten. Sobald sie es leise grollen höre, solle sie es sagen. Die Flamme des Feuervogels peitsche dann draußen das Land, die Sternenwanderer seien herabgekommen, und sie würden versuchen, auch dem Jüngling das Leben wiederzugeben.

Der Mann mit dem hohen Sinn und dem starken Herzen solle die sechs Frauen und den alten Mann vom Wagen weg zur Wand der Höhle führen. Er müsse dafür sorgen, daß keines der Menschenwesen die Mitte des Raumes betrete, solange die Mauer am Eingang noch stehe.

Die Hoffnung auf ein Entkommen aus diesem Grabe ließ den Mann und das Mädchen ihren Unglauben, ihre Angst und ihr Mißtrauen vergessen. Beim beruhigenden Klang der Worte verlor der Mann seinen Haß. Beide taten, was die Stimme des Sternenwanderers ihnen riet.

Erst kurze Zeit war vergangen, als das Mädchen aufsprang, dem Hageren heftig zuwinkte und auf den Boden deutete. Sie kauerten zusammen nieder und preßten ihr Ohr in den trockenen Staub des Höhlenbodens. Deutlich vernahmen sie, was das fremde Wesen ihnen vorausgesagt hatte. Auch Azul trat jetzt an die Wand der Gruft zurück und wartete auf Zeichen von draußen. Er schaltete sein Sprechfunkgerät ein.

Die Zeit verstrich. Sollte das Mädchen sich geirrt haben? Die beiden Menschen standen ihm gegenüber an der anderen Seite der Höhle, und ihre Blicke gingen zwischen der Mauer und seiner Gestalt hin und her.

„Azul“, klang es da fragend wie aus großer Ferne in seinem Helmhörer. Und noch einmal: „Azul!“ Azul erkannte die Stimme sofort.

„Sinio! Öffne schnell die Höhle im Berg. Zerstöre die Mauer, vor der mein Standortgeber liegt. Hier sind Menschenwesen lebendig eingemauert. Die meisten von ihnen sind vergiftet.“

Die Stimme, die ihm antwortete, wurde schnell leiser und schien sich zu entfernen. Azul verstand nicht, was Sinio sagte.

Es klang wie: „Azul, du lebst noch?“

Ja, er war für sie tot gewesen. Aber jetzt gehörte er wieder zu ihnen.

Sinio starrte ungläubig auf den Hügel, an dessen Fuß er stand.

Dort im Inneren der Erde sollten Menschenwesen sein, lebendig eingemauert? Wie kam Azul zu ihnen?

Gleichviel, es mußte gehandelt werden! Abwägend betrachtete er den Hügeleinschnitt. Er erkannte eine lehmige, fast viereckige Fläche. Das mußte die Mauer sein, die den Eingang zum Inneren des Hügels versperrte.

Sinio sprang in den Durug. Nun war ihm auch klar, warum der Kybernet fast alle Hügel umsteuert hatte. Wahrscheinlich waren sie alle von Höhlen durchsetzt, und für das schwere Fahrzeug bestand die Gefahr einzubrechen.

Im Durug schaltete Sinio den Tuler, das Nachtsichtgerät, ein.

Er richtete es auf den Hangeinschnitt. Wirklich, durch die Mauer ließen sich strichförmige Wärmequellen wahrnehmen, wie sie für Lebewesen charakteristisch waren.

Vorsichtig ließ Sinio den Durug anfahren und gegen den Hügel rollen.

Hoch oben am sternenklaren Nachthimmel zog vom Horizont her ein nadelfeiner Feuerstrahl herbei, verharrte über dem Land und senkte sich dann, grell aufstrahlend, mit berstendem Heulen herab.

Gespannt starrten Azul, das Mädchen und der Hagere auf den Eingang. Würde man die Höhle öffnen?

Zuerst knirschte es. Dann bildeten sich Risse. Lehm fiel aus den Fugen. Sand und Erdreich rieselten herab, und plötzlich bauchte sich die Wand aus und fiel krachend um. Steine kollerten bis unter den Wagen. Die Fackeln flackerten heftig, leuchteten aber sogleich heller auf, als der frische Strom der eindringenden kühlen Nachtluft ihre Flamme traf.

Staubschwaden wirbelten herein. Vom Eingang zog sich rasselnd eine wuchtige dunkle Masse zurück.

Der Hagere und das Mädchen rührten sich nicht. Sie wagten nicht hinauszugehen. Zu wunderbar, was ihnen geschah.

Die sechs Frauen hoben die Köpfe. Jetzt spürten auch sie eine Veränderung in ihrer Umgebung. Sie richteten sich auf und schritten wie im Traum zum Durchbruch hin.

Blendender Flammenschein umrahmte plötzlich den Koloß vor der Höhlung. Draußen brüllte und toste es für Sekunden.

Der Weiße Pfeil kam. Azul stürzte zur Höhle hinaus. Glücklich schloß er die Augen vor dem grellen Licht. Freudig lauschte er dem vertrauten Dröhnen des Triebwerkes. Doch schnell sprangen seine Gedanken um. Hoffentlich brachte der Weiße Pfeil Medikamente und Geräte, mit denen man das Gift aus den Körpern der Menschen hier in der Höhle bannen konnte!

Der Weiße Pfeil war etwas entfernt zwischen den Hügeln niedergegangen. Seine Bremsfeuer erloschen.

Azul stand draußen in freier Nacht. Bewundernd nahm er den Glanz der Sterne in sich auf. Froh fühlte er, wie ihn ihr Funkeln nicht mehr schreckte. Die ungeheure Weite über ihm stimmte ihn feierlich. Wie schön war es doch, Raumfahrer, Wanderer zwischen den Sternen zu sein. Er gehörte zu ihnen, zu den Söhnen des Kosmos. Seine Gedanken gingen erneut zu den Menschen. Auch sie werden einmal ihre Leben fest ihrem eigenen Willen unterordnen und ihre Umwelt selbst gestalten.

Die Zeit, in der ihre schöpferischen Kräfte hervorbrechen und sich nicht mehr dem Zwang einzelner Herrscher unterwerfen werden, in der sie ihre kosmische Umwelt erforschen und ferne Welten des Lebens entdecken werden, wird auch für sie kommen, dachte Azul.

Da erinnerte er sich des Hügelhanges gegenüber. War dort nicht auch eine frisch gemauerte Wand zu sehen gewesen?

Azul sprang auf den Durug. Gerade erschien Sinio im Kabineneingang, um ihn zu begrüßen. Azul schob ihn sanft zur Seite. „Später“, murmelte er, „später.“ Er hastete zum Steuerautomaten und drückte rasch einige Tasten. „Schnell wenden“, sagte er.

Der Motor summte auf. Das Fahrzeug ruckte an, zog eine enge Schleife und rollte auf den gegenüberliegenden Hügel zu.

Azul hielt den Durug an, als er den Eingang auf dem Bildschirm des Tulers hatte. Wortlos wies er auf ihn. Der Bildschirm zeigte helle Wärmestriche. Auch dort lebten also noch Menschen, die das schleichende Gift der Priester noch nicht vollends getötet hatte.

Der Durug ruckte an, stieß gegen den Hügel vor und riß die Wand ein. Entkräftete, halbnackte Sklaven taumelten ihnen durch die Staubschwaden entgegen.

„Wo ist der fliegende Ring? Er muß schnellstens die Medikamente vom Weißen Pfeil herbeischaffen!“ rief Azul.

„Der Ring ist abgestürzt. Ich muß mit dem Durug zum Landeort hinfahren“, sagte Sinio.

Azul richtete sich erschrocken auf. „Und Sil?“ fragte er stockend.

„Sil versucht, den Ring wieder flugfähig zu machen.“

Azul griff in fliegender Hast zu den Knöpfen des Funkgerätes. Er rief Sil an und fragte ihn nach den Schäden.

Als Sil so unerwartet Azuls Stimme hörte, begrüßte er ihn freudig. Ungeduldig unterbrach ihn Azul. „Die Schäden, sag mir schnell die Schäden“, forderte er nochmals.

„Am Ringflügler ist fast alles bis auf ein paar Kleinigkeiten unversehrt geblieben“, berichtete Sil. „Er stürzte aus geringer Höhe ab. Bloß einer seiner Federstelzen ist angeknickt. Aber das Antriebssystem funktioniert nicht mehr. Ich kann den Fehler nicht finden. Die Beleuchtung brennt auch nicht.“

Azul riet, bestimmte Kontakte des Steuerautomaten zu lösen und auf eine andere Weise miteinander zu verbinden. Sil versuchte es. „Du hast recht“, meldete er sich schon wenige Augenblicke später voller Staunen. „Die Ringflügel kreisen wieder. Licht ist auch in der Kabine. Dann hat also der Steuerautomat nur falsche Befehle gegeben. Wie kommt es, daß du…“

„Schnell, flieg zum Weißen Pfeil und hole Tivia und die Medikamente“, bat Azul, ohne ihn ausreden zu lassen.

Während Sil mit dem fliegenden Ring zum nahen Landeort des Weißen Pfeils flog, um Tivia und Gohati, die Medikamente und die ärztlichen Geräte zu den beiden geöffneten Höhlen zu bringen, durchfuhr Sinio mit dem Durug das Hügelgebiet und durchleuchtete die Höhleneingänge. Er fand noch eine dritte Höhle, in der Menschen lebten. Sinio glaubte den Aufzeichnungen des Infratrons nie, wenn er die Höhlen von außen durchleuchtete und sich keine Wärmepunkte zeigten. Er durchbrach die sperrenden Wände auch dann, wenn keine Anzeichen von Leben dahinter festzustellen waren. Überall fand er das gleiche erschütternde Bild: Das Gift der Priester hatte nicht alle der lebendig eingemauerten Sklaven, die ihren toten Herren oder ihre tote Herrin in die Gruft begleiteten, getötet, sondern meistens nur betäubt, so daß sie bald wieder zur Besinnung gekommen waren und langsam verhungern, verdursten oder ersticken mußten. Manche hatten sich in ihrer Verzweiflung auch selbst umgebracht. Sinio überwand das Grauen, das ihn packte, und raste weiter zum nächsten Höhleneingang. Doch nur einmal noch konnte er Rettung bringen.

Der Hagere hatte die Droge der Priester nicht eingenommen, sondern sie in der Höhle irgendwo von sich geschleudert. Jetzt suchte er sie in fliegender Hast. Die Sternenwanderer, die mit der schwebenden Scheibe von dort herkamen, wo das Feuer zwischen den Hügeln herabgefallen war, wollten das kleine weiße Kügelchen haben. Das Leben aller Befreiten hänge davon ab, sagten sie. Er verstand nicht, warum das so war, doch er glaubte ihnen. Er fand die kleine weiße Kugel zwischen den toten Ochsen. Ein zweites Giftkügelchen, wohl das des Mädchens, das sie auf sein Geheiß ebenfalls fortgeworfen hatte, entdeckte er bald danach in dem Staub des Höhlenbodens. Die Sternenwanderer eilten damit in ihr rundes, fliegendes Haus und kamen bald mit seltsam schmeckendem Wasser wieder, das sie den Frauen und Männern aus der Höhle einflößten.

Tivia hatte die Kügelchen in einen chemischen Analysator geworfen. Wenig später flammten auf seinem Lichtband Symbole. „Ein tückisches Gift“ murmelte Tivia. Das Diagnosegerät arbeitete inzwischen weiter. Knisternd sprangen Fünkchen über die schwarze Fläche des Schirms. Dann nannte das Myonenhirn die Zusammensetzung des Gegengiftes und die Behandlungsmethode. Tivia setzte eine weitere Apparatur in Tätigkeit und füllte aus kleinen Behältern die notwendigen Grundstoffe ein.

Schweigend umstanden sie Azul, Gohati und Sil. „Es wirkt ausschließlich auf die Nerven“, erklärte Tivia, „und ruft je nach der eingenommenen Menge die unterschiedlichsten Wirkungen hervor, die von der einfachen Betäubung bis zur dauernden Störung des Nervensystems, bis zur tödlichen Lähmung reicht. — Die Drogen der Priester waren schlecht gemischt“, fügte sie hinzu. „Das eine Kügelchen hätte nur Schlaf verursacht, das andere längere Lähmung.“

Die Raumfahrer trugen die noch lebenden Menschen aus den drei Höhlen hinaus auf einen Platz zwischen den Hügeln. Tivia untersuchte sie rasch und stellte den Grad ihrer Vergiftung fest, bevor sie weitere Medikamente eingab. Bei den meisten der erschöpften Menschen tat schnelle Hilfe not. Die Medizin und die konzentrierte Raumfahrernahrung ließ fast alle erstaunlich schnell wieder zu Kräften kommen. Nur bei wenigen wollten die Lähmungen nicht reichen. Am schwersten war es, das Paar, das sich fest umschlungen hatte, dem Leben zurückzugeben.

Schließlich legte Tivia allen Menschenwesen Masken auf die Gesichter und ließ sie ein Gas einatmen, das jenes Gift in den Menschenkörpern vollends beseitigte. Bald richteten sich die ersten auf und begannen mit langsamen Schritten umherzugehen.

Der Hagere stand abseits auf einer Höhe. Seine dunkle Gestalt hob sich deutlich vom nächtlichen Horizont ab. Er grübelte. Fragend ging sein Blick zu den Sternen. Der leichte Nachtwind umspielte ihn.

Neben ihm im Grase saß das Mädchen. „Wann führen uns die Götter in die Weite, in ein anderes Leben? Warum nehmen wir nicht unseren Lu-gul mit?“ fragte sie. Sie hatte noch nicht begriffen, was geschehen war, und glaubte, daß sich nun die Weissagungen der Priester vollzögen.

Leise und zögernd, so, als sei er sich noch nicht gewiß und als gälten die Worte auch gar nicht dem Kinde, kam seine Antwort: „Es sind keine Götter, es sind nicht die Söhne der I- na-nua — es sind Himmelssöhne, es sind Sternenwanderer! Sie können uns kein anderes Leben geben. — Der Lu-gul braucht uns nicht mehr. Wir werden fliehen müssen.“

Unbemerkt war Azul an sie herangetreten. „Der Jüngling ist erwacht“, sagte er.

Das Mädchen sprang auf und lief den Hang hinab.

Azul sah ihr nach. „Warum hat der Jüngling das Gift gegessen und du nicht?“

„Er glaubte mir nicht, als ich ihn warnte. Die Priester achteten bei den jungen und kräftigsten von uns darauf, daß sie das Gift schon zu sich nahmen, wenn sie in die Gruft hineingingen. — Das Mädchen und ich konnten sie täuschen.“

Sie schwiegen eine Zeitlang.

„Du bist ein Sternenwanderer?“ fragte dann der Mensch zögernd. Am Klang seiner Stimme vermeinte Azul zu erkennen, wie schwer es ihm war, das zu begreifen. „Ist euer Weg die Milchstraße?“ hörte er wieder des Menschen Stimme.

Dabei deutete er auf das schmale, unregelmäßige Lichtband der Sternenwolken, das sich quer über den dunklen Himmel zog.

Azul verstand: Der Mensch ahnte nur, was ›Sternenwanderer‹ waren. Wie konnte er ihm helfen, es zu verstehen? Würde der kleine Myonendolmetscher im Skaphander seine Erklärung in der Sprache der Menschen richtig und einfach wiedergeben können?

„Ja“, sagte er endlich. „Die Sternenstraße dort oben, die du Milchstraße nennst, ist unser Weg und ist auch unsere Heimat.

Bei einem der Sterne wohnen wir. In unserer Heimat gibt es keine Götter und keine Lu-guls. Tausend Sonnen leuchteten uns auf unserer Wanderung von dort bis hier her. Bald müssen wir uns von eurer Erde erheben und weiterziehen.“

Als der Flammenschein des nur wenige Kilometer von den Mauern entfernt landenden Weißen Pfeils grell über die Stadt fiel und gespenstische Schatten in den Gassen und Plätzen warf, als das brausende Rauschen des Triebwerkes mit röhrendem Grollen durch die dünnen Lehmwände der Häuserzeilen sprang und auch die dicken Mauern der Tempel und des Herrscherpalastes durchbrach, glaubten die Menschen E-rechs, der Zorn der Götter ergieße sich über sie und versenge sie.

Die Tempelwächter vor den Monumentalbauten, die wachenden Soldaten auf den Mauern und Stadttoren und der Hohepriester, der einsam hoch oben auf der letzten Stufe der Ziggurat die Konstellation der Sterne zu deuten versuchte, preßten vor dem blendenden Licht die Köpfe schützend in den vorgehaltenen Arm.

Viele Menschen liefen schreiend auf die Straße hinaus.

Doch plötzlich, schon nach wenigen Sekunden, lastete unheimlich wieder Dunkelheit und Stille auf der Stadt und dem Land. Die Angst der aus dem Schlaf geschreckten Menschen stieg noch mehr und verschloß ihnen den Mund.

Nur der Klageruf einer Frau stand dünn und grell in der Luft.

Kinder weinten.

Hunde winselten.

Tausend Ohren lauschten furchtsam.

Doch nichts geschah.

In den Häusern der Lu-guls rief man nach dem Öllicht. Die nackten Sohlen der Sklaven tappten.

Auf der Straße klang hart ein eiliger Schritt auf. Ia-du-lin hastete zum Tempelbezirk, im Arm den kleinen Obelisk der Meßsonde.

Was wollten die Himmelssöhne? Warum sprang ihr weißer Feuervogel so nahe der Stadt zu Boden? Seitdem Azul verschwunden war, kannten sie keinen ruhigen Augenblick mehr. Rastlos suchten sie den ganzen Tag über das Land ab.

Zuerst hatten sie gehofft, die Priester könnten ihnen sagen, wohin Azul gegangen war. Überall hatte Sil gefragt. Aber niemand hatte den zweiten Sohn der I-na-nua gesehen. Dann war Sil davongeflogen. Bald kam er mit einem riesigen Felsklotz zurück, der, als er ihn zu Boden ließ, rasselnd mit breiten, kralligen Tatzen die Wege und Gräben entlangkroch.

Niemand wagte sich mehr aus der Stadt. Die Soldaten schlossen sogar die Tore. Nur A-kim, der Wasserträger, folgte mit seinem Esel dem Ungeheuer, nachdem er gesehen hatte, daß der kriechende Felsklotz den Himmelssöhnen wie ein artiges Hündchen gehorchte.

Ia-du-lin erreichte den Tempelplatz, überquerte ihn und ging um den Tempel des Mondgottes herum zum dahinterliegenden Hof. Sil würde sagen können, was der brüllende Schrei des Feuervogels zu bedeuten hatte. Ia-du-lin achtete nicht der dunklen Gruppen der Priester, die sich, Gebete murmelnd, überall niedergelassen hatten. Die Bewohner der umliegenden Straßen kamen in Scharen auf den Tempelplatz und ließen sich, ebenfalls betend, vor der Ziggurat zu Boden gleiten. Es hieß, der Hohepriester sei auf dem Turm und bitte die Götter um ihr Wohlwollen.

Der Tamkare stieß die niedrige Pforte in der Mauer zum Tempelhof auf und schlüpfte hindurch. Der Hof war leer. Ia- du-lin blieb stehen und zog unmutig die Stirn kraus. Wohin mochte Sil geflogen sein?

Ein Schatten löste sich von der Rückfront des Nan-nar- Tempels und eilte auf ihn zu. Es war ein Bote des Hohenpriesters, der wohl geahnt hatte, daß Ia-du-lin hierher kommen würde. „Der Sohn der I-na-nua hat sich mit dem fliegenden Ring in Richtung der Hügel mit den Grabkammern erhoben, kurz bevor der brüllende Flammenschein über die Stadt fiel“, sagte der Bote.

Ia-du-lin kehrte stracks um und hastete zurück. Diesmal war eines der Stadttore sein Ziel. In den Straßen wuchs der lautlose Zug der Leute zum Tempelplatz. Sogar Soldaten gingen mit der Menge. Der Tamkare rief einige an und forderte sie auf mitzukommen. Nur widerwillig gehorchten sie.

„Der kriechende Felsklotz der Himmelssöhne“, berichtete der Offizier der Wachmannschaft am Tor, „hatte sich um Mitternacht nahe der Mauer zur Nachtruhe niedergelassen. Als die erste Wache abgelöst wurde, raste er plötzlich in Richtung der Gräberfelder davon. Er riß alles nieder, was ihm im Wege stand. Wir hörten es noch weithin krachen und splittern. Dann ertönte die feurige Himmelsposaune.“

Der Tamkare stand lange mit den Soldaten auf der Stadtmauer. Sie starrten in Richtung des Hügellandes und lauschten angestrengt in die Dunkelheit. Fern zwischen den Hügeln mahlte es, kaum hörbar.

Bald zeigte sich gen Morgen der schwache Schein des neuen Tages. Da taumelten zwei Gestalten durch das Morgengrau, sich gegenseitig stützend. Vor dem schweren Bohlentor stürzten sie nieder. Ia-du-lin kletterte von der Stadt mauer herab und ließ das Tor öffnen. Die beiden keuchten. Sie mochten wohl weite Strecken schnell gelaufen sein. Es waren zwei der Priester, die Totenwache im Hügelland zu halten hatten.

„Die Toten kommen“, stieß der eine hervor, als er die Augen aufschlug und das Gesicht eines Soldaten über sich erblickte.

„Sie leben noch alle. Die Grabhöhlen sprangen auf, als die Himmelssöhne auf ihrem Feuer herabfuhren.“ Der Priester schöpfte Atem und blickte sich ängstlich um. Mit schwacher Handbewegung zeigte er auf den anderen Priester. „Führt ihn“, sagte er matt, „das Feuer hat ihn geblendet. Ich fand ihn unterwegs. Er…“ Der Priester schrie auf und duckte sich. Der fliegende Ring schwirrte niedrig und langsam über sie stadteinwärts hinweg.

Die Soldaten sahen sich scheu an.

Da mahlte es wieder in der Ferne. Das Geräusch kam diesmal rasch näher. Der kriechende Felsklotz der Himmelssöhne schien auf der breiten Prozessionsstraße daherzukommen, die das Höhlengebiet mit der Stadt verband und geradewegs auf das Halbrund des Tempelplatzes führte. Die Soldaten zogen sich furchtsam hinter die Mauer zurück. Gern hätten sie auch das schwere Bohlentor geschlossen. Doch Ia-du-lin verbot es ihnen.

Aus den grauen Nebelschwaden, die wie jeden Morgen dicht über dem Boden hin und her wogten, tauchte plötzlich ein seltsamer Zug auf: halbnackte, ausgemergelte Gestalten.

Sklaven dreier vor wenigen Tagen gestorbener Lu-guls.

Voran schritten ein hagerer Mann, ein Mädchen, fast noch ein Kind, und ein Jüngling. Hinter ihnen bewegte sich der hohe Kegel Azuls auf der Straße. Weitere Gestalten zogen heran, hohlwangig, mit tiefliegenden Augen und sich gegenseitig stützend. Das Gift der Droge hatte ihre Haut gelb gefärbt.

Azul erblickte Ia-du-lin und winkte ihm, an seiner Seite zu gehen. Der Tamkare zögerte. Er ahnte, was geschehen war. Es widerstrebte ihm, es gutzuheißen. Was die Himmelssöhne taten, war wider die althergebrachte Ordnung. Doch durfte er sie mißtrauisch werden lassen? Er gesellte sich zu Azul.

Der Hagere wandte sich um und blickte unwillig und zornig auf Ia-du-lin.

„Wir brauchen ihn“, beschwichtigte ihn Azul.

„Weshalb kam euer Feuervogel?“ fragte Ia-du-lin.

„Ich rief ihn, Unheil zu verhüten“, antwortete Azul. „Eure Priester hatten die Sags und Ur-dus mit den toten Lu-guls eingemauert und sie Gift essen lassen. Wir Sternenwanderer können nicht tatenlos zusehen, wenn Lebewesen sinnlos sterben. Wir achten das Leben!“

Der Tamkare verstand den Vorwurf nicht, der deutlich aus den Worten des Himmelssohnes zu hören war.

Der kriechende Felsblock hatte den Zug erreicht und fuhr langsam hinterdrein. Eine große Scheibe glomm rot bei ihm auf. Sie wärmte fühlbar den Rücken.

Der Zug durchschritt jetzt die Stadt. Hier war die Prozessionsstraße noch breiter als vor dem Tor draußen auf dem freien Feld. Es war die einzige breite Straße in E-rech. Zu beiden Seiten standen in gleichmäßigen Abständen steinerne Bildnisse, aus grünglasierten Ziegeln kunstvoll zusammengesetzt. Sie berichteten aus dem Leben der Götter.

Im fahlen Frühlicht ging kalter, matter Glanz von ihnen aus.

Ia-du-lin wagte nicht zu fragen, warum Azul verschwunden war. Des Himmelssohnes eisiges Schweigen und sein starres, schwebendes Gleiten beunruhigten ihn. Oder war es die Stadt, die plötzlich unbewohnt zu sein schien und die im grauen Morgenlicht Furcht einflößte? Nirgends waren Menschen zu sehen.

Doch, dort vorn am Ende der Prozessionsstraße, auf dem weiten Halbrund des Tempelplatzes, brodelte es. Wie einem geheimen Befehl folgend, waren inzwischen die Menschen der Stadt dort zusammengeströmt. Die Menge begann hin und her zu wogen, als der Zug der Auferstandenen aus den Grüften vor der Stadt sich ihr näherte. Eine breite Gasse bildete sich und ließ ihn hindurch. Nur das rasselnde Ungeheuer blieb am Rande des Platzes stehen. Eine große Klappe öffnete sich an seiner Seite. Ia-du-lin sah, wie Bahren herausgeschoben wurden. Zugedeckte Gestalten, von denen nur die müden und eingefallenen Gesichter zu sehen waren, lagen auf ihnen. Der Hagere tauchte in der Menge auf, winkte den umstehenden Sklaven und rief ihnen etwas zu. Sie sprangen herbei, packten die Bahren und trugen sie zur Freitreppe der Ziggurat.

Der Himmel im Osten färbte sich in purpurnem Frührot der aufgehenden Sonne. Es umrahmte den wuchtig aufragen den viereckigen Tempelturm. Seine sieben Stufen zeichne ten sich scharf von diesem Hintergrund ab. Über ihm schwebte mit leisem Summen der fliegende Ring. Erst jetzt ging er nieder.

Fast berührte er die Stufen der Freitreppe. Auch aus seinem Rumpf wurden Bahren herausgeschoben. Dann stieg er wieder bis über die Spitze des Stufenturmes und verhielt dort.

Hoch über den Köpfen der Menge, auf dem ersten Absatz der viereckigen Stufenpyramide, zeigte sich jetzt die schwarze Gestalt des Hohenpriesters. Über den Platz lief eine Welle der Bewegung. Mehrere andere Gestalten umgaben den Hohenpriester. Den Menschen unten auf dem Platz schien es, als sei auch En-mer-kar unter ihnen. Vor dem Turm erschien Ia-du-lin in der Gruppe der ausgemergelten Gestalten aus den Gräbern. Sein heller Umhang wehte und bauschte sich im Morgenwind. Auch der violette und der sternengelbe Kegel Sils und Azuls schoben sich die Freitreppe bis zu den Bahren herauf.

Ein Ruf vom Rande des Platzes erklang. Die vielen Menschen blickten sich dorthin um. Auf dem kriechenden Felsblock erblickten sie staunend noch eine Kegelgestalt.

Erneut lief eine Welle des Raunens vieler Menschenstimmen über den weiten Platz. Neben den Hohenpriester war eine große, schlanke und schneeweiße und eine kleinere, feuerrote Kegelfigur getreten. „Der oberste Gott der Himmelssöhne und die Schwester der Götter“, flüsterten die einen. „Das sind A-nu und I-na-nua“, flüsterten die anderen. Ein frischer Morgenwind strich über den Platz und wischte das Gewisper hinweg.

Plötzlich erscholl eine mächtige Stimme von der Ziggurat.

„Menschenwesen! Wir Himmelssöhne verachten die Lu-guls, die der Ehre ihres toten Leibes wegen lebende Menschen mit sich begraben lassen. Es ist nicht der Wille eurer Götter, Gesunde hinter den Mauern der Grüfte sterben zu sehen. Eure Priester haben das Geheimnis der Vision falsch gedeutet, als sie den Dienern und Sklaven der Lu-guls im Namen der Götter geboten, in den Tod zu gehen.

Wir, Wesen aus der Weite des Himmels, verehren alles Leben. Wir fuhren deshalb in dieser Nacht auf einem Feuer zu euch herab, nicht um euch zu ängstigen oder zu strafen, sondern um jenen Unglücklichen, die in den letzten Tagen in den Grüften eingemauert wurden und eines langsamen und qualvollen Todes sterben sollten, schnell zu helfen und sie zu retten.

Auch ihr müßt das Leben verehren und nicht den Tod. Nur dann winkt euch Menschenwesen das ewige Leben; nur dann werden künftige Generationen in die Weite des Himmels gehen und wie wir von Stern zu Stern wandern können. Wir gebieten euch gegen euren Brauch zu handeln und nie mehr Lebende in den Grüften einzumauern.

Wir kehren bald in die Weite des Himmels zurück. Aber unsichtbare Feuer auf den Hügeln der Toten vor eurer Stadt werden darüber wachen, daß ihr unserem Gebot folgt. Zeit eures Lebens darf nie eines Menschen Fuß das Hügelland betreten. Das unsichtbare Feuer wird jeden, der dieses Gebot mißachtet, töten, noch ehe ein Jahr um ist.

Menschenwesen, verehrt das Leben!“

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