KAPITEL NEUN Im Dunkelwald

RUPERT LAG IM BURGHOF auf dem Rücken und überlegte krampfhaft, wer da weinte. Die tränenerstickte Stimme, die seinen Namen rief, kam ihm irgendwie bekannt war, aber er konnte sie nicht richtig zuordnen. Er hätte die Frau, wer immer sie war, gern getröstet, aber er fand keine Worte, und nach einer Weile ließ das Schluchzen nach. Rupert wusste, dass er auf dem Burghof lag; das verriet ihm das Kopfsteinpflaster, das ihm hart ins Kreuz drückte. Aber alles andere war verwischt und weit weg. Er hatte kaum noch Schmerzen, und einen Moment lang beunruhigte ihn das, aber nur einen Moment lang. Er spürte Blut im Gesicht und in den Augen, und als er es wegwischen wollte, gehorchten ihm die Arme nicht. Jemand zerrte an seinem Brustpanzer, und die Stimme rief wieder seinen Namen, aber er gab keine Antwort. Es erschien ihm nicht wichtig, und er war müde, so entsetzlich müde.

Julia bemühte sich, die Reste von Ruperts Brustpanzer abzustreifen, damit sie seine Wunden untersuchen konnte, aber die Schließen waren glitschig von Blut, und sie war so erschöpft, dass sie alles verschwommen sah. Verbissen kämpfte sie gegen die Schließen an und fluchte über ihre ungeschickten Finger. Rupert hatte sich nicht bewegt, seit er zusammengebrochen war, und je eingehender Julia ihn betrachtete, desto mehr wuchs ihr Entsetzen. Er blutete so stark, dass sie eine Wunde kaum von der anderen unterscheiden konnte, und was immer sie anstellte, es gelang ihr nicht, ihn ins Bewusstsein zurückzuholen. Sie wischte ihm mit einem Stofffetzen das Blut aus dem Gesicht und erstarrte mitten in der Bewegung, als sie entdeckte, dass er sein rechtes Auge verloren hatte. Der Anblick der leeren Augenhöhle schnürte ihr den Hals zu, aber sie fand keine Tränen mehr, um ihrem Kummer Ausdruck zu verleihen. Sie wollte um Hilfe rufen, doch die Worte erstarben ihr auf den Lippen, als sie ihre Blicke über den Hof wandern ließ.

Was sie sah, war ein Schlachthaus. Tote, Sterbende und Verwundete lagen Seite an Seite. Einige der überlebenden Kämpfer hatten sich einfach zu Boden geworfen, zu erschöpft oder zu entsetzt von den schrecklichen Erlebnissen, um etwas zu trinken oder zu essen, zu müde, um jemanden zu bitten, einen Verband anzulegen. Diener liefen zwischen den Verwundeten hin und her; sie taten, was sie konnten, um die Schmerzen zu lindern. Unterdessen bewachten Frauen und Kinder mit Stöcken und Heugabeln die Zinnen der Burg.

Hoch über dem Burghof starrte der Blaue Mond unbarmherzig aus der sternenlosen Nacht herab, und jenseits des Walls hämmerten die Dämonen unablässig gegen die ächzenden Eichentore.

König Johann erhob sich mühsam und schob Felsenbrecher in die Scheide, ohne die Waffe auch nur eines Blickes zu würdigen. Trotz ihrer legendären Macht hatten die Schwerter der Hölle nur wenig gegen den Dunkelwald auszurichten vermocht. Nun waren zwei der Klingen verloren, und er hatte keinen Trumpf mehr gegen die endlose Nacht. Es ist vorbei, dachte er. Wir haben verloren. Ich tat, was ich konnte, aber es war nicht genug. Einen Moment lang kämpfte er gegen den Impuls an, einfach wegzurennen und sich zu verstecken, sich in seinen Gemächern zu verbarrikadieren und zu warten, bis ihn die Dämonen holten. Aber er wusste, dass er das nicht tun konnte. Er war der König, und er hatte mit gutem Beispiel voranzugehen. Selbst wenn das Ganze keinen Sinn mehr hatte. Harald kam ihm entgegen. Er nickte seinem Sohn wortlos zu, und dann sahen sie beide zu Rupert und Julia hinüber.

»Wie geht es ihm?«, fragte der König und musste sich zwingen, den Blick nicht abzuwenden, als er das ganze Ausmaß von Ruperts Verletzungen erkannte.

»Schlecht«, sagte Harald, und Julia fuhr wütend zu ihm herum.

»Du hast ihn einfach da draußen liegen gelassen, du Dreckskerl!«

Harald hielt ihren zornigen Blicken gelassen stand. »Wenn er den Dämonen nicht den Weg blockiert hätte, wären wir niemals in der Lage gewesen, rechtzeitig die Tore zu schlie­

ßen. Der kurze Vorsprung, den er uns verschaffte, reichte aus, um alle jene zu retten, die sich in die Burg geflüchtet hatten.

Rupert wusste, dass er sich opfern würde, als er zum Eingang des Bergfrieds lief, aber er kannte seine Pflicht. Meine Pflicht bestand darin, die Tore zu verrammeln, damit sein Opfer nicht umsonst war. Ich habe das Notwendige veranlasst, Julia.

Ich habe richtig gehandelt.«

»Das tust du immer, Harald«, sagte der König. Er kniete schwerfällig neben Julia nieder und legte ihr einen Arm um die Schultern.

»Wir müssen etwas unternehmen«, flehte ihn Julia an. »Es muss irgendeinen Weg geben. Er stirbt!«

»Ja«, sagte der König leise. »Ich fürchte, du hast Recht.

Es war ein mutiger Einsatz. Der mutigste Einsatz, den ich je gesehen habe.«

»Du darfst nicht sterben!«, schrie Julia plötzlich. Sie packte Rupert an den Schultern und schüttelte ihn. »Wach auf, verdammt noch mal! Ich lasse nicht zu, dass du stirbst!«

Harald und der König versuchten sie sanft von Rupert wegzuziehen, aber sie setzte sich gegen die beiden Männer zur Wehr.

»Lasst mich durch!« Die Stimme des Großen Zauberers klang müde. Julia hörte auf, um sich zu schlagen, und drehte sich rasch um.

»Helfen Sie ihm! Sie besitzen magische Kräfte! Helfen Sie ihm!«

»Mal sehen, was ich tun kann, Mädchen.« Der Zauberer kam näher, mit langsamen, bedächtigen Schritten, wie ein uralter Mann, dem sämtliche Knochen wehtaten. Und dann erkannte Julia entgeistert, dass der Zauberer ein uralter Mann war. Das kurz zuvor noch tiefschwarze Haar war grau und von weißen Strähnen durchzogen; tiefe Falten und Runzeln zerfurchten das hagere, knochige Gesicht. Die krummen, knotigen Hände zitterten unentwegt, als er sie über Ruperts Brust ausstreckte. Einen Moment lang züngelten grelle Blitze aus seinen Fingerspitzen, und Ruperts Wunden schlossen sich. Die Blutungen kamen zum Stillstand, und die Züge des Prinzen entspannten sich ein wenig, aber er erwachte nicht aus seiner Ohnmacht. Der Große Zauberer nickte grimmig und wandte sich Julia zu. Sie spürte eine intensive Wärme, die sich in ihrem Körper ausbreitete, und als die Wärme verschwand, nahm sie die Schmerzen mit. Nur die Müdigkeit blieb und die tiefe Verzweiflung, die sie bei dem Gedanken erfasste, dass sie Rupert um ein Haar für immer verloren hätte.

»War es das?«, fragte sie den Zauberer ängstlich. »Wird er wieder gesund?«

»Ich weiß es nicht, Julia. Meine Magie ist fast erloschen, aber ich habe für ihn getan, was ich vermochte.«

»Was geschah während des Kampfes mit deiner Magie?«, fragte der König vorwurfsvoll.

»Wir wurden verraten«, entgegnete der Zauberer ruhig.

»Kurz bevor die Torflügel aufschwangen, erschien ein Diener mit mehreren Krügen Wein, mit besten Empfehlungen von dir. Wir waren alle sehr gerührt über diese Geste. Die Leute lachten, prosteten sich zu und tranken auf dein Wohl. Das Gift in dem Wein hätte ausgereicht, um ein ganzes Heer zu töten. Meine Magie war stark genug, um dem Trank entgegenzuwirken, aber die anderen waren verloren. Sie brachen im gleichen Moment zusammen, als sich die Tore öffneten, die Hände gegen die Kehlen gepresst und nach Luft ringend.

Ich hielt durch, solange ich konnte, aber dann übermannte auch mich das Gift. Als ich schließlich aus meiner Ohnmacht erwachte, sah ich ringsum Berge von Leichen, und die Schlacht war vorbei. Ich gab mein Bestes, Johann, und es tut mir Leid, dass es nicht ausgereicht hat.«

»Thomas Grey!«, rief der König plötzlich. »Er war an deiner Seite!«

»Er hatte Glück«, sagte der Zauberer. »Ihm schmeckte der Wein nicht, deshalb nippte er nur daran. Er und ich waren die beiden einzigen Überlebenden unter mehr als fünfzig Magiern.«

»Wer hat das getan?«, fragte Harald. »Wer trägt die Verantwortung für diese gemeine Intrige? Ich dachte, wir hätten alle Verräter entlarvt und ausgeschaltet.«

Der Zauberer zuckte mit den Schultern. »Der Diener, der uns den Wein kredenzte, ist tot. Jemand benutzte ihn und brachte ihn dann um, damit die Wahrheit nicht ans Licht kam.«

Er verstummte, als Rupert sich plötzlich bewegte und aufzusetzen versuchte.

»Julia?«

»Ich bin bei dir, Rupert.« Sie legte ihm einen Arm um die Schultern und stützte ihn. Er schüttelte schwerfällig den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen.

»Wie fühlst du dich, mein Sohn?«, fragte der König.

»Schrecklich – aber ich werde überleben.«

»Natürlich«, sagte Harald. »Das hast du noch jedes Mal geschafft.«

»Mein Auge schmerzt«, murmelte Rupert und erstarrte, als seine Finger anstelle des rechten Auges nur ein geschlossenes Lid ertasteten. »Mein Auge – was ist mit meinem Auge geschehen?«

»Immer sachte, mein Junge«, sagte der König, und Julia hielt rasch seine Hand fest, damit er die frischen Narben im Gesicht nicht wieder aufriss.

»Tut mir Leid, Rupert«, meinte der Große Zauberer leise.

»Aber mehr konnte ich nicht für dich tun.«

Rupert schluckte und kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Er fühlte sich verstümmelt, verkrüppelt, weit schlimmer, als wenn er einen Arm oder ein Bein verloren hätte. Die Welt wirkte merkwürdig verändert, wenn man sie nur durch ein Auge betrachtete; sie sah flach und irgendwie unwirklich aus, und es fiel ihm schwer, die Entfernungen richtig abzuschätzen. Ihm kam ein einäugiger alter Wachmann in den Sinn, der ihm einmal erzählt hatte, dass er nicht mehr mit dem Schwert kämpfen konnte, weil ihm das Gefühl für die Raumtiefe abhanden gekommen war. Erneut stieg Panik in ihm auf.

»Wie zum Teufel soll ich ein Schwert benutzen, wenn mir ein Auge fehlt?«

»Mach dir darüber keine allzu großen Sorgen«, sagte Harald leichthin. »Da draußen wimmelt es derart von Dämonen, dass du sie gar nicht verfehlen kannst!«

Einen Moment lang hatte Julia das Verlangen, Harald für diese Gefühlskälte umzubringen, aber sie nahm die Hand vom Schwertgriff, als sie merkte, dass Rupert lachte.

»Du alter Schweinehund!« Rupert grinste seinen Bruder an. »Vielen Dank, dass du wieder mal die Perspektive zurechtrückst!«

»Eines meiner nützlicheren Talente«, meinte Harald. »Aber wenn ihr mich jetzt entschuldigt – ich möchte nachsehen, ob die Wehrgänge ausreichend besetzt sind.«

Er verbeugte sich höflich und schlenderte über den Burghof. Julia schaute ihm kopfschüttelnd nach.

»Es gibt Zeiten«, sagte sie langsam, »da mir der Mann ein Rätsel ist.«

»Mir auch«, pflichtete ihr der König trocken bei. Julia sah ihn forschend an, während er sich müde die Augen rieb.

»Sie sehen ganz schön fertig aus, Johann. Wie lief es in der Schlacht für Sie? Sind Sie verletzt?«

»Nur ein paar Kratzer und blaue Flecken, meine Liebe.

Und wie die Schlacht lief? Ich führte meine Leute in den Kampf und brachte einige von ihnen wieder auf die Burg zurück. Eine Weile fühlte ich mich fast wieder wie ein König.« Er betrachtete mit unbewegter Miene den Berg von Toten, den man in eine Ecke des blutverspritzten Hofes aufgeschichtet hatte. Dann schüttelte er den Kopf. »Der Preis war zu hoch.«

»Sie kamen mit mir nach draußen, um Ihren Sohn zu retten. Das war tapfer und heldenhaft.«

»Tapferkeit und Heldentum helfen uns nicht weiter«, sagte der König. »Sehen Sie sich um, Julia! Mein Heer ist aufgelöst, die Burg wird belagert, und ich habe nicht einmal genug Leute, um die Wehrgänge zu besetzen. Zwölf Generationen unseres Geschlechts haben das Waldkönigreich aufgebaut und stark gemacht. Eine Generation reichte aus, um es zu zerstören – ein einziger unfähiger König.«

»Es war nicht Ihre Schuld…«

»Nein? Der König ist das Land, und das Land ist der König. Ich habe als Herrscher versagt, und nun muss das Land den Preis dafür bezahlen.«

»Blödsinn!«, rief Julia. »Sie sind ein Mensch wie jeder andere, und Sie taten alles nur Erdenkliche, um diese unmögliche Aufgabe zu bewältigen. An Ihnen lag es nicht, Johann.

Der Dunkelwald schert sich nicht darum, wie tapfer oder stark Sie sind. Er ist ein Teil der Natur, wie ein Erdbeben oder ein Sturm. Sie können nicht darauf hoffen, ihn mit Schwertern, Streitäxten und Truppen zu besiegen.«

»Was soll ich dann tun? Aufgeben?«

»Nein«, fuhr Julia auf. »Wir kämpfen weiter, aber anders als bisher. Wir haben es mit Waffen und mit Magie versucht, und beides war vergeblich. Nun bleibt uns nur noch eine Möglichkeit. Überlegen Sie, Johann! Was ist das eigentliche Herz des Dunkelwalds, was gibt ihm Sinn und Zweck? Der Dämonenfürst! Vernichten Sie ihn, und Sie vernichten den Dunkelwald!«

»Ich glaube, ich höre nicht recht«, ließ sich Rupert vernehmen. »Wir haben alle Mühe, die Belagerer von der Burg fern zu halten, und du verlangst, dass wir in den Dunkelwald ziehen und uns den Dämonenfürsten höchstpersönlich schnappen! Wir würden da draußen keine fünf Minuten überleben!«

»Wir müssen es versuchen«, beharrte Julia. »Es ist unsere einzige Hoffnung.«

»Einen Augenblick«, sagte Rupert. »Ich schlage das nur ungern vor, aber wie wäre es mit einem neuerlichen Teleport-Versuch? Wenn der Zauberer diesmal alles richtig macht, könnte er uns geradewegs zum Dämonenfürsten bringen.«

»Nein«, erklärte der Zauberer ruhig. »Für diese Art von Zauber reicht meine Magie nicht mehr aus.«

»Der Drache!«, rief Rupert. »Er könnte uns über den Dunkelwald hinwegtragen!«

Der Große Zauberer schaute ihn an. »Ihr habt einen Drachen? Hier?«

»Klar«, bestätigte Julia. »Er schläft in den Ställen.«

Der Zauberer schüttelte bedächtig den Kopf. »Warum erfahre ich das jetzt erst?«

»Als ich ihn das letzte Mal besuchte, konnte ich ihn einfach nicht wach kriegen«, berichtete Rupert. »Vielleicht schaffen Sie es ja, Sir Zauberer.«

»Es wäre zumindest einen Versuch wert. Aber vorher muss ich ausruhen.«

»In Ordnung«, meinte der König. »Ich schlage vor, wir versuchen alle, ein wenig Kraft zu schöpfen. In einer Stunde treffen wir uns wieder – falls die Dämonen die Burg nicht vorher stürmen.«

»Du warst schon immer ein elender Pessimist, Johann«, knurrte der Große Zauberer.

Der Zauberer saß auf der untersten Stufe der Treppe, die zum Haupteingang führte, und betrachtete verdrießlich die leere Weinflasche in seiner Hand. Noch vor wenigen Stunden hätte der bloße Gedanke an Nachschub gereicht, um ihn mit dem edlen Nass zu versorgen, aber jetzt… Er seufzte und stellte die Flasche so ab, dass er sie nicht im Blickfeld hatte. Ein düsteres Lächeln huschte über seine Lippen, als er an das Giftgebräu dachte, das ihm der Diener kredenzt hatte. Vielleicht sollte er die Warnung ernst nehmen und das Weintrinken ganz aufgeben. Im Moment war ihm ohnehin eher nach einem Gläschen Brandy zumute. Er überlegte, ob er die Weinkeller des Königs plündern sollte, entschied sich aber dagegen. Die Dämonen konnten jeden Moment den Burgwall erstürmen, und dann musste er bereit sein. Wieder seufzte er.

Jemand gesellte sich zu ihm. Er hob den Kopf und sah, dass es König Johann war.

»Du siehst schrecklich aus.«

»Danke, Johann.«

»Dein Haar ist in den letzten Stunden völlig grau geworden.«

»Da siehst du, was es bringt, ohne Alkohol zu leben!«

König Johann musste gegen seinen Willen lachen. »Du verlierst deine Zauberkraft, nicht wahr?«

»Sieht ganz danach aus. Das ist aber auch kein Wunder.

Ich musste an einem Tag mehr zaubern als sonst in einem ganzen Jahr. Und der Kampf gegen diesen Gifttrank hat meine letzten Reserven aufgezehrt. Jetzt werde ich mit jedem Bannspruch ein wenig älter. Ich spüre den Winter in meinen Knochen. Und ich werde vergesslich. Dabei hasse ich nichts mehr, als wenn mich mein Gedächtnis im Stich lässt.«

»Ich weiß«, sagte der König. »Mir geht es manchmal ähnlich. In gewisser Weise ist es aber auch ein Segen. Schließlich gibt es in deinem und in meinem Leben ein paar Dinge, an die wir uns nicht gern zurückerinnern.«

Julia schnallte die lange Silberscheide von der Schulter und betrachtete sie nachdenklich. Nun, da sie das Höllenschwert nicht mehr enthielt, sah sie irgendwie anders aus. Das Silber selbst wirkte matt und glanzlos, und die alten Runen, die tief in das Metall eingraviert waren, schienen keine geheime Botschaft mehr zu vermitteln. Julia wog die Scheide in beiden Händen und warf sie in hohem Bogen auf einen Stapel Waffen, den die heimkehrenden Kämpfer in einer Ecke des Hofes aufgeschichtet hatten. Aus der Ferne betrachtet war sie nun nur noch eine Schwertscheide unter vielen.

Julia lehnte sich gegen den Ostwall und schloss die Augen.

Es kam ihr fast verwerflich vor, sich auszuruhen, während alle anderen über den Hof rannten wie Hühner, die vor dem Kochtopf fliehen, doch solange der Zauberer nicht einsatzbereit war, gab es für sie nichts zu tun. Also setzte sie sich auf den Boden, presste den Rücken gegen das Mauerwerk, streckte die Beine aus und versuchte sich zu entspannen. Ein schwaches Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie mit der Rechten das Seitenschwert umklammerte. Rupert hatte ihr dieses Schwert vor einer halben Ewigkeit geschenkt – zumindest schien ihr das so –, und es hatte ihr stets gute Dienste geleistet. Und das war mehr, als sie von Hundsgift behaupten konnte. Mit dem Höllenschwert in der Hand hatte sie sich nie wohl gefühlt. Sie hätte es behalten können, anstatt es in der Erdspalte verschwinden zu lassen, zusammen mit dem Monster, das es töten sollte, aber sie hatte es absichtlich losgelassen und war immer noch überzeugt davon, dass sie das Richtige getan hatte. Hundsgift war mehr als nur ein Schwert; sehr viel mehr. Es lebte und besaß ein eigenes Bewusstsein, und es hatte versucht, von ihrem Verstand und von ihrer Seele Besitz zu ergreifen. Und Julia wusste, dass sie diesem Schwert verfallen wäre, wenn sie es nur lange genug benutzt hätte. Am Ende hatte sie es aufgegeben, weil sie merkte, wie schwer sie sich davon trennen konnte.

Schritte näherten sich. Sie blinzelte kurz, erkannte Harald und schloss die Augen wieder.

»Ich sehe, du hast die Schwerthülle weggeworfen«, sagte Harald. »Eine gute Entscheidung, wenn du mich fragst. Wenn die alten Legenden stimmen, dann können die Schwerter der Hölle nie zerstört werden, und wenn man sie verliert oder sich von ihnen befreit, kehren sie irgendwann zurück zu ihren Hüllen.«

»Du glaubst diesen Quatsch?« Julia machte sich nicht die Mühe, die Augen zu öffnen.

»Ich habe in jüngster Zeit viele Dinge erlebt, die ich früher nie für möglich gehalten hätte«, entgegnete Harald ruhig.

»Deshalb habe ich die Hülle meines Zauberschwerts ebenfalls weggeworfen.«

Julia öffnete die Augen und sah ihn an. Die Schwertscheide war von seinem Rücken verschwunden, und Julia hatte das Gefühl, dass Harald ohne das Ding ein Stück größer wirkte.

Ihre Blicke trafen sich. Sie wussten beide, wie nahe sie daran gewesen waren, sich von den Zauberschwertern verführen und überwältigen zu lassen – ein Wissen, das sie nie mit anderen teilen würden. Nach einer Weile schauten sie zu Boden, vielleicht weil sie die Erinnerung verdrängen wollten.

Weil sie vergessen wollten.

»Glaubst du, dass der Zauberer den Drachen wecken kann?«, fragte Harald.

»Schwer zu sagen. Der Drache liegt jetzt seit Monaten im Winterschlaf. Rupert glaubt, dass er in den Tod hinüberdämmert.«

»Hmm. Es soll schon vorgekommen sein, dass sich auch Rupert täuscht.«

Julia sah Harald forschend an. »Du hättest das Tor doch geschlossen und ihm den Rückzug abgeschnitten, stimmt's?«

»Wie oft denn noch, Julia? Es war notwendig. Jemand musste den Bergfried verteidigen, damit die Eingänge gegen den Feind gesichert werden konnten.«

»Und warum nicht du?«

Harald lächelte. »Ich habe noch nie gern den Helden gespielt.«

»Das ist mir auch schon aufgefallen.« Julia stand mühsam auf und machte sich auf die Suche nach Rupert.

Rupert lehnte sich gegen die versperrte Stalltür und wartete ungeduldig auf das Erscheinen der anderen. Es war immer noch bitterkalt auf dem Burghof, und er bedauerte, dass er nicht nach drinnen gegangen war und sich einen dicken Mantel geholt hatte. Er schlug die Hände zusammen, hauchte die Fingerspitzen an und verschränkte schließlich die Arme vor der Brust. Kalt. Immer diese Kälte. Er spähte erwartungsvoll über das Menschengewimmel auf dem Burghof hinweg, aber von den anderen war keine Spur zu sehen. Ich weiß nicht, warum ich mir immer die Mühe mache, rechtzeitig zu erscheinen, dachte Rupert verärgert. Kein Mensch außer mir kommt zum vereinbarten Zeitpunkt! Er zog sein Schwert und begann mit ein paar einfachen Übungen, aber die Eiseskälte machte ihn ungeschickt und schwerfällig, und die eingeschränkte Sicht behinderte seine Zielsicherheit. Schließlich gab er auf und schob das Schwert wütend in die Scheide. Ob es ihm passte oder nicht, seine Tage als Schwertkämpfer waren endgültig vorbei. Vielleicht sollte er sich auf die Streitaxt umstellen. Mit einer Streitaxt traf man wesentlich leichter. Er tastete vorsichtig nach dem geschlossenen Augenlid und fluchte leise vor sich hin. Das Auge war verschwunden, aber es schmerzte immer noch. Er bewegte den linken Arm und die Schulter und nickte verdrießlich. Wahrscheinlich musste er dankbar sein, dass wenigstens einiges wieder in Ordnung gekommen war.

Bei dem Gedanken fiel Rupert das Einhorn wieder ein, und er runzelte die Stirn. Der Stallknecht hatte Sturmwind einen starken Schlaftrunk eingeflößt, um seine Schmerzen ein wenig zu lindern, und Rupert versichert, dass die Wunden letztlich verheilen würden, aber seine Stimme hatte eher skeptisch als überzeugt geklungen. Rupert seufzte müde. Ehe das Einhorn aus seiner Betäubung erwachte, war die Entscheidungsschlacht sicher zu Ende – so oder so.

Er ließ den Blick über den Hof schweifen und lächelte plötzlich, als er einen Kobold erkannte, der einen Rieseneimer mit kochendem Pech über das Kopfsteinpflaster schleppte. Rupert rief ihm einen Gruß nach, und der Kleine drehte sich verblüfft um. Er grinste breit, als er den Prinzen erkannte, und gesellte sich zu ihm. Einen Moment lang sah es so aus, als würde das Pech überschwappen, als er den schweren Eimer abstellte, und er fluchte ausgiebig. Dann wollte er Rupert die Hand reichen, sah jedoch gerade noch, wie schmutzig sie war, und salutierte zackig.

»Hallo, Prinzchen!«, feixte der kleinste Kobold. »Wie geht es immer?«

»Den Umständen entsprechend«, erwiderte Rupert. »Hast du eine Ahnung, wie es der Koboldtruppe in der Schlacht erging? Ich wurde gleich am Anfang vom Hauptheer abgeschnitten und verlor sie aus den Augen.«

»Sie sind alle tot«, erklärte der Kobold nüchtern. »Jeder Einzelne von ihnen. Sie gaben ihr Bestes, aber Kobolde werden nun mal nicht als Kämpfer oder Helden geboren.«

»Das tut mir Leid«, sagte Rupert. »Ich hatte keine Ahnung…«

»Unser Anführer starb mit ihnen«, fuhr der kleinste Kobold fort. »Er bestand darauf, seine Männer in den Kampf zu führen. Er war als Oberkobold nie so richtig glücklich, aber wir hatten keinen Besseren. Und er gab sich echt Mühe. Armer Kerl. Kam wohl nie über den Tod seiner Familie während des ersten Dämonen-Überfalls hinweg.«

»Und wer ist jetzt euer Anführer?«, wollte Rupert wissen.

Der kleinste Kobold grinste breit. »Ich natürlich – wer sonst? Ich habe vielleicht wenig Ahnung vom Heldentum, aber ich verstehe mich auf fiese Tricks und gemeine Fallen.

Wenn du mich jetzt entschuldigst, Prinzchen – ich muss den Eimer zu den Wehrgängen bringen, bevor das Pech kalt wird.

Warte nur, bis diese Dämonen versuchen, am äußeren Burgwall hochzuklettern. Die werden nicht wissen, wie ihnen geschieht!«

Er kicherte boshaft, packte seinen Eimer und eilte weiter über den Hof. Rupert blickte ihm nach und dachte dabei an den größten Kobold, den er je gesehen hatte, in eine schlecht sitzende Bronzerüstung gepackt und mit einer übel stinkenden Zigarre im Mund. Ein Kobold, der sich einst gewünscht hatte, von den Menschen das Vergessen zu lernen, weil sein Volk so viel zu vergessen hatte…

Jemand rief seinen Namen. Rupert schaute auf und sah Julia und den Großen Zauberer aus der Menge auf sich zukommen.

»Ich habe etwas für dich«, sagte Julia gut gelaunt und reichte ihm ein Stück schwarze Seide. Er drehte das Ding zweifelnd in beiden Händen.

»Und was ist das, Julia?«

»Eine Augenklappe, du Dummkopf! Streif sie mal über!«

Rupert gehorchte und rückte die Klappe hin und her, bis sie endlich richtig saß. »Nun?«, fragte er verlegen. »Wie sehe ich aus?«

Julia hielt den Kopf schräg und betrachtete ihn voller Bewunderung. »Verwegen!«, stellte sie fest. »Genau wie die Piraten in meinen Kinderbüchern!«

»Besten Dank!«, knurrte Rupert. Er warf einen drohenden Blick in die Runde, und der Zauberer wandte sich rasch den Stallungen zu. Der weitläufige, heruntergekommene Bau schien ihm nicht sonderlich zu imponieren.

»Seid ihr sicher, dass da drinnen ein Drache haust?«

»Er wählte den Stall selbst als Schlafquartier«, erklärte Julia. »Und ich hatte ausnahmsweise keine Lust, mit ihm zu streiten.«

»Hm.« Der Zauberer schüttelte den Kopf. »Wie habt ihr ihn überhaupt dazu gebracht, euch auf die Burg zu folgen?«

»Ich rettete ihn vor einer Prinzessin«, sagte Rupert, und Julia nickte feierlich. Der Große Zauberer sah sie beide an und beschloss, nicht nachzuhaken. Er wollte die näheren Umstände lieber nicht erfahren.

Rupert drehte den Schlüssel herum und schob die Tür auf.

Im Innern des alten Holzgebäudes herrschte Dunkelheit, obwohl hier und da ein Lichtschimmer durch die mit Brettern vernagelten Fenster hereindrang. Rupert nahm eine Fackel aus der Halterung neben der Tür und schlug mit Feuerstein und Stahl Funken. Die plötzlich auflodernde Flamme drängte das Dunkel zurück, und der Stall vor ihnen nahm Gestalt an.

In den leeren Boxen sammelten sich die Schatten, und die niedrige Reetdecke war gerade noch zu erkennen. Rupert betrat den Mittelgang, gefolgt von Julia und dem Großen Zauberer.

Ihre Schritte hallten dumpf in der Stille wider, und das Licht der Fackel hüpfte und tanzte unentwegt, obwohl sie keinerlei Zugluft spürten. Sie entdeckten den Drachen ganz hinten im Stall, eingerollt in einem Nest aus schmutzigem Stroh. Seine großen gefalteten Schwingen hoben und senkten sich im trägen Rhythmus seines Atems. Rupert starrte den schlafenden Koloss schweigend an, und eine Woge der Scham erfasste ihn. Der Drache war seinetwegen im Dunkelwald verwundet worden. So schwer verwundet, dass er Monate später immer noch völlig entkräftet vor sich hindämmerte.

So schwer verwundet, dass er vielleicht sterben musste. Und sein einziges Bestreben bestand darin, das Tier zu wecken, damit es sich erneut in den Dunkelwald und in Lebensgefahr begab. Rupert fühlte sich müde, schuldbewusst und mehr als verlegen, aber er dachte nicht daran, seinen Plan aufzugeben.

Der Drache war die einzige Hoffnung, die dem Waldkönigreich noch blieb.

Der Große Zauberer pfiff leise durch die Zähne, als er sah, wie groß der Drache war, und nickte nachdenklich. »Wie lange liegt er schon so da?«

»Zwei oder drei Monate«, entgegnete Julia. »Er hat sich nie richtig von den Wunden erholt, die er bei unserer ersten Reise durch den Dunkelwald erlitt. Nachdem er hier Quartier bezogen hatte, döste er die meiste Zeit vor sich hin, bis wir ihn schließlich überhaupt nicht mehr wecken konnten.«

Der Zauberer runzelte die Stirn. »Seltsam. Im Allgemeinen sind Drachen schnell wieder auf dem Damm. Eine Wunde verheilt oder bringt sie um.«

Er trat dicht an den Drachen heran und strich ihm mit einer Hand langsam über den Kopf. Den Koloss umspielte ein fahles Leuchten, das gleich darauf wieder verschwand. Der Drache schlief ungerührt weiter, während der Große Zauberer grimmig vor sich hin nickte.

»Dachte ich es mir doch! Er steht seit Monaten unter einem Bann.«

»Einem Bann?«, stieß Rupert hervor. »Heißt das etwa, dass ihn jemand zum Schlafen zwingt?«

»Leider ja. Und wer immer den Bann aussprach, muss sich hier in der Nähe befinden, sonst wäre die Magie längst erloschen.«

»Ich kann es nicht glauben«, sagte Julia. »Ich kann es einfach nicht glauben. Noch ein Verräter? Das darf nicht wahr sein! Darius und seine Verschwörer waren die Einzigen, die einen echten Groll gegen König Johann hegten. Aber die sind alle entweder tot oder im Exil. Wer sonst käme für einen Verrat in Frage?«

»Weshalb sehen Sie mich an?« Der Zauberer hob abwehrend die Hände. »Ich bin politisch nicht auf dem Laufenden.«

»Wer immer hinter dieser Geschichte steckt, hat es wohl auf die Krone abgesehen«, sagte Rupert langsam. »Für ein geringeres Ziel würde sich das Risiko nicht lohnen. Also müssen wir nach jemandem suchen, der König werden will…

oder der es nicht erwarten kann, auf dem Thron zu sitzen.«

»Nein«, widersprach Julia. »Das glaube ich nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil… er das einfach nicht fertigbrächte. Darum nicht.

Immerhin hat er sich gegen die Verschwörer gewandt, die ihn zum König machen wollten!«

»Wenn ich die Geschichte richtig verstanden habe, dann wäre er bestenfalls ein Marionettenherrscher der Barone geworden.«

»Vielleicht bin ich etwas begriffsstutzig«, warf der Zauberer gereizt ein, »aber könntet ihr mir mal erklären, von wem hier die Rede ist?«

»Von Harald natürlich«, erklärte Rupert grimmig. »Von Kronprinz Harald, meinem Bruder. Er war schon immer sehr

… ehrgeizig.«

»Harald«, wiederholte der Zauberer nachdenklich. »Ich kannte ihn gut, als er noch ein Kind war. Kräftiger kleiner Bursche, für den es nichts Schöneres als die Jagd gab. Ich war eine Zeit lang sein Lehrer, aber er besaß keinen Funken Talent für die Magie.«

»Da hast du es!«, sagte Julia vorwurfsvoll. »Unser Verräter muss ein ziemlich mächtiger Zauberer sein.«

»Nicht unbedingt«, meinte Rupert. »Das Curtana wurde nie gefunden…«

»Das Schwert des Zwangs!«, rief Julia. »Natürlich! Die Waffe, die der König ursprünglich gegen die Dämonen einsetzen wollte!«

»Genau«, stimmte Rupert zu. »Nur ging es während des Aufstands verloren. Die Landgrafen behaupteten steif und fest, dass sie es nie besessen hätten, und ich neige dazu, ihnen zu glauben. Ich kenne die Schutzvorkehrungen, die man für die Schwerter der Hölle getroffen hatte. Die Waffen waren nur Angehörigen der Herrscherfamilie zugänglich. Jeder Außenstehende, der versucht hätte, sie an sich zu nehmen, wäre auf der Stelle getötet worden. Es erscheint nur logisch, dass das Curtana auf ähnliche Weise verwahrt wurde.«

»Wer immer also das Schwert an sich nahm, muss ein Mitglied des Königshauses gewesen sein«, sagte der Große Zauberer nachdenklich.

»Genau«, bestätigte Rupert. »Mein Vater, Harald oder ich.

Ich war weit weg, als das Schwert verschwand, und dass der König selbst es an sich nahm, ergibt keinen Sinn. Demnach bleibt nur… Harald.«

»Das ergibt auch keinen Sinn«, beharrte Julia. »Wenn sich das Curtana in seinem Besitz befände, hätte er es inzwischen längst benutzt. Ganz sicher wäre er nicht in die Entscheidungsschlacht gegen die Dämonen gezogen, ohne es mitzunehmen.«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Vielleicht gibt es einen Grund dafür, dass er das Schwert noch nicht einsetzen kann.

Aber es kommt einfach niemand außer Harald in Frage.«

»Nein«, sagte Julia. »Das glaube ich nicht.«

»Du meinst, du willst es nicht glauben«, fuhr Rupert sie an. »Wenn man dem Hofklatsch glauben darf, hast du dich sehr gut mit Harald verstanden, während ich fort war.«

»Und was soll das jetzt wieder heißen?«

»Du weißt verdammt genau, was das heißen soll!«

»Schrei mich nicht an!«

»Ich schreie dich nicht an.«

»Ruhe!« fauchte der Zauberer und blitzte die beiden jungen Leute wütend an, bis sie ihr Gezänk einstellten.

»Schlimmer als die kleinen Kinder! Ist es vielleicht zu viel verlangt, dass ihr euch endlich mit dem eigentlichen Problem befasst? Und falls ihr es vergessen habt – es geht darum, diesen verdammten Drachen irgendwie wach zu bekommen!«

»Tut mir Leid«, murmelte Julia zerknirscht. Rupert grunzte ebenfalls eine Entschuldigung, und die beiden tauschten versöhnende Blicke, während sich der Zauberer abwandte, um erneut den schlafenden Drachen zu betrachten. Er zog die Stirn in Falten, dachte nach und streckte beide Arme über dem Koloss aus. Ein schwaches Licht umspielte seine Finger, erlosch jedoch, noch ehe er die Schuppen des Drachen erreicht hatte. Der Zauberer konzentrierte sich und versuchte es noch einmal. Diesmal war der Lichtschimmer heller, erreichte den Drachen aber wieder nicht. Der Große Zauberer stieß eine halblaute Verwünschung aus, die zarte Gemüter erschreckt hätte, und hob die Arme in einer beschwörenden Geste. Eine Sekunde lang ging von seinen Händen ein blutroter Schein aus, und dann schwebte eine helle, knisternde Flamme vor ihm in der Luft. Sie sank langsam auf den schlafenden Drachen nieder, loderte plötzlich auf und flackerte unruhig an Ort und Stelle, als sei sie gegen eine unsichtbare Wand gestoßen. Der Zauberer setzte zu einem fremdartigen Singsang an, der beängstigend in der Stille widerhallte.

Schweiß lief ihm über das Gesicht, und seine Hände zitterten, aber die Flamme schwebte immer noch mitten in der Luft und kam dem schlafenden Drachen keine Spur näher. Der Große Zauberer spreizte die Beine, um sich besser abzustützen, und sprach mit lauter Stimme einen Befehl. Sein Mund verzerrte sich wie im Krampf, gleißendes Licht hüllte ihn ein und fiel gleich darauf in sich zusammen. Aber die rote Flamme senkte sich langsam auf die glänzenden Schuppen des Drachen. Die Atmosphäre im Stall war plötzlich verändert, als sei eine kaum spürbare Spannung zusammengebrochen und habe sich in nichts aufgelöst. Der Drache wälzte sich unruhig hin und her. Dann schlug er die großen goldenen Augen auf und hob den mächtigen Kopf aus dem schmutzigen Stroh. Julia schlang ihm ungestüm die Arme um den Nacken und schmiegte sich an ihn.

»Ach, Drache… Drache!«

»Julia? Was ist los, Julia?«

»Nichts. Alles kommt in Ordnung, jetzt, da du wieder wach bist!«

Der Drache betrachtete Rupert, und seine Pupillen weiteten sich ein wenig.

»Rupert«, sagte er langsam. »Bist du doch noch heimgekehrt? Wie lange habe ich denn geschlafen?«

»Zwei oder drei Monate«, erwiderte Rupert mit einem Lächeln. »Es ist schön, dich wiederzusehen.«

»Das gilt auch umgekehrt, Rupert. Julia und ich machten uns allmählich echte Sorgen um dich. Sagtest du eben Monate?«

»Du hast richtig gehört«, meinte Julia und ließ ihn los.

»Die Finsternis ist über die Burg hereingebrochen. Die Dämonenhorden hämmern gegen die Tore, und es kann nicht mehr lange dauern, bis sie über die Wälle klettern und uns alle niedermetzeln.«

»Immer das alte Lied«, meinte der Drache und gähnte mit weit aufgerissenem Maul. Der Große Zauberer war sichtlich beeindruckt, als er die vielen blitzenden, scharfen Zähne sah.

»Ihr habt mir nicht zufällig ein paar Häppchen mitgebracht?«

erkundigte sich der Drache.

»Drache…«, begann Julia.

»Ich weiß«, unterbrach sie der Koloss gelassen, »wir schweben alle in unmittelbarer Lebensgefahr. Aber ich habe jetzt monatelang geschlafen, und obwohl ich es gewohnt bin, geraume Zeit im Winterschlaf zu verbringen, habe ich Hunger. Großen Hunger. Ein paar Hühner vielleicht, für den Anfang, und dann ein bis zwei Rinder. Oder drei.«

»Drache«, sagte Rupert, »wir sind auf deine Hilfe angewiesen. Es geht darum, den Dämonenfürsten aufzuspüren.

Dafür muss uns jemand über den Dunkelwald fliegen. Tätest du das?«

»Selbstverständlich«, erklärte der Drache. »Gleich nach dem Essen.«

Der Zauberer sah Rupert und Julia an. »Jetzt weiß ich endlich, weshalb sich Drachen als Haustiere nie durchsetzen konnten.«

Eine Eisschicht überzog die innere Burgmauer und machte das Kopfsteinpflaster im Hof spiegelglatt. In einem Dutzend schmiedeisernen Kohlebecken loderten helle Feuer, aber auch sie konnten die bittere Kälte nicht vertreiben, die sich wie eine schwere Decke über die Burg gelegt hatte. Man hatte die Verwundeten nach drinnen gebracht, wo sie noch einen kleinen Rest Wärme fanden; der Drache kauerte allein auf dem Hof und fraß sich durch einen Berg der verschiedensten Fleischsorten. Einige Wachposten und Gardisten verstärkten die Barrikaden an den Haupttoren; sie trugen unförmige Pelze und Fäustlinge und bewegten sich plump wie Bären. Jenseits des Burgwalls erstreckte sich die endlose Schwärze.

Rupert und Julia standen am Fuß der Haupttreppe, beide in dicke Pelzmäntel gehüllt, und unterhielten sich leise. Als König Johann plötzlich am Eingang erschien und die Treppe herunterkam, um sich zu ihnen zu gesellen, verstummten sie und rückten enger zusammen. Rupert und Julia verneigten sich steif, und der König nickte ihnen kurz zu.

»Die Augenklappe gefällt mir«, meinte König Johann.

»Ausgesprochen schick, dieser Seeräuber-Look!«

»Fang du nicht auch noch an!«, fauchte Rupert. »Der nächste Gardesoldat, der mich auffordert, ein Shanty zu singen, wird platt gemacht!«

»Reg dich nicht auf, Liebster«, tröstete ihn Julia. »Wenn diese Geschichte vorbei ist, kaufe ich dir ein Glasauge.«

»Ich kann es kaum erwarten«, knurrte Rupert.

König Johann fand, dass es an der Zeit war, das Thema zu wechseln. »Wie lange dauert es noch, bis der Drache aufsteigen kann?«, erkundigte er sich.

»Ich denke, er ist bald so weit«, sagte Rupert. »Unsere letzten Fleischvorräte hat er jedenfalls verputzt.«

»Der Dämonenfürst«, meinte Julia nachdenklich. »Wie sieht er eigentlich aus?«

»Das weiß niemand«, entgegnete der König. »Kein Mensch, der ihn je sah, hat diese Begegnung überlebt.«

»Klasse«, murmelte Julia. »Echt Klasse. Und wie sollen wir ihn finden, wenn wir nicht wissen, wie er aussieht?«

»Thomas Grey wird euch zu ihm führen«, erklärte der König. »Wenn ihr mich einen Augenblick entschuldigt…« Er nickte ihnen kurz zu und trat an ein Kohlebecken, an dem der Astrologe und der Große Zauberer standen, sich die Hände wärmten und leise über allerlei Zunftgeheimnisse plauderten.

Der Astrologe schaute auf, als der König näher kam, und flüsterte dem Großen Zauberer etwas zu. Der verneigte sich höflich und schlenderte ohne Eile zum Drachen hinüber. Der König trat neben den Astrologen und hielt seine Hände ebenfalls über die rötliche Glut.

»Thomas, wir müssen miteinander reden.«

»Natürlich, Johann.«

»Der Drache scheint wieder auf dem Damm zu sein. Er kann sicher bald aufsteigen.«

»Gut. Ich denke von Stunde zu Stunde, dass es nicht mehr kälter werden kann – aber es wird immer noch kälter.«

»Thomas…« Der König starrte lange in das Kohlebecken, als suche er in den knisternden Flammen nach einer Eingebung. »Ich hätte nie geglaubt, dass es so weit käme. Das Reich in Ruinen, die Burg belagert, die vielen Toten… und alles durch unsere Schuld!«

»Mach dir keine Vorwürfe, Johann! Wer hätte das je ahnen können?«

»Wir hätten weiter denken müssen, Thomas.«

»Wir taten, was wir für das Beste hielten.«

»Und mein tapferer Champion ist tot! Wenn er die Zugbrücke nicht verteidigt hätte, wäre die Burg bereits jetzt in den Händen der Dämonen. Er hat uns alle gerettet. Und er starb ganz allein in der Finsternis, ohne zu wissen, ob sein Opfer sich gelohnt hatte oder nicht. Ich vermisse ihn, Thomas. Ich war es so gewohnt, ihn an meiner Seite zu haben. Er hatte seine Fehler, aber er war tapfer und treu und auf seine Weise sogar ehrenwert. Ich glaube, er war der einzige Mann im ganzen Königreich, auf den ich mich voll und ganz verlassen konnte.«

Der Astrologe zog die Augenbrauen hoch. »Der Einzige, Johann?«

Der König lachte und klopfte dem Astrologen auf den Rücken. »Von dir natürlich abgesehen, Thomas. Dir würde ich mein Leben anvertrauen.«

»Ich sah dich vorhin bei Rupert stehen«, sagte der Astrologe. »Weiß er inzwischen, dass wir ihn in den Dunkelwald begleiten wollen?«

»Noch nicht«, antwortete der König. »Das wird einiges an Überredung kosten. Deshalb wollte ich vorher noch einmal mit dir sprechen. Ich finde, wir sollten ihm die Wahrheit sagen. Die ganze Wahrheit…«

Der Astrologe zuckte zusammen und sah ihn scharf an.

»Hältst du das wirklich für klug, Johann?«

»Das wohl weniger, Thomas. Aber ich halte es für notwendig.«

Rupert beobachtete, wie König Johann den Astrologen verließ und wieder auf ihn zusteuerte. Er sah, dass der Astrologe den Arm ausstreckte, wie um den König zurückzuhalten, ihn dann jedoch sinken ließ, als habe er es sich anders überlegt.

Und in diesem kurzen Moment entdeckte der Prinz, dass der Astrologe ein Seitenschwert trug, das er sorgfältig unter seinem Umhang verborgen hielt. Rupert grinste spöttisch.

Allem Anschein nach hatte der Astrologe kein so grenzenloses Vertrauen in seine Magie, wie er immer vorgab. Das Schwert war wohl als Rückversicherung gedacht. Der Prinz setzte wieder eine ernste Miene auf, als der König näher kam.

Er spürte, wie Julia sich bei ihm unterhakte, und drückte ihren Arm sanft an sich. Im Augenblick konnte er ein wenig moralische Unterstützung gut gebrauchen. Der König blieb vor ihm stehen und zögerte, als suche er nach den richtigen Worten.

»Du musst nicht in den Dunkelwald zurückkehren, Rupert.

Du hast diese Pflicht nun schon so oft auf dich genommen…«

»Und gerade deshalb muss ich sie noch einmal auf mich nehmen. Niemand besitzt meine Erfahrung.«

»Und ich begleite ihn«, sagte Julia entschlossen. »Er braucht jemanden, der ihm Rückendeckung gibt. Jemanden, dem er vertrauen kann.«

Der König zog die Stirn kraus. »Wie viele Menschen kann der Drache denn tragen?«

»Höchstens vier«, meinte Rupert. »Das wären bis jetzt wir und der Große Zauberer…«

»Nein«, unterbrach ihn der Zauberer, der seine Unterhaltung mit dem Drachen beendet hatte und nun zu ihnen her­

über geschlendert kam. Rupert fiel zum ersten Mal auf, dass die Haare des Zauberers schlohweiß waren.

»Was soll das heißen – nein?«, erkundigte sich Julia. »Wir brauchen Sie!«

»Tut mir Leid, Julia«, sagte der Zauberer leise. »Aber ich habe praktisch meine letzten Reserven verbraucht, als ich den Drachen weckte. Jetzt, da die Wilde Magie auf die Welt losgelassen ist, muss ich mit meinen Kräften haushalten. Nehmt den Astrologen an meiner Stelle mit! Ich bleibe hier und beschütze die Burg, so gut ich es vermag. Meine Schwäche wird vergehen. Eine Atempause von nur vierundzwanzig Stunden – und ich kann die Dämonen wieder ganz schön auf Trab halten!«

»Den Astrologen? «, wiederholte Julia ungläubig. »Soll das ein Witz sein? Wir brauchen einen richtigen Zauberer! Hören Sie, die Burg wird dem Dämonenansturm ohnehin nicht standhalten, egal, was Sie unternehmen. Aber Sie sind der Einzige von uns, der dem Dämonenfürsten Paroli bieten kann.«

»Nein, Julia«, widersprach der Zauberer. »Ich kann euch im Moment nicht helfen.«

»Thomas Grey ist ein guter Magier«, sagte der König.

»Und er kennt Mittel und Wege, die uns direkt zum Dämonenfürsten führen werden.«

Rupert hob den Kopf. »Uns? Was heißt hier uns? «

Der König hielt seinem Blick ruhig stand. »Es heißt, dass ich mitkomme.«

»Das kommt nicht in Frage«, erklärte Rupert energisch.

»Du wirst hier gebraucht.«

»Wie Julia ganz richtig feststellte, ist die Burg dem Untergang geweiht, wenn wir dem Dämonenfürsten nicht Einhalt gebieten«, sagte der König ruhig. »Ich muss mitkommen, weil ihr ohne mich nicht die geringste Aussicht habt, den Herrscher des Bösen zu vernichten.«

»Weshalb? Weil du Felsenbrecher mit dir herumschleppst?« Rupert warf einen skeptischen Blick auf das Zauberschwert, dessen Griff über der Schulter des Königs aufragte.

»Das auch«, entgegnete der König. »Aber es gibt noch einen anderen Grund.«

»Lass mich mit ihnen reden, Johann«, bat der Astrologe und trat mit schnellen Schritten neben den König. Seine Züge wirkten besorgt und angespannt, und er ballte die Hände zu Fäusten. Zögernd, beinahe widerwillig wandte er sich Rupert und Julia zu, und als er sprach, klang seine Stimme hart und grimmig. »Johann und ich müssen euch begleiten. Wir haben das Böse in die Welt gerufen; uns bleibt keine andere Wahl, als es wieder zu vertreiben.«

»Ich verstehe nicht.« Ruperts Blicke wanderten zwischen dem Astrologen und dem König hin und her, und er konnte nicht recht einordnen, was er in ihren Gesichtern las.

»Es ist alles unsere Schuld«, erklärte der König leise. »Die Toten, die Vernichtung. Alles unsere Schuld.«

»Inwiefern?«, warf der Große Zauberer ein. »Inwiefern soll das eure Schuld sein?«

»Weil wir es waren, die den Dämonenfürsten zurück in die Welt der Menschen riefen«, sagte König Johann.

Lange Zeit fiel kein Wort. Die abwehrende Haltung des Astrologen hatte etwas Armseliges an sich; er spähte wie ein in die Enge getriebenes Tier von einem zum anderen. Der König sah müde und besiegt aus, aber er wahrte zumindest eine Spur von Würde und hielt Ruperts entsetztem Blick ruhig stand.

»Warum?«, fragte Rupert schließlich.

»Die Barone taten, was sie wollten«, berichtete der Astrologe. »Sie waren drauf und dran, das Königreich mit ihren ewigen Intrigen und Eifersüchteleien zu ruinieren. Irgendwie musste man sie wieder zur Vernunft bringen. Und da kam uns der Gedanke, dass eine echte, große Gefahr die Barone endlich zwingen würde, sich wieder zu vertragen und gemeinsam zu kämpfen – unter der Führung der Krone.«

»Das war der Plan«, fuhr der König fort. »Wir glaubten, wir könnten den Zauber ohne weiteres rückgängig machen, wenn die Sache nicht gelänge, und den Dämonenfürsten in die Finsternis zurückschicken, aus der wir ihn gerufen hatten.«

»Ihr Narren«, sagte der Große Zauberer. »Ihr verdammten Narren!«

»Ja.« König Johann nickte. »Alte, ängstliche Narren. Aber damals waren wir noch jünger und überzeugt davon, dass alles nach Plan verlaufen müsste. Aber die Geschichte ging von Anfang an schief. Wir zogen das Pentakel, und Thomas errichtete den Schutz gegen die bösen Geister. Ich entfachte die Kerzen an den Spitzen des Fünfecks, und er stellte das Weihwasser in die Zwischenräume. Selbst nach all den Jahren erinnere ich mich daran, als wäre es gestern gewesen. Wir sprachen die Worte und riefen ihn beim Namen, und dann überfiel uns die Finsternis wie ein gieriges Raubtier. Ich konnte nichts sehen, konnte nicht mehr atmen, aber ich spürte, wie sich etwas ganz in der Nähe bewegte. Etwas Entsetzliches. Und dann hörte ich Thomas gellend schreien. Ich versuchte ihm zu Hilfe zu eilen, konnte ihn jedoch im Dunkeln nicht finden. Schließlich verlor ich das Bewusstsein. Als ich wieder zu mir kam, war die Finsternis vorbei, und der arme Thomas lag ohnmächtig neben mir.

Die Jahre vergingen, und wir sahen nicht das Geringste vom Dämonenfürsten. Wir glaubten, er sei einfach in die Finsternis zurückgekehrt, aus der wir ihn gerufen hatten, und atmeten auf, weil wir noch einmal davongekommen waren.

Aber vor kurzem tauchten dann Dämonen im Schlingpflanzenwald auf, und der Dunkelwald breitete sich aus.«

»Einen Augenblick«, unterbrach ihn Rupert. »Wann genau habt ihr diese Beschwörung vorgenommen?«

»Vor zweiunddreißig Jahren.«

»Aber damals…«

»Ja, Rupert. Damals verschwand der Südflügel.«

»Ich war in jenem Sommer nicht in der Residenz«, sagte der Große Zauberer. »Deshalb also bist du mir immer ausgewichen, wenn ich wissen wollte, was du eigentlich im Südturm zu suchen hattest! Warum hast du mich nicht vorher um Rat gefragt? Ich hätte dich warnen können…«

»Du hättest versucht, mir den Plan auszureden«, unterbrach ihn der König. »Und eben das wollte ich vermeiden.«

»Das sieht dir ähnlich«, meinte der Zauberer. »Aber woher hattet ihr beiden die magische Kraft, eine solche Beschwörung durchzuführen?«

»Wir benutzten das Curtana«, sagte der Astrologe. »Ich beförderte Johann per Teleport in das Arsenal, Johann nahm das Schwert an sich, und dann kehrten wir auf die gleiche Weise zurück.«

»Ich wusste nicht, dass Sie sich auf die Kunst des Teleportierens verstehen«, sagte Rupert.

Der Astrologe bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln.

»Sie wissen sehr wenig über mich.«

»Ihr wart es also«, sagte Julia. »Kein Wunder, dass der Seneschall das Curtana nicht im Arsenal fand. Ihr habt uns ganz bewusst in die Wüste geschickt!«

»Nein«, widersprach König Johann. »Das ist ja das Problem. Thomas und ich brachten damals das Schwert in das Arsenal zurück, bevor wir den Südflügel verließen. Es hätte da sein müssen.«

Rupert und Julia wechselten einen raschen Blick. »Wer könnte es denn an sich genommen haben?«, fragte Rupert nachdenklich.

Der König zuckte mit den Achseln. »Nachdem ich den Schutzzauber gelöst hatte, hätte es jeder holen können. Darius ging durch diese verdammten Entlüftungsschächte jahrelang im Südflügel ein und aus. Wahrscheinlich stahl er das Curtana als eine Art Rückversicherung, falls wir ihm auf die Schliche kämen, und vergaß dann in seinem Wahnsinn, wo er es versteckt hatte. Und nun, da der Mann tot ist, werden wir das Schwert des Zwangs wohl nie mehr finden. Es kann praktisch überall in diesem Tunnelgewirr sein.«

»Vielleicht ist das die beste Lösung«, meinte Rupert. »Das Curtana hat seinen Besitzern bisher nur Kummer und Leid gebracht.«

»Wir scheinen ein wenig vom Thema abzukommen«, wandte der Astrologe ein. »Fakt ist, dass Johann und ich euch begleiten müssen. Da wir den Herrn der Finsternis gerufen haben, kann er nicht ohne uns verbannt oder vernichtet werden.«

Rupert sah den Großen Zauberer fragend an. »Stimmt das, Sir?«

»Leider ja, Rupert. So steht es in den Legenden.«

»Legenden«, murrte Rupert angewidert. »Irgendwie enden wir immer bei diesen blöden Legenden.«

»Ich habe ein Recht darauf, vor den Dämonenfürsten zu treten«, erklärte König Johann. »Trotz allem, was ich verbockt habe – ich bin immer noch der Herrscher des Waldkönigreichs, und er soll mir dafür büßen, was er dem Land angetan hat.«

»Johann«, sagte der Große Zauberer, »wenn du dich in den Dunkelwald begibst, kehrst du wahrscheinlich nicht mehr zurück!«

»Das weiß ich«, erwiderte der König. »Aber irgendwie hat jeder von uns seine Anwandlung von Edelmut. Wir leben für diese Momente der Größe, oder?«

»Nun kommt endlich«, warf Rupert ein. »Je länger wir hier herumstehen und reden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Dämonen den Wall erstürmen. Drache! Bist du bereit?«

»Natürlich, Rupert«, sagte der Drache ruhig. »Steig auf, und wir können starten!«

Rupert und Julia gingen auf den Drachen zu, gefolgt von dem Astrologen. Der König blieb noch einmal stehen, als Harald im Haupteingang erschien. Er wartete geduldig, bis sein ältester Sohn die Treppe heruntergekommen war und sich zu ihm gesellt hatte. Einen Moment lang suchten beide nach den richtigen Worten.

»Wenn wir nicht zurückkehren, Harald«, sagte König Johann dann unvermittelt, »wirst du meine Nachfolge als König antreten. Erhalte das Reich am Leben, so gut du es vermagst.

Die Finsternis kann nicht ewig dauern. Falls die Dämonen über den Wall kommen oder die Tore aufbrechen, zieht euch ins Innere der Burg zurück und verbarrikadiert die Eingangskorridore. Kämpft um jedes Gemach, um jede Galerie! Die Burg wurde so gebaut, dass sie auch langen Belagerungen standhält. Es gibt genug Geheimgänge, um die Dämonen jahrelang in die Irre zu führen. Wenn du einen klaren Kopf behältst, kannst du es schaffen. Lass das Land nicht im Stich, Harald! Lass das Land nicht im Stich!«

»Versprochen, Vater«, entgegnete Harald. »Du gehst jetzt besser. Die anderen warten.«

Rupert und Julia hatten den Drachen erklommen und beobachteten, wie sich Harald und der König ein letztes Mal umarmten. Julia warf einen Blick auf den Astrologen, der geduldig neben dem Drachen wartete, schlang dann beide Arme um Ruperts Taille und beugte sich vor, bis ihre Lippen sein Ohr berührten.

»Glaubst du, wir sollten etwas sagen?«, flüsterte sie.

»Wenn Harald der Verräter ist…«

»Das nützt doch nichts«, murmelte Rupert. »Wir haben keine Beweise. Du hast selbst gehört, was mein Vater sagte: Nachdem der Schutzzauber gelöst war, hätte jeder das Curtana an sich nehmen können.«

»Aber ihm die Obhut der Burg zu überlassen…«

»Wir können nichts dagegen tun, Julia. Zumindest jetzt nicht.«

Sie schwiegen, während der König über den Hof eilte und sich ungeschickt auf den Drachen schwang, gefolgt von seinem Hofastrologen. Alle machten es sich mehr oder weniger bequem, und der Drache spreizte versuchsweise die Flügel.

»Steif«, murmelte er. »Total steif.«

»Bist du sicher, dass du das schaffst, Drache?«, fragte Rupert. »Wir sind zu viert, und es könnte ein langer Flug werden…«

»Gebe ich dir Ratschläge für den richtigen Umgang mit einem Schwert?«, knurrte der Drache. »Natürlich schaffe ich das. Haltet euch nur gut fest, und ich bringe euch ans Ziel.

Falls einer von euch weiß, wo dieses Ziel ist. Und noch eines, Rupert…«

»Ja?«

»Weck mich das nächste Mal bitte, bevor die Lage außer Kontrolle gerät!«

Rupert dachte noch über eine entsprechend giftige Antwort nach, als sich der Drache unvermittelt aufrichtete. Der Prinz umklammerte rasch den Nacken des Kolosses, während die mächtigen Schwingen auf und ab schlugen, und dann warf sich der Drache so kraftvoll in die Lüfte, dass Ruperts Magen einen Satz tat. Der Burghof unter ihnen wurde kleiner – und im gleichen Moment überwanden die Dämonen den Außenwall. Rupert beobachtete mit Entsetzen, wie sie die Verteidiger auf den Wehrgängen überrannten und sich überall verteilten. Der Große Zauberer stand allein da und schleuderte den Angreifern seine Blitze entgegen. Krachend splitterten die Eichenbohlen der Torflügel, und Scharen von Dämonen drängten ihn auf den Burghof.

Und dann stieg der Drache höher, und die Burg versank in der Nacht. Unter ihnen breitete sich der Dunkelwald im fahlen Schimmer des Blauen Mondes aus.

»Es ist alles vorbei«, sagte Rupert mit gepresster Stimme.

»Die Dämonen haben gesiegt.«

»Wir müssen umkehren!«, rief Julia. »Drache…«

»Nein«, unterbrach sie der König. »Wir fliegen weiter.

Etwas anderes können wir nicht tun.«

Der Drache setzte seinen Weg in die Dunkelheit fort, und lange Zeit sprach keiner von ihnen. Bitterkalte Luft rauschte vorbei und biss sich in die ungeschützte Haut ihrer Hände und Gesichter. Rupert spürte, wie Julia sich enger an ihn schmiegte, und versuchte sie mit seinem Körper gegen den Wind abzuschirmen. Der Himmel war sternenlos, aber der Blaue Mond erfüllte das Dunkel mit einer uralten Macht. Die Wilde Magie dröhnte durch die Nacht wie der Herzschlag eines Riesen, sonderbar und der Menschenart ganz und gar fremd. Rupert spürte, wie in der Tiefe Dinge erwachten und in Bewegung gerieten, die nicht in das Zeitalter der Menschen gehörten. Die Welt selbst schien sich schleichend zu verändern, während der Drache seine Fracht tiefer in die Finsternis trug. Immer deutlicher hatte Rupert das Gefühl, dass die Menschen nicht hierher gehörten, dass die Erde sich weiter gedreht hatte und kein Platz mehr für ihn und seinesgleichen war.

Die Wilde Magie des Blauen Mondes; stark genug, um die Realität selbst zu verändern.

Rupert schüttelte rasch den Kopf, um die wirren Gedanken zu vertreiben. Bis jetzt war dem Land kein Schaden zugefügt worden, der sich durch den Tod des Dämonenfürsten nicht rückgängig machen ließe. Zumindest hatten das die anderen behauptet. Rupert runzelte die Stirn. Er merkte, dass er nicht mehr viel darauf gab, was andere sagten.

»Wie kommst du zurecht, Drache?« Der Prinz brauchte den Trost einer Stimme, selbst wenn es nur die eigene war.

»Großartig«, erklärte der Drache. Er bewegte seine Schwingen kraftvoll und gleichmäßig auf und ab. »Ich fühle mich wieder… jung. Meine Knochen schmerzen nicht mehr, ich kann tief durchatmen, und ich sehe endlos weit. Ich hatte vergessen, wie schön das Jungsein ist. Das macht die Wilde Magie, Rupert. Ich spüre sie. Sie singt in meinem Blut. Die Wilde Magie herrscht wieder über die Welt. Wie damals in meiner Jugendzeit. Als es noch keine Menschen auf der Erde gab.«

»War das eine bessere Zeit für dich?«, fragte Rupert nachdenklich.

»Besser?« Der Drache schwieg eine Weile und furchte die breite Stirn, während er mit unverminderter Geschwindigkeit durch das Dunkel flog. »Sie war… anders.«

Der Dunkelwald erstreckte sich in der Tiefe, ein endloses Gewirr eng verflochtener Baumkronen. Knorriges Astwerk bildete ein undurchdringliches Dach über den morschen Stämmen. Scharfe Dornen ragten in die Nacht, und der süßliche Gestank von Verwesung war überall.

»Entschuldigt meine naive Frage«, sagte Julia, »aber wie sollen wir den Dämonenfürsten in dem Labyrinth da unten jemals aufstöbern? Es kann Stunden dauern, bis wir uns einen Weg durch das Gestrüpp gebahnt haben – und niemand garantiert uns, dass es der richtige Weg ist!«

»Keine Sorge, ich finde den Dämonenfürsten«, erklärte der Astrologe grimmig. »Meine Magie wird uns geradewegs zu ihm führen.«

»Und was geschieht, wenn wir ihn gefunden haben?«, wollte Julia wissen.

»Wir vernichten ihn«, erklärte der König. »Das Land schreit nach Rache!«

»Klar«, sagte Julia. »Wir vernichten ihn. Einfach so. Sie haben nicht die leiseste Ahnung, wie wir das bewerkstelligen sollen, stimmt's?«

»Wir werden unser Möglichstes tun«, meinte Rupert. »Zuerst versuchen wir es mit Stahl und Eisen. Wenn das nichts hilft, greifen wir zur Magie. Wenn das nichts hilft, lassen wir den Drachen Feuer speien.«

»Und wenn das nichts hilft?«

»Dann haben wir ein Problem.«

»Klasse«, sagte Julia. »Echt Klasse.«

Das undurchdringliche Geflecht der Baumkronen wogte wie ein endloses Meer in der Tiefe. Das lastende Entsetzen der langen Nacht war über dem Dunkelwald etwas leichter zu ertragen, aber dennoch drang die Schwärze von allen Seiten auf den Drachen ein. Sie lastete auf seinen Schwingen und wog immer schwerer, je weiter er vordrang, fast als stemme sie sich gegen ihn. Rupert spürte einen wachsenden Druck, als sie ihren Weg fortsetzten, und der Drache musste sich gewaltig anstrengen, um sein Tempo beizubehalten. Das Schlagen seiner Flügel nahm einen rastlosen Rhythmus an, und sein Atem ging immer schneller. Stimmen drangen aus dem Dunkel, ein Murmeln, Lachen, Kreischen, und mehr als einmal spürte Rupert, wie etwas seine Hände oder sein Gesicht streifte. Er wusste nicht, ob es den anderen ebenso erging wie ihm, und fragte auch nicht danach, weil er es gar nicht wissen wollte. Am liebsten hätte er den Hals des Drachen losgelassen und wild um sich geschlagen, um die unsichtbaren Kreaturen auf Distanz zu halten, aber er nahm sich eisern zusammen. Er durfte jetzt nicht die Beherrschung verlieren, keine Sekunde lang. Ruhig bleiben, mein Lieber, dachte er. Sie versuchen dich zu erschrecken, das ist alles.

Lass sie nicht merken, wie gut ihnen das gelingt!

»Dort unten«, sagte der Astrologe plötzlich und deutete auf einen Fleck zu seiner Linken, »befindet sich eine Lichtung, die von Baumkronen überdacht wird. Dort werden wir den Dämonenfürsten antreffen.«

»Bist du sicher?«, fragte der König.

»Völlig sicher, Johann«, bekräftigte der Astrologe.

Der Drache drehte den Kopf nach hinten, um zu sehen, wohin der Astrologe zeigte, drehte eine Schleife und glitt tiefer. Aus dem bizarren Astwerk des Dunkelwaldes ragten gefährliche Dornenspieße auf. Im letzten Moment sperrte der Drache das breite Maul weit auf und spie Flammen, die sich wie Säure durch das Dach des Waldes fraßen. Das morsche Holz schien ihnen keine Nahrung zu bieten, denn sie erloschen gleich darauf wieder. Aber das Loch, das sie in die Dornenbarriere gebrannt hatten, war groß genug, damit der Koloss mit eng angelegten Schwingen in die Tiefe tauchen konnte. Das Mondlicht war plötzlich abgeblockt, und der Drache fiel wie ein Stein nach unten. Er spreizte die Flügel, um den Sturz abzufangen, und landete so hart auf dem Waldboden, dass seine Begleiter alle Mühe hatten, sich auf seinem Rücken zu halten. Einen Moment lang stockte allen der Atem.

Ringsum war tiefe Schwärze, lautlos und tödlich.

»Hat jemand daran gedacht, eine Laterne mitzunehmen?«, murmelte Julia nach einer Weile.

Der Drache hüstelte zuvorkommend. Ein kurzer Feuerstrahl kam aus seinem Maul, der einen kleinen Kreis aus Flechten und öligen Moosen entzündete. Plötzlich war die Lichtung in einen hellen, flackernden Schein gehüllt. Rupert schwang sich vom Rücken des Drachen, sorgsam darauf bedacht, nicht in den Feuerkreis zu treten. Die Flammen schienen ruhig und gleichmäßig zu brennen, ohne sich jedoch auszubreiten. Rupert nickte zufrieden. Er zog sein Schwert und trat ein paar Schritte zur Seite, damit die anderen absteigen konnten.

Die Lichtung war nicht sonderlich groß, ein Fleck von etwa zwölf Metern Durchmesser, von dem ein halbes Dutzend Pfade in den Wald führten. Genau in der Mitte stand ein einzelner halb verrotteter Baumstumpf, der die groben Umrisse eines Throns aufwies. Frische Blutflecken überzogen das verfaulte Holz. Rupert spähte hinauf zu der Öffnung, die der Drache in das Astgeflecht gebrannt hatte, aber weder der Blaue Mond noch sein Licht waren zu sehen. Julia trat neben ihn, das Schwert in der Hand. Sie lächelten einander kurz zu.

Dann ging die Prinzessin langsam um den Drachen herum und horchte angespannt in das Dunkel. Der König und der Astrologe standen gemeinsam neben dem modrigen Thron.

»Ist dieses Feuer nicht gefährlich?«, fragte der König leise.

»Das Licht wird den Dämonen verraten, dass wir hier sind.«

Der Astrologe lächelte dünn. »Das wissen sie auch ohne Licht, Johann.«

»Ein gruseliger Ort«, meinte Julia, während sie vorsichtig über einen Haufen blutverspritzter Knochen stieg, an denen zum Teil noch Fleischreste hingen. Aus den Moospolstern quoll Blut, als sie darauf trat.

»Also schön, Sir Astrologe«, meinte Rupert schließlich.

»Wo bleibt nun der Dämonenfürst?«

»Sie verlangen nach ihm?«, fragte der Astrologe. »Dann werde ich ihn rufen. Meister! Sie sind hier! Ich habe sie zu Euch geführt!«

Rupert und Julia starrten ihn entsetzt an und stürmten vorwärts, die Schwerter gezückt, doch bevor sie den Astrologen erreichten, wurden sie von einem gewaltigen Gewicht zu Boden gedrückt. Rupert kämpfte verbissen gegen die unsichtbare Kraft an, die ihn eisern festhielt, schaffte es aber lediglich, den Kopf aus den blutgetränkten Moospolstern zu heben.

Das Schwert war ihm aus der Hand gefallen, und er konnte den Kopf nicht weit genug zur Seite drehen, um zu sehen, wo es lag. Dicht neben ihm lag der König, ebenso hilflos wie er selbst, und am Rande der Lichtung wand sich der Drache und versuchte vergeblich, auf die Beine zu kommen. Der Astrologe lachte leise. Mit unmenschlicher Anstrengung hob Rupert den Kopf und sah ihn an. Thomas Grey lümmelte auf dem morschen Holzstumpf und spielte mit einem leuchtenden Schwert, in dessen Griff ein trüber schwarzer Edelstein eingesetzt war.

»Was geht hier vor?«, stöhnte Julia. »Weshalb kann ich mich nicht rühren?«

»Das liegt an seinem Schwert«, stieß der König mühsam hervor. »Es ist das Curtana. Er muss es an sich genommen und versteckt haben.«

»Ganz recht«, sagte der Astrologe. »Ich musste doch sichergehen, dass ihr meinen Herrn und Meister gebührend begrüßt!«

»Willkommen«, drang eine leise, zischelnde Stimme aus den Schatten. »Willkommen, meine lieben Freunde! Ich habe euch erwartet.«

Rupert hielt mit letzter Kraft den Kopf aufrecht, während sich eine hoch gewachsene Gestalt aus den Schatten am Rande der Lichtung löste. Nach und nach nahm sie Substanz und Realität an, wie ein Albtraum, der sich in Fleisch und Blut verwandelt. Der Dämonenfürst war mindestens zweieinhalb Meter groß und so hager, dass er fast ausgezehrt wirkte. Seine totenbleich schimmernde Haut war in schwarze Lumpen und Fetzen gehüllt, und unter der breiten Krempe seines Schlapphuts glommen zwei rote Augen, die unverwandt zu ihnen herüberstarrten. Das Gesicht des Dämonenfürsten war kaum zu erkennen, wirkte jedoch irgendwie unfertig und verschwommen. Der Anblick seiner hilflosen Feinde auf dem Boden der Waldlichtung entlockte ihm ein Grinsen, das seine spitzen Zahnreihen entblößte. Dann schoss er mit der Eleganz und Schnelligkeit einer Spinne auf König Johann zu und riss ihm Felsenbrecher aus der Scheide. Das Schwert schien in seiner Skeletthand zu erschauern.

»Ein nettes Spielzeug«, sagte der Dämonenfürst. »Es gab eine Zeit, da hätte es mich durchaus besiegen können.«

Mit einer schnellen, fließenden Bewegung zerbrach er die Klinge über dem Knie und warf die Stücke achtlos beiseite.

Rupert glaubte in weiter Ferne einen gequälten Schrei zu hören, der allmählich verstummte. Der Dämonenfürst wandte sich dem Astrologen zu und streckte gebieterisch die Hand aus. Thomas Grey sprang auf, eilte zu seinem Meister und überreichte ihm das Curtana. Der Herr der Finsternis wog das Schwert in der Hand, und die glühende Klinge begann lichterloh zu brennen. Innerhalb weniger Sekunden verwandelte sich das Schwert des Zwangs in eine Pfütze aus geschmolzenem Metall, in der ein paar geschwärzte Edelsteine schwammen. Rupert stemmte sich gegen die unsichtbare Kraft, die ihn festhielt. Der Druck schien nachzulassen, aber noch war der Bann der Wilden Magie nicht gebrochen.

»Du hast deine Sache gut gemacht, Sklave«, sagte der Dämonenfürst zu Thomas Grey, der sich tief verneigte. »Alle meine Feinde sind nun an einem Ort versammelt, und von den Schwertern, die mir hätten schaden können, ist keines mehr übrig!«

Er unterbrach sich plötzlich und war mit einem Satz bei Julia, die verstohlen die Hand ausstreckte, um das Schwert, das ihr entglitten war, wieder an sich zu nehmen. Sie hatte eben den Griff ertastet, als der Fuß des Dämonenfürsten mit voller Wucht auf ihre Finger niederstampfte. Das Geräusch splitternder Knochen drang unheimlich laut durch die Stille.

Der Herr der Finsternis zerquetschte Julias gebrochene Hand unter seinem Absatz, aber sie biss die Lippen zusammen und gab keinen Laut von sich. Er lachte heiser, weidete sich einen Augenblick an ihrem schmerzverzerrten Gesicht und wandte sich dann wieder dem Astrologen zu. Selbst im schwachen Licht der Flammen konnte Rupert erkennen, dass Julias Hand nur noch ein Brei aus Blut und Knochenfragmenten war. Als sie dennoch das Schwert zu heben versuchte, klirrte es zu Boden. Der Dämonenfürst drehte sich nicht einmal nach ihr um. Er nahm elegant auf dem Thron aus morschem Holz Platz, winkte den Astrologen an seine rechte Seite und blickte kalt auf seine besiegten Feinde herab.

»Nun«, begann er mit leiser Stimme, »habt ihr mir nichts zu sagen? Schließlich musstet ihr lange genug auf diese Begegnung warten… Willst du den Anfang machen, Drache?

Schließlich sind wir beide von der gleichen Art. Du und ich, wir haben noch die Zeit erlebt, als die Erde jung war und wir zu den Mächtigen dieser Welt zählten. Seit damals, seit der Mensch auf den Plan trat, hat sich viel verändert. Du bist alt geworden, Drache, alt und schwach. Die Magie verlor nach und nach ihre Kraft, genau wie du. Aber nun steht der Blaue Mond voll am Himmel, und die Wilde Magie ist zurückgekehrt. Vergiss die Menschen, sei mir Untertan, und du wirst erleben, wie die Drachen wieder zu Ruhm und Ansehen gelangen!«

Der Drache kämpfte grimmig gegen die Zauberkräfte an, die ihn gefangen hielten, und hob mühsam den großen Kopf.

»Antworte!«, herrschte ihn der Dämonenfürst an.

»Fahr zur Hölle!«, sagte der Drache. »Julia und Rupert sind meine Freunde. Ich denke nicht daran, sie an den Herrn über ein paar verfaulte Baumstämme zu verraten.«

Ein Feuerstrahl schoss aus seinem Maul, konnte jedoch den Dämonenfürsten nicht erreichen. Die Flammen sanken kraftlos zu Boden und wurden vom Moos erstickt.

»Dummes Tier!«, fauchte der Dämonenfürst. »Schlaf weiter!«

Die Augen des Drachen fielen zu, und sein Kopf sank schwer vornüber. Der Herr der Finsternis schlenderte zu ihm hinüber und trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Aus dem Maul des Kolosses floss goldenes Blut. Der Dämonenfürst versetzte ihm einen zweiten Tritt.

Rupert zog langsam ein Knie unter dem Körper an, ein kraftraubendes Unterfangen, da ihn der Bann des Dämonenfürsten immer noch gegen das Moos presste. Er sah, dass sein Schwert zwischen ihm und dem König lag. Ein einziger Sprung würde ihn in Reichweite der Waffe bringen, aber der Zwang des Curtana ließ nur allmählich nach. Rupert brachte das zweite Knie in die richtige Stellung. Geduldig und mit kaltem Zorn wartete er auf den Moment, da er sich wieder frei bewegen konnte.

»Du hast das alles von langer Hand geplant, Thomas«, sagte König Johann mit matter Stimme. Das Feuer in seinen Augen war erloschen, und sein Gesicht erinnerte an eine starre Maske, der das Entsetzen und der Schmerz jeden Ausdruck geraubt hatten. »Der vergiftete Wein, der die anderen Magier tötete – das war dein Werk.«

Der Astrologe lachte selbstzufrieden.

»Warum?«, stöhnte der König. »Warum hast du dich gegen das Waldkönigreich – gegen mich – gewandt?«

»Antworte ihm, Sklave!«, befahl der Dämonenfürst. »Seine Verzweiflung belustigt mich.«

»Du, Johann!« Thomas Grey verzog das Gesicht zu einem bösartigen Grinsen. »Du und dein verdammter Thron! Dreißig Jahre und länger bestand meine Aufgabe darin, dich zu stützen und deine Entscheidungen zu treffen, aber welchen Lohn erhielt ich dafür? All die Jahre lebte ich in deinem Schatten, erledigte die Dreckarbeit für dich, während du immer reicher und mächtiger wurdest. Ich hätte es weit bringen können, Johann! Ich hätte es bis zum Meister aller Magier bringen können! Aber ich gab meine eigenen Pläne auf, weil du mich brauchtest. Ich hätte einen weit besseren König abgegeben als du. Das sagten viele Leute. Aber nein, ich hielt dir die Treue.

Du warst mein Freund. Aber dann, viele Jahre später, musste ich erkennen, dass ich keinen Deut mehr Macht, Ansehen oder Reichtum besaß als an jenem Tag, da ich dir als Hofastrologe Gefolgschaft schwor.«

König Johann starrte ihn an und merkte nicht, dass ihm die Tränen über die eingefallenen Wangen liefen. »Thomas…

wir waren seit unserer Kinderzeit Freunde…«

»Aus Kindern werden irgendwann Erwachsene, Johann.«

»Hasst du mich wirklich so sehr?«

»Mehr, als du dir vorstellen kannst. Ich habe mich seit Jahren auf diesen Augenblick gefreut. Seit vielen, vielen Jahren.«

»Du…«, fuhr der König stockend fort. »Du warst es, der den Vorschlag machte, den Dämonenfürsten anzurufen!«

»Natürlich«, erwiderte der Astrologe ruhig. »Nur mit seiner Unterstützung konnte ich den Thron für mich gewinnen.«

Er verstummte, als ihm der Dämonenfürst eine Hand schwer auf die Schulter legte. Die langen Klauen bohrten sich in sein Fleisch, bis ihm Blut über den Arm lief, aber er zuckte nicht zusammen und gab keinen Schmerzenslaut von sich.

»Du törichter Sterblicher«, murmelte der Dämonenfürst.

»Dachtest du im Ernst, du könntest mich benutzen? Von dem Moment an, da du mich aus der Finsternis holtest, warst du mein mit Leib und Seele. Von dem Moment an warst du mein Werkzeug, mein Sklave, mein…«

»Verräter«, raunte der König.

»Ich bin mit Verrätern immer gut gefahren«, sagte der Dämonenfürst.

Johann senkte den Kopf und schloss die Augen. An einem einzigen Tag hatte er sein Königreich, seine Burg und seinen ältesten Freund verloren. Es erschien unmöglich, dass ein Mensch solche Qualen überleben konnte.

Rupert stemmte sich vorsichtig auf die Ellbogen. Der Bann wirkte kaum noch, aber das Schwert war einfach zu weit entfernt. Der Dämonenfürst würde ihn niederstrecken, ehe er es erreichte. Der König dagegen lag fast auf der Klinge…

Rupert überlegte. Wenn er seinem Vater die Möglichkeit verschaffen wollte, das Schwert an sich zu nehmen, musste er den Dämonenfürsten und den Astrologen irgendwie ablenken

… Rupert lächelte gequält, als ihm die Lösung dämmerte.

Das Schwert mochte außer Reichweite sein, aber der Dämonenfürst war es nicht. Verdammt, das kann eine blutige Angelegenheit werden, dachte Rupert. Er nahm Blickkontakt zu seinem Vater auf und deutete mit dem Kinn unauffällig auf das Schwert. Jetzt musste der Dämonenfürst nur noch ein paar Schritte näher kommen… Der Astrologe lachte plötzlich laut auf, und der König drehte mühsam den Kopf zur Seite, um ihn anzusehen.

»Nun, Johann?« Thomas Grey grinste breit. »Hast du mir nichts mehr zu sagen? Kein letzter Appell an meinen Edelmut oder an die Freundschaft, die uns so lange Zeit verband?«

Der König schaute ihn nur wortlos an.

»Ich werde König sein«, fuhr der Astrologe fort, und eine ganze Welt der Genugtuung schwang in seiner Stimme mit.

»Endlich werde ich König sein. Der Herr und Meister hat mir deinen Thron versprochen, als Lohn für die Rolle, die ich übernahm. Sei unbesorgt, Johann! Ich werde das Waldkönigreich wieder auf die Beine stellen und es weise regieren. Mit den Dämonen als meinen Verbündeten wird es kein Baron wagen, sich gegen mich zu erheben.«

»Sie sind wahnsinnig«, sagte Julia scharf. »König? König wovon? Es gibt nur noch den Dunkelwald!«

»Das wird nicht immer so bleiben«, entgegnete der Astrologe ruhig. »Ich werde über das Waldkönigreich herrschen.

Das wurde mir versprochen.«

»Du gibst dich mit einem Pappenstiel zufrieden«, warf der Dämonenfürst ein. »Ich hatte dir alle Königreiche der Welt angeboten.«

»Mein Streben gilt nur dem Waldkönigreich«, erklärte Thomas Grey. »Ich wollte von Anfang nicht mehr. Und nun bin ich endlich am Ziel meiner Träume angelangt.«

»Das glaube ich nicht«, sagte der Herr der Finsternis.

Der Astrologe fuhr herum und starrte die Kreatur an, die sich lässig auf dem fauligen Thron räkelte.

»Ich habe keine Verwendung für Könige«, fuhr der Dämonenfürst fort. »Ich brauche nur Sklaven. Komm her, Sklave!«

Thomas Grey schüttelte den Kopf. »Du hattest mir das Waldkönigreich versprochen!«

Der Dämonenfürst grinste. »Das war eine Lüge.«

Er richtete sich unvermittelt auf und kam auf den Astrologen zu. Thomas Grey wich langsam zurück. Dann drehte er sich um und begann zu laufen. Nach ein paar Schritten schloss sich die Nacht wie ein Tuch um ihn und brachte ihn zu Fall. Grey schlug um sich und begann wie ein Tier zu schreien, als er merkte, wie sich seine Knochen und Muskel veränderten, verzerrten, verformten…

Die Schreie erstarben schließlich, und König Johann beobachtete voller Grauen, wie sich das Ding, das einst sein Freund gewesen war, als Dämon vom Waldboden erhob. Ein Schädel mit niedriger Stirn saß auf gedrungenen, muskulösen Schultern, und die überlangen Arme baumelten bis unter die Knie. Dichtes, zottiges Fell quoll durch große Risse im Zauberer-Umhang. In den blutroten Augen flackerte eine primitive, verschlagene Intelligenz, aber keine Spur von Erkennen, als der Dämon einen flüchtigen Blick auf den König warf und dann schmeichlerisch zu Füßen des Dämonenfürsten niederkauerte.

»Nun?« Der Herr der Finsternis sah den König herausfordernd an. »Wie gefällt dir dein Freund jetzt?«

Rupert schnellte vorwärts und warf sich auf den Dämonenfürsten. Die Kreatur geriet ins Stolpern und wäre um ein Haar gestürzt, fing sich aber im letzten Moment ab. Rupert umklammerte den Gegner mit beiden Armen und hielt ihn eisern fest, den Kopf gegen die knochige Brust gedrückt.

»Vater!«, schrie er verzweifelt. »Nimm das Schwert!

Nimm das verdammte Schwert!«

Der Kopf des Dämonenfürsten flog mit einem Ruck nach vorn, der lange, spindeldürre Hals dehnte sich, und Rupert sah blitzende Fänge nach seiner Kehle schnappen. Im letzten Moment ließ er los und warf sich nach hinten. Die Kiefer schnappten Millimeter vor seinem Gesicht zusammen, und dann schoss ein hartes, knochiges Knie hoch und traf ihn in die Seite. Rupert stöhnte, als eben erst verheilte Rippen brachen. Der Boden kam auf ihn zu. Er rollte sich ab und sah gerade noch, wie Julia erneut versuchte, ihr Schwert zu erreichen. Der Dämonen-Astrologe versetzte ihr einen Magenschwinger, und sie brach nach Luft ringend zusammen. Der Dämon kicherte. Langsam trat der Herr der Finsternis auf sie zu, ein breites Grinsen auf den Lippen. Rupert stützte sich ab und warf einen raschen Blick auf seinen Vater. Der König hatte sich überhaupt nicht von der Stelle gerührt, und das Schwert lag noch genau da, wo Rupert es fallen gelassen hatte.

»Vater!«

Der Dämonenfürst blieb vor dem König stehen und lächelte auf ihn hinab. »Ich glaube nicht, dass er dich hört, mein Junge. Er ist ein gebrochener Mann, ein weiterer meiner Sklaven. Habe ich Recht, Johann?« Er bückte sich, packte den König brutal an der Kehle, zerrte ihn hoch und hielt ihn an einem Arm in die Luft. Dann schüttelte er ihn wie ein Spielzeug.

»Habe ich Recht, Johann?«

Der König versuchte vergeblich, den Griff des Dämonenfürsten um seinen Hals zu lockern. Sein Atem ging pfeifend.

»Du sollst der niedrigste meiner Sklaven sein, du kleiner Feigling!«, sagte der Dämonenfürst leise. Er zog den König zu sich heran, bis ihre Augen auf gleicher Höhe waren, und lachte spöttisch. König Johann spuckte ihm ins Gesicht. Der Dämonenfürst heulte zornig auf. Während er mit einer Hand die Kehle des Herrschers zudrückte, riss er ihm mit der anderen den Kettenpanzer auf und stieß ihm die Klauen tief in die Brust.

Rupert kam taumelnd auf die Beine und lief auf die beiden zu, doch der Dämonen-Astrologe schnitt ihm den Weg ab.

Julia hechtete vorwärts, packte Ruperts Schwert und warf es ihm zu. Rupert fing es mitten in der Luft auf und drang damit auf den Dämonen ein. Der knurrte und zog sich dann Schritt für Schritt von ihm zurück. Der Dämonenfürst schleuderte den König zur Seite und kam geduckt auf Rupert zu. Der Prinz blieb stehen und zückte sein Schwert. Er sah Julia und seinen Vater, beide blutüberströmt und zu schwach, um sich aufzurichten. Selbst der Drache stöhnte unruhig im Schlaf.

Rupert schluckte mühsam. Er wusste, dass blanker Stahl nicht ausreichen würde, um dem Herrn der Finsternis Einhalt zu gebieten, aber er musste es wenigstens versuchen. Seine Freunde brauchten ihn. Er riss die Klinge zu einer letzten verzweifelten Attacke hoch über den Kopf. Seine ganze Wut, alle Hoffnung und alles Leid strömten durch das Schwert in die lange Nacht und immer weiter, und der Dämonenfürst schrie entsetzt auf, als sich der Regenbogen mit dem Rauschen eines mächtigen Wasserfalls auf die Lichtung des Dunkelwaldes senkte.

Gleißende Farben wogten ohne Unterlass gegen die Finsternis und drängten sie zurück. Rupert hob das Gesicht in die Lichtkaskaden und lachte laut auf, als er die Kraft spürte, die ihn durchflutete. Die Helligkeit brannte sich durch die Nacht und vertrieb den Dunkelwald. Rupert sah sich suchend nach dem Dämonenfürsten um. Undeutlich erkannte er in dem sprühenden Licht einen hageren Schatten, der mit schwindenden Kräften um sich schlug und zappelte wie ein von zähem Bernstein umschlossenes Insekt. Und noch während er das Schauspiel beobachtete, löste sich der Schatten auf und verschwand. Nur der Regenbogen leuchtete hell und siegreich gegen die Schwärze, ehe auch er verblasste.

Rupert senkte langsam sein Schwert und starrte in den Nachthimmel. Einen Moment lang glaubte er, nichts habe sich verändert, doch dann traten die Sterne hervor, und der Vollmond verbreitete ein silbernes Licht. Die bedrückende Schwere war verschwunden, als hätte es den Dunkelwald nie gegeben, und am Horizont zeigte sich der erste schwache Streifen der Morgenröte. Die lange Nacht war endgültig besiegt.

Rupert schob das Regenbogenschwert in die Scheide und ließ den Blick über die Lichtung schweifen. Die Moose und fahlen Pilze waren einem weichen, schimmernden Grasteppich gewichen. Der Dämonenfürst war verschwunden und mit ihm das groteske Geschöpf, das einst der Astrologe gewesen war. Der Drache saß auf den Hinterbeinen und schüttelte gerade die letzte Schläfrigkeit ab. Julia stand neben dem Koloss, bewegte verblüfft die Finger der frisch verheilten Hand und beobachtete staunend den Wandel, der sich ringsum vollzogen hatte. Rupert trat zu ihr und nahm sie in die Arme. Im gleichen Moment ging strahlend die Sonne auf.

König Johann saß neben dem modrigen Baumstumpf, den Kopf in beide Hände vergraben, und weinte um den Freund, den er verloren hatte.

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