Verschlingende Wasser

Tivia kauerte vor dem Kontrollpunkt der Kreiselsektion.

Unablässig, seit Tagen schon, beobachtete sie die Lichtbänder, die Kurven und Meßsymbole zeigten, manchmal einschläfernd träge und manchmal aufzuckend schnell. Die neuen Kreisel wurden einem Probelauf unterzogen. Mit niedrigen Umdrehungszahlen war begonnen worden. Langsam steigerte Tivia die Tourenzahl. Zwischendurch wurde gemessen und korrigiert und wieder gemessen und wieder korrigiert, unaufhörlich. Immer wieder hatte sie durch die große Scheibe in die Vakuumkammer zu den rotierenden Riesen gesehen.

Endlich klang aus dem Kontrollpult leise ein tiefes Brummen auf, wurde lauter und steigerte sich zu einem Summen. Bald erreichten die Kreisel höchste Drehzahlen. Tivia löste den Blick vom Meßpult und sah froh dem majestätischen Tanz der bauchigen Riesen zu. Würden sie standhalten? Sie bangte.

Lange stand Tivia so. Da berührte sie jemand leicht. Sil war gekommen. Er wollte diese Augenblicke, da die Kreisel wieder summten, mit Tivia erleben. Sil lehnte sich an die Glaswand und versuchte, so wie sie die geheimnisvolle Melodie der Kreisel zu hören.

„Die Kenterprobe?“ fragte Sil nach feierlichem Schweigen.

In Tivias Augen erstrahlte bejahender Glanz. Sil eilte hinaus.

Währenddessen gingen Azul und Sinio über den weißglitzernden Salzstrand des Meeres der toten Wasser. Sie hatten in den letzten Tagen gemeinsam mit Tivia den Probelauf der Kreisel kontrolliert. Azul als Astronom hatte die genauen galaktischen Koordinaten ihrer gegenwärtigen Position, die Parameter der Bahn des blauen Planeten und andere Werte ermittelt, nach denen die Kreiselachsen eingestellt wurden, und Sinio berechnete am Myonenhirn die Differenzen zwischen Azuls und Tivias Angaben. Endlich waren die Kreisel aufs genaueste eingerichtet. Azul und Sinio verließen ihre Arbeitsplätze. Nur Tivia war noch geblieben.

Es war früher Morgen. Die blendenden Strahlen des gelben Sternes ergossen sich flach über die glatte Fläche des zähen Wassers und über das felsige Steilufer ringsum. Azul und Sinio hatten sich ihre leichten Skaphander angezogen.

Gravitationsplatten mit Antifeldern besaßen diese glänzenden Anzüge nicht, so daß sich die beiden Raumfahrer aus eigener Kraft fortbewegen mußten. Aber die Bewegung tat ihnen wohl.

Langsam entfernten sie sich von der „Kua“. Ein jeder hing seinen Gedanken nach.

Azul war nach seinem Erlebnis in der Grabhöhle wieder ganz der alte Kamerad geworden, ganz Raumfahrer, ganz Astronom und Navigator dieser Expedition. Seine Begegnung mit dem Hageren, der die Angst des Sklaven in sich niedergekämpft hatte, bevor er den Gang aus der Gruft graben wollte, und den Gott mit der Fackel schlug, hatte ihm geholfen, die Angst des Raumfahrers vor der Rückkehr in die Dunkelheit des Kosmos zu überwinden, hatte ihn auf sich selbst, auf seine Würde besinnen lassen und ihn von der Absicht, auf der Erde zurückbleiben zu wollen, abgebracht.

An jenem Tag, an dem die eingemauerten Menschen aus den Höhlen bei E-rech befreit worden waren, hatte Azul mit seinen Gefährten freimütig über seine Raumangst gesprochen. Zur „Kua“ zurückgekehrt, hatten sie sich versammelt und über Azuls Flucht vor dem All, über seinen Schritt abseits von ihnen gesprochen. Aber niemand verurteilte ihn oder mißtraute ihm deswegen. Denn Azul hatte rechtzeitig den Weg zu ihnen zurückgefunden. Seine Genesung von der Raumangst war eines der wichtigsten Ergebnisse ihres Aufenthaltes auf dem dritten Planeten des gelben Sterns.

Gohatis Überlegungen gingen sogar noch weiter. Eine der Ursachen dieser Raumangst, so erkannte er, lag in der ungleichen Zusammensetzung der Besatzung. Es war ein Fehler gewesen, fünf Kosmonauten und nur zwei Heloidinnen auf eine so weite Reise zu schicken. Schon in der nächsten Radiosendung zu Heloid, die die „Kua“ in großen Zeitabständen regelmäßig in Richtung der Gemeinschaft galaktischen Lebens über den Großen Abgrund hinweg ausstrahlte, wollte er diese Erkenntnis mitteilen, um andere Expeditionen vor der Auslösung der Raumangst durch diesen Faktor zu bewahren.

Seit jenem Morgen, da Gohati auf dem Tempelplatz E-rechs den Menschen erklärt hatte, sie seien keine Götter, sondern Sternenwanderer, die das Leben verehren und alle verachten, die Lebende einmauern, hatten sich die Heloiden von den Menschen zurückgezogen. Die Beschaffenheit der Erdkugel und des Lebens auf ihr war von den Heloiden soweit erforscht, daß sie ihre Vorstellungen von anderen Welten bestätigt fanden und ihre Kenntnisse bereichert waren. Auch der Bau des neuen Kreiselsystems ging dem Ende entgegen. Azul hatte zurückgefunden, daran bestand kein Zweifel mehr, und Sil sah ein, daß ihre Kraft nicht ausreichte, den Menschen den Weg durch Sklaventum und Götterglauben zu ersparen. Sie mußten ihn allein gehen, wenn sie zu neuen Erkenntnissen gelangen und vorankommen wollten.

Bald würde die „Kua“ ihren Flug zu den Welten des äußeren Spiralarmes der Galaxis fortsetzen. Bis dahin mußte die Zeit noch genutzt werden. Die Heloiden luden sechs der Menschen, mit denen sie am vertrautesten waren, ein, mit zum Meer der toten Wasser zu kommen. Es waren Ia-du-lin, A-kim der Wasserträger, der Hagere aus der Grabhöhle und die drei ehemaligen Sklaven aus El-Ubaid. Seit Wochen schon wohnten sie in Häusern am Ufer des Meeres der toten Wasser. Sie erfuhren viele für sie seltsame Dinge, lernten Nützliches und drangen in einige Geheimnisse der Natur ein. Ihnen war der Lauf der Sterne erklärt worden, sie lernten den menschlichen Körper kennen und einfache Regeln, ihn zu heilen, und sie vermochten auch bald, Zahlen zu handhaben und kleine Berechnungen durchzuführen. Kehrten sie ins Zweistromland zurück, würden sie ihren Mitmenschen helfen können in Not und Gefahr.

Das etwa waren die Gedanken, die Azul und Sinio bewegten. „Kenterprobe“, teilte ihnen da die Steuerzentrale der „Kua“ mit. Azul und Sinio unterbrachen ihren Spaziergang entlang des weißen Salzstrandes und sahen zum Raumschiff hinüber.

Am großen Radius des Raumschiffkreisels fauchte eine der vielen rundum angeordneten Steuerdüsen und schob die „Kua“ auf den großen See hinaus. Dann plötzlich flammten rings um das Raumschiff andere Steuerdüsen abwechselnd auf. Sie versetzten dem riesigen Raumkreisel ununterbrochen von allen Seiten harte Stöße. Die „Kua“ pendelte hin und her, schwankte, drehte sich und taumelte. Schließlich legte sich das riesige Raumschiff ganz auf die Seite, richtete sich aber wieder auf. Das waren die Rüttel-, Kenter- und Schlingerproben. Dann folgten Beschleunigungsproben. Das Raumschiff ruckte mit mächtigen Sätzen über die Flutbahn. Bei all diesen Bewegungen mußten die neuen Navigationskreisel im Inneren der „Kua“ ihre Lage unverändert beibehalten und exakt weiterarbeiten. Endlich kam das Sternenschiff zu seinem Liegeplatz am Ufer zurückgeschwommen. Der wilde Tanz war vorbei. Jetzt mußte wieder gerechnet und gemessen werden.

Zu Sinio und Azul hatten sich die Vertrauten gesellt.

„Die Himmelsposaunen eurer fliegenden Stadt weckten uns“, sagte Ia-du-lin zu Sinio und Azul. „Ihr Himmelssöhne habt uns damit sehr erschreckt.“

Er will es sich nicht abgewöhnen, in uns götterähnliche Wesen zu sehen, dachte Azul unwillig.

„Warum, Sternenwanderer, befehlt ihr eurem Sternenschiff nicht, zu schweigen, zurückzukehren und stillzuliegen“, fragte der Hagere.

„Wir fürchteten, daß ihr uns verlassen wollt“, sagten die drei Sandwanderer.

A-kim schwieg und sah nachdenklich auf das Meer der toten Wasser hinaus.

Azul und Sinio waren in Verlegenheit. Wie sollten sie ihren sechs menschlichen Vertrauten erklären, was Navigationskreisel sind und warum sie erprobt wurden. Azul sagte deshalb auch nur: „Unser Sternenschiff gehorchte den Befehlen Gohatis, als es auf dem Wasser tanzte. Er erprobte die Kraft der Feuerflügel, denn schon in wenigen Tagen werden wir euch verlassen müssen.“

„Wann?“ fragte Ia-du-lin hastig. Er war tief betroffen.

„Wir werden es heute erst noch mit Gohati beraten“, antwortete Azul.

Eigenartig, dachte Sinio, Ia-du-lins Blick weicht uns aus. Was mochte das bedeuten? Er hatte es in den letzten Tagen schon mehrmals bemerkt. Jetzt wieder. „Wir werden es euch wissen lassen, wenn die Stunde des Abschieds naht“, sagte er.

Sinio und Azul verließen die Gruppe am Strand und begaben sich wieder an Bord, um die Ergebnisse der Kenter- und Beschleunigungsproben auszuwerten.

Diesmal war es Tivia, die ausruhen konnte. Sie zog es vor, sich auf der Plattform über der Kreiselspitze der „Kua“ zu erholen. Von hier hoch oben hatte man einen weiten Ausblick über das Wasser und den Strand. Auf der glitzernden Meeresfläche lagen startklar der Atomicer und der Weiße Pfeil. Unten am Strand sah Tivia die kleine Gruppe der Vertrauten.

Auf den Höhen ringsum standen unbeweglich die weitausladenden Antennen der Leitstationen. Wachsam beobachteten sie das Raumschiff, den Atomicer, den Weißen Pfeil und den fliegenden Ring auf der Plattform der „Kua“. Stieg eines der Fahrzeuge auf, leiteten die Antennen seinen Flug.

Am Ende der Flutbahn kroch träge der Produktor am Ufer entlang. Er suchte Urenergie. Der Produktor glich einem vielarmigen Wesen, das seine Glieder nach allen Seiten ausstreckte. Die Rüssel pumpten Wasser aus dem See und sogen Salz vom Strand. Der Produktor vermengte beides zu einem dünnen Brei, der viele Kammern durchfloß. Dabei wurden alle für die verschiedenen Antriebsarten der „Kua“ und ihrer Landungsfahrzeuge wichtigen Elemente herausgelöst und chemisch rein abgesondert. Mit ihnen wurden die Reaktoren, die Diffusoren und Annilihatoren betrieben. Die roten Roboter brachten diese Kernbrennstoffe zu speziellen Lagern, die besonders gegen selbständige Kettenreaktionen gesichert waren. Die Lager befanden sich ebenfalls am Ende der Flutbahn. Dieses Gebiet, in dem der Produktor arbeitete, durfte von niemandem betreten werden.

Tivia sah von der Plattform aus, wie zwei Tepis, eiförmige Fahrzeuge, das Raumschiff verließen und flink über den Salzstrand zum Ende der Flutbahn glitten. Sie hatten den Auftrag, die Kernbrennstoffe aus den Lagern am Ende des Meeres zur „Kua“ zu bringen. Das war ein untrügliches Anzeichen dafür, daß der Abflug bevorstand.

Langsam verließ Tivia wieder die Plattform und kehrte an ihren Arbeitsplatz zurück.

Einige Zeit danach, noch am gleichen Tage, hatte Aerona Wache im Steuerraum. Sie sah auf dem Bildschirm die Tepis den langen, weißen Salzstrand entlangeilen. Viele Male schon waren sie seit heute morgen hin- und hergefahren und hatten ihre gefährliche Fracht im Rumpf der „Kua“ abgeladen. Viele Male noch würden sie den Weg zum Ende der Flutbahn zurücklegen müssen, bevor alle Treibstoffvorräte in die Lager des Raumschiffes gebracht waren.

Der polypenartige Kernproduktor sollte nur noch bis zur Zenitzeit arbeiten. Dann würden Roboter ihn auseinandernehmen und im Raumschiff verstauen. Auch die übrigen Anlagen mußten flugsicher in den Laderäumen der „Kua“ untergebracht werden, ebenso der Atomicer, der Weiße Pfeil und zum Schluß der Ringflügler.

Eben war eine Beratung aller Kosmonauten zu Ende gegangen, auf der der Abflug der „Kua“ auf den dritten Sonnenaufgang festgesetzt worden war. Die Steuerdüsen sollten das Sternenschiff aus dem Meer der toten Wasser heben und es bis zur Kreisbahn hinauftreiben. Erst dann, so war geplant, durfte das Haupttriebwerk am Ende des Kreiselstiels zünden. Nur so war es möglich, den Planetenbewohnern und den anderen Lebewesen dieser Welt am wenigsten zu schaden.

Mit schnell wachsender Geschwindigkeit würde dann das Raumschiff erneut seinem fernen Ziel entgegenstreben.

Aerona schrak aus ihren Gedanken auf. Meßautomaten, die draußen am Strand und auf den Bergen aufgestellt waren, warnten mit fiebrig zuckenden Lichtzeichen. Sie meldeten Erdbebenstöße aus südöstlicher Richtung. Die Stöße folgten in kurzen Abständen und wurden zusehends stärker. Aerona sprang auf. Sie sah die sechs Menschenfreunde über den Strand auf die „Kua“ zulaufen. Sofort gab sie Alarm und beorderte die Tepis und die roten Roboter zurück. Die Pilotrone des Atomicers und des Weißen Pfeils erhielten Startbefehl, und der Ringflügler verschwand von der Plattform in dem Rumpf der „Kua“.

Die Bebenwellen ebbten ab und kamen wieder, setzten kurze Zeit aus und stellten sich wieder ein. Inzwischen rasten Atomicer und Weißer Pfeil über die Flutbahn und schraubten sich hoch in die Lüfte.

Gohati eilte herbei. Er beugte sich über die Bebenwerte und rechnete hastig.

„Das Bebenzentrum ist weit entfernt“, sagte Aerona. Sie hatte es schon ausgerechnet und nannte die Entfernungszahl. „Müssen wir auch mit der ›Kua‹ starten? Dieses Beben kann doch keine Gefahr für uns sein, nicht wahr?“

Gohatis Augen nahmen einen entschlossenen und harten Glanz an. Da wußte Aerona auch ohne eine Antwort, daß doch große Gefahr bestand.

„Alle Menschenfreunde und Raumfahrer an Bord?“ fragte er kurz.

„Ja.“

Codeworte klangen auf. Sie bedeuteten: „Triebwerke an! — Heben!“

Die „Kua“ tat einen gewaltigen Sprung und stieg, vom Flammenkranz der Steuerdüsen rundum am großen Radius getragen, hoch in die Luft bis über die Gipfel der Steilufer empor. Der Startstoß warf Aerona zu Boden, und auch, Gohati taumelte durch den Steuerraum. Der weiße Salzstrand verschwand vom Bildschirm, und dunkle Fluten schossen statt dessen über ihn hin.

Das beständig auf- und abschwellende Grollen im Boden wurde von einem berstenden Schlag zerfetzt.

Aerona sprang auf, um die Lichtzeichen an den Kontrollgeräten abzulesen und notfalls neue Entschlüsse zu fassen. Ihr Blick huschte über die Bildfläche des Eriders, die Landschaft nach sichtbaren Anzeichen des Bebens absuchend.

Überrascht starrte Aerona auf das Ende der Flutbahn. Ein Schreckensruf entrang sich ihr. „Der Produktor!“

Am Ende des Meeres der toten Wasser klaffte ein breiter und bis zum Horizont verlaufender Erdriß. Schäumend schossen die Wasser des Meeres in ihn hinein, rissen den Produktor mit sich und spülten auch die Lager mit den Kerntreibstoffen, die noch nicht restlos geräumt waren, in die Tiefe des Planeten. Eine neue Bebenwelle durchlief das Land. Die Ränder des gewaltigen Erdspaltes wanderten aufeinander zu, den Schlund verschließend. Polternd und krachend schoben sich riesige Schollen übereinander.

„Alle Kosmonauten zu mir!“ rief der Kommandant in die Bordsprechanlage.

Gohati griff zum Myonendolmetscher. Er stellte eine Verbindung zu jenem Raum der „Kua“ her, der vorübergehend für den Aufenthalt der Planetenbewohner hergerichtet worden war und mit menschlicher Atemluft versorgt wurde.

„Menschenfreunde“, sagte er, „ein Erdbeben zwang uns, in die Wolken aufzusteigen, um unser Sternenschiff vor Beschädigungen zu bewahren. Die Gefahr ist jetzt vorbei. Wir werden bald wieder landen. Bis dahin bitte ich euch, etwas Geduld zu haben. Tivia wird bald zu euch kommen und euch alles Weitere berichten.“

Inzwischen hatten Kalaeno, Azul, Sil, Tivia und Sinio den zentralen Steuerraum betreten. Gohati erklärte kurz, was geschehen war. Dann sagte er: „Eine weitere Ergänzung unseres Treibstoffes ist nicht mehr möglich.“

Gohati zögerte weiterzusprechen. Sie wußten alle, was das bedeutete. Sie kannten Gohati. Schwerwiegende Worte kündeten sich so bei ihm an.

„Der Weiterflug zu den äußeren Welten ist ohne den Produktor ein Wagnis. Verfehlen wir die Teloiden, ist uns der Rückweg versagt. Nur sie können uns die Urenergie für die Heimkehr geben. Oder aber wir kehren jetzt schon um und fliegen zu Heloid zurück.“

Der Kommandant sah sich im Kreis um. Großer Ernst lag auf allen Gesichtern. Eine schwerwiegende Entscheidung war zu treffen. Lange Zeit sagte niemand ein Wort. Alle überlegten.

Was sollte nun aus ihrer Expedition werden? Ein Beben, unbedeutend im Verhältnis zu den Gefahren des Kosmos, drohte, sie scheitern zu lassen.

„Wir bauen uns einen neuen Produktor, wir haben uns ja auch neue Kreisel gebaut“, sagte Sil schließlich zuversichtlich.

„Dann können wir die Treibstoffe selbst ergänzen und zurückfliegen, auch wenn wir die Teloiden nicht finden sollten.“

„Das kostet uns zuviel Zeit“, erinnerte Gohati. „Wir dürfen nicht länger auf dem dritten Planeten bleiben, sondern müssen wieder die Dilatation auf uns wirken lassen, sonst altern wir zu schnell. Wir müssen also fliegen.“

„Wir suchen die Teloiden, unbedingt“, forderte Azul.

„Sollten wir sie nicht finden, müssen wir vorbeugen und versuchen, uns während des Fluges einen neuen Produktor zu bauen, damit wir die notwendige Urenergie für den Rückflug zum Heloid selbst gewinnen können.“

Die Kosmonauten prüften diesen Vorschlag gründlich. Dann beschlossen sie, trotz des Unglücks zum vorgesehenen Zeitpunkt zu starten und Kurs auf die äußeren Welten zu nehmen.

Das Beben war vorbei.

Die „Kua“ landete wieder.

Tivia ging zu den Menschenfreunden, um sie über das Geschehene zu informieren. Bald meldete sie sich. „Ia-du-lin möchte wissen, welchen Schaden das Beben in E-rech angerichtet hat. Ich schlage vor, mit unseren Vertrauten im Ringflügler zum Zweistromland zu fliegen. Vielleicht ist unsere Hilfe dort notwendig.“

Alle stimmten zu. Kalaeno und Tivia wurden beauftragt, diesen Flug mit den Vertrauten zu unternehmen.

„Man sollte auch das Bebenzentrum untersuchen“, meinte Sil.

„Gut, mit dem Weißen Pfeil“, sagte Gohati.

„Es wird unseren Abflug verzögern“, gab Aerona zu bedenken.

„Wir müssen aber unbedingt feststellen, wie hoch die Aktivität des Bebenzentrums ist und welche Gefahr für das Zweistromland und auch für uns noch bis zum Abflug besteht“, entgegnete Sinio.

Die sechs Menschen und die drei Heloiden bereiteten sich auf ihre Aufträge, auf die Flüge mit dem Ring und dem Weißen Pfeil, vor. Die Menschen zogen Schutzanzüge an und die Heloiden ihre Skaphander. Jeder, auch die Menschen, bekam ein Sprechfunkgerät und große Taschen mit Medikamenten und Verbandmaterial mit.

Der Weiße Pfeil stieß in den blauen Himmel hinein. Sil flog in südöstlicher Richtung auf das Zentrum des Bebens zu. Unten wellte sich endlos das weite, dürre Land der Sandwanderer.

Zusehends wurde die Sicht trüber. Eine blauschwarze Wolkenwand quoll in der Ferne heran. Der Weiße Pfeil stieg höher und überflog diese dicke Schicht. Sie zog schnell nordwärts. Ein starker Wind schien sie vor sich her zu treiben.

Die genauen Berechnungen der Bebenmessungen hatten ergeben, daß sein Zentrum inmitten eines Meeres südlich des Zweistromlandes zu suchen war.

Dieses Meer hatte nur durch eine schmale Meerenge mit den riesigen ozeanischen Wasserflächen der südlichen Planetenschallkugel Verbindung. Die Luftaufnahmen der plastischen Karte zeigten es deutlich.

Jetzt mußte das Bebenzentrum bald erreicht sein. Ob sich ein Vulkan gebildet hatte? Sil überflog das Zentrum. Die Wolkenschicht unter ihm blieb unverändert. Weder Rauch, Flammengarben noch Glutschein waren zu erkennen. Sollte sich der automatische Navigator geirrt haben? Der Weiße Pfeil umkreiste das Zentrum und schraubte sich vorsichtig in die dicke Wolkendecke hinab. Sil konnte nichts mehr sehen, weder durch das Panzerglas des Kabinendaches noch auf dem Bildschirm. Um ihn war nur brodelnde, von Blitzen durchzuckte Finsternis. Die Geräte aber meldeten eine weite Wasserfläche. Sil wagte sich tiefer hinunter. Heftige Luftströmungen und Wirbel rissen an dem Raketenflugzeug und schüttelten es. Endlich wich die Finsternis einer fahlen, schwefelgelben Dämmerung. Sil erblickte ringsum eine quirlende, brodelnde Wasserfläche, gepeitscht von Regengüssen. Riesige Wogen rollten nordwärts. Der Sturm riß ihre Schaummähnen hoch in die Luft. Von einem Vulkan war jedoch weit und breit nichts zu sehen.

Sil ließ die Rakete wieder steil aufwärts steigen. „Ich habe das Erkundungsziel verfehlt“, berichtete Sil der, „Kua“.

„Das Bebenzentrum hat sich in Richtung der Meerenge verlagert“, sagte ihm Gohati. Sil flog südwärts. Die Rakete erreichte die Küste des Meeres der zwei Ströme. Sil folgte ihr.

Aufmerksam durchforschte er ihren Saum nach der Meerenge, um sich zu orientieren. Er fand sie nicht. Hatte er sich abermals verflogen?

Sil rief die „Kua“ und ließ sich von ihr einweisen. Nach kurzer Zeit sagte Gohati: „Jetzt mußt du über ihr sein!“

Sil starrte hinab. Wo war die Meerenge? Ein hochgewölbter Bergrücken trennte breit und wuchtig das Meer der zwei Ströme von dem Ozean.

„Nein, die Meerenge ist nicht da!“ rief Sil zurück. Also auch die Peilung der „Kua“ war falsch.

„Nicht da oder nicht mehr da?“ fragte Gohati zurück.

Sil zögerte mit der Antwort. Sollte sich bei dem Beben der Meeresboden gehoben haben? War die Meerenge von hochquellenden Gesteinsmassen versperrt worden?

„Ich prüfe noch!“ rief Sil zurück.

Mehrmals überflog er den Felsriegel, der die Wasser voneinander trennte, und maß das Niveau der beiden Meeresspiegel. Dann wandte sich der Weiße Pfeil jäh nordwärts und schoß mit aufheulendem Triebwerk im Tiefflug davon, mitten in die schwarze Zone der Stürme, Gewitter und Regenschauer hinein.

Der Boden hatte sich in diesem Teil des Meeres der zwei Ströme wirklich gehoben, und zwar so stark, daß die Fluten erheblich angestiegen waren. Aber wenn der Abfluß zu den Weltmeeren versperrt wäre, hätte das Wasser nur einen Ausweg, den nach Norden. Es würde das ganze Zweistromland überfluten und jenen Teil der Planetenbewohner, die nach vielen hunderttausend Jahren endlich am Anfang der Zivilisation standen, vernichten. Die Menschenfreunde mußten vor dem Untergang bewahrt werden. Irgendwo auf diesem tosenden Meer mußte eine Flutwelle sein, vom Südsturm mit gesteigerter Kraft vorangetrieben. Sie mußte er finden. Nur an ihr ließ sich erkennen, wieviel Zeit noch blieb, um die Menschen zu warnen.

Sil rief die „Kua“. Er schilderte Gohati seine Beobachtungen und gab seine furchtbare Vermutung durch.

Gohati berief erneut eine Beratung der Kosmonauten ein. Sie dauerte nur kurze Zeit. Tivia und Kalaeno, die mit dem Ringflügler bereits nahe einer Stadt gelandet waren, und Sil im Weißen Pfeil nahmen über Sprechfunk daran teil.

Der Kommandant gab in wenigen Worten die Lage wieder.

Dann sagte er: „Zehntausende Menschenwesen werden von der Sturmflut bedroht. Wir könnten viel Unheil verhindern. Wir müssen die Städte und Ansiedlungen überfliegen und sie warnen. Unsere sechs Vertrauten und wir müssen dort landen, um den Menschen jene Hügel und Hochflächen im Land zu zeigen, die voraussichtlich nicht überflutet werden.“

Sil meldete sich. Er hatte die Wasserwand erreicht, die als Sturzwelle nordwärts wanderte. „Am Abend trifft sie auf das Festland“, berichtete er. Er gab genau ihre jetzige Position, ihre Bewegungsrichtung, Geschwindigkeit und Fluthöhe an.

„Gibt es bei euch schon Anzeichen eines Unwetters?“ fragte Gohati den Ring im Zweistromland.

„Bis jetzt war es klar. Aber nun beginnt die Eintrübung. Es ist sehr schwül geworden“, meldete Tivia.

„Wir kommen mit dem Atomicer und bringen drei Tepis mit“, rief Gohati ihr zu. Dann ordnete er an: „Fertigmachen zum Abflug! Tepis mit Schwingflügeln und Energiepatronen für den Antrieb ausrüsten! Sinio bleibt als Steuerwache hier!“

Die Stadt Ur am rechten Ufer des Pu-rat-tu nahe dem Meer der zwei Ströme war voller Unruhe. Vor einer Stunde hatte die Erde das letzte Mal gegrollt. Doch die Menschen wagten noch nicht, in ihre Häuser zurückzukehren. Viele der Lehmhütten waren von den Stößen der Erde zusammengefallen. Die fester gebauten Häuser der Lu-guls hatten breite Risse in ihren Mauern. Die Brunnen der Stadt waren fast alle verschüttet.

Zahlreiche Menschen waren verletzt. Allen saß die Angst vor dem Zorn der Götter und geheimes Grauen in den Herzen.

Die Sonne stand noch nicht am Mittag, als ein fliegender Ring über die Stadt schaukelte und vor einem der Tore auf das Land herabfiel. „Die Himmelssöhne!“ riefen sich die Menschen zu.

Noch nie waren die Himmelssöhne in Ur gewesen. Doch viel Kunde war von ihnen in der letzten Zeit aus E-rech nach Ur gekommen. Die Berichte wußten nichts Schlechtes von den Himmelssöhnen zu sagen, aber viel Wundersames. Besonders die Soldaten des Gal-Uku-Patesi dachten noch mit Schrecken an die Belagerung von E-rech, bei der das Feuer der Himmelssöhne die beiden Heere voneinander getrennt hatte.

„Das Grollen und Beben der Erde hat ihr Kommen angekündigt“, flüsterten sich die Menschen zu, scheue Blicke um sich werfend. Die Ungewißheit schlich durch die Gassen und ließ die Angst der Menschen noch größer werden. Sie drängten sich in dichten Gruppen und vergaßen, über ihre zerstörten und beschädigten Hütten zu klagen.

Der Gal-Uku-Patesi ging durch die Straßen der Stadt, um das Ausmaß der Zerstörungen festzustellen. Hofbeamte und Priester umgaben ihn. Palast und Tempel waren unversehrt geblieben. Jetzt nahm er die Stadtmauer in Augenschein. Da wies einer der Leibwächter zum Himmel auf den fliegenden Ring über der Stadt. Der Gal-Uku-Patesi blieb betroffen stehen. Er überlegte, was das zu bedeuten habe. Da eilte ein Bote von einem der Stadttore herbei und meldete die Landung des fliegenden Hauses der Götter. Der Hohepriester riet, zu diesem Tor zu gehen und die Himmelssöhne zu empfangen.

Schon auf halbem Wege kam ihnen eine der eigentümlichen großen und unförmigen Gestalten der Himmelssöhne entgegen, begleitet von sechs Menschen. „Der berühmte Ia-du-lin ist unter ihnen“, raunten sich die Hofbeamten zu.

Der Hagere trat vor und richtete seine Worte an den Gal-Uku- Patesi. „Herrscher von Ur! Der Sternenwanderer Kalaeno ist in deine Stadt gekommen, um zu erfahren, welchen Schaden die grollende Erde euch zugefügt hat. Wir wollen die Wunden der Kinder, Frauen und Männer, die die stürzenden Häuser geschlagen haben, verbinden. Der Sternenwanderer Kalaeno bittet dich, ihm zu sagen, welche Hilfe deine Stadt braucht.“

Plötzlich schob sich die Kegelgestalt heran und sagte leise: „Ich habe eben neue Nachricht erhalten. Der Stadt droht noch größere Gefahr. Ich muß dich, Herrscher, und den Hohenpriester dringend sprechen.“

Umringt von den sechs Vertrauten, erfuhren der Gal-Uku- Patesi und der Hohepriester von dem schwarzen Südsturm und der Flutwelle, die auf das Land von ferne zurasten. Der Gal- Uku-Patesi blieb ungläubig. Es war zu unbegreiflich, was da auf ihn einstürmte. Woher wollte der Himmelssohn von einem solchen Ratschluß der Götter der Unterwelt wissen?

Auch der Hohepriester zögerte, an solch eine Gefahr zu glauben. Noch schien doch, wie jedermann selbst sehen konnte, die Sonne vom Himmel herab. Außerdem hatten die Götter ihren Willen den Menschen bisher immer durch die Konstellation der Sterne kundgetan. Es war der hohen Wissenschaft vom Geheimnis der Vision vorbehalten, die Zeichen des Himmels zu deuten. „Warum senden die Götter des Himmels nur ihre Söhne, uns zu warnen? Warum wenden sie nicht das Unheil von unserer Stadt ab? Oder sind gar die Götter der Unterwelt stärker als die Götter des Himmels?“

sagte der Hohepriester von Ur.

„Kalaeno ist kein Sohn der Götter des Himmels“, rief der Hagere dazwischen. „Er ist ein Sternenwanderer!“

Vielerlei Volk hatte sich inzwischen in der engen Gasse angesammelt. Die Soldaten der Leibwache hatten Mühe, die Menge weit genug vom Herrscher, seinen Beamten, den Priestern, Kalaeno und den Vertrauten fernzuhalten. Die Menschen reckten die Köpfe hoch, um den fremden Gott zu sehen. Das Schurren ihrer Füße verschmolz mit dem Rauschen des Meeres, das von fern herüberklang.

Plötzlich wandte sich Ia-du-lin der Menge zu und rief laut: „Der Meeresgott En-ki will eure Stadt verschlingen! Flieht auf die Hügel, bevor der schwarze Südsturm beginnt. Heute nacht kommt das Wasser. Es wird auch E-rech verschlingen!“

Wie zur Bekräftigung seiner Worte fuhren einige harte Windstöße über die Stadt dahin, Staubsäulen aufwirbelnd. Die Menschen sahen auf und gewahrten, wie die Sonne hinter einen dichten Dunstschleier huschte. Erschreckte Rufe wurden laut.

Ia-du-lins Worte flogen von Mund zu Mund. „En-ki zürnt… das Meer kommt!“ hörte man es immer wie der rufen.

Kalaeno erkannte, daß er anders vorgehen mußte. Er hatte gehofft, mit der Staats- und Glaubensführung dieser Stadt Maßnahmen beraten zu können, um die Menschen ruhig, schnell und organisiert aus der Gefahrenzone zu führen. Der Herrscher und der Hohepriester aber zögerten und glaubten ihm nicht. Und Ia-du-lin verbreitete Panik. Kalaeno ermahnte Ia-du-lin. Dann wies er seine Vertrauten an. „Du gehst zu den Priestern in die Tempel und befiehlst ihnen, die Menschen aus der Stadt zu weisen“, sagte er zu Ia-du-lin. „Du, A-kim, läufst zum Meer und beobachtest es. Sobald es zurückweicht, bereitet es den Angriff vor. Dann rufe uns herbei.“ Der Hagere bekam den Auftrag, zu den Solden zu gehen, damit sie nicht falschen Befehlen ihrer Offiziere folgten und den Strom der zu den Hügel Fliehenden hinderten. Die drei aus El-Ubaid schickte er zu den Sklaven und Kaufleuten, sie zu warnen.

Die Vertrauten gingen in die verschiedenen Richtungen auseinander, um ihre Aufträge auszuführen. Einige Menschen strebten schon den Toren zu. Sie schleppten Ballen, Säcke und Krüge voller Nahrungsmittel mit sich oder trieben ihr Vieh vor sich her.

Kalaeno versuchte noch einmal, dem Herrscher und dem Hohenpriester die Gefahr begreiflich zu machen.

Da erscholl plötzlich eine mächtige Stimme aus der Luft. Der Ringflügler hing über der Stadt. Tivia ließ die Menschenwesen durch den Myonendolmetscher warnen. Die Schallgeber arbeiteten mit voller Energie. „Menschenwesen, flieht zu den fernen Hügeln! Eine Wasserwand wandert auf eure Stadt zu!

Glaubt uns Sternenwanderern! Rettet euch!“

Die Windstöße fegten jetzt schon häufiger über die Stadt hinweg, und die matte Scheibe der Sonne war kaum noch hinter drohenden Dunstschleiern zu erkennen. Tief am Horizont stand ein graublauer Strich über dem Meer. Der hastige Schritt der Menschen stockte. Sie machten sich gegenseitig darauf aufmerksam und stürzten dann um so schneller vorwärts. „Das Wasser kommt!“ schrien sie. Viele warfen alles, was sie trugen, weg, um schneller laufen zu können. Sie mochten wohl die Wolkenwand, die rasch emporwuchs, für das Wasser halten. Kalaeno ließ sie in dem Glauben.

Jetzt endlich begriffen auch der Gal-Uku-Patesi und der Hohepriester die Gefahr. Sie eilten hinweg, der Gal-Uku-Patesi zum Palast, der Hohepriester zu den Tempeln, um ihre Befehle und Anweisungen zu geben. Aber kaum einer der hohen Beamten und der Oberpriester war noch in ihrer Nähe.

Kalaeno ging durch die Gassen zur Stadt hinaus. Er sah, noch war sie voller Menschen. Sie liefen ängstlich durcheinander und schienen ratlos zu sein. Erst einzelne Gruppen zogen eilig über das Land den fernen Höhen zu.

Diese Stadt ist gewarnt. Jetzt müssen wir weiter, anderen Orten helfen, dachte Kalaeno. Er rief Tivia mit dem Ringflügler herbei. Sie flogen zu den fernen Höhen und stellten dort starke Lichtstrahler auf, damit die Menschen auch im Dunkel des Orkans den richtigen Weg fanden. Dann nahmen sie auch die Vertrauten wieder an Bord. Nur A-kim blieb allein am Meeresufer zurück.

Ia-du-lin hatte die oberste Stufe der Ziggurat erklommen. Von dort hielt er Ausschau zum Meer, das grau am Horizont schäumte. Ein starker Wind riß hier oben an ihm, Ia-du-lin mußte sich schutzsuchend an die Mauerbrüstung drücken. Er war zum Tempelbezirk geeilt, hatte eine Schar Priester um sich gesammelt und ihnen im Namen der Götter geboten, die Menschen auf die Hügel am Rande des breiten Flußtales zu treiben. Aber nur wenige Priester waren gegangen, ihren Auftrag auszuführen. Die meisten von ihnen blieben und beteten. Als der Himmel dunkler wurde und am sonst so hellen Mittag die Nacht hereinbrach, liefen sie davon, ihr Leben zu retten.

Ia-du-lin war auf den Tempelturm gestiegen und grübelte.

Bald werden die Himmelssöhne zu den Sternen zurückkehren; viel zu früh, um seine Pläne wahrzumachen, um ihre Macht auf ihn zu übertragen und ihn zu einem Großen des Zweistromlandes zu machen. Nun kam also die Stunde, in der er handeln mußte, viel früher. En-mer-kar würde vor Ia-du-lins Macht, der Macht eines Auserwählten der Himmelssöhne, weichen müssen. Er, Ia-du-lin, wollte Herrscher werden. Und wenn En-mer-kar nicht freiwillig abtrat, müßte er mit dem Zorn der Himmelssöhne drohen. Sie hatten alle, obwohl die Himmelssöhne nur Gutes taten, Angst vor ihnen. Er wußte es nur zu gut. Kaum jemand hatte begriffen, wer die Himmelssöhne wirklich waren. Man muß die Menge in dem Glauben lassen, es seien wirkliche Götter. Das war von Anfang an seine Meinung gewesen.

Eine ihrer Waffen, eines ihrer unsichtbaren Feuer, müßte man haben, dachte Ia-du-lin. Damit könnte man die Widerspenstigen, zum Beispiel den Gal-Uku-Patesi, zum Gehorsam zwingen und Macht über alle Städte des Zweistromlandes bekommen. Man konnte das Zweistromland bis zum Meer der Mitte, bis zu A-rat ausdehnen. Aber noch hatte er kein unsichtbares Feuer.

Die Zeit drängte! Bald flogen die Sternenwanderer für immer fort.

Als sie heute hier ankamen, hatte sich die Ziggurat noch klar in den dunklen Fluten des Pu-rat-tu gespiegelt, vergoldet vom Schein der Sonne. In der Ferne hatte das blaue Meer geblinkt.

Jetzt war der Spiegel des Wassers trüb und verzerrt.

Was blieb ihm, dem großen Ia-du-lin, von all seinen Plänen?

Das Wasser kam und verschlang sie. Es wird auch E-rech verschlingen. Das ganze Zweistromland würde zum Meer werden, hatte der Himmelssohn Kalaeno gesagt.

Da stand er nun auf der Ziggurat, auf der obersten Stufe des Turmes, so wie es nur dem Hohenpriester zukam, wenn er das Geheimnis der Vision befragte. Diesen Augenblick hatte sich Ia-du-lin in seinen Träumen anders vorgestellt, mit vielen Menschen, viel Sonne und sehr festlich. Statt dessen jagte der Sturm heran, hatte die Erde gegrollt, rannten die Menschen schreiend aus der Stadt, und vom Meer her drohte die Flutwelle.

Ia-du-lin kniete nieder und betete zu I-na-nua. Er bat sie, En- ki zu besänftigen, damit er nur diese eine Stadt verschlinge und E-rech und die anderen Städte des Zweistromlandes verschone.

Da fiel ein leise summender Schatten über ihn. Ia-du-lin schrak auf. Der fliegende Ring hing über der Turmspitze.

„Komm, steig ein!“ hörte er Tivia rufen. „Wir müssen weiterfliegen, die nächste Stadt warnen!“ Ia-du-lin kletterte in die Kabine des Ringflüglers. Er gab sich Mühe, seine geheimen Gedanken nicht zu verraten. Aufmerksam hörte er zu, wie Kalaeno das Entstehen der Flutwelle erklärte.

Der Sturm, der jetzt mit voller Wucht einsetzte, warf sich gegen den Ringflügler und schüttelte ihn. Der Tag wurde zur Nacht. Tiefschwarzes Gewölk zog auf. Unten auf der Erde waren kaum noch Baum und Strauch zu erkennen. Blitze zuckten auf, und Regen strömte herab. Tivia hatte Mühe, den Kurs einzuhalten.

Gedämpfter Flammenschein fiel durch die Wolken und verschwand bald darauf wieder. Das war der Atomicer gewesen. Plötzlich schwirrten auch drei der eiförmigen Tepis neben dem Ringflügler einher. Der Atomicer hatte sie hergebracht und, noch in der Luft, abgesetzt. Ihre vier Schwingflügel, zwei zu jeder Seite, glichen geschickt selbsttätig die Sturmstöße aus. Gohati, Aerona und Azul steuerten sie. Die Sternenwanderer im Ringflügler und in den Tepis sprachen kurz miteinander, und dann entfernten sich die Schwingflügler nach verschiedenen Seiten. Wenige Stunden blieben nur noch bis zur Flut.

Aerona steuerte landeinwärts der nächsten Stadt zu und warnte alle ihre Bewohner vor der Flutwelle. Genaue Berechnungen hatten sie schnell ein Gelände entdecken lassen, auf das die Menschenwesen flüchten konnten. Es war nicht allzuweit von der Stadt entfernt, hob sich kaum merklich aus der Landschaft hervor und lag doch hoch genug, um nicht von der Flutwelle überspült zu werden. In aller Eile wies Aerona die Menschenwesen an, einen Damm im Geviert auf dem etwas erhöhten Geländeabschnitt zu errichten, um damit die Sicherheit dieses Zufluchtsortes zu vergrößern. Streng achtete Aerona darauf, daß nicht nur die Sklaven, sondern auch die Priester, Beamten, Händler und Soldaten dabei mitarbeiteten.

Willig folgten die Menschenwesen ihren Anweisungen.

Keuchend schleppten sie in Krügen Erde, Lehm und Steine herbei. Die Tempel und der Hof des Herrschers mußten auf ihr Geheiß ihre Vorratslager öffnen. Als die Flut den Damm schon umleckte, wateten Männer in langen Reihen herbei und brachten Krüge mit Getreide und Öl sowie an Stangen Fleisch.

Hier vermochte die Flut keinen der Menschen zu töten.

A-kim beobachtete gewissenhaft gemäß seines Auftrages die anstürmenden Wogen. Der schwarze Südsturm umtoste ihn.

Oft war es von den herabstürzenden Regengüssen so dunkel, daß er die Wellen nicht mehr zu sehen vermochte. Manchmal glaubte A-kim, die Riesenwelle nahe schon und stürze sich über das Land. Um seine Furcht zu bezwingen, tastete er sich ein Stück am Sandstrand entlang bis zum Holzplatz der Schiffbauer, die hier nahe der Stadt Boote gebaut hatten. Jetzt war der Platz von ihnen verlassen. A-kim suchte fieberhaft.

Bald fand er, was er brauchte: Stierhäute, zu Streifen geschnitten. Die Schiffer banden aus ihnen Gurte. Aber A-kim flocht sich starke Ledertaue. Als er sie fertig hatte, schlang er sie um den Rumpf eines Bootes, das hier gebaut war. Dann lauschte er. Bald hörte A-kim, wie das Brausen des großen Wassers zusehends leiser wurde und sogar ganz verstummte.

Das Meer flutete zurück. Da wußte er: Die Riesenwelle nahte.

Ihr Sog zog das Wasser zuerst an sich, um dann mit um so größerer Gewalt hereinzubrechen. A-kim rief die „Kua“. Er berichtete, daß das Meer jetzt zurückflutete.

Sinio dankte und kündigte ihm einen Tepi an.

Wirklich, wenig später kam eine dieser Libellen, wie A-kim die Tepis nannte. Azul steuerte sie. A-kim sprach mit ihm.

„Nimm die Ledertaue“, bat er. „Hebe das Boot, warte auf die Welle, ich will nicht mitkommen, ich will hierbleiben.“ Azul war nicht einverstanden, aber A-kim bestand energisch darauf.

Azul hob das Boot mit A-kim hoch. Die Flutwelle brauste heran. Als sie vorbei war, ließ sich A-kim auf das Wasser setzen.

A-kim rettete manchem der im Wasser Treibenden in dieser Nacht das Leben.

Tivia war zunächst mit Kalaeno und den Vertrauten zu einer anderen Stadt geflogen, um die Bevölkerung vor der Flut zu warnen. Jeder der Vertrauten hatte eine bestimmte Gruppe der Bevölkerung auf die Gefahr aufmerksam zu machen: Ia-du-lin redete mit den Priestern, der Hagere mit den Soldaten, Kalaeno mit dem Herrscher und den Beamten und die drei Sandwanderer mit den Sklaven, Händlern und Bauern.

Dann aber, als alle Städte gewarnt waren und die Flutwelle nahte, hatten sie die Vertrauten überall im Land auf den Fluchthügeln abgesetzt. Zum Schluß waren nur noch Tivia und Ia-du-lin im Ringflügler gewesen. Neue Berechnungen ergaben, daß das Wasser die Stadt E-rech nicht mehr erreichen würde. Tivia sagte es Ia-du-lin. Deutlich war bei dieser Mitteilung ein nie gesehener Glanz über sein Gesicht gehuscht. Während er zuvor gedrückter Stimmung war, wurde er nun zusehends lebhaft und bat Tivia, ihn nach E-rech zu fliegen, damit er von dort aus Hilfe für die überschwemmten Gebiete organisieren könne. Tivia fand diesen Vorschlag gut, brachte Ia-du-lin dorthin und landete nahe der Stadtmauer. So berichtete sie später an Bord der „Kua“. Dann plötzlich warf sich Ia-du-lin beim Aussteigen von hinten auf sie.

Sil ließ die hohe Sturzwelle weit hinter sich. Der weißgischtende Schaum leuchtete noch einige Augenblicke aus der Dunkelheit. Mit voller Kraft ließ Sil den Weißen Pfeil vorwärtsstürmen. Die Rakete stieß durch die Wolken und schoß zum Meer der toten Wasser davon, einen langen Feuerstrahl ausstoßend.

Unterwegs grübelte Sil, wie sie den Menschen noch besser helfen konnten. Da kam ihm ein schwerwiegender Gedanke. Es gab eine Möglichkeit, die Macht der Flut zu brechen, ihre Wucht zu mildern, den größten Teil des Zweistromlandes zu retten und vor dem Untergang zu bewahren. Ja, das Wasser würde sogar wieder zurückfluten und das Meer in seine alten Ufer zurückkehren. Ich muß mich mit meinen Gefährten beraten, dachte Sil. Aber würden sie bereit sein, nun auch ihre letzte Hoffnung aufzugeben? Der Verlust des Kernproduktors hatte das Gelingen der Expedition ohnehin schon stark in Frage gestellt.

Während der Pilotron das kleine Raketenflugzeug steuerte, rief Sil alle Expeditionsteilnehmer: „Hier Weißer Pfeil! Hier Sil! An alle! Dringend! Bitte melden!“

„Hier Tepi zwei“, meldete sich als erster Azul. „Hier ›Kua‹“, klang dann Sinios Stimme aus dem Tonträger. „Hier Tepi eins.“ Das war Gohati. Tepi drei mit Aerona und der Ring mit Kalaeno und Tivia meldeten sich als letzte.

„Wir müssen die Landenge sprengen!“ sagte Sil. Er lauschte.

Werden sie wissen, was ich meine? „Das Wasser muß südwärts, nicht nordwärts fließen!“ Seine Stimme war dringlicher geworden.

Zögernd kam eine Frage von Tepi drei: „Wie? — Mit geologischen Raketen?“

„Wir haben davon nur noch zwei“, sagte Kalaeno vom Ring.

„Sie reichen für diese Sprengung längst nicht aus.“

„Also dann mit Kerntreibstoff!“ sagte Gohati. Es war eher eine Feststellung als eine Frage.

„Ja“, bestätigte Sil. Seine Stimme klang hart.

„Wieviel von unseren Vorräten brauchen wir dazu?“ fragte Sinio von der „Kua“.

„Etwa sechzig Prozent“, schätzte Sil.

„Das bedeutet, sofortige Umkehr unserer Expedition“, gab Gohati zu bedenken.

„Der Rest reicht kaum bis Heloid“, klang es von der „Kua“. Sinio hatte schnell am Myonenhirn nachgerechnet.

„Wenn wir jetzt soviel Treibstoff opfern, können wir auch die Dilatation nicht mehr voll nutzen“, erinnerte Gohati.

Daran hatte Sil noch gar nicht gedacht. Das bedeutete für die meisten der Expeditionsteilnehmer, daß sie nicht nur ihre Expedition ergebnislos abbrechen und zurück zu Heloid fliegen mußten, sondern daß sie auch schnell altern und sterben würden, noch bevor das Raumschiff den Heimatplaneten erreichte. Nur für die Jüngsten, für Tivia und ihn, bestand Aussicht, Heloid wiederzusehen.

„Unser Kernproduktor ist vernichtet“, warnte Kalaeno.

„Und unser Expeditionsauftrag?“ fragte Sinio.

Niemand sprach mehr. Sil hörte den Sturm im Zweistromland aus den Tonträgern heulen.

„Wie sprengen? Wie zünden?“ fragte endlich nach einer unendlich lang scheinenden Pause noch einmal Aerona.

„Kernzertrümmerung! Überkritische Mengen! Die Aussätzigen! Der Atomicer bringt sie hin!“ sagte Sil schnell.

Denn das war die beste Möglichkeit, die Landenge zu sprengen, wenngleich dabei der größte Teil der Energie ungenutzt blieb. Aber Eile tat not.

„Ja“, sagte als erster Azul. Er war der Älteste. Ihm betraf diese Entscheidung am stärksten.

„Ich stimme auch zu“, hörte Sil Tivia sagen.

„Dafür“, sagte Kalaeno kurz.

„Eigenartig“, murmelte Sinio. „Noch nie überwand jemand den Großen Abgrund.“ Er hatte sich schon damit abgefunden, daß die Expedition ergebnislos umkehrte und wohl kaum noch Heloid erreichen würde.

„Es muß sein“, entschied Aerona.

„Wir sprengen“, sagte Gohati.

Es war beschlossen. Was habe ich da angerichtet, fragte sich Sil in diesem Moment bestürzt. Einen kurzen Augenblick schwankte er. Das ist doch das Todesurteil für die anderen, dachte er. Das bedeutete nun endgültig, daß die Expedition scheiterte. Wofür? Für sich vernichtende, bekämpfende Lebewesen eines fremden Planeten? — Nein, so durfte er nicht denken! Sie handelten so, damit die Bewohner dieses Planeten schon in einigen tausend Jahren selbst Raumfahrt betreiben könnten und damit die Vernunft bald unter ihnen siegte!

„Ich danke euch!“ sagte Sil leise: Dann rief er die „Kua“.

„Atomicer eben gelandet“, meldete Sinio. „Die Aussätzigen stehen schon zum Verladen der Kerntreibstoffe bereit.“

Kurze Zeit später landete auch Sil mit dem Weißen Pfeil auf dem Meer der toten Wasser. Er stieg zum Atomicer um. Sinio hatte inzwischen weitere Roboterkolonnen zum Umladen der Kerntreibstoffe eingesetzt. Sil fieberte. Jede Minute, die er früher sprengen konnte, rettete Tausenden von Menschen, die sich noch auf dem Weg zu den Fluchthügeln befanden, das Leben. Sorgfältig berechnete er die Verteilung der Kernladungen an der verriegelten Meerenge. Endlich kam das Abflugsignal. Der Atomicer startete. Die Aussätzigen waren mit an Bord. Bald hatte der schnelle Atomicer sein Ziel erreicht. Noch blieb genug Zeit, die Kraft der Flutwelle zu brechen und einen Teil des Wassers südwärts durch die gesprengte Meerenge in den Ozean zu leiten.

Zehnmal landete Sil den Atomicer auf der Landbarriere, die das Beben zwischen den beiden Wassern errichtet hatte.

Jedesmal verließen vier rote Roboter die große Landungsrakete. Sie schleppten Sicherheitsbehälter mit Kerntreibstoffen aus den Laderäumen. War Sil mit der Rakete wieder aufgestiegen, um ein Stück weiter erneut seine zerstörende Fracht abzusetzen, begannen die zurückgebliebenen Roboter ihr Werk. Die nahmen die Kernladungen aus ihren Sicherheitsbehältern und verteilten sie in unterkritischen Mengen über das Land. Zum Schluß behielt ein jeder von ihnen selbst eine der Ladungen. Hatten sie ihre Arbeit getan, so erstarrten die Bewegungen der Roboter. Sie warteten auf ihren letzten Befehl.

Endlich waren die Laderäume leer. Die Luken schlossen sich.

Wenige Minuten nur noch, und das atomare Feuer würde den mächtigen Felsriegel hinwegreißen. Der Atomicer strebte steil empor und durchbrach die Sturmzone und die wildbrodelnden Wolkenmassen. Der blaue Himmel und das goldenhelle Licht des gelben Sterns empfingen Sil. Nie hatte er den Menschenwesen wirklich helfen können. Nicht den Sklaven, die für Fremde arbeiteten, nicht den irrenden Gläubigen, die sich fragwürdige Weisheiten einreden ließen, und nicht den Sandwanderern, die noch lange heimatlos in ihrem dürren Land umherziehen mußten, ehe sie dermaleinst besser und sorgloser leben würden. Aber jetzt, dieses eine Mal, konnten sie, die Heloiden, den Menschenwesen doch helfen und sie vor dem Untergang bewahren.

Sil sah auf die Entfernungsangabe. Gleich mußte er den roten Robotern den Zündbefehl zufunken. Da schrillte plötzlich ein Notruf. Sil sah auf, schaltete den Erider zum Ring um — und erschrak heftig. Er sah auf dem Bildschirm das Innere der Kabine des Ringes. Tivia stand im offenen Ausstieg und wehrte sich verzweifelt gegen Ia-du-lin. Er versuchte, ihr den kleinen Strahlenwerfer zu entreißen. Schon hielt er die Waffe in der Hand. Er zielte auf Tivia. Sein Finger tastete nach dem Auslöser. Ungeübt, fand er ihn nicht gleich. Dieser Augenblick genügte. Tivia warf sich zur Seite und packte dabei Ia-du-lins Handgelenk. Die Mündung des Strahlenwerfers beschrieb wilde Kreise und zeigte schließlich zum Kanzeldach. Der Skaphander behinderte Tivia. Es gelang ihr nicht, ihm die gefährliche Waffe zu entwenden. Da löste Ia-du-lin den sengenden Strahl aus. Er stach ins Kanzeldach, senkte sich, streifte zischend Tivias Skaphander und fuhr wieder hoch.

Vom Kanzeldach tropfte flüssiges Panzerglas herab.

Glühendheiße Tropfen fielen auf Ia-du-lins Schulter. Er zuckte zusammen und schrie auf. Der sengende Strahl neigte sich erneut und zerfraß sein Gesicht. Er war sofort tot. Der Strahlenwerfer erlosch und fiel zu Boden. Ia-du-lins Körper sackte zusammen und stürzte durch den Ausstieg hinaus. Der Sturm draußen erfaßte ihn und rollte seinen leblosen Leib unter dem Ringflügler hervor über das lehmige Feld. Sein gelber Schutzumhang löste sich und flatterte davon. Regenschleier verdeckten die Sicht.

Im Schein eines Bündels greller Blitze erkannte Sil auf dem Bildschirm die Tempelsilhouette E-rechs.

Ein leise klagender Laut drang an sein Ohr. Sil starrte entsetzt auf die flimmernde Glasscheibe. Tivia krümmte sich vor Schmerz. An ihrer Bewegung erkannte Sil, daß sie zu ersticken drohte. Durch einen langen, klaffenden Riß drang die Stickluft des Planeten in ihren Skaphander. Tivia mühte sich, diesen Riß zuzupressen. Aber es gelang ihr nicht. Sie taumelte und stürzte. „Tivia!“ rief Sil.

Der Erider erlosch. Sil stockte der Herzschlag. Es ist vorbei, dachte er. Niemand ist an ihrer Seite. Erspart mir dieser Planet nichts? Dankten ihm so die Menschenwesen? Warum war es gerade Ia-du-lin, der ihm das Liebste aller Welten nahm?

Unsäglicher Schmerz durchdrang Sil. Sekunden vergingen, in denen der Atomicer weiter nordwärts stürmte.

Ein winziger Hoffnungsschimmer stieg in Sil auf. Hatte Tivia nicht noch im Fallen geistesgegenwärtig über die Tasten des Pilotrons gestrichen. Hatte sich nicht, kurz bevor das Bild erlosch, die Einstiegsluke zu schließen begonnen? Hatte sie, vielleicht aus Versehen, im Fallen auch das Sendegerät gelöscht? Also kämpfte Tivia noch um ihr Leben! Saugten vielleicht die Pumpen des Ringes die Stickluft ab und preßten heloidische Luft in die Kabine?

Ein Signal glomm auf. Die roten Roboter meldeten sich. Sie verlangten den letzten Befehl. Sie erinnerten Sil an seine Aufgabe. Schon längst war der Sicherheitsabstand durchflogen. Sil tastete zum Signalknopf. Müde drückte er die Taste. Er wußte, jetzt traten die vierzig roten Roboter mit ihren unterkritischen Ladungen auf je eine der verteilten Sprengladungen zu und berührten sie. Die überkritische Masse entstand. Die ungesteuerte Kettenreaktion setzte ein. Die atomaren Blitze zuckten auf.

Sil sah sich langsam um. Es war keine rechte Freude mehr in ihm, den Menschen des Zweistromlandes geholfen zu haben.

Fern am Horizont brach das Wolkenmeer auf, wurden Dampf und Rauch in den blauen Himmel hochgeschleudert.

Blendendes Feuer schoß hervor. Ein Wald von Pilzen quoll auf.

Sil wandte sich ab. Welche Mühe hatten sie sich gegeben, die Atmosphäre dieses Planeten sowenig wie möglich radioaktiv zu verseuchen, und nun war das Erdbeben gekommen, das am Meer der toten Wasser den Kernproduktor und die Treibstofflager verschlang und das den verhängnisvollen Wall in der Meerenge hochpreßte, den jetzt die Atomexplosionen hinwegfegten. Sil dachte daran, daß dafür nun die Wassermassen gurgelnd und schäumend wie nach dem Bruch eines Staudammes südwärts durch die Bresche zu den Weltmeeren flossen. Wertvolle Zeit war gewonnen, gewonnen für das Leben Zehntausender dieser Planetenbewohner.

Aber was wurde aus ihrer Rückkehr zum Heloid, was war mit Tivia?

Sil meldete der „Kua“ mechanisch den Vollzug der Sprengung.

Sinio wurde jetzt auf dem Bildschirm sichtbar. „Kurs E- rech“, sagte er, und nach einem langen Blick auf Sil: „Tivia lebt! — Tepi eins mit Gohati ist dort Nimm sie beide über E- rech an Bord und komm schnellstens hierher!“

Die „Kua“ startete zur festgesetzten Zeit.

Kalaeno war als letzter zum Raumschiff zurückgekehrt. Er war noch einmal im Auftrag der Besatzung bei den Vertrauten gewesen, die überall im Land verstreut auf den Hügeln der Rettung unter den Menschen wirkten. Er verabschiedete sich von ihnen. „Wir kehren jetzt zurück zu den Sternen. Wir werden uns nie mehr sehen. Aber unsere Kindeskinder werden sich in ferner Zukunft wieder begegnen. Ich wünsche euch Menschenwesen Glück auf eurem Weg in eine schöne Zeit, die bestimmt für euch kommen wird. Wir steigen auf, aber wir werden noch einige Tage mit euch aus den Wolken durch die Geräte, die wir euch gaben, sprechen können“, sagte er den Vertrauten. „Achtet das Leben“, rief er ihnen noch zu. Und dann hatten sie sich nach Menschenart umarmt. Kalaeno stieg ein, und der Ring erhob sich. Lange und gedankenvoll sahen die Vertrauten dem grauen Schatten des Ringes nach, der in der Ferne über den Hügelwellen des Landes und über der Wasserebene verschwand.

Die bei der Sprengung verbrauchten Treibstoffe zwangen die Heloiden, ohne weiteren Zeitverlust mit der vollen Kraft ihrer Hauptdüse zu starten, um sich recht schnell aus dem Bann der Anziehungskraft dieses Planeten und seines gelben Sterns zu lösen. Niemand vermag zu sagen, ob die Heloiden mit ihrem Raumschiff den Rückflug angetreten haben, um im Wettlauf mit der Zeit, mit der Zeitdilatation aus dem Großen Abgrund nach Heloid zurückzukehren, oder ob sie sich zu dem Wagnis entschlossen haben, statt dessen zu den Welten des äußeren Spiralarmes zu fliegen, in der Hoffnung, sich unterwegs selbst einen neuen Produktor zu schaffen oder die Teloiden zu finden. Sollte das erste der Fall sein, so ist die „Kua“ inzwischen auf Heloid gelandet oder zumindest doch in die Nähe ihres Heimatgestirns gelangt. Sollte das letzte der Fall sein, dann hat die Expedition der Heloiden inzwischen ihr Ziel erreicht, die Welten des äußeren Spiralarmes erforscht, Kontakt mit den Teloiden aufgenommen und eine dauerhafte Radioverbindung über den Großen Abgrund hergestellt. Zur Zeit könnten sie sich auf ihrem fast lichtschnellen Rückflug befinden.

Jedoch wird die „Kua“ kaum nochmals auf unserer Erde landen, sosehr auch Tivia, Sil, Gohati und die anderen erfahren möchten, wie die Entwicklung der Menschen inzwischen fortgeschritten ist. Es wäre aber denkbar, daß die Besatzung der „Kua“ schon vor langem eine Radiobotschaft zum Heloid abgesandt hat, in der sie von der Existenz der Menschenwesen berichtete. Vielleicht geschieht es, daß in einem der kommenden Jahrtausende abermals ein Raumschiff der Heloiden auf der Erde landet. Kalaeno hatte es den Vertrauten versprochen.

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