KAPITEL SECHS Verräter der Krone

»ABER SCHÄTZCHEN…«

»Finger weg, oder ich mache dich platt!«

König Johann seufzte müde. Harald und Julia zankten sich wieder einmal. Der König sank tiefer in seinen Thronsessel und tat, als würde er die erhobenen Stimmen vor dem Audienzsaal nicht hören. Er hatte mehr als genug um die Ohren und konnte sich nicht auch noch um seine zukünftige Schwiegertochter kümmern. Ein Dutzend Bittsteller aus entlegenen Dörfern warteten geduldig vor ihm, erschöpft auf die großen Langbogen gestützt, die handgewebten Kittel schmutzig und verstaubt vom tagelangen Fußmarsch auf den Landstraßen. Sie waren vor gut einer Stunde angekommen und hatten energisch an das verschlossene Burgtor geklopft, während die frühe Nacht über das Waldkönigreich hereinbrach.

König Johann hatte ihnen zögernd eine Privataudienz gewährt, als er von ihrem Begehren hörte. Und nun standen sie in dem weiten, leeren Saal ein wenig verloren vor ihm: hoch gewachsene, breitschultrige Männer, denen man ansah, dass sie von früh morgens bis spät abends harte Arbeit verrichteten. Ihre kantigen Gesichter wirkten kühn und energisch, aber in ihren Augen las der König eine so tiefe Angst und Verzweiflung, dass er ihn fröstelte.

»Julia, Liebste, wenn du mich nur…«

Ein gedämpftes Klatschen unterbrach den Satz, gefolgt von Haralds leisem, schmerzerfülltem Stöhnen. König Johann presste ärgerlich die Lippen zusammen und winkte einen Mann seiner Leibgarde zu sich heran.

»Majestät?«

»Richten Sie bitte meinem Sohn Harald und Prinzessin Julia aus, dass ich sie nach dieser Audienz im Thronsaal erwarte. Und fügen Sie hinzu, dass ich sie aneinander ketten und die Jauchegruben der Burgställe ausschöpfen lasse, wenn ich noch einen Mucks von ihnen höre!«

»Jawohl, Majestät!«, sagte der Posten und begab sich eilends ins Vorzimmer.

König Johann schüttelte bedächtig den Kopf und wandte sich wieder an die wartenden Bauern. »Tut mir Leid. Mein ältester Sohn wandelt auf Freiersfüßen.«

Die Bauern nickten lächelnd und schienen sich zum ersten Mal seit Betreten des Audienzsaals ein wenig zu entspannen.

König Johann überlegte fieberhaft, wie er seinen Besuchern die Scheu nehmen könnte. Es war offensichtlich, dass sie etwas Wichtiges vorzubringen hatten, aber keiner von ihnen wagte es, den Anfang zu machen. Der König beugte sich vor und wählte seine Worte mit Bedacht, doch noch ehe er etwas sagen konnte, wurde die Flügeltür aufgerissen. Der Seneschall kam wütend in den Audienzsaal gehumpelt, gefolgt von einem protestierenden Wachposten, den er mit einer grimmigen Handbewegung zum Schweigen brachte. Immer noch wutschnaubend drang er bis zu den Stufen des Thronpodests vor.

»Verdammt noch mal, Majestät, diesmal müssen Sie aber wirklich handeln!«

Der König schloss kurz die Augen und wünschte sich sehnsüchtig an irgendeinen anderen Fleck auf der Welt.

»Was gibt es nun schon wieder, Sire Seneschall?«

»Die Kobolde treiben mich zum Wahnsinn!« Der Burgverwalter nickte den verwirrten Bauern kurz zu, stützte sich schwer auf seinen Spazierstock und starrte den König finster an. »Sie hätten das kleine Volk nie auf der Burg unterbringen dürfen, Sire. Mit diesem abscheulichen Gelichter gibt es nichts als Ärger. Ich weiß nicht, was sich Prinz Rupert dabei gedacht hat, uns die Plage ins Haus zu schicken. Da sind die Gassenbuben aus den Armenvierteln der Hügel noch besser erzogen. Erst brauchten wir drei Wochen, um ihnen beizubringen, wie man Toiletten benutzt. Und dann drei weitere Wochen, bis sie wussten, dass die Dinger sich nicht als Wasch- und Spülbecken eignen. Zur Verteidigung der Burg haben sie bisher nicht das Geringste beigetragen; sie sind elende Feiglinge und nehmen nur von ihren eigenen Anführern Befehle entgegen. Als Kundschafter machen sie sich ganz passabel, wenn ich sie dazu überreden kann, die Sicherheit der Burgmauern zu verlassen; allerdings lassen sie sich nicht davon abhalten, den Dämonen Fallen zu stellen – und vergessen dann, wo die Dinger aufgebaut sind. Sie glauben nicht, wie viele Fährtenleser wir dadurch schon verloren haben. Ich gebe zu, dass die Wilderer seitdem auf der Hut sind, aber das ist ja nicht der Zweck der…«

»Sire Seneschall«, unterbrach ihn der König mit fester Stimme, »wo genau liegt das Problem? Was haben die Kobolde diesmal angestellt?«

Der Seneschall schniefte und betrachtete gekränkt seine Schuhspitzen. »Nun, Sire, um sie wenigstens einigermaßen sinnvoll zu beschäftigen, überließ ich ihnen die Bewachung der Zinnen. Das schien mir ganz vernünftig, da sie dort oben niemanden stören und kaum Unfug treiben können. Ich hätte es besser wissen müssen. Als aus den Küchen immer mehr Töpfe und Kessel verschwanden, kam ich dahinter, dass die kleinen Mistkerle sie entwendeten, um darin Pech und Öl zu sieden! Wir kamen gerade dazu, als sie ihre neueste Mischung probeweise über die drei Landgrafen kippten, die gerade von einem Jagdausflug zurückkehrten.«

Der König bemühte sich, entsetzt dreinzublicken, aber die Vorstellung von einem Kessel mit kochendem Öl, der bedrohlich über den Köpfen der ahnungslosen Landgrafen schwappte, entlockte ihm ein Grinsen, das er diskret hinter vorgehaltener Hand und einem leisen Hüsteln verbarg.

»Wurde einer der edlen Landgrafen verletzt?«, fragte er den Burgverwalter, als er seine Stimme wieder im Griff hatte.

»Nicht unbedingt verletzt, Sire, aber wenn sie keine Umhänge und Kettenhemden getragen hätten…«

Einige der Bauern begannen ebenfalls heftig zu husten. Offenbar waren die Landgrafen auch außerhalb der Burg nicht sonderlich beliebt. Der König beschloss, der Sache bei Gelegenheit nachzugehen; Verbündete gegen die Barone konnte er immer gebrauchen.

»Es freut mich, dass niemand zu Schaden kam«, sagte er ernst. »Wie nahmen die Landgrafen die Geschichte auf?«

»Sie können sie selbst fragen, Majestät; die Herren müssten jeden Moment hier sein.«

König Johann schoss dem Seneschall einen wütenden Blick zu. »Danke für die frühe Warnung! Trommeln Sie die Kobolde zusammen und schicken sie die ganze Schar in die Wälder. Ich muss wissen, wie schnell die Finsternis vorrückt.

Die Gardesoldaten, die ich mit diesem Auftrag aussandte, sind nicht zurückgekehrt. Eines muss man den Angehörigen des kleinen Volkes lassen: Sie sind hervorragende Späher –

hauptsächlich wegen ihres unvergleichlichen Talents, sich vor jeder noch so gering erscheinenden Gefahr zu verstecken.«

»Sehr gut, Sire«, sagte der Seneschall. »Ich werde den Auftrag weitergeben.« Er zögerte und zuckte dann die Achseln. »Sie wollen wirklich helfen, Sire, es ist nur…«

»Ja, ja«, entgegnete König Johann. »Ich verstehe.«

Der Seneschall grinste, verneigte sich und ging. Als er die Tür öffnete, drängten die drei Landgrafen an ihm vorbei in den Saal. Die beiden Wachposten wechselten einen Blick und traten näher auf den Thron zu, die Hände sichtbar nahe am Schwertgriff. Seit man ihn nach seinem Mordversuch bewusstlos aus dem Audienzsaal geschleift hatte, trug Sir Bedivere auf der Burg kein Schwert mehr, aber die Wachen trauten ihm nicht über den Weg. Weder ihm noch seinen beiden Begleitern.

Sir Bedivere, Sir Blays und Sir Guillam marschierten schweigend auf das Podest zu, und die Bauern machten ihnen wortlos Platz. Sie dachten nicht daran, gegen die Herren zu protestieren. Die Bauern bestellten das Land, die Barone besaßen es.

König Johann musterte die drei Landgrafen argwöhnisch.

Sie strahlten eine Ruhe und Selbstsicherheit aus, die ihn beunruhigte. Nun, im Zweifelsfall war Angriff immer noch die beste Verteidigung. Er beugte sich vor und warf Sir Blays einen kühlen Blick zu.

»Dies ist eine Privataudienz, Landgraf. Ich habe mit den Männern etwas zu besprechen.«

»Die Bauern können warten«, erklärte Sir Blays. »Wir haben etwas mit Ihnen zu besprechen.«

»Und das wäre?«

»Dämonen dringen auf die Ländereien der Barone vor.

Was tun Sie dagegen?«

König Johann runzelte die Stirn über die unhöflich direkte Art des Landgrafen und gab sich Mühe, ruhig zu bleiben.

»Sie wissen verdammt gut, was ich dagegen tue. Meine Garde reibt sich im Kampf gegen die Dämonen auf. Sie bildet Bürgerwehren und Bauernmilizen an den Grenzen zum Dunkelwald aus und hilft, für den Fall einer Belagerung Vorräte zusammenzutragen.«

»Während die Burg selbst praktisch ungeschützt dasteht«, höhnte Sir Blays.

König Johann lächelte düster. »Wir haben immer noch die Kobolde, mein lieber Landgraf. Wie ich höre, können sie gut mit heißem Pech und Öl umgehen.«

Sir Blays versteifte sich wütend, und Sir Guillam legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. Die beiden Landgrafen sahen sich an. Sir Guillam schüttelte kaum merklich den Kopf, und Sir Blays nahm eine entspanntere Haltung an.

Sieh mal einer an, dachte der König. Ich ahnte schon immer, dass in diesem Guillam mehr steckt, als man nach außen hin vermuten könnte. Sein Blick streifte Sir Bedivere, der in die Ferne starrte, als sei ihm die ganze Diskussion gleichgültig. Wahrscheinlich ist sie ihm gleichgültig, dachte der König missmutig. Er erinnert an eine Maschine, die auf den nächsten Einsatz zum Töten wartet. Aber wer erteilt die Bef ehle –

Blays oder Guillam? Er musterte den zaghaften kleinen Mann, der völlig passiv vor ihm stand, und zupfte sich nachdenklich am Bart. Warum hatten die Barone Sir Guillam an den Hof geschickt? Er war kein Diplomat wie Sir Blays und hatte ganz sicher nicht das Zeug zu einem Mörder. Er behauptete, eine Art Buchhalter zu sein, aber bis jetzt hatte er noch keinen Versuch unternommen, die Finanzen des Hofes zu durchleuchten. Nicht dass der König ihm das gestattet hätte…

König Johann runzelte unsicher die Stirn. Wenn die Landgrafen nicht gekommen waren, um sich über die Kobolde zu beschweren, was zum Teufel suchten sie dann hier? Und warum nahmen sie so regen Anteil an den Aktivitäten seiner Garde? Der König seufzte innerlich. Nun, da der Astrologe nicht bei der Hand war, um ihn zu beraten, musste er die Antworten wohl auf die mühsame Art herausfinden.

»Nun, Sir Guillam«, sagte er langsam, »vielleicht können Sie mir erklären, was es so Wichtiges zu besprechen gibt, dass Sie mich mitten in einer Privataudienz stören. Sir Blays scheint es nicht genau zu wissen.«

Sir Guillam lächelte unterwürfig. »Es gibt… Fragen…

deren Beantwortung keinen Aufschub duldet.«

»Wie zum Beispiel?«

»Wie zum Beispiel der Verbleib des Großen Zauberers.«

Sir Guillam schluckte. »Der Mann ist überfällig. Seit Monaten überfällig, würde ich sagen.«

»Er wird kommen.«

»Wann?«

»Wie zum Henker soll ich das wissen?«

»Seine Unpünktlichkeit scheint Sie nicht übermäßig zu bedrücken«, warf Sir Blays ein. »Man könnte denken, Sie wollen ihn gar nicht hier haben.«

»Sir Blays«, sagte der König langsam, »Ihr Ton missfällt mir. Sie wissen sehr gut, was ich für den Großen Zauberer empfinde. Sie waren an jenem Abend, als ich ihn in die Verbannung schickte, persönlich anwesend. Nun, meine Herren, mein Tag war lang, und ich habe noch eine Menge zu erledigen. Was genau wollen Sie von mir?«

»Wir wollen endlich Taten sehen!«, fauchte Sir Blays.

»Schöne Worte und Versprechungen bringen den Dunkelwald nicht zum Stillstand. Ich weiß, dass ich für meine beiden Begleiter spreche, wenn ich sage, dass die Barone nicht einfach zusehen werden, wie das Waldkönigreich zerfällt, während Sie zaudern und Ausflüchte suchen und nichts unternehmen!«

»Ich tue mein Möglichstes!«

»Das reicht nicht«, sagte Sir Bedivere. Er trat einen Schritt vor, und die beiden Wachposten zogen ihre Schwerter. Der Koloss beachtete sie nicht, sondern heftete seinen Blick fest auf den König. »Wenn Sie die nötigen Maßnahmen versäumen, müssen eben andere eingreifen.«

»Das klang nach einer Drohung«, sagte der König gleichmütig. »Vielleicht haben Sie schon vergessen, was das letzte Mal geschah, als Sie es wagten, mich zu bedrohen.«

»Ach ja.« Sir Guillam lächelte, »Wo ist Thomas Grey eigentlich dieser Tage? Immer noch auf der Suche nach dem…

verschwundenen… Curtana?«

»Es wird nicht von selbst wieder auftauchen!«, fauchte der König. »Der Astrologe arbeitet Tag und Nacht, um dem Dieb auf die Spur zu kommen, der das Curtana aus meinem Arsenal mitnahm!«

»Immer vorausgesetzt, dass es ein Dieb war.« Sir Blays musterte den König spöttisch. »In diesem Punkt haben Sie einen Fehler begangen, Majestät. Es war zu viel des schönen Zufalls, dass sich das Schwert des Zwangs genau in dem Moment in Luft auflöste, als das Arsenal wieder entdeckt wurde – und sich somit außer Reichweite und außerhalb der Aufsicht des Hofes befindet.«

»Sie begeben sich auf gefährlichen Boden, edler Landgraf!«

Sir Blays und Sir Guillam lächelten, während Sir Bedivere breit grinste.

»Als Sie das Schwert des Zwangs an sich nahmen, verloren Sie jeden Anspruch auf unsere Loyalität«, sagte Sir Blays.

»Eine solche Bedrohung der Barone können wir nicht hinnehmen«, setzte Sir Guillam schüchtern hinzu. »Deshalb fordern wir in ihrem Namen, dass Sie uns das Curtana aushändigen. Wir werden es sicher verwahren.«

»Sie fordern?« König Johann war zornbebend aufgesprungen. »An meinem Hof fordern Sie nichts! Und nun verschwinden Sie, ehe ich Sie aus dem Saal peitschen lasse!«

Sir Bedivere lachte leise, und König Johann erschauerte über den kaum verhüllten Irrsinn in diesem Lachen.

»Das geht zu weit!«, erklärte der hünenhafte Landgraf.

»Diese Kränkung werden Sie mir mit Ihrem Herzblut bezahlen!«

»Sie wagen es…«

»Heute schützt Sie kein Hofastrologe, König Johann. Die beiden Leibwächter, die zwischen Ihnen und mir stehen, reichen nicht aus. Geben Sie mir Ihr Schwert, Blays!«

Sir Blays wechselte einen Blick mit Sir Guillam. Der zögerte und nickte dann kurz.

»Sie gehen jetzt am besten, Sire!«, murmelte einer der Posten. »Wir halten ihn auf, solange wir können.«

König Johann starrte wie betäubt Sir Blays an, der langsam sein Schwert zog. »Warum tun Sie das, Blays? Wir kennen uns jetzt seit über dreißig Jahren…«

»Nun gehen Sie endlich!«, zischte der Leibwächter.

»Schlagen Sie Alarm, sobald Sie den Saal verlassen haben!«

»Das ist nicht nötig«, sprach eine ruhige Stimme. »Der König hat nichts zu befürchten, solange wir hier sind.«

Holz vibrierte, und Sehnen schwirrten leise, als die Bauern mit geschickten Bewegungen Pfeile auflegten und ihre Langbogen spannten. Die drei Landgrafen drehten sich mit ungläubigen Mienen um.

»Wie könnt ihr es wagen?«, grunzte Sir Guillam. »Wie könnt ihr es wagen, euch den Baronen zu widersetzen? Dafür lasse ich eure Höfe niederbrennen!«

Die zwölf Männer hielten schweigend ihre Pfeile auf die Landgrafen gerichtet.

Sir Bedivere musterte sie mit unbewegter Miene und streckte den Arm in Richtung Sir Blays aus. »Geben Sie mir Ihr Schwert! Es sind doch nur Bauern.«

Sir Blays sah die unerbittliche Härte in den Augen der Bogenschützen und schüttelte den Kopf.

»Geben Sie mir Ihr Schwert!«

»Nein«, sagte Sir Blays und schob die Klinge in die Scheide. »Das muss nicht sein.«

Einen Moment lang befürchtete König Johann, Sir Bedivere wolle sich mit bloßen Fäusten auf die Bauern stürzen, aber Sir Guillam und Sir Blays hielten seine Arme fest und redeten beruhigend auf ihn ein, bis das mörderische Feuer in seinen Augen erloschen war. Schließlich riss er sich aus der Umklammerung der beiden Landgrafen los, schoss dem König einen hasserfüllten Blick zu und stürmte aus dem Saal. Sir Blays und Sir Guillam folgten ihm. An der Flügeltür zögerte Sir Blays und drehte sich noch einmal um.

»Dass alles so gekommen ist, haben Sie sich selbst zuzuschreiben, Johann«, sagte er ruhig, und dann war auch er verschwunden.

König Johann ließ sich in seinen Thronsessel zurücksinken. Sein Herz raste immer noch, während die Wachposten und die Bauern erleichtert aufatmeten, die Waffen senkten und sich gegenseitig respektvoll zunickten. Der König bedachte sie alle mit einem Lächeln.

»Ich danke euch für eure Unterstützung. Das werde ich euch nie vergessen!«

Er rieb sich geistesabwesend die schmerzenden Schläfen, ohne die gemurmelten Antworten der Bauern richtig aufzunehmen. Bedächtig schüttelte er den Kopf. Durch seinen Zornausbruch hatte er den Landgrafen genau in die Hände gespielt. Der einzige Grund ihres Besuches hatte darin bestanden, ihn vor den Bauern zu beleidigen und zu demütigen, ihnen klar zu machen, wer die Macht im Waldkönigreich übernommen hatte. Der König runzelte sorgenvoll die Stirn.

Die Landgrafen waren mit ihrer offenen Rebellion über den Verrat hinausgegangen, in der festen Überzeugung, dass er es aus Furcht vor einem Bürgerkrieg nicht wagen würde, sie in den Kerker zu werfen. Mit dieser Einschätzung hatten sie vermutlich sogar Recht. Er konnte die Invasion der Dämonen nicht ohne die Unterstützung der Barone bekämpfen – und das wussten sie. Der König fluchte leise vor sich hin. Vielleicht hätte es eine Möglichkeit gegeben, diese Entwicklung zu vermeiden, aber ohne die Ratschläge seines Astrologen…

Müde schüttelte er den Kopf. Im Moment war der Astrologe seine einzige Verbindung zu den weit verstreuten Truppen.

Sein Heer und seine Garde waren über das ganze Land verteilt, um die Finsternis zurückzudrängen. Mit Hilfe seiner Magie konnte der Astrologe Botschaften sehr viel schneller zu den Kämpfern weiterleiten als mit reitenden Kurieren oder Brieftauben. Leider war der Astrologe mit dem Meldewesen so beschäftigt, dass ihm kaum noch Zeit für andere Dinge blieb – einschließlich der Suche nach dem Curtana-Schwert.

Inzwischen wurden die Zustände im Reich immer schlimmer. Bis zu dem Moment, da er mit allen Problemen allein fertig werden musste, hatte König Johann gar nicht bemerkt, wie sehr er sich auf seinen alten Freund verlassen hatte. Da gab es Steuern festzusetzen, Pachtzinsen einzutreiben und den ganzen Papierkram zu erledigen, der nicht einmal dann weniger wurde, wenn das Land unter Belagerung stand. Es war anstrengend genug gewesen, den ganzen Mist zu unterzeichnen…

Einen Teil der alltäglichen Aufgaben hatte er zum Glück auf den Seneschall abwälzen können, aber nun, da der Dunkelwald unaufhaltsam näher rückte, brachte jeder Tag neue Sorgen. Immer mehr Menschen flohen vor der Finsternis, und die meisten konnten nur das Allernotwendigste mitnehmen.

Es mangelte an Pferden, und das Militär hatte alle Wagen und Karren beschlagnahmt, um die spärlichen Feldfrüchte, die man noch ernten konnte, in sichere Vorratslager zu bringen.

Die Ströme von Obdachlosen waren leichte Beute für Räuber, Banditen und Dämonen. Die königliche Garde versuchte, die großen Durchgangsstraßen zu überwachen, aber das war nicht mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein.

In den Städten wurden die Lebensmittel knapp, und die Preise schnellten in die Höhe. Man musste einen Teil der Posten von den Straßen abziehen, um Bürgeraufstände zu verhindern. Doch wohin der König seine Leute auch schickte – sie kamen zu spät, und sie waren zu wenige.

Selbst wenn ihm der Astrologe und der Champion zur Seite gestanden hätten, wäre es ein Albtraum gewesen, aber ohne sie konnte der König nur hilflos zusehen, wie sein Reich allmählich zerfiel.

Seufzend massierte er sich die pochenden Schläfen. An manchen Tagen kam ihm seine Krone unerträglich schwer vor. Wie war es dazu gekommen, dass er sich so sehr auf den Astrologen stützte? Es hatte Zeiten gegeben, da hatten Dutzende von Ratgebern und Günstlingen bereit gestanden, um den Hofstaat, die Barone und alle die anderen lästigen Dinge des Herrschens von ihm fern zu halten. Aber im Lauf der Jahre waren alle, die er geschätzt und denen er vertraut hatte, entweder gestorben oder abtrünnig geworden, hatten sich als falsch oder niederträchtig erwiesen, bis ihm nur noch der Astrologe und der Champion zur Seite standen, um ihm einen Teil der Königsbürde abzunehmen. Und jetzt, da er sie so notwendig brauchte, war keiner von ihnen da.

Ernüchtert und beschämt stellte er fest, wie ungerecht dieser Gedanke war. Der Astrologe arbeitete sich fast zu Tode, um das Meldewesen aufrechtzuerhalten, und der Champion war auf der Suche nach dem Großen Zauberer ohne Zögern in den Dunkelwald geritten. Wenn sie solche gewaltigen Opfer für das Wohl des Reiches brachten, konnte man dann von ihm als König nicht das Gleiche verlangen? König Johann runzelte die Stirn und trommelte mit den Knöcheln gegen die Armlehne seines Thronsessels. Rupert und der Champion waren seit Monaten überfällig, und mit jedem Tag, der verstrich, schwand die Aussicht auf ihre Rückkehr. Nach Ansicht seines Hofstaates waren die Teilnehmer der unseligen Expedition längst tot. Der König seufzte leise und gestand sich insgeheim endlich ein, was er nicht öffentlich zugeben konnte: Rupert und der Champion waren verloren. Das Eingeständnis rief einen sonderbaren Schmerz hervor, denn tief in seinem Innern hatte er sich an den Glauben geklammert, dass der Große Zauberer aus dem Exil heimkehren, mit seiner Kunst die Dämonen und die Finsternis vertreiben und alles wieder ins Lot bringen würde. Die Erkenntnis, dass er so große Hoffnung an einen unerfüllbaren Wunsch verschwendet hatte, kam den König hart an.

»Majestät?«, fragte einer der Leibwächter unsicher. König Johann fuhr aus seinen Träumereien hoch und merkte, dass die Bauern immer noch geduldig vor ihm standen. Er sah sie geistesabwesend an, entsetzt darüber, wie lange er die Abordnung nun schon warten ließ, während seine Gedanken umherschweiften.

»Verzeiht«, sagte er hastig. »Der jährliche Umzug in der Burg hat letzte Woche begonnen, und es gibt so viel zu tun.

Was genau habt ihr vorzubringen?«

Die Bauern sahen sich unschlüssig an. Schließlich trat ein Mann in mittleren Jahren als Sprecher vor. Der Prunk des Audienzsaals schien ihn zu lähmen, und er wusste nicht recht, was er mit seinen großen, von der Feldarbeit zerfurchten Händen anfangen sollte. Als er jedoch zu reden begann, achtete der König nicht mehr auf diese Äußerlichkeiten, sondern sah nur noch die schlichte Würde dieses Mannes, der ungebeugt und ungebrochen wirkte, obwohl ihn die Not und der Schmerz niederdrückten.

»Ich bin Madoc Thorne von der Birkenwald-Domäne«, sagte er langsam. »Ich bewirtschafte fünf Hektar Land wie mein Vater vor mir und sein Vater vor ihm. Noch kann ich meine Familie ernähren, obwohl wir alle von früh bis spät hart arbeiten müssen, um unseren Lebensunterhalt zu verdienen und zugleich unsere Steuern und Abgaben zu entrichten.

Seit sieben Generationen bestellen wir unsere Äcker. Ich hatte die Absicht, den Hof eines Tages meinem ältesten Sohn zu übergeben, so wie er mir übergeben wurde, aber ich habe keine Söhne mehr. Die Pest hat sie mir genommen.«

Den König fröstelte plötzlich, als wäre ein kalter Wind in den Saal eingedrungen. »Dann stimmt das Gerücht also. Die Pest hat in Birkenwald Einzug gehalten.«

»Und sie hat sich schneller ausgebreitet als ein Buschfeuer, Sire. Es gibt keine Stadt, kein Dorf und keinen Weiler in der Birkenwald-Domäne, der dieser Geißel entgangen wäre.

Vierhundert Tote, von denen ich sicher weiß, dazu die zehnfache Zahl jener, die krank in ihren Betten liegen und langsam vom Fieber verzehrt werden. Nichts hilft, kein Gebet, keine Medizin, kein Zauberspruch. Männer, Frauen und Kinder erkranken von heute auf morgen, und ihre Angehörigen müssen hilflos zusehen, wie sie dahingerafft werden. Das Vieh fällt in den Ställen um und erhebt sich nicht wieder. Das Getreide verfault auf dem Acker, weil niemand mehr da ist, um es zu ernten, oder es fällt dem frühen Frost zum Opfer.

Ich hatte vier Söhne, prachtvolle Söhne, die mir bei der Feldarbeit zur Hand gingen. Alle waren sie gut geraten. Bis jetzt musste ich zwei von ihnen bestatten, zusammen mit ihrer Mutter. Die beiden anderen sind zu schwach, um ihr Lager zu verlassen. Wenn ich heimkehre, muss ich wohl das nächste Grab schaufeln. Deshalb sind wir hierher gekommen, Sire. Weil wir nicht tatenlos dasitzen und zusehen können, wie die Pest unsere Familien zerstört, ihnen das Fleisch von den Knochen frisst und ihre Glieder verrenkt, bis sie vor Schmerzen laut schreien.

Wir sind nicht mehr jung, Sie und ich, Majestät. Wir haben schon früher harte Zeiten durchgemacht und wissen, dass auch die schlimmste Zeit irgendwann vergeht. Aber diesmal fürchte ich, dass keiner von uns das Ende der Not erleben wird, wenn Sie uns nicht helfen.«

Es entstand ein langes Schweigen, während König Johann krampfhaft nach den richtigen Worten suchte. Der Bauer hatte seine Geschichte mit schonungsloser Ehrlichkeit vorgetragen, um sicherzugehen, dass der König begriff, wie die Dinge in der Birkenwald-Domäne standen. Der König begriff nur zu gut. Die Pest war vor knapp einem Monat an den Grenzen des Dunkelwaldes aufgetaucht und hatte sich mit erschreckender Schnelligkeit ausgebreitet. Anfangs glaubte man, dass Ratten die Seuche übertrugen, und dann fiel der Verdacht auf die Flüchtlinge, doch als immer mehr Todesfälle aus allen Teilen des Reiches gemeldet wurden, erhärtete sich die Gewissheit, dass es nur einen Ursprung für die Ansteckung geben konnte: Die Dämonen schleppten die Pest aus dem Dunkelwald heran.

Und nun hatten sie die Birkenwald-Domäne erreicht, die nur eine Wochenreise von der Residenz entfernt lag.

»Ich werde Priester und Ärzte schicken«, sagte der König schließlich. »Bis jetzt gibt es keine Heilmittel gegen die Seuche, doch vielleicht können sie den Schmerz der Sterbenden und ihrer Angehörigen lindern. Ich weiß nicht, wie viele euch erreichen werden. Es sind nicht mehr genug Leute zur Überwachung der Durchgangsstraßen da. Die Dämonen…«

»Die Dämonen! Immer die Dämonen!« Madoc Thorne sah den König mit Tränen der Wut und Verzweiflung in den Augen an. »Was nützen uns Priester und Ärzte, wenn sie keine Heilung bringen? Schicken Sie uns Soldaten, Sire –

Männer, die etwas vom Kämpfen verstehen und uns das Kämpfen beibringen! Wenn wir schon unsere Höfe nicht gegen die Pest verteidigen können, wollen wir sie wenigstens gegen die Dämonen verteidigen, die diese Pest verbreiten.

Ein Bogen vermag nicht viel. Ich weiß, dass die Barone uns Bauern den Umgang mit Schwert und Streitaxt stets verwehrt haben – aber nun wären richtige Waffen unsere einzige Hoffnung, der Pest Einhalt zu gebieten.«

König Johann betrachtete seine Hände, um den Bittstellern nicht in die Augen schauen zu müssen. Wie konnte er ihnen sagen, dass ihre beschwerliche Reise und ihre Opfer umsonst gewesen waren? Er seufzte leise und hob den Kopf, der immer noch an ein imposantes Löwenhaupt erinnerte. Er suchte nach tröstlichen Worten, um seine Absage zu mildern, doch als er ihre hoffnungsvollen Blicke sah, wusste er, dass er sie nicht belügen konnte.

»Meine Freunde, ich vermag euch nicht zu helfen. Ich habe keine Leute mehr, die eure Felder bewachen oder euch zu Schwertkämpfern ausbilden könnten. Die Barone unterstützen mich nicht mehr und werden freiwillig keine Soldaten zu eurer Entlastung abtreten. Waffen sind genug da; bedient euch nach Belieben! Aber ich kann keinen einzigen Mann entbehren.«

Die Bauern starrten den König an und tauschten entmutigte Blicke.

»Ist das alles?« Einer der jüngeren Männer trat vor und stellte sich neben Madoc Thorne. »Haben wir den weiten Weg umsonst gemacht? Haben wir Räuber und Wegelagerer und die Geschöpfe der Nacht vergeblich bekämpft? Haben wir unsere Höfe und Familien schutzlos zurückgelassen, nur um zu erfahren, dass Sie nichts für uns tun können?«

»Es tut mir Leid«, sagte König Johann.

Der junge Bauer ballte die Fäuste und wollte vorwärts stürmen, aber Thorne packte ihn am Arm und hielt ihn zurück. »Es reicht! Lass den König in Ruhe! Er hat uns reinen Wein eingeschenkt, obwohl es einfacher für ihn gewesen wäre, uns zu belügen und mit schönen Worten abzuspeisen.

Auch wenn uns die Wahrheit nicht gefällt – wir wissen nun, woran wir sind.«

»Ja«, entgegnete der junge Bauer, »das allerdings.« Und er wandte sich ab, um seine Tränen zu verbergen.

»Wenn ich nur könnte, hülfe ich euch wirklich«, sagte der König.

»Das wissen wir«, erwiderte Madoc Thorne. »Tut uns Leid, dass wir Sie mit unseren Sorgen belastet haben, Majestät. Wir sehen jetzt, dass Sie ganz andere Probleme zu bewältigen haben. Wenn Sie Ihre Leute anweisen, uns ein paar Waffen herzurichten, machen wir uns morgen früh auf den Rückweg.«

»Natürlich«, sagte der König. »Einige Gardisten sollen euch auf den ersten Meilen Geleitschutz geben.«

»Nein, danke«, erklärte der Anführer der Bauern ruhig.

»Ich schätze, das schaffen wir allein.«

Er verneigte sich knapp, ehe er sich umdrehte und den Thronsaal verließ. Seine Begleiter verbeugten sich einer nach dem anderen vor dem König und folgten ihrem Sprecher nach draußen. König Johann erwiderte ihren Abschiedsgruß, und das blanke Mitleid in ihren Augen schmerzte ihn mehr als jedes Wort. Sie hatten sich durch die Finsternis bis an den Hof durchgekämpft, sie hatten ihn gegen die Landgrafen verteidigt, aber er war nicht in der Lage gewesen, ihnen zu helfen. Er hatte sie im Stich gelassen, und sie verziehen ihm, weil er ihr König war. Und obwohl die eigenen Sorgen sie niederdrückten, war in ihren Herzen noch Platz für Mitgefühl für den alten, müden Herrscher, der sein Amt nicht mehr bewältigen konnte. Der König sah ihnen nach und wusste, dass sie sich bei Tagesanbruch auf den Heimweg machen würden, um mit ihren Familien zu sterben. Der Letzte der Abordnung schloss leise die Tür, aber in der Stille des Audienzsaals klang es, als hätte er sie zugeschlagen.

»Majestät?«, begann einer der Leibwächter, aber der König brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen.

»Geht den Bauern nach!«, befahl er brüsk. »Besorgt ihnen ein Nachtquartier und sagt dem Seneschall, er möge ihnen die Waffen ihrer Wahl geben. Dann macht euch auf die Suche nach dem Kommandanten der Königlichen Garde und bestellt ihn hierher. Und richtet meinem Sohn aus, dass er und Julia noch eine Weile warten müssen, bis ich Zeit für sie habe.

Beeilt euch, damit ihr die Bauern noch einholt!«

Die Wachposten verneigten sich rasch und verließen schweigend den Raum.

König Johann lehnte sich zurück und ließ die Blicke durch den leeren Saal schweifen. Draußen war die Nacht hereingebrochen, und das Dunkel presste gegen die Buntglasfenster.

Die vielarmigen Lüster verbreiteten ein goldenes Licht, und im Kamin loderte ein helles Feuer, aber um die Dachbalken sammelten sich die Schatten, und in der Nachtluft lag eine Kälte, die kein Feuer vertreiben konnte. Der König starrte grimmig umher und versuchte sich vorzustellen, wie der Audienzsaal auf die Bauern gewirkt haben musste. Ein leises Entsetzen erfasste ihn, als er seine Umgebung zum ersten Mal so wahrnahm, wie sie wirklich war – und nicht so, wie er sie von früher in Erinnerung hatte. Das Parkett war seit Monaten nicht mehr mit Wachs poliert worden, ein dunkler Rußfilm lag auf den Porträts und Tapeten, und selbst das Marmorpodest, auf dem sein Thronsessel stand, wies Risse und angestoßene Ecken auf. Doch das waren nur die äußeren Zeichen der Verwahrlosung. Darunter verbarg sich der Mief von Alter, von etwas, dessen Zeit abgelaufen war. Das Waldkönigreich hatte eine lange Reihe von Herrschern gesehen, als König Johann den Thron bestieg, aber nie zuvor war es ihm so verblichen und schäbig vorgekommen. Wie so viele Dinge war es im Lauf der Jahre allmählich zerfallen, ohne dass er es bemerkte hatte.

Wie ist es nur dazu gekommen?, dachte der König, während er den ausgefransten Hermelinkragen seines Umhangs zwischen den Fingern drehte. Er hatte immer sein Bestes für das Reich gegeben, hatte alles getan, was von ihm verlangt wurde. Er hatte sich gut verheiratet und eine glückliche Ehe geführt, bis ihm eine heimtückische Krankheit seine Frau genommen hatte, vor einundzwanzig langen Jahren. König Johann seufzte tief, als die Erinnerungen auf ihn einströmten.

Es hatte so harmlos angefangen. Eine Erkältung nach einem Bad im sommerlichen See. Und dann war aus der Erkältung ein schweres Fieber und aus dem Fieber etwas Schlimmeres entstanden. Am Ende lag sie da, das Gesicht hager von der Auszehrung, während der Kopf hilflos in den schweißgetränkten Kissen hin und her rollte. Immer wieder hatte sie hellrotes Blut gehustet, in langen, schmerzhaften Krämpfen, die ihren zerbrechlichen Körper marterten. All die langen Tage und die noch längeren Nächte hatte König Johann an ihrem Krankenlager gesessen und ihre Hand gehalten, aber sie merkte nicht einmal, dass er da war. Die größten Ärzte und Magier waren seinem Ruf gefolgt und hatten ihr zu helfen versucht, aber keiner von ihnen vermochte sie zu retten, und zuletzt konnte er nur noch ohnmächtig zusehen, wie die geliebte Frau qualvoll starb.

König Johann saß auf seinem Thron und ließ die Blicke durch den Audienzsaal wandern. Er hatte sein Bestes gegeben. Hatte die Schlachten des Reiches geschlagen, das Land gegen seine Feinde verteidigt. Und wozu das alles? Dass er nun allein in einem staubigen, leeren Saal saß und wusste, dass sein Bestes nicht gut genug gewesen war.

Draußen im Vorzimmer stritten Harald und Julia im Flüsterton weiter, während sie darauf warteten, dass der König sie endlich empfing.

»Schau, Julia, es ist nun mal abgemacht, dass wir beide heiraten!«

»Eine Abmachung lässt sich ohne weiteres rückgängig machen.«

»Der Kontrakt wurde vor langer Zeit besiegelt.«

»Nicht von mir.«

»Deine Unterschrift ist nicht nötig«, sagte Harald ruhig.

»Ebenso wenig wie dein Einverständnis.«

Er duckte sich im letzten Moment, sodass Julias Faust nur seine Frisur streifte. Harald trat zur Vorsicht einen Schritt zurück, während die Prinzessin ihr Gleichgewicht wiedergewann. Im Umgang mit Julia entwickelten sich seine Nahkampf-Reflexe besser als im jahrelangen Training mit dem Champion.

»Julia, das haben wir doch alles schon mehrfach durchgekaut. Diese Hochzeit wird stattfinden, gleichgültig, was wir beide davon halten. Warum finden wir uns nicht damit ab und machen das Beste daraus?«

Julia sah ihn zornig an. »Hör mir gut zu, Harald, denn was ich jetzt sage, gilt ein für alle Mal. Ich liebe dich nicht. Ich mag dich nicht. Meine Gefühle für dich sind ungefähr so überwältigend wie für den dampfenden Mist, der morgens aus den Ställen gekarrt wird. Ich würde dich nicht mal dann heiraten, wenn ich zur Strafe den Aussatz kriegte. Hast du das kapiert?«

»Du wirst mich lieben lernen, wenn wir erst Mann und Frau sind«, meinte Harald selbstgefällig. Julia trat ihm gegen das Schienbein. Harald humpelte eine Weile auf und ab und fluchte unterdrückt, um seinen Vater nicht auf die Palme zu bringen. Er hatte gelernt, die Fausthiebe abzuwehren, aber die Tritte kamen immer noch unerwartet.

Julia kehrte ihm den Rücken zu und grollte still vor sich hin. Angesichts ihres leicht angekratzten Rufes bei Hofe konnte sie sich keine offene Fehde mit dem Thronerben leisten, aber hin und wieder ging der Gaul mit ihr durch. Harald hatte die freie Auswahl unter den Edelfräulein, aber er musste sich ausgerechnet auf sie versteifen. Sie kannte Kaninchen, die weniger rammelten als er. Er machte ihr Komplimente und Geschenke und schien fassungslos, dass sie ihm nicht vor Freude um den Hals fiel. Julia musste zugeben, dass Harald ein angenehmer Gesprächspartner sein konnte, aber die Beharrlichkeit des Mannes widerte sie etwa im gleichen Maße wie seine Selbstsicherheit an, und manchmal reichte sein bloßer Anblick, um ihre Schwerthand zum Zücken zu bringen. Unwillkürlich streichelte sie den Griff der Waffe.

Es tat gut, Ruperts Schwert wieder an der Hüfte zu spüren.

Nach ihrer Expedition zum Südflügel hatte sie unverzüglich ihr Prachtgewand mit Beinkleidern und einem schlichten Oberteil vertauscht. Die weiten, langen Röcke hatten sich als verdammt hinderlich im Kampf erwiesen. Und wenn die Dämonen ihr Unwesen bereits im Südflügel trieben, war kein Teil der Burg vor ihnen sicher. Deshalb trennte sich Julia tagsüber keine Sekunde lang von ihrer Waffe und hängte den Lederriemen mit der Scheide nachts griffbereit an den Bettpfosten.

Es ist schon ätzend, dachte sie schlecht gelaunt. Als ich noch in der Drachenhöhle lebte, träumte ich nur davon, von einem strahlenden Prinzen gerettet und auf sein Schloss entf ührt zu werden. Und was ist geschehen? Ich wurde von einem Prinzen gerettet, den man beim besten Willen nicht als strahlend bezeichnen kann, und lebe in einem Schloss, aus dem ich lieber heute als morgen abhauen möchte!

»Liebste…«, hörte sie Haralds schmeichelnde Stimme hinter sich.

»Rühr mich nicht an, sonst verknote ich dir die Finger!«

»Ich habe nicht im Entferntesten daran gedacht«, versicherte Harald mit Grabesstimme, und Julias Mundwinkel zuckten. »Warum kannst du mich nicht leiden, Julia? Alle anderen Leute mögen mich.«

Julia drehte sich um und sah ihm in die Augen. »Harald, ich liebe dich nicht. Wann begreifst du das endlich?«

»Leute unseren Standes heiraten nicht aus Liebe.«

»Ich schon.«

»Aber ich werde eines Tages König sein«, erklärte Harald mit einer Miene, als hätte er soeben sein viertes Ass auf den Tisch gelegt.

»Ich will aber keine Königin sein«, übertrumpfte ihn Julia.

»Jede Frau will Königin sein.«

»Da täuschst du dich aber gewaltig!«

»Was willst du dann, verdammt noch mal?«

Julia senkte den Blick. »Ich weiß es nicht.«

Es entstand eine Pause. Harald trat dicht neben sie.

»Du denkst an Rupert, stimmt's?«

»Vielleicht.«

»Er ist der nachgeborene Sohn. Er wird nie den Thron besteigen.«

Julia fuhr herum und funkelte ihn zornig an. »Das ist alles, was in deinem Kopf Platz hat! Und in den Köpfen dieser blöden Hofschranzen! Dann hör mir mal genau zu, Harald!

Mag sein, dass Rupert nicht der Älteste ist. Mag sein, dass er nicht gut genug für die Herrscherkrone ist. Aber er war gut genug, um den Regenbogen-Lauf zu wagen, und er war gut genug, um neben mir und dem Drachen die Dämonen zu vertreiben!« Plötzlich zitterte ihre Stimme, und Tränen stiegen ihr in die Augen. Irgendwie bekam sie sich wieder in den Griff. Julia wollte Harald nicht die Genugtuung verschaffen, sie weinen zu sehen. Als sie ihn wieder ansah, waren ihre Augen trocken. »Rupert ist der tollste und tapferste Mann, den ich je kennen gelernt habe«, sagte sie mit fester Stimme.

»Ein echter Held…«

Harald zog die Augenbrauen hoch. »Sprechen wir über den gleichen Typen?«

»Er hatte den Mut, noch einmal in den Dunkelwald zu reiten, um den Großen Zauberer zu holen. Ich kann mich nicht entsinnen, dass du dich freiwillig für diese Mission gemeldet hättest.«

»Das wäre bescheuert gewesen«, erklärte Harald. »Logisch betrachtet ist die Geschichte ganz einfach. Wir konnten nicht beide losziehen. Wenn die Sache dumm läuft, kommen wir beide um – und das Waldkönigreich steht ohne Thronerben da! Das würde zumindest Chaos, im schlimmsten Fall jedoch Bürgerkrieg bedeuten. Andererseits war klar, dass einer von uns beiden den Job übernehmen musste. Ein Geringerer als ein Prinz von königlichem Geblüt hatte keine Aussicht, den Großen Zauberer zur Rückkehr zu bewegen. Also kamen nur er oder ich in Frage – und Rupert war entbehrlicher als ich.«

»Er bot sich freiwillig an. Du nicht.«

Harald zuckte mit den Schultern. »Mein Platz ist hier.

Ich muss die Burg gegen ihre Feinde verteidigen. Wenn Rupert den Helden spielen will, ist das seine Entscheidung.

Ich habe wichtigere Dinge zu tun.«

»Was zum Beispiel? Mir überall nachzurennen wie ein geiler Bock?«

»Diese Bemerkung verdient keine Antwort!«

»Rupert müsste seit Monaten zurück sein! Er ist dein Bruder! Empfindest du denn gar nichts für ihn?«

Harald hielt Julias Blicken ruhig stand. »Wenn Rupert stirbt, werde ich ihn rächen.«

»Das ist sicher ein großer Trost für ihn.«

Harald rang sich ein Lächeln ab. »Erwarte nicht zu viel, Julia! Das Hofleben ist der Bruderliebe eher abträglich. Du solltest das am besten wissen. Wie viele deiner Schwestern haben sich für dich eingesetzt, als du zum Tod verurteilt wurdest?«

»Das kannst du nicht vergleichen. Ich war schuldig.«

»Nicht mehr und nicht weniger als wir alle, Julia. Du hattest nur das Pech, erwischt zu werden. Wenn Vater stirbt, könnte zwischen Rupert und mir ein Bürgerkrieg um die Thronfolge entstehen. Das wissen wir seit unserer Kindheit.

Du kannst es dir nicht leisten, für jemanden Gefühle zu entwickeln, den du eines Tages vielleicht töten musst. Aber ich verspreche dir eines, Julia. Falls Rupert tot ist, werde ich nicht ruhen, bis ich herausfinde, wer die Schuld daran trägt.

Und wenn der Große Zauberer selbst die Hand im Spiel hat –

ich werde meinen Bruder rächen.«

Julia warf Harald einen aufmerksamen Blick zu. Seine Stimme klang mit einem Mal kalt und schneidend, ganz anders als der lässige Tonfall, den sie von ihm gewohnt war, und einen flüchtigen Moment lang gruben sich harte Linien in seine sonst so glatten, verbindlichen Züge. Der Moment verging, aber Julia sah ihn weiter forschend an.

»Du glaubst, dass er tot ist, nicht wahr?«, fragte sie ruhig.

Harald nickte langsam. »Wir haben seit fünf Monaten nichts mehr von ihm gehört. Du musst dich damit abfinden, Julia. Er kommt nicht mehr zurück.«

Und dann verstummten sie beide, als ein Wachposten das Vorzimmer betrat, an ihnen vorbei in den Thronsaal eilte und sorgfältig die Doppeltür hinter sich schloss. Harald und Julia sahen sich schweigend an. Nach einer längeren Wartezeit schwang das Portal wieder auf, und der Wachposten verneigte sich vor ihnen.

»Prinz Harald, Prinzessin Julia – der König wünscht Sie zu sprechen!«

»Denk an die Jauchegruben!«, zischte Harald, als er neben Julia den Audienzsaal betrat.

»Wie könnte ich sie vergessen?«

»Dann lächle, verdammt noch mal! Davon wirst du nicht tot umfallen.«

»Bist du ganz sicher?«

Mit hoch erhobenen Häuptern und einem gefrorenen Lächeln kamen sie auf den Thron zu, wo sich Harald verneigte und Julia einen Hofknicks andeutete. Der König betrachtete beide und lachte spöttisch.

»Spart euch das Lächeln, Kinder – damit täuscht ihr weder mich noch sonst jemanden!« Er entließ den Leibwächter mit einer Handbewegung und wartete geduldig, bis sich die Flügeltür hinter ihm geschlossen hatte. König Johann musterte Harald und Julia eine ganze Weile, ohne ein Wort zu sagen.

Während Harald seinen Blick ruhig erwiderte, trat Julia unruhig von einem Fuß auf den anderen und fasste mehrmals nach dem Schwertgriff. Der König hatte eine Entscheidung über ihre Zukunft getroffen; das konnte sie in seinen Zügen lesen.

»Ihr beide kommt überhaupt nicht klar, stimmt's?«, fragte König Johann schließlich.

»Das wird schon noch, Vater«, erwiderte Harald betont zuversichtlich. Julia schniefte.

Der König sah sie an und seufzte gut hörbar. »Prinzessin Julia, wie kann ein Mensch in so kurzer Zeit so viele Scherereien machen?«

»Übung«, sagte Julia knapp. »Was habe ich nun schon wieder angestellt?«

»Nach den jüngsten Hofberichten bauen Sie eine weibliche Kampftruppe auf, in der von Küchenmägden bis zu Hofdamen alle Frauen dieser Burg in Verteidigungstechniken gedrillt werden. Dazu zählt angeblich nicht nur der Umgang mit Schwert und Langbogen, sondern auch die Beherrschung gemeiner Tricks – beispielsweise Tritte gegen besonders empfindliche Stellen, wenn ein Mann bereits am Boden liegt, oder das Einreiben der Schwertklingen mit frischem Dung, damit die Wunden auch ganz bestimmt eitern.«

»Das stimmt«, gab Julia zu. »Einige meiner Damen wissen sich inzwischen gut zu wehren.«

»So ein Unfug!«, fauchte der König. »Frauen führen keine Kriege!«

»Warum nicht?«

König Johann geriet einen Moment lang ins Stammeln.

»Weil sie nun mal nicht zum Kämpfen geschaffen sind –

darum!«

»Finden Sie?«, fragte Julia gedehnt. »Dann schlage ich vor, dass Sie Ihr Schwert nehmen und ein paar Runden gegen mich antreten! Ich gebe Ihnen zwei Treffer Vorsprung und wette, dass ich trotzdem drei zu fünf gewinne!«

»Was grinst du so dämlich?«, fuhr der König Harald an.

»Ich nehme an, dass du sie in diesem Quatsch auch noch bestärkt hast.«

»Nein«, sagte Harald. »Ich erfahre eben erst von dieser neuen Freizeitbeschäftigung. Aber eigentlich finde ich den Gedanken gar nicht so schlecht. Wenn die Dämonen beschließen, die Burg zu stürmen, brauchen wir mehr Verteidiger, als wir haben. Mir ist es gleich, ob mir ein Mann oder eine Frau Rückendeckung gibt, solange sie wissen, wie man eine Waffe schwingt!«

»Hin und wieder hast du einen lichten Moment«, stellte Julia lobend fest. »Leider ziemlich selten, aber es ist besser als nichts.«

König Johann holte tief Luft, hielt sie an und atmete dann langsam aus. Es brachte ihm nicht die erhoffte Gelassenheit.

»Außerdem hörte ich, Prinzessin Julia, dass Sie und Ihre Damen meine Garde mit gezückten Schwertern vertrieben, als sie – völlig zu Recht übrigens – versuchten, Ihren letzten Waffendrill zu unterbinden. Stimmt das?«

»Mehr oder weniger«, erwiderte Julia. »Was kümmern sie sich auch um Dinge, die sie nichts angehen? Und da wir schon beim Thema sind – die Hälfte Ihrer Garde besteht aus echt lausigen Schwertkämpfern! Die Kerle hätten meiner Truppe eine Weile zusehen sollen. Vielleicht hätten sie einiges gelernt.«

Der König schüttelte angesäuert den Kopf. »Ich weiß nicht, warum ich meine Zeit damit vergeude, mit Ihnen zu streiten. Sie haben einfach kein Gefühl dafür, was sich schickt.«

»Überhaupt keines«, bestätigte Julia. »War das alles? Kann ich jetzt gehen?«

»Nein! Ich hatte Sie eigentlich hierher bestellt, um über Ihre bevorstehende Hochzeit mit Harald zu sprechen.«

»Ich heirate ihn nicht.«

»Fangen Sie nicht wieder damit an, Julia! Sie haben in dieser Angelegenheit keine Wahl. Vor zweiundzwanzig Jahren besiegelten Ihr Vater und ich einen Friedensvertrag, der den Grenzkrieg zwischen unseren beiden Ländern für immer beenden sollte. Inhalt dieses Vertrags war unter anderem die Heirat zwischen meinem ältesten Sohn und der jüngsten Tochter des Herzogs, sobald besagte Tochter ihre Volljährigkeit erreicht habe. Sie sind volljährig, Julia, und die Hochzeit wird wie geplant stattfinden. Ich denke nicht daran, wegen Ihrer Sturheit einen neuen Krieg zu riskieren. Das ständige Aufschieben hat jetzt ein Ende, Julia. Ich habe mit dem Burgkaplan gesprochen. Die Trauung wird heute in zwei Wochen vollzogen.«

»In zwei Wochen?« Julia schoss Harald einen wütenden Blick zu, aber der Prinz wirkte ebenso überrumpelt wie sie.

»In zwei Wochen«, bestätigte König Johann nachdrücklich.

»Zuletzt war noch von einem Monat die Rede«, meinte Harald. »Weshalb die plötzliche Eile?«

»Genau!« Julia sah den König misstrauisch an. »Was ist geschehen?«

Der König bedachte sie mit einem widerstrebenden Lächeln. »Ich habe Nachricht von Ihrem Vater erhalten, meine Liebe. Demnach schien er nicht weiter überrascht, dass Sie Ihre Begegnung mit dem Drachen überlebt haben. Nun, da er weiß, dass Sie heil hier angekommen sind, wünscht er Ihre baldige Heirat mit Harald. Genau genommen verlangt er sie sogar mit Nachdruck. Ich meinte, zwischen den Zeilen eine gewisse Invasions- und Kriegsdrohung zu lesen.«

»Mist«, sagte Julia. »Das klingt genau nach Dad. Wenn der sich eine Sache in den Kopf gesetzt hat, rückt er keinen Strich davon ab, ganz egal, was passiert. Ich hasse ihn!«

»Er ließe es nicht wirklich auf einen Krieg ankommen, oder?« fragte Harald.

»O doch«, entgegnete Julia verbittert. »Wenn er sich in seiner Ehre angegriffen fühlt, kämpft er bis zum letzten Blutstropfen seiner Untertanen!« Sie starrte den König grimmig an und ballte die zitternden Hände zu Fäusten, um ihren ohnmächtigen Zorn zu verbergen. »Allem Anschein nach hatten Sie Recht, Majestät. Ich werde in dieser Angelegenheit nicht gefragt.«

Der König schaute weg, weil er dem anklagenden Blick nicht standhalten konnte. Harald wollte ihr tröstend eine Hand auf die Schulter legen, unterließ die Geste aber, als sie wütend herumfuhr.

»Gehe ich recht in der Annahme, dass mein Vater nicht persönlich an der Zeremonie teilnehmen wird?«, fragte Julia mit harter Stimme.

»Nein«, erwiderte der König. »Allem Anschein nach ist er momentan sehr beschäftigt. Und gerade jetzt, da das Reisen so gefährlich ist… Er läßt Sie grüßen und hat Ihnen alles Gute gewünscht.«

»Hat er nicht«, sagte Julia.

König Johann und Harald wechselten einen Blick, und eine Zeit lang war es still im Audienzsaal.

»Kommt einmal mit, ihr beiden«, sagte König Johann und erhob sich entschlossen. »Ich möchte euch etwas zeigen.«

Er stieg vorsichtig die Stufen des Podests herunter, winkte aber unwirsch ab, als Harald ihn stützen wollte. Julia und Harald folgten ihm etwas verwundert quer durch den Thronsaal. Neben der Tür, die zu seinen Privatgemächern führte, hing ein riesiger, ausgeblichener Gobelin. König Johann zog an einer verborgenen Schnur, und der Wandbehang bewegte sich ruckelnd zur Seite. Dahinter kam eine Nische zum Vorschein, in der eine schlichte, etwa zwei Meter hohe und breite Glasvitrine stand. Jenseits der Scheiben, die von Staub und Fliegendreck ganz matt wirkten, standen zwei lebensgroße Holzpuppen in einer sehr alten, reich bestickten Hochzeitstracht.

»Prachtvoll, nicht wahr, meine Kinder?«, fragte König Johann. »Seit mehr als neunhundert Jahren ist es in unserem Herrschergeschlecht Tradition, dass der jeweils erstgeborene Sohn und seine Braut diese Ausstattung zur Hochzeit tragen.

Deine Mutter und ich wurden in diesen Gewändern getraut, Harald. Sie müssen nicht so misstrauisch dreinschauen, Julia!

Die Sachen sind weit bequemer, als sie aussehen.«

Julia musterte argwöhnisch die beiden Gewänder. Der Anzug des Bräutigams war eine düstere Angelegenheit, ganz in Schwarz und Grau, aufgehellt nur von ein paar Silberknöpfen.

Die Braut dagegen trug ein Geriesel aus Seide und Spitze in reinstem Weiß. Julia warf Harald einen Blick zu und schüttelte ernst den Kopf.

»Ich habe da so meine Zweifel, Harald. Weiß steht dir einfach nicht.«

»Das ist Ihr Gewand!«, fauchte der König mit mühsamer Beherrschung.

»Das kann ich nicht tragen«, stellte Julia fest. »Wo soll ich mein Schwert befestigen? Außerdem sehe ich nicht ein, warum es immer Weiß sein muss.«

»Weiß steht für die Reinheit und Unberührtheit der Braut«, erklärte König Johann kühl.

»Ach ja?« Julia studierte das Kleid nachdenklich. »Haben Sie es auch in anderen Farben?«

Harald bekam einen Lachanfall, den er wenig überzeugend durch ein Hüsteln zu verbergen versuchte.

»Was findest du so lustig, Harald?«, fragte der König eisig. »Nichts? Das ist gut, denn ich habe eine ernste Angelegenheit mit dir zu besprechen und will, dass du ganz genau zuhörst! Von jetzt an wirst du in der Öffentlichkeit nicht mehr mit Prinzessin Julia streiten.«

»Aber Vater…«

»Halt den Mund! Und noch etwas, Harald! Ich möchte, dass du den Kerkermeister aufsuchst und dir von ihm die Verliese unmittelbar unter dem Burggraben zeigen lässt. Sie sind feucht, finster, mehr als eng – und der Geruch wird dir nicht zusagen. Außerdem heißt es, dass sie vom Schwamm befallen sind, der Insekten und kleine Nagetiere zersetzt und zur Abwechslung sicher auch mal Menschenfleisch verzehren würde. Sieh dich gründlich um und merke dir genau, was du gesehen hast! Denn ich schwöre Stein und Bein, dass ich dich und Julia in eine dieser Zellen sperren und erst am Hochzeitstag wieder herauslassen werde, wenn ihr in Hörweite des Hofes noch einmal die Stimmen erhebt! Nein, kein Wort mehr, Harald! Du gehst jetzt – auf der Stelle!«

Harald warf seinem Vater einen verdrießlichen Blick zu, gelangte zu dem Schluss, dass Schweigen im Moment die beste Tugend sei, und bemühte sich um eine würdevolle Haltung, als er den Thronsaal verließ. Das Bemühen scheiterte kläglich.

König Johann wartete, bis sich die Türen hinter Harald geschlossen hatten, und wandte sich dann an Julia. Er sah sie lange prüfend an.

»Sie halten nicht viel von Harald, habe ich Recht?«, fragte er schließlich.

Julia zuckte die Achseln. »Er hat vermutlich auch seine guten Seiten.«

»Er ist eine Nervensäge«, erklärte König Johann entschieden. »Sie müssen ihn nicht schön färben, meine Liebe, ich kenne ihn länger als Sie. Aber hinter der Maske des verwöhnten Taugenichts, den er bei Hof ganz überzeugend spielt, verbirgt sich der Mann, zu dem ich ihn erzogen habe – hart, skrupellos und unabhängig. Mit anderen Worten, bestens dazu geeignet, eines Tages die Herrschaft im Land zu übernehmen. Rupert kommt zu sehr auf seine Mutter hinaus. Er denkt mehr mit dem Herzen als mit dem Kopf. Ich habe als König immer mein Bestes gegeben, aber ich war im Grunde nicht für diese Aufgabe geschaffen. Das Gleiche gilt für Rupert. Harald dagegen… er könnte die beste Chance sein, die unser Reich erhält, um wieder auf die Beine zu kommen.

Selbst wenn es uns gelingt, die lange Nacht zu besiegen, wird das Waldkönigreich nie mehr das sein, was es früher einmal war. Zu viel ist geschehen. Die Barone haben Macht gewittert und werden sie freiwillig nicht wieder hergeben.

Eine Zeit lang bleiben die Dinge vielleicht noch im Lot, weil sich nichts von heute auf morgen verändert, aber wer immer mein Nachfolger auf dem Thron wird, muss hart, entschlossen und ein besserer Diplomat sein, als ich es war. Wo ich Loyalität befahl, wird Harald darum handeln und kämpfen müssen. Das müsste ihm durchaus liegen; er besaß schon immer ein natürliches Talent zur Täuschung und zum Betrug.

Aber es ist ihm nie leicht gefallen, Freunde zu gewinnen –

und er wird Menschen brauchen, denen er vertrauen kann, wenn er den Thron behalten will. Vor allem, wenn er einen Bürgerkrieg führen muss, um an der Macht zu bleiben.

Harald hat das Zeug zu einem großen König, doch er wird immer jemanden an seiner Seite brauchen, der sein Gewissen ist, der ihm rät, Gerechtigkeit durch Gnade zu mildern, der ihm Mitgefühl beibringt. Jemand, den er mag und den er achtet. Sie werden Harald eine gute Königin sein, Julia.«

»Ich will aber keine Königin sein.«

»Unsinn.«

»Ich liebe Harald nicht!«

»Sie müssen ihn nicht lieben. Bei einer königlichen Ehe ist die Pflicht wichtiger als die Liebe. Und runzeln Sie nicht die Stirn, als sei Pflicht ein Fluch. Sie ist ein Fluch, aber wir entkommen ihr nicht. Unsere Zugehörigkeit zu einem Herrschergeschlecht ist von Anfang an nicht nur mit Vorrechten, sondern auch mit Pflichten verbunden. Wir erhalten von allem das Beste, weil wir die härteste Arbeit erledigen müssen. Wir leben in Luxus, weil wir alle anderen Werte aufgeben. Wir bürden uns Pflichten auf, damit andere frei sein können. Und im Gegensatz zu anderen Berufen können wir den Kram nicht einfach hinschmeißen, wenn uns die Arbeit zu viel wird – oder wir wollen es zumindest nicht.

Sie sind ein sonderbares Mädchen, Julia, und manchmal verstehe ich Sie überhaupt nicht, aber in vielen Dingen erinnern Sie mich an Rupert. Sie sind ehrlich und treu, und Sie setzen Ihr Leben für das aufs Spiel, woran Sie glauben. Das ist in der heutigen Zeit eine seltene Kombination. Es gibt viele zwingende Gründe für diese Heirat zwischen Ihnen und Harald, aber für mich zählt nur ein einziger: Das Waldkönigreich braucht Sie!

Wie Sie sehen, meine Liebe, habe auch ich in dieser Angelegenheit keine Wahl. Ihre oder meine Wünsche spielen keine Rolle; wir müssen beide tun, was von uns verlangt wird. Der Kontrakt ist unterzeichnet, und die Hochzeit wird in zwei Wochen stattfinden, selbst wenn ich Bewaffnete ausschicken muss, um Sie zum Altar zu schleppen.«

Es entstand ein langes Schweigen. Julia starrte mit kalten, harten Augen die weiße Rüschenpracht des Hochzeitskleides an.

»Kann ich jetzt gehen, Sire?«

»Rupert kommt nicht zurück«, sagte der König leise.

»Ich weiß«, entgegnete Julia. »Sie haben ihn in den Tod geschickt.«

»Ich musste es tun«, sagte König Johann. »Es war meine Pflicht.«

Julia wandte sich von ihm ab und verließ den Thronsaal.

Draußen im Vorzimmer starrte Harald Sir Blays eisig an.

»Ich weiß, dass ich zu spät zu Ihrer kleinen Versammlung komme, Landgraf. Aber mein Vater wollte mich unbedingt sprechen.«

»Natürlich, Prinz Harald«, sagte Sir Blays ruhig. »Dafür habe ich Verständnis. Leider hat das Treffen unserer Freunde, das auf Ihren ausdrücklichen Wunsch stattfindet, bereits vor mehr als einer Stunde begonnen, und wenn der versprochene Ehrengast nicht bald erscheint, könnte die Zusammenkunft beendet sein, noch ehe sie richtig in Gang gekommen ist. Die Verschwörer legen den gleichen Wert darauf, Sie kennen zu lernen, wie Sie Wert darauf legen, mit ihnen bekannt zu werden, Sire.«

»Ich werde in Kürze zu ihnen stoßen«, sagte Harald.

»Es wäre besser, wenn Sie sofort mitkämen!« Harald entging nicht, dass die Stimme des Landgrafen plötzlich schneidend klang.

»Besser?«, fragte der Prinz. »Besser für wen?«

»Besser für uns alle natürlich. Wir sitzen im gleichen Boot, Prinz Harald.«

»Ich werde kommen.«

»Das rate ich Ihnen dringend.«

Argwohn stand in den Augen der beiden Männer. Etwas hatte sich zwischen ihnen verändert, und keiner wusste so recht, was es war.

»Das klang fast wie eine Drohung«, sagte Harald leise.

»Betrachten Sie es eher als freundliche Warnung«, entgegnete Blays.

»Wie die freundliche Warnung, die Sir Bedivere meinem Vater vor einer knappen Stunde verpassen wollte? Wäre ihm die Abordnung der Bauern nicht zu Hilfe gekommen, dann hätte ihn Ihr mordgieriger Berserker umgebracht!«

Blays blickte einen Moment lang zu Boden. »Ein bedauerlicher Zwischenfall.«

Harald legte die Hand auf den Schwertgriff. »Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?«

»Ich werde mich später mit Bedivere befassen.«

»Das reicht mir nicht.«

Sir Blays lächelte höflich. »Ich fände es bedauerlich, wenn unser Bündnis zerbräche, Sire, nachdem wir alle in sein Zustandekommen so viel Zeit und Mühe investiert haben. Im Moment warten unsere Anhänger ungeduldig darauf, Sie persönlich zu sehen. Sie haben sich alle an einem Ort versammelt, wie Sie es vorschlugen, obwohl das mit beträchtlichen Schwierigkeiten und Gefahren für diese Leute verbunden war. Ich finde, wir dürfen sie nicht länger warten lassen.

Hier entlang, Sire!«

Harald rührte sich nicht vom Fleck. »Sie scheinen zu vergessen, wer hier die Befehle erteilt.«

»Nein«, sagte Sir Blays. »Die Rangfolge ist mir durchaus klar.«

»Wenn ich nicht mitmache, können Sie Ihre Pläne vergessen.«

»Ganz recht. Aber auch Sie brauchen uns, Harald, und Sie sind schon zu weit gegangen, um jetzt noch umzukehren. Ich und die anderen Landgrafen können diese Burg jederzeit verlassen und zu unseren Herren zurückkehren. Früher oder später werden die Truppen des Königs so spärlich über das Land verteilt sein, dass sie ihn nicht mehr verteidigen können. Und wenn das der Fall ist, werden die Barone einmarschieren und die Macht übernehmen. Dann brauchen sie Ihre Hilfe nicht mehr, und dann brauchen sie auch keinen König mehr. Natürlich werden bis dahin die Dämonen einen Großteil des Waldkönigreichs zerstört haben. Aber wenn wir letzten Endes die Residenz stürmen, werden wir es Ihnen und Ihrem Vater ganz bestimmt nicht freistellen, ins Exil zu gehen. Habe ich mich klar genug ausgedrückt, Harald?«

»Allerdings.«

»Gut. Arbeiten Sie mit uns zusammen, und wir machen Sie zum König! Den Baronen wäre es so am liebsten. Sie sehen in einer konstitutionellen Monarchie viele Vorteile.«

»Sie meinen – in einem Marionettenkönig?«

»Ja, Harald. Genau das meine ich. Und nun haben wir genug Zeit mit unnützen Diskussionen verschwendet, finden Sie nicht auch? Ihre Gäste warten darauf, Sie begrüßen zu dürfen.«

Harald ließ die Schultern hängen, und er wandte den Blick ab, als er die offene Verachtung in den Augen von Blays las.

»Also schön, Landgraf. Es sieht so aus, als hätte ich in diesem Spiel kein Mitspracherecht.«

Und dann zuckten beide zusammen, als das Portal aufflog und Julia in den Vorraum stürmte. Sie knallte mit einem lauten Fluch die Flügeltüren hinter sich zu und schoss dem Prinzen und dem verblüfften Landgrafen einen zornigen Blick zu.

»Ach, Julia!«, sagte Harald hastig. »Kann ich dich einen Augenblick sprechen?«

Julia zuckte mürrisch die Achseln. »Wenn es unbedingt sein muss!« Sie verschränkte die Arme, lehnte sich gegen das Wandpaneel und starrte finster zu Boden.

Harald wandte sich wieder an Sir Blays. »Ich bin in wenigen Minuten bei Ihrem kleinen Fest. Ehrenwort!«

Blays musterte Julia und bedachte Harald mit einem mitleidigen Lächeln. »Natürlich, Sire, ich verstehe. Darf ich Sie zu Ihrer bevorstehenden Hochzeit beglückwünschen? Unsere Freunde warten, Sire. Bis gleich.«

Er verneigte sich vor dem Prinzen und der Prinzessin und verließ den Vorraum. Harald sah Julia an und runzelte besorgt die Stirn. Ihr Kopf war gesenkt, und ihr Blick verriet stille Verzweiflung. Ihre Niedergeschlagenheit ging Harald irgendwie zu Herzen. Seit er sie kannte, hatte sie vor nichts und niemandem kapituliert. Aber nun schien die letzte Kraft, mit der sie sich gegen die Welt gestemmt hatte, von ihr gewichen zu sein. Er trat auf sie zu.

»Julia – was ist los?«

»Nichts.«

»Aber ich sehe doch, dass irgendetwas nicht stimmt.«

»Was soll denn nicht stimmen? Was? In zwei Wochen feiere ich Hochzeit mit einem Mann, der eines Tages König sein wird.«

Harald zögerte. Er wusste instinktiv, dass er sie für sich gewinnen konnte, wenn er jetzt das Richtige sagte. Aber ein falsches Wort, und er hatte sie für immer verloren. Es erstaunte ihn selbst, wie viel ihm daran gelegen war, sie nicht zu verlieren.

»Julia, wenn wir erst einmal verheiratet sind, wird alles anders zwischen uns. Ich weiß, wie viel Rupert dir bedeutet hat, aber du wirst darüber hinwegkommen. Was immer geschah, ich bin überzeugt, dass er tapfer und ehrenvoll starb.

Und sobald der Kampf gegen den Dunkelwald vorbei ist, werde ich mit einer Schar tüchtiger Männer den Wald durchkämmen, bis wir wissen, was ihm zugestoßen ist. Und dann werden wir gemeinsam so furchtbare Rache nehmen, dass man im Waldkönigreich noch in hundert Jahren davon spricht!«

»Danke«, sagte Julia leise. »Das würde mir Spaß machen.«

»Er ist tot, Julia.«

»Ja.« Julia starrte Harald niedergeschlagen an. »Das weiß ich seit einer halben Ewigkeit, aber ich wollte es einfach nicht glauben. Lange Zeit hatte ich gehofft, gegen alle Vernunft, aber das ist nun auch vorbei. Nach all der Zeit… Ich hätte ihn begleiten sollen, Harald. Ich hätte ihn begleiten sollen!«

Harald nahm sie in die Arme. Sie versteifte sich und lehnte dann erschöpft den Kopf an seine Schulter.

»Wenn du ihn begleitet hättest, wärst du jetzt vermutlich ebenfalls tot«, sagte Harald. »Das wusste er, und deshalb nahm er dich nicht mit.«

»Ich weiß das – aber es ist kein Trost. Ich war nicht da, um an seiner Seite zu kämpfen, und nun ist er tot. Rupert ist tot.

Jedesmal, wenn ich das denke, spüre ich einen Schmerz, als hätte mir jemand in den Magen geboxt.«

»Das verstehe ich, Julia. Aber du wirst ihn vergessen, sobald wir verheiratet sind.«

Es waren die die falschen Worte, und Harald wusste es im gleichen Moment, da er sie ausgesprochen hatte. Julia versteifte sich in seinen Armen, und als sie den Kopf hob, um ihn anzusehen, waren ihre Züge hart und unnachgiebig. Harald ließ sie los und trat einen Schritt zurück. Er suchte krampfhaft nach einem neuen Ansatz, um die Nähe zurückzuholen, die er gespürt hatte, aber die Zeit verstrich, und ihm fiel nichts ein. Harald zuckte innerlich mit den Schultern. Ein anderes Mal vielleicht..

»Was wollte Sir Blays von dir?«, fragte Julia kühl.

»Er erinnerte mich daran, dass ich zugesagt hatte, auf einem kleinen Fest zu erscheinen, das er veranstaltet. Ich muss mich beeilen, die Gäste sind längst eingetroffen.«

»Ein Fest? Warum habe ich keine Einladung erhalten?«

Harald zog eine Augenbraue hoch. »Musst du nicht zu deinen Frauen auf den Exerzierplatz?«

Julia lächelte honigsüß. »Musst du nicht die Verliese besichtigen?«

Harald grinste. »Touche! Die Verliese unter dem Burggraben sind so etwas wie ein Familien-Sprichwort. Vater droht mir damit, so lange ich zurückdenken kann. Je mehr er sich erregt, desto länger hält er sich bei den gruseligen Einzelheiten auf. Ich schätze, dass es tatsächlich noch ein paar Zellen da unten gibt, aber sie sind seit Jahrhunderten nicht mehr in Gebrauch. Unser Kerker besteht aus wenig mehr als einigen Arrestkammern. Leute, die zu einer Haftstrafe verurteilt werden, müssen auf den Feldern oder in den Ställen helfen, bis ihre Zeit um ist. Wozu wertvolle Arbeitskraft verschwenden?«

»Und wenn sie die Flucht ergreifen?«

»Das ist nicht möglich. Der Hofastrologe belegt sie mit einem Zwangsbann.«

»Praktisch. Aber lassen wir das!« Julia merkte plötzlich, dass Harald sie geschickt vom eigentlichen Thema abgelenkt hatte. »Was dieses Fest betrifft…«

»Es würde dir sicher keinen Spaß machen. Solche Hofgesellschaften sind meist furchtbar steif.«

»Tatsächlich?«, fragte Julia spitz. Obwohl sie im Grunde gar nicht hingehen wollte, war sie doch ein wenig angesäuert, dass man sie einfach übergangen hatte. »Wer kommt denn alles?«

»Ach, die Landgrafen, ein Teil des Hochadels und sonst noch ein paar Leute. Ich weiß es selbst nicht so genau. Glaub mir, Julia, du würdest dich nur langweilen! Außerdem ist es eine geschlossene Gesellschaft. Wenn du mich jetzt entschuldigen würdest – ich bin schon viel zu spät dran. Wir treffen uns später noch, einverstanden?«

Und er stürmte hastig los, bevor sie ihn mit weiteren Fragen löchern konnte. Julia starrte ihm wütend nach. Jetzt wollte sie erst recht zu diesem verdammten Fest gehen, und wehe dem, der sie aufzuhalten versuchte! Sie runzelte nachdenklich die Stirn. Eine Veranstaltung von dieser Größe ließ sich nicht ohne weiteres geheim halten. Sicher gab es den einen oder anderen Diener, der Bescheid wusste und sich die Einzelheiten entlocken ließ. Und dann… Julia grinste. Nach ihrer Diskussion mit dem König war sie genau in der Stimmung, auch ungebeten in ein Fest zu platzen. Sie lachte leise vor sich hin und machte sich auf die Suche nach einem willensschwachen Opfer.

Prinz Harald schlenderte lässig den Korridor entlang, die Hand wie beiläufig auf den Schwertknauf gestützt. Seine Schritte hallten von der Eichenvertäfelung der Wände wider, ein gleichmäßiges Geräusch, das die Stille unnatürlich laut durchdrang. Als er sich den Gemächern von Lord Darius näherte, tauchten in immer kürzeren Abständen Wachposten in voller Rüstung aus den Schatten auf. Sobald sie die grimmigen Züge des Kronprinzen erkannten, traten sie schweigend in ihre Winkel und Nischen zurück. Harald beachtete sie nicht, aber insgeheim war er beeindruckt von der straffen Organisation, die Darius aufgezogen hatte. Offensichtlich wollte der Minister verhindern, dass die kleine Zusammenkunft gestört wurde, und durch die lockere Verteilung der Wachen erregte er weit weniger Aufsehen als durch einen dichten Sperrriegel. Harald schätzte, dass insgesamt eine ganze Wachkompanie angetreten war, die zugleich als Frühwarnsystem und strategisch gut platzierte Kampftruppe diente. Der Umsturz schien zumindest sorgfältig geplant zu sein.

Er war schon sehr gespannt, wer ihn alles erwartete. Zwei hoch gewachsene, muskelbepackte Aufpasser standen vor den Gemächern von Lord Darius. Sie trugen unauffällige Lederrüstungen ohne Wappen oder Farben, die ihre Zugehörigkeit verrieten. Ihre Mienen waren ausdruckslos, aber ihre Augen verrieten Kälte und Misstrauen, und sie hielten die Schwerter griffbereit, als Harald auf sie zukam. Sie verneigten sich kurz, nachdem sie den Prinzen erkannt hatten, trafen jedoch keine Anstalten, ihm den Weg freizugeben. Stattdessen deutete einer von ihnen mit dem Schwert auf einen kleinen Tisch zu seiner Linken. Harald trat vor und nahm eine schlichte schwarze Dominomaske von einem Stapel. Er sah die Männer mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Mit den besten Empfehlungen von Lord Darius«, sagte einer der Männer. »Ein Maskenball, eigens für Sie veranstaltet, Sire.«

Harald lachte leise. »Masken! Wie passend gewählt für dieses Ereignis! Aber für mich selbst wohl nicht nötig, oder?«

Er warf die Maske wieder auf den Tisch. Der Posten schob sein Schwert ein, nahm die Maske und hielt sie Harald entgegen.

»Lord Darius wünscht ausdrücklich, dass niemand unmaskiert über diese Schwelle tritt«, sagte er.

»Er wird in meinem Fall eine Ausnahme machen«, entgegnete Harald. »Und nun lassen Sie mich endlich durch!«

Der Mann lächelte und schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich nehme meine Befehle von Lord Darius entgegen«, sagte er ruhig. »Ebenso wie Sie, Sire! Setzen Sie bitte die Maske auf!«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Dann werde ich Ihnen behilflich sein… Sire.«

Harald rammte ihm den ausgestreckten Finger dicht unter das Brustbein. Der Hüne wurde aschfahl. Er sank langsam vornüber, als wolle er sich vor dem Prinzen verbeugen, und blieb reglos auf dem Boden liegen. Der zweite Posten trat mit erhobener Waffe vor und erstarrte, als er die Spitze von Haralds Schwert an der Kehle spürte. Dann senkte er die Klinge und wagte nicht einmal zu schlucken. Er hatte zwar gewusst, dass der Prinz ein guter Schwertkämpfer war, aber er hatte noch nie jemanden erlebt, der so schnell ziehen konnte…

»Von wem nehmen Sie Ihre Befehle entgegen?«, fragte Harald mit gefährlich leiser Stimme.

»Von Ihnen, Sire«, stammelte der Posten. »Nur von Ihnen.«

»Freut mich, das zu hören.« Harald trat einen Schritt zurück und schob die Waffe ein. »Und nun öffnen Sie die Tür, Wächter!«

»Jawohl, Sire.« Der Posten warf einen raschen Blick auf seinen Kameraden, der immer noch zusammengekrümmt auf dem Boden lag, betäubt von dem Schmerz, der sich wie ein Blitz in seine Brust gebohrt hatte. Dann klopfte er zweimal an die Tür. Schwere Riegel wurden zurückgezogen. Harald stieg über den ohnmächtigen Posten hinweg und betrat ohne Eile die Gemächer des Ministers.

Alle Gespräche verstummten, als Harald den großen Saal betrat. Das Stimmengewirr erstarb, die Musikanten hörten zu spielen auf, und Tänzer erstarrten mitten in der Bewegung.

Selbst die lodernden Flammen im großen Kamin schienen durch die plötzliche Stille in sich zusammenzusinken. Harald blieb im Eingang stehen und schaute sich um. Ein Meer von unbewegten Masken starrte ihm entgegen.

Der Saal war nicht groß, gemessen an anderen Burgsälen, aber die zwei- bis dreihundert Besucher fanden bequem darin Platz. Die Anzahl der Gäste war eindrucksvoll, ohne einschüchternd zu wirken, und einem höfischen Fest angemessen, aber irgendwie machten die Masken einen Unterschied.

Obwohl schlichte schwarze Dominomasken überwogen, hatte etwa die Hälfte der Anwesenden individuelle Masken mitgebracht, reich verziert und bizarr, prächtig und grotesk. Sie alle blickten unverwandt auf Harald, gafften mit einer Starrheit, die ihn beunruhigte. Die überzeichneten Züge der Masken, die Freude, Hass, Zorn oder Trauer zum Ausdruck brachten, hatten fast etwas Dämonisches an sich. Links von Harald stand ein weiß gesichtiger Pierrot Arm in Arm mit einem Vermummten, der sich einen Pferdekopf übergestülpt hatte. Zu seiner Rechten lehnte ein grinsender Tod kameradschaftlich an der Schulter einer kreischenden Pestgestalt. Ein Fisch glotzte ihm entgegen, und eine Katze blinzelte. Und überall dazwischen einfache schwarze Dominos, bemalte Gesichter und Lorgnetten aus getriebenem Gold und Silber.

Harald starrte die Masken an, und die Masken starrten zurück.

Und dann teilte sich plötzlich das Meer falscher Gesichter.

Zwei Gestalten kamen auf ihn zu. Haralds Anspannung ließ ein wenig nach, als er Lord Darius und Lady Cecelia erkannte. Darius trug eine schwarze Seidenmaske und ein langes staubgraues Gewand, dessen weiter Schnitt seine Fülle vergeblich zu kaschieren suchte. Cecelia hatte ein mit Halbedelsteinen besetztes blausilbernes Ballkleid gewählt; obwohl es hoch geschlossen und knöchellang war, brachte es ihre makellose Figur vorteilhaft zur Geltung. Silberglöckchen an Ärmel- und Rocksaum begleiteten jeden ihrer Schritte mit harmonischem Geklingel. Ihre Maske war eine zierliche Lorgnette aus gehämmertem Gold an einem schmalen Stiel aus Elfenbein. Darius verneigte sich vor Harald, und Cecelia deutete einen Hofknicks an. Hinter ihnen äfften die Masken die Begrüßung nach. Harald nickte der Menge kurz zu, und Darius forderte die Musikanten am anderen Ende des Saales mit einer fahrigen Geste zum Weiterspielen auf. Temperamentvolle Musik erklang, und das Maskenmeer löste sich zu einem ganz gewöhnlichen Kostümfest auf. Die Besucher plauderten in kleinen Gruppen, tanzten oder traten an die reich ausgestatteten Büfett-Tische, um ein Glas Wein zu trinken und ein paar Häppchen oder kandierte Früchte zu essen. Zwei Diener traten vor und schlossen die Flügeltür hinter Harald. Er hörte, wie schwere Riegel vorgeschoben wurden.

»Willkommen, Sire«, sagte Lord Darius. »Wir warten seit geraumer Zeit auf Ihr Erscheinen.«

»Das hörte ich bereits von Sir Blays.« Harald lächelte liebenswürdig.

»Gab es Schwierigkeiten, hierher zu gelangen, Sire?«

»Ich konnte sie überwinden.«

»Soll ich Ihnen eine Maske besorgen, Harald?«, erkundigte sich Cecelia mit einem koketten Augenaufschlag. »Ich bin sicher, dass ich genau das Passende für Sie finde.«

»Natürlich«, sagte Darius. »Meine Wachen hatten strikten Befehl, niemanden ohne Maske einzulassen.«

»Sie gaben sich große Mühe, Ihrem Befehl Folge zu leisten«, entgegnete Harald. »Aber ich konnte sie davon überzeugen, dass eine Maske in meinem Fall keinen Sinn hätte.

Schließlich bin ich hier, um gesehen und erkannt zu werden, nicht wahr?«

»Natürlich, Sire, natürlich.« Darius winkte rasch einen Diener mit einem Tablett herbei. Harald wählte ein Glas Wein, trank es in einem Zug leer, stellte es ab und nahm noch eines. Der Minister schickte den Diener weg, ehe der Prinz sich erneut bedienen konnte, und musterte den Neuankömmling argwöhnisch. Irgendetwas stimmte nicht mit Harald; das spürte er ganz genau.

»Weshalb ausgerechnet ein Maskenball, mein lieber Lord?«, fragte Harald und nippte vorsichtig an seinem Wein, als hindere ihn nur die Höflichkeit daran, eine Grimasse zu schneiden.

»Um ehrlich zu sein, Sire – nur so waren die Herrschaften bereit, meiner Einladung Folge zu leisten. Zweifellos verleihen ihnen die Masken ein beruhigendes Gefühl der Anonymität. Wir werden später zur Demaskierung schreiten, wenn wir uns alle… etwas besser kennen gelernt haben.«

Harald nickte ernst. »Dann wird es Zeit, dass ich mich unter die Gäste mische, nicht wahr?«

»Das ist der Sinn dieses kleinen Festes, Sire.«

Harald nickte den Gastgebern lächelnd zu und verschwand im Gewühl der Masken. Darius und Cecelia schauten ihm nach.

»Irgendetwas ist da faul«, murmelte Darius und tastete mit der Rechten geistesabwesend nach dem Giftdolch, den er im linken Ärmel verborgen hatte.

»Faul? Was soll denn faul sein, Liebling?« Cecelia trank geziert einen Schluck Wein und ließ ihre Blicke durch den Saal wandern. »Bis jetzt läuft die Sache glänzend. Alle wichtigen Leute sind anwesend.«

Darius schüttelte störrisch den Kopf. »Ich meine das seltsame Benehmen von Harald. Er müsste… nun, auf geregter sein, verdammt noch mal! Die Menschen hier im Saal können ihm zum Thron verhelfen, wenn er es versteht, sie für sich einzunehmen. Aber er tut ganz so, als sei es ihm völlig gleichgültig, was sie von ihm halten.«

Cecelia zuckte anmutig die Achseln. »Der gute Harald hat sich noch nie darum bemüht, anderen Leuten zu gefallen. Das muss er auch nicht; schließlich ist er ein Prinz.«

»Da magst du Recht haben«, sagte Darius. Er nahm einen tiefen Zug von seinem Wein. Als er das Glas absetzte, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es leer war. Stirnrunzelnd drehte er es in den Händen. Er musste aufpassen, dass er nüchtern blieb. »Komm, meine Liebe, unsere Gäste warten.

Wenn Harald sie nicht hofiert, müssen wir es eben tun.«

Cecelia lachte. »Du meinst, Gregory und ich sollen uns um die Leute kümmern. Du bist sicher voll damit beschäftigt, deine politischen und geschäftlichen Fäden zu spinnen.«

»Davon verstehe ich nun mal am meisten«, gab Darius zu.

Sie lächelten sich verschwörerisch zu und mischten sich einzeln unter die Menge.

Harald schlenderte durch den Saal, nickte den Besuchern, die er erkannte, höflich zu und bedachte die Fremden mit einem kühlen Lächeln. Er blieb nirgends zu einem längeren Gespräch stehen, sondern wanderte so lange hin und her, bis er jeden der Anwesenden mindestens einmal genau ins Auge gefasst hatte. Schließlich trat er an den Kamin, stellte sich mit dem Rücken zur Glut und genoss die Wärme, die ihm langsam in die Knochen drang. Offenbar konnten nicht einmal die dicken Steinmauern der Burg die unnatürliche Kälte abhalten, die sich im Waldkönigreich ausgebreitet hatte. Bitterer Frost suchte das Land heim, und die Schneeschicht auf den Zinnen wurde mit jedem Morgen dicker. Selbst auf dem Burggraben bildete sich bereits eine dünne Eisdecke.

Harald zuckte mit den Schultern und trank seinen Wein in kleinen Schlucken. Von der anderen Seite des Saales warf ihm Darius finstere Blicke zu. Harald schaute weg. Er hatte noch keine Lust, Gespräche zu führen. Stattdessen vertrieb er sich die Zeit damit, die maskierten Gäste zu beobachten. Sie bewegten sich graziös im Rhythmus eines komplizierten Tanzes, umstanden in kleinen Gruppen die Büfett-Tische oder tauschten den neuesten Klatsch aus. Harald hatte das Gefühl, dass es trotz des Maskenzwangs eine unübersehbare Hackordnung gab. Die Angehörigen des Hochadels hatten ihre eigenen, stark stilisierten Masken, an deren Einzelheiten man mit einigem Scharfsinn erkennen konnte, wer sich dahinter verbarg. Der niedere Adel trug die wilden und bizarren Masken, als müsse man, wenn schon nicht durch Herkunft, so wenigstens durch Originalität glänzen. Die Händler und die Militärs begnügten sich mit den schlichten schwarzen Dominomasken, die Lord Darius zur Verfügung gestellt hatte.

Harald gegenüber steckten drei Männer ohne Masken die Köpfe zusammen. Harald nickte ihnen kaum merklich zu. Die drei Landgrafen erwiderten den Gruß, trafen aber keine Anstalten, sich zu ihm zu gesellen. Harald runzelte die Stirn und versuchte zumindest einen Blickkontakt herzustellen. Sir Blays starrte ruhig zurück, Sir Guillam wackelte mit dem Kopf und lächelte einfältig und Sir Bedivere… Unwillkürlich durchlief Harald ein Schauder, als er sich vergeblich bemühte, einen Blick aus diesen kalten, dunklen Augen zu erhaschen. Er wusste jetzt ohne jeden Schatten eines Zweifels, dass Sir Bedivere ihn bei jener Begegnung im Audienzsaal mit Leichtigkeit besiegt hätte, wenn er sich auf einen Kampf eingelassen hätte. Harald starrte finster in sein leeres Glas. Er hatte die Kränkung, die der Landgraf seinem Vater zugefügt hatte, weder vergessen noch vergeben, aber er schwor sich, dass er in Zukunft mehr Verstand zeigen würde, als Sir Bedivere zu einem Duell herauszufordern. Den Mann musste man mit einem Dolchstoß von hinten oder zermahlenen Glassplittern im Wein beseitigen.

»Willkommen zum Fest«, sagte eine eisige Stimme, und als Harald aufschaute, sah er sich einer schwarzweißen Harlekinmaske gegenüber. Der Rosenknospenmund lächelte, aber die wasserblauen Augen hinter der Maske verrieten nicht die Spur von Wärme.

»Diese Stimme kenne ich«, murmelte Harald. »Lord Vivian, nicht wahr? Sie befehligen während der Abwesenheit des Champions die Wachmannschaften auf der Burg.«

Lord Vivian griff nach der Maske und nahm sie vorsichtig ab. Dahinter kam ein hageres, grobknochiges Gesicht zum Vorschein, umrahmt von einer dichten silbergrauen Haarmähne und so fahl, dass es beinahe farblos wirkte. Die Züge verrieten eine unheimliche Beherrschtheit und Kraft, aber die Augen funkelten hart und unerbittlich. Die Augen eines Fanatikers. Sein Körperbau war eher schmal und drahtig als muskulös, aber die knappen Bewegungen zeigten eine tödliche Energie, und Harald fiel auf, dass Vivians Rechte nie weit von seinem Schwertgriff entfernt war.

»Ich befehlige die Burgtruppen«, sagte Lord Vivian langsam. »Jetzt und immer, mein König.«

»Noch bin ich nicht König«, wehrte Harald ab.

»Sie werden es sein«, erklärte Vivian. »Der Champion kommt nicht zurück. Sein Leichnam verrottet irgendwo im Dunkelwald. Ich spreche jetzt für die Wachmannschaften.

Jeder Bewaffnete auf der Burg folgt meinen Anweisungen.

Wenn wir auf Ihrer Seite stehen, wird niemand es wagen, Ihren Thronanspruch in Zweifel zu ziehen.«

»Allerdings«, sagte Harald. »Aber weshalb wollen Sie mich und nicht meinen Vater unterstützen? Sie haben ihm einen Treueeid geschworen, bei Ihrem Leben und Ihrer Ehre.«

»Das war vor der Ausbreitung des Dunkelwalds«, entgegnete Vivian knapp. »Mein Schwur, das Land zu schützen, hat Vorrang vor allen anderen Eiden. Meine Treue gilt dem Thron, nicht dem Mann, der ihn innehat. Das Waldkönigreich ist in Gefahr, und Ihr Vater hat nicht mehr die Kraft, das zu tun, was getan werden muss.«

Harald zog eine Augenbraue hoch. »Ich gehe davon aus, dass Sie Ihre Hilfe an eine Bedingung knüpfen.«

Vivian lächelte kalt. »Treten Sie dem Feind entgegen, Sire! Vereinigen Sie alle Wachmannschaften und Soldaten zu einem großen Heer und nehmen Sie den Kampf gegen die Finsternis auf! Unter meinem Kommando werden sie Dämonen niedermetzeln und in die Flucht schlagen.«

»Und dann?«, fragte Harald.

»Und dann werden meine Truppen einen Feuerwall zwischen uns und den Dämonen errichten; ein helles, sengendes Flammenmeer, das die ekelhaften Kreaturen in das Dunkel zurücktreibt, aus dem sie gekommen sind.«

»Selbst wenn wir annehmen, dass eine solche Taktik Erfolg hat«, meinte Harald nachdenklich, »werden dabei vermutlich hunderte von Grenzhöfen ein Raub der Flammen.

Tausende von Bauern werden umkommen.«

Vivian zuckte mit den Schultern. »Bedauerlich, aber notwendig. Wenn der Dunkelwald weiter vordringt, sterben sie ohnehin. Welche Rolle spielt es, ein paar Bauern zu opfern, wenn durch ihren Tod das Überleben des Waldkönigreichs gesichert ist? Ich bin Soldat. Meine Männer und ich gehen jedesmal, wenn wir in den Kampf ziehen, das gleiche Risiko ein. Wenn alles vorbei ist, können wir neue Höfe errichten…

und die niederen Stände vermehren sich wie die Karnickel.«

»Mag sein«, murmelte Harald. »Dennoch befürchte ich, dass es den Baronen nicht sonderlich gefallen wird, wenn wir einen Teil ihrer Ländereien durch Feuer zerstören.«

»Mein Heer würde den König gegen jeden Feind verteidigen«, sagte Vivian ruhig. »Ganz gleich, aus welchem Lager er käme.«

»Ein tröstlicher Gedanke«, meinte Harald. »Ich werde über Ihre Worte nachdenken, Lord Vivian. Und über Ihr großzügiges Angebot.«

»Das ich nur als Oberkommandierender der Truppen einlösen könnte, Sire.«

»Natürlich, Lord Vivian. Das versteht sich von selbst.«

Vivian verneigte sich leicht und setzte die Harlekinmaske wieder auf. Wasserblaue Augen glitzerten kalt hinter der schwarzweißen Seide. Dann wandte sich Lord Vivian ab und verschwand in der Menge. Harald runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf, als könne er auf diese Weise seine Gedanken ordnen. Vivians Anwesenheit auf dem Maskenball war keine große Überraschung, aber irgendwie fühlte sich Harald fast enttäuscht. Er hatte eine höhere Meinung von dem Mann gehabt.

Er starrte in das leere Glas, warf es über die Schulter in den Kamin und nahm sich beiläufig ein neues Glas von einem Tablett, das ein Diener an ihm vorbeitrug. Der Wein war lausig, aber völlig nüchtern konnte Harald dieses verdammte Fest nicht ertragen. Als er aufschaute, sah er einen maskierten Lord mit seiner Dame unsicher in seine Richtung steuern.

Harald seufzte und nickte ihnen höflich zu. Er musste mit den Leuten reden, sonst konnte es sein, dass einige der Gäste unruhig wurden und den Ball vorzeitig verließen. Und das war nicht Sinn der Sache. Er verneigte sich vor dem Lord und seiner Dame, und sie erwiderten den Gruß geschmeichelt mit einer tiefen Verbeugung und einem Hofknicks.

Was ich alles tun muss, dachte Harald grimmig. Was ich alles tun muss…

Mehr Maskierte kamen und gingen, während das Fest seinen Lauf nahm. Harald unterhielt sich mit drei Lords, die er von Anfang an als Verschwörer verdächtigt hatte, und mit zwei weiteren, die er für treu ergeben gehalten hatte. Außerdem redete er mit einer Reihe von einheimischen Händlern; allem Anschein nach war der Dunkelwald schlecht für das Geschäft. Die große Mehrheit seiner Gesprächspartner aber waren Höflinge. Das war zu erwarten gewesen. Einerseits neigten Höflinge zwar von Natur aus zu einer konservativen Haltung, da sie als Grundbesitzer oder Verwaltungsbeamte des Königs bei politischen Veränderungen viel verlieren und fast nichts gewinnen konnten. Andererseits aber gehörten die meisten Höflinge dem niederen Adel an und strebten mit aller Macht den Aufstieg in den höheren Adel an. Und das gelang nur, wenn sie entweder mehr Land erwarben oder einflussreichere Posten bei Hofe erhielten. Aus diesem Grund kamen sie zu Harald, verborgen hinter ihren Masken aus Seide, Federn und dünn gehämmertem Edelmetall. Die Masken wechselten, aber das Thema blieb stets das gleiche: Unterstützung gegen Patronage. Nach einer Weile hörte Harald nicht mehr zu und sagte einfach zu allem ja. Das sparte Zeit und Mühe.

Cecelia und Gregory stolzierten Arm in Arm im Saal auf und ab. Sie lächelten und plauderten und sorgten dafür, dass die Anwesenden stets genug Wein in ihren Gläsern hatten.

Die beiden gaben ein schönes Paar ab, klug und verwegen.

Cecelia sprühte vor Esprit; ihre witzigen Bemerkungen und boshaften kleinen Seitenhiebe brachten selbst die sauertöpfischsten Gäste zum Lachen. Gregory war zwar kein geborener Diplomat, aber er konnte charmant sein, wenn er sich Mühe gab; mit Cecelia an seiner Seite strahlte der junge Gardeoffizier Selbstvertrauen aus und flößte den Zaudernden Zuversicht ein. Seine sicheren Manieren und seine offene Herzlichkeit wirkten beruhigend. Dass Cecelia ihn unterhakte, störte die wenigsten; jeder wusste oder ahnte zumindest, dass die beiden eine Liaison hatten. Und da auch Darius offensichtlich nichts dagegen einzuwenden hatte, beließen es die Höflinge bei einem Achselzucken oder einem spöttischen Blick. Die Politik ging die sonderbarsten Ehen ein – manchmal im wahrsten Sinn des Wortes.

Darius entgingen selbst die kleinen Andeutungen nicht.

Narren. Er wusste, dass man mit Charme mitunter mehr erreichen konnte als mit Vernunft und Logik. Und da er selbst kaum Charme besaß, brauchte er jemanden, der ihn in diesen Belangen vertrat. Jemanden, der gut aussah, sich zu benehmen wusste und nicht genug Hirn besaß, um Intrigen gegen seinen Herrn zu spinnen. Gregory war wie maßgeschneidert für diese Position. Dass Cecelia ihn mochte, erleichterte die Sache. Aber schließlich war Cecelia auch nicht die Klügste.

Darius seufzte leise und warf einen Blick in die Runde.

Wenigstens hatte sich Harald endlich dazu herabgelassen, mit den übrigen Gästen zu plaudern, auch wenn er vor allem vom niederen Adel umlagert war, der weder Macht noch Einfluss besaß. Darius rümpfte zynisch die Nase. Es wurde höchste Zeit, dass Harald seinen Beitrag leistete und sich die königlichen Finger schmutzig machte. Darius dachte an die harten Verhandlungen, mit denen er soeben die beiden führenden Getreidehändler des Landes auf seine Seite gebracht hatte, und lächelte grimmig. Politik und Waffengewalt reichten nicht, um einen Umsturz herbeizuführen. Das würden Harald und die Barone noch schmerzlich erfahren. Als Gegenleistung für bestimmte künftige Konzessionen besaß Darius nun sämtliche Getreidevorräte, die es im Waldkönigreich noch gab.

Nicht eine Wagenladung konnte die gut verborgenen Speicher ohne seine Erlaubnis verlassen. Die Landgrafen mochten denken, dass sie ihn in der Hand hatten, aber die Barone würden bald eines Besseren belehrt werden, wenn sie mit der Mütze in der Hand zu Lord Darius kommen und um etwas Getreide für ihre Truppen betteln mussten… Er lachte leise, setzte aber sofort wieder eine undurchdringliche Miene auf, als Sir Blays auf ihn zukam. Darius sah sich unauffällig nach Guillam und Bedivere um, doch die beiden waren nirgends in der Nähe.

»Mein lieber Sir Blays«, begann Darius und verbeugte sich formell. »Ich hoffe, dass Sie sich auf meinem kleinen Fest amüsieren.«

»Ihr Wein ist lausig, und die Gäste kotzen mich an«, sagte Blays. »Aber bei Verhandlungen mit Verrätern lernt man Dinge zu übersehen, die man sonst niemals hinnähme. Ich vermute, auch Ihnen ist Haralds wachsende Beliebtheit aufgefallen. Höflinge, die sonst Meilen weit laufen, um ihm auszuweichen, wetteifern heute um einen Platz in seiner Nähe.«

»Der liebe Harald macht seine Sache nicht schlecht«, sagte Darius leise, »wenngleich er mit seinen Patronage-Versprechen ein wenig übertreibt. Nun ja, soll er… solange es die Höflinge bei Laune hält. Diese Dinge können wir später immer noch in Ordnung bringen.«

»Sie meinen – die Barone werden die Dinge in Ordnung bringen, Darius.«

»Natürlich, Sir Blays. Das versteht sich von selbst.«

»Etwas beunruhigt Ihre Gäste«, sagte Blays unvermittelt.

»Und zwar so sehr, dass sie hier nicht darüber zu sprechen wagen. Haben Sie eine Ahnung, was das sein könnte?«

»Das Curtana«, entgegnete Darius kategorisch. »Sie glauben nicht, dass es gestohlen wurde, ebenso wenig wie Sie oder ich das glauben. Nein, mein lieber Blays. Sie befürchten, dass Johann und sein geliebter Astrologe das Schwert des Zwangs in ihren Besitz gebracht haben und sie mit seinem Zauber nach und nach alle in willenlose Sklaven verwandeln werden.«

»Die Möglichkeit besteht natürlich«, meinte Blays abwägend. »Was denken Sie? Glauben Sie, dass Johann das Curtana hat?«

Darius zuckte mit den Schultern. »Welche Rolle spielt das schon? Wenn er es hat, können wir es nicht ändern. Wenn er es nicht hat, ist er uns hilflos ausgeliefert. Außerdem hege ich nicht den geringsten Zweifel, dass die Macht dieses Schwerts im Lauf der Jahrhunderte stark aufgebauscht wurde. Jeder Zauber verliert seine Wirkung mit der Zeit.«

Sir Blays schüttelte den Kopf. »Der Legende nach erhält das Curtana-Schwert seine Macht vom Dämonenfürsten selbst. Wenn das stimmt, dann ist es momentan wieder eine der tödlichsten Waffen, die es je in diesem Land gab. Und falls es der König tatsächlich nicht besitzt, sollten wir möglichst schnell herausfinden, wer es hat. Johann würde das Schwert wohl nur im äußersten Notfall einsetzen. Aber es gibt viele andere, die seine Hemmungen nicht teilen.«

»Das ist ein Problem, das wir heute nicht lösen können«, erklärte Darius. »Im Moment gilt: Je länger das Curtana verschwunden bleibt, desto besser. Sein größter Wert besteht zurzeit darin, dass es Johann von seinen Höflingen fern hält.

Wenn sie den König fürchten, laufen sie eher zu uns über.«

Ein höhnisches Lächeln glitt über Sir Blays' Züge. »Sie machen sich die Sache zu einfach, Darius. Angst allein wird diese Schafherde nicht in Bewegung setzen; da müssen wir uns schon mehr einfallen lassen. Zum Beispiel das Angebot, sie gegen das Curtana und die Leibgarde des Königs zu schützen.«

»Glauben Sie wirklich, dass die Königliche Garde Schwierigkeiten machen wird?« Darius runzelte nachdenklich die Stirn. »Wenn Lord Vivian das Oberkommando der Truppen übernimmt…«

»Die Königliche Garde wird loyal bleiben«, erklärte Blays knapp. »Sie ist Johann treu ergeben – beinahe fanatisch treu.

Die restlichen Burgtruppen werden schwanken, ob sie zu Lord Vivian überlaufen sollen. Wahrscheinlich halten sie sich erst einmal zurück und warten ab, bis sie wissen, aus welcher Richtung der Wind weht. Nein, mein lieber Darius, wir brauchen eine Waffe, die stark genug ist, um unsere Sicherheit gegen alle Angriffe zu gewährleisten, ganz gleich, woher sie auch kommen mögen. Zum Glück gibt es solche Waffen, nun da das Arsenal wieder geöffnet wurde.«

Darius warf Blays einen scharfen Blick zu. »Denken Sie etwa daran, die Schwerter der Hölle zu stehlen?«

»Genau.«

Darius starrte in sein Weinglas. »Das Curtana ist schlimm genug, Blays. Ich glaube nicht, dass ich einem Mann trauen würde, der einmal eine dieser verdammten Klingen geschwungen hat. Diese Schwerter sind das Böse schlechthin.«

»Für solche Bedenken ist es etwas zu spät, Darius. Sehen Sie sich doch um! Von sämtlichen Burgbewohnern wagen es gerade dreihundert, uns offen zu unterstützen. Es müssten fünfmal so viele sein. Trotz allem, was sich in jüngster Zeit ereignet hat, halten die meisten Höflinge dem König die Treue – oder fürchten zumindest seinen Zorn mehr als den unseren. Wir brauchen sämtliche Waffen, deren wir habhaft werden können, einschließlich der Schwerter der Hölle. Jetzt müssen wir hart bleiben, Darius.«

Darius hob sein Glas und trank es leer, ohne Blays anzusehen. Als er es schließlich absetzte, um zu antworten, klang seine Stimme kühl und ruhig. »Nun gut, Sir Blays. Aber ich werde keine dieser Klingen in die Hand nehmen – nicht einmal dann, wenn man mir den Thron oder das ganze Waldkönigreich in Aussicht stellt!«

»Ich hatte nie beabsichtigt, Ihnen eines der Schwerter auszuhändigen«, entgegnete Blays.

Darius starrte ihn einen Moment lang an. Dann verneigte er sich steif und entfernte sich. Sir Guillam und Sir Bedivere schlenderten herbei und gesellten sich zu Sir Blays.

»Besonders glücklich sieht der ehrenwerte Lord Darius nicht aus«, sagte Guillam mit einem unangenehmen Lächeln.

»Ich hoffe doch sehr, dass er uns keine Schwierigkeiten machen wird.«

»Darauf können Sie sich verlassen«, erwiderte Blays kurz angebunden. Der Landgraf machte sich nicht die Mühe, seine Verachtung zu unterdrücken. Er musste zwar mit Guillam zusammenarbeiten, doch das hieß nicht, dass er den Mann mochte. Genau genommen war Sir Guillam ein ausgesprochener Widerling. Wenn ihn die Barone nicht fest in ihre Pläne einbezogen hätten… Blays seufzte bedauernd und zuckte gleich darauf zusammen, als er die gierigen Blicke sah, mit denen Guillam die hübscheren unter den anwesenden Damen verfolgte.

»Beherrschen Sie sich ein wenig!«, raunzte Blays ihn an.

»Wir sollen die Leute auf unsere Seite bringen und keine Duelle mit eifersüchtigen Ehemännern provozieren!«

Guillam lachte spöttisch und nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas. Sein rundes, glattes Gesicht war gerötet. »Ich bitte Sie, Sir Blays, wir haben alle unsere kleinen Schwächen.

Als Lohn für meine Dienste versprachen die Barone, dass ich alles haben könnte, was ich mir wünschte. Alles. Nun, ich werde sie beim Wort nehmen. Mir ist hier auf der Burg ein Prachtweib aufgefallen, jung und voller Feuer… Diese Frau will ich haben, und ich werde sie bekommen. Ich bin sicher, dass auch sie mit der Zeit Gefallen an mir finden wird.«

Blays wandte den Blick ab. Die Gerüchte, die er über Guillams persönliche Vorlieben gehört hatte, reichten aus, um ihm den Magen umzudrehen. Offenbar hatte der Landgraf einen leichten Hang zu sadistischen Liebesspielen. Und manchmal sogar mehr als das. Guillam hatte eine schlanke maskierte Dame entdeckt, die sich an der Hand ihres Begleiters mit anmutigen Tanzschritten durch den Saal bewegte. Sie fing seine lüsternen Blicke auf, stockte und schaute rasch weg. Guillam leckte sich die Lippen, und der Kavalier der eleganten Tänzerin starrte ihn wütend an.

»Verdammt!«, fauchte Blays. »Ich sagte Ihnen eben…«

»Von Ihnen nehme ich keine Befehle entgegen!«, fuhr Guillam auf. Er trat auf Blays zu und hielt plötzlich ein winziges Messer in der Hand, wie man es zum Häuten von Wild benutzte. Seine Mundwinkel zitterten, und seine fahlen Augen glänzten. »Vergessen Sie nicht, dass ich Meister im Umgang mit Degen und Schwert bin! Ohne mich können Sie mit den Schwertern der Hölle nicht das Geringste anfangen. Und ohne diese Klingen ist Ihr schöner Aufstand von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie brauchen mich, Blays; ich brauche Sie nicht. Meine privaten Vorlieben gehen Sie einen Dreck an! Mir sagt niemand, was ich zu tun und zu lassen habe! Weder Sie noch die Barone oder…«

Eine große Pranke schloss sich um sein Handgelenk und drückte kräftig zu. Guillam stieß einen Schmerzensschrei aus, und sein Gesicht wurde schneeweiß. Tränen rollten ihm über die Wangen, während Bedivere seine Hand wie in einem Schraubstock festhielt.

»Sie tun nichts, das unsere Pläne gefährden könnte«, sagte Sir Bedivere ruhig, »sonst zerquetsche ich Sie mit bloßen Händen, Sie Zwerg!«

Er ließ los, stöhnend versuchte Guillam die Finger zu bewegen.

»Später können Sie Ihrem widerwärtigen Zeitvertreib nachgehen, wenn Sie wollen«, fuhr Sir Bedivere fort. »Aber solange Harald nicht fest auf dem Thron sitzt und unseren Weisungen gehorcht, werden Sie alles vermeiden, was unserer Mission schadet! Ist das klar?«

Guillam nickte rasch. Bedivere wandte sich ab und blickte in das Menschengewühl. Der rötliche Glanz war bereits aus seinen Augen gewichen, aber der Wahnsinn blieb, wie immer.

Blays schüttelte den Kopf, als Guillam ungeschickt das Messer in den Ärmel schob. Nicht zum ersten Mal fragte er sich, weshalb er sich mit einem Berserker und einem Perversen zusammengetan hatte, um ein Komplott gegen seinen König zu schmieden. Es war alles Johanns Schuld. Er hatte sich als zu schwach erwiesen. Hätte er mehr Stärke und Tatkraft gezeigt und die notwendigen Schritte unternommen, dann wäre es nie zu dieser Entwicklung gekommen. Du hättest nie das Curtana-Schwert ins Spiel bringen dürf en, Johann! Alles andere, und wir hätten uns irgendwie geeinigt.

Aber sobald das Alte Arsenal wieder auf gespürt war, konnte ich nichts mehr f ür dich tun, Johann. Harald war aus anderem Holz geschnitzt. Er kannte die Spielregeln der Macht. Einen starken König auf dem Thron des Waldkönigreichs, der mit den Baronen statt gegen sie arbeitete; das war es, was das Land brauchte. Dann konnte man den Dunkelwald zurückdrängen und die Dämonen vernichten. Dann wäre alles wieder so wie früher. Alles.

Ich hasse dich, Johann! Ich hasse dich, weil du mich zum Verräter gemacht hast!

Cecelia glitt strahlend durch die Menge, plauderte mit Leuten, die sie nicht ausstehen konnte, und lächelte, bis ihre Wangenmuskeln schmerzten. Die Luft wurde trotz der vielen Ventilationsschlitze allmählich stickig und schneidend, und das unentwegte Dröhnen zu vieler Stimmen zerrte an Cecelias Gemüt, bis sie am liebsten laut aufgeschrien hätte. Schließlich fand sie, dass sie genug gelitten hatte. Sie nahm Gregory am Arm und führte ihn mit sanfter Gewalt zur Punschterrine, auf der Suche nach Ruhe und einem stärkenden Getränk.

»Mit wem müssen wir uns denn noch unterhalten?«, stöhnte sie und trank durstig ihr Glas leer.

»Mit jedem, der uns in den Weg läuft«, entgegnete Gregory ruhig. »Die Leute müssen völlig davon überzeugt sein, dass es in ihrem Interesse ist, sich mit uns zu verbünden.«

Cecelia streckte ihr Glas aus und wartete, bis es nachgefüllt war. »Weißt du, Gregory, es gab Zeiten, da konnte ich bis in den Morgen hinein trinken und tanzen, dann vier Stunden schlafen und fröhlich weitermachen. Aber sieh mich jetzt an! Der Abend hat erst angefangen, und ich kann mich kaum noch auf den Beinen halten. Ich werde zu alt für solche Fest.«

»Unsinn!«, widersprach Gregory galant.

»O doch«, beharrte Cecelia mit Trauer in der Stimme. »Ich bin einundvierzig, habe ein Doppelkinn und Hängebrüste.«

»Was soll das?«, fragte Gregory energisch. »Du bist so jung und schön wie immer. Das weiß keiner besser als ich.«

Cecelia lächelte und lehnte sich müde an die Brust des jungen Gardeoffiziers. »Mein lieber Gregory, du verstehst es, Komplimente zu machen. Deshalb habe ich dich so gern in meiner Nähe.«

»Nur deshalb?«

Cecelia lachte sinnlich und löste sich wieder von ihm.

»Später, mein Lieber, später. Wir haben noch viel Arbeit vor uns.« Dann zögerte sie und sah ihn nachdenklich an. »Gregory…«

»Mylady?«

»Weshalb bleibst du eigentlich bei mir? Du weißt, dass ich mich nie von Darius scheiden lasse.«

»Ja«, sagte Gregory, »das weiß ich.«

»Liebst du mich?«

»Vielleicht. Weshalb zerbrichst du dir den Kopf darüber, solange wir unseren Spaß haben? Grübeln können wir morgen. Heute gehören wir zusammen, und ich war nie glücklicher. Nie!«

Cecelia nahm seinen Kopf in ihre Hände, zog ihn zu sich herunter und küsste ihn zärtlich. »Danke, mein Lieber«, sagte sie leise und ließ ihn wieder los. »Und jetzt tu mir den Gefallen und unterhalte dich eine Weile allein mit diesen grässlichen Leuten. Ich bleibe hier sitzen und genehmige mir ein paar Minuten Kopfschmerzen.«

Gregory nickte gutmütig und stürzte sich mannhaft in das Gewühl. Cecelia warf einen zweifelnden Blick auf den Punsch, doch dann zuckte sie die Achseln und trank noch einen Schluck. Ein Glas mehr oder weniger würfe sie nicht um. Darius gesellte sich zu ihr und tupfte sich mit einem seidenen Taschentuch, das schon bessere Zeiten gesehen hatte, den Schweiß von der Stirn.

»Wie läuft der Plan?«, fragte er und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Punschterrine.

»Gar nicht schlecht«, meinte Cecelia. Sie hielt ihm ihr Glas hin, aber er schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen, Darius. Die meisten Gäste stehen auf unserer Seite; die übrigen müssen wie immer zu ihrem Glück überredet werden.«

»Gib mir sofort Bescheid, wenn jemand versucht, vorzeitig aufzubrechen.«

»Abgemacht. Ich gehe davon aus, dass du deinen Giftdolch mitgebracht hast.«

»Natürlich. Und die Wachposten haben ihre Order. Keiner verlässt lebend diesen Raum, solange ich nicht mein Einverständnis gegeben habe. Das Komplott ist so weit gediehen, dass wir jetzt keinen Verrat mehr riskieren können. Viele Köpfe würden rollen.«

Cecelia nickte sachlich und begann auf einmal zu frösteln.

Sie streckte die Hand nach Darius aus, doch der hatte sich umgedreht und beobachtete seine Gäste. Cecelia stand auf und trat neben ihn. Die Tänzer standen etwas unsicher auf den Beinen, machten jedoch durch Begeisterung wett, was ihnen an Geschick und Rhythmusgefühl fehlte. Der Lärmpegel schwoll an, und das Gelächter wurde rauer und ausgelassener.

»Der Wein geht allmählich zur Neige«, sagte Cecelia.

»Wann beginnen wir mit der Demaskierung?«

»Bald, meine Liebe, bald. Wir dürfen nichts überstürzen.

Das Vertrauen in uns und unsere Sache muss sich noch etwas festigen. Wenn ich glaube, dass sie so weit sind, gebe ich dir ein Zeichen, und wir nehmen beide die Masken ab. Das bricht vermutlich das Eis, und die anderen folgen unserem Beispiel.«

»Und wenn nicht?«, fragte Cecelia ruhig. »Wenn es uns nicht gelingt, sie zu überzeugen?«

»Es muss gelingen«, erwiderte Darius ebenso ruhig.

»Sonst sind wir diejenigen, die diesen Raum nicht lebend verlassen.«

Julia ging forschen Schrittes durch den hell erleuchteten Gang und rieb sich geistesabwesend die schmerzenden Knöchel. So ein alberner Wachposten glaubte doch nicht im Ernst, dass er ihr vorschreiben konnte, welchen Korridor sie benutzen durfte und welchen nicht. Zweifellos würde er seinen beleidigenden Tonfall bereuen, wenn er wieder zu sich kam. Julia grinste und blieb dann unvermittelt stehen, um zu horchen. Sie hätte schwören können, dass da etwas war…

Sie drehte sich um und spähte den Korridor entlang, aber nichts bewegte sich in den Schatten zwischen den Wandfackeln. Mit einem Achselzucken setzte sie ihren Weg fort. Der Gang machte einen Knick.

Julia bog rasch um die Ecke und prallte erschrocken zurück, als plötzlich ein bewaffneter Wachsoldat aus einer Türnische trat. Ihre Hand zuckte zum Schwert, doch dann erkannte sie den Mann und entspannte sich ein wenig.

»Bodeen! Was tun Sie denn hier?«

»In erster Linie bin ich am Verdursten, Prinzessin.« Der untersetzte Soldat senkte sein Schwert und schob es in die Scheide. »Seit drei Stunden schiebe ich hier Dienst und sehne mich nach einem Becher mit heißem Würzbier, der mich ein wenig aufwärmt.«

»Es ist schon ein hartes Leben bei der Burgwache«, meinte Julia lachend. »Was genau bewachen Sie eigentlich?«

»Ach, so einen Ball«, erwiderte Bodeen. »Eine private Fete, die Lord Darius für Freunde gibt. Ich wusste nicht, dass Sie auch eingeladen waren, Prinzessin. Sie scheinen mir nicht der Typ dafür zu sein.«

»Gut beobachtet.« Julia lachte. »Ich wollte auch nur kurz vorbeischauen, um Harald zu ärgern.«

»Prinz Harald?«, fragte Bodeen. »Ich glaube nicht, dass er sich da drinnen aufhält. Hier zumindest ist er nicht vorbeigekommen.«

»Hm.« Julia runzelte die Stirn. Sie war sicher, dass sie der Wegebeschreibung des Dieners genau gefolgt war… Diese verdammte Burg mit ihren Labyrinthen. Zum Henker damit.

»Weshalb sind Sie überhaupt noch hier, Bodeen? Mit den Juwelen, die Sie im Schatzhaus eingesteckt haben, hätten Sie Ihren Abschied nehmen und sich irgendwo eine Taverne kaufen können.«

»Das dachte ich auch«, erwiderte Bodeen grimmig. »Leider zwang mich der König, alles, was ich gefunden hatte, an den Seneschall abzuliefern.«

»Aber doch nicht alles?«

»Alles, Prinzessin, bis zur letzten Goldmünze. Zum Weinen, nicht wahr? Die vielen schönen Steine… Ich meine, der König hat so viele, dass ihn die paar Klunker nicht arm gemacht hätten. Und schließlich wären seine Schätze für immer verloren gewesen, wenn Sie und ich sie nicht gefunden hätten. Na, ich habe meine Lektion jedenfalls gelernt. Man kann den hohen Herrschaften nicht trauen. Nicht mal dem eigenen König.«

»Aber… bekamen Sie nicht wenigstens eine Belohnung für die Wiederentdeckung des Südflügels?«

»Das gehört zu meinen Pflichten, Prinzessin. Dafür kriege ich zwei Silberdukaten die Woche.«

»Ich fasse es nicht!«, erregte sich die Prinzessin. »Da muss ich wohl ein Wörtchen mit dem König reden.«

Bodeen zog eine Augenbraue hoch. »Ich hatte keine Ahnung, dass er auf Sie hört.«

»Ihr Einwand lässt sich nicht von der Hand weisen«, sagte Julia trocken. »Aber es ist zumindest einen Versuch wert.«

»Vielleicht. Jedenfalls danke ich Ihnen, Prinzessin.«

»Ich werde tun, was ich kann. Aber jetzt will ich erst mal die Party von Darius stören. Soll ich Ihnen was zu trinken herausbringen?«

»Klingt nicht schlecht, Prinzessin. Aber wenn Sie keine Einladung haben, darf ich Sie nicht einlassen.«

»Nun kommen Sie schon, Bodeen! Sie können einen Moment lang wegschauen. Ich verrate Sie auch nicht.«

»Ich stecke bis zum Hals in Schwierigkeiten, Prinzessin, und kann mir keine neuen Probleme aufladen. Danke für das Angebot, aber es bleibt bei meinem Nein!«

»Bodeen…«

»Gehen Sie aus dem Weg, Julia!«

Julia fuhr herum und sah König Johann an der Korridorbiegung stehen, den Blick entschlossen auf Bodeen gerichtet.

Hinter dem König drängte sich eine ganze Kompanie von Bewaffneten, alle in den rotgoldenen Farben der Königlichen Garde.

»Machen Sie Platz, Julia«, sagte der König. »Sie wollen doch nicht, dass Ihr Kleid Blutspritzer abbekommt, oder?«

Prinz Harald schlenderte zur Punschterrine und füllte sein Glas nach. Ohne den Punsch hätte er das Fest kaum ertragen.

Er setzte sich auf die Kante des Büfett-Tisches und starrte düster in die Runde, während er ein Bein in der Luft baumeln ließ. Nun, da Darius und Cecelia demonstrativ ihre Masken abgenommen hatten, folgten andere zögernd ihrem Beispiel.

Obwohl die Gäste im Lauf des Abends an Selbstvertrauen gewonnen hatten, waren die Gesichter, die unter den Masken zum Vorschein kamen, gerötet von Verlegenheit und zu viel Wein, und das Lachen klang gezwungen und rau. Harald lächelte säuerlich und nippte an seinem Punsch. Verrat war selbst in guten Zeiten keine leichte Sache. Er streckte sich unauffällig. Das Fest zog sich für seinen Geschmack schon viel zu lange hin. Er hatte genug von den Höflingen und Händlern, von den adligen Damen und Herren und ihren Versprechen für den Fall, dass er König wurde. Und von all den Bitten um Protektion und Beförderung, die man an ihn herantrug. Harald grinste plötzlich.

Er hatte ein paar Überraschungen für die Herrschaften bereit.

»Prinz Harald – könnten wir Sie kurz sprechen?«

Harald schaute auf und nickte den drei Landgrafen kurz zu. »Natürlich, Sir Blays. Schließlich ist es Ihr Fest so gut wie meines. Was kann ich für Sie tun?«

»Wir erwarten Ihre Entscheidung«, erklärte Guillam mit einem unangenehmen Lächeln. »Und wir müssen darauf bestehen, dass Sie uns nicht länger im Unklaren lassen!«

Harald sprang mit einer eleganten Bewegung vom Tisch und trat dicht vor den Landgrafen, die Hand am Schwertgriff.

»Wenn Sie mir gegenüber noch einmal auf etwas bestehen, edler Landgraf«, sagte er ruhig, »dann schneide ich Ihnen das Herz aus dem Leib!«

Guillam lief rot an, und Blays trat rasch vor, um sich zwischen ihn und den Prinzen zu stellen.

»Ich bin sicher, dass Sir Guillam Sie nicht kränken wollte, Sire. Nur läuft uns allmählich die Zeit davon. Die Demaskierung hat begonnen, und das Fest neigt sich dem Ende zu. Sie wissen ebenso wie wir, dass die Gefahr für uns wächst, je länger wir hier bleiben. Falls man uns zufällig hier zusammen sieht, dürfte es schwer fallen, dafür eine harmlose Erklärung zu finden.«

Harald lachte. »Sie haben ein Talent zur Untertreibung, Sir Blays.«

»Mag sein.« Der Landgraf rang sich ein Lächeln ab. »Wir brauchen eine Antwort, Prinz Harald, und wir brauchen sie jetzt. Stehen Sie auf unserer Seite oder nicht?«

»Ich benötige mehr Zeit, um darüber nachzudenken«, erklärte Harald.

»Ihre Zeit ist eben abgelaufen«, sagte Sir Bedivere. »Was gibt es da noch lange zu überlegen? Wenn Sie nicht für uns sind, sind Sie gegen uns. Und wenn Sie gegen uns sind…«

»Was dann?«, fragte Harald. »Was dann, Sir Berserker?«

Ein rotes Licht flackerte kurz in den Augen des Hünen auf, aber als er das Wort wieder ergriff, war seine Stimme kalt und ausdruckslos. »Wenn Sie nicht für uns sind, werden wir eben einen anderen zum König machen.«

»Zum Beispiel?« Harald schwenkte sein Glas in einer Geste, die den ganzen Saal umfasste. »Rupert kommt nicht wieder, und von den Leuten hier drinnen hat keiner einen Anspruch auf den Thron. Was immer geschieht, ich bin der Letzte aus dem Geschlecht der Waldkönige. Die Linie endet mit mir.«

»Genau«, sagte Guillam. »Was sollte uns also daran hindern, eine neue Dynastie zu gründen?«

Harald sah Blays mit festem Blick an. »Dazu müsstet ihr mich erst töten.«

»Ganz recht.« Guillam lachte, als hätte er eben einen großartigen Witz von sich gegeben.

»Wozu dieses Gerede vom Töten?« Blays warf Guillam einen wütenden Blick zu. »Die Barone hätten gern einen vertrauenswürdigen Mann auf dem Thron des Waldkönigreichs. Einen Mann, der ihnen keine Steine in den Weg legt.

Sie hätten am liebsten Sie, Prinz Harald. Jeder hier im Saal vertritt diese Ansicht. Wir brauchen nur noch Ihr Ja.«

»Nur mal angenommen, ich willige ein«, sagte Harald.

»Was bringt euch das – euch drei persönlich, meine ich? Was haben euch die Barone versprochen? Geld, Macht oder was sonst?«

Blays überlegte fieberhaft, während er den Prinzen mit unbewegter Miene musterte. Da stimmte etwas nicht, und er wusste nicht genau, was es war. Harald wirkte irgendwie…

verändert. Als er den Prinzen aufgefordert hatte, zum Fest zu erscheinen, hätte er schwören können, dass der Wille des jungen Mannes so gut wie gebrochen war. Nun jedoch hatte Harald die Maske der Schnoddrigkeit abgelegt, mit der er sich zu tarnen pflegte, und seine Stimme klang kalt und unerbittlich. Er war für den Geschmack des Landgrafen viel zu selbstsicher, und in seinem ruhigen Blick stand ein Anflug von Spott, als wüsste er etwas, das die Landgrafen nicht wussten. Im Moment blieb Blays keine andere Wahl, als Haralds Spiel mitzumachen, aber später… später würde er mit ihm abrechnen.

»Wir dienen den Baronen«, sagte er mit Bedacht. »Das ist unsere Pflicht und unser Vorrecht. Zweifellos wird man uns für unseren Einsatz hier reichlich belohnen, aber unsere Loyalität gehört Gold, Silber und Kupfer.«

»Quatsch«, entgegnete Harald. »Wir sind unter uns, mein lieber Landgraf. Niemand hört mit. Vergessen Sie einmal in Ihrem Leben die Diplomatie und sagen Sie mir die Wahrheit!

Sie kennen den Profit, den ich aus diesem Handel ziehe, aber zum Wohle unserer künftigen Zusammenarbeit möchte ich wissen, wo Sie stehen und was Sie tun werden, wenn ich auf dem Thron des Waldkönigreichs sitze. Mit anderen Worten –

ich will wissen, was für Sie bei der Verschwörung herausspringt, meine edlen Herren.«

Es entstand ein unbehagliches Schweigen, und dann verbeugte sich Blays eisig vor dem Prinzen. »Ich spreche für Gold, wie ich es immer getan habe. Als Lohn für meine früheren Verdienste und für meine Rolle bei diesem Umsturz hat mich der Baron in seiner großen Güte zum Nachfolger ernannt und mir seine älteste Tochter zur Gemahlin versprochen. Eine reizende junge Dame, wie Sie sich vielleicht erinnern. Sie war sehr bestürzt, als Sie das Verlöbnis mit ihr lösten, um Prinzessin Julia zu heiraten. Ihr Vater war noch bestürzter. Nun ja – zumindest bekommt der Baron jetzt einen zuverlässigen Schwiegersohn.

Nach seinem Tod werde ich Baron vom Eichengrund sein.

Und ich will keine mit Schulden belastete und von der Dunkelheit bedrohte Domäne übernehmen, nur weil das Waldreich einen schwachen König hat. Mit Ihnen als Herrscher und den Baronen als Ihre Ratgeber wird das Reich wieder erstarken und die Eichengrund-Domäne prächtig gedeihen.

Das ist mein Gewinn, Prinz Harald.«

»Sir Bedivere?«, fragte Harald und wandte sich dem hoch gewachsenen Landgrafen zu.

Einen Moment lang hatte es den Anschein, als wolle er nicht antworten, aber dann sah er Harald an und sagte ein wenig unbeholfen: »Ich werde Ihnen als Champion dienen, Sire. Das ist alles, was ich will. Das ist alles, was ich je angestrebt habe. Ihre Gegner werden von meiner Hand fallen. Ich werde Ihnen die Köpfe Ihrer Feinde bringen und sie zur Abschreckung am Burgtor aufspießen lassen. Ich werde Ihre rechte Hand sein, die Tod und Verderben austeilt – an alle, die es wagen, sich Ihnen zu widersetzen. Ich werde Ihr Champion sein, Sire, und alle Lebenden werden Sie und Ihre Strafen fürchten.«

Sein Blick war in weite Fernen gerichtet, und Harald fröstelte. Er hatte immer gewusst, dass Bedivere ein Schlächter war, aber als er nun in seine Augen sah, erkannte er darin den Wahnsinn. Der hünenhafte Landgraf lechzte nach Blut und könnte seine Mordgier nie stillen. Harald schwor sich insgeheim, alles zu tun, um Sir Bedivere unschädlich zu machen.

»Sir Guillam?«, fragte er kalt.

Guillam schaute mit einem Ruck von seinem Glas auf, und ein paar Tropfen liefen ihm am Kinn entlang, als er den Wein, den er im Mund hatte, zu hastig schluckte. Er tupfte sich den Mund geziert mit einem gefalteten Seidentaschentuch ab. »Die Barone versprachen mir, dass ich alles haben könne, was ich mir wünsche«, sagte er schließlich. »Und ich habe hier auf der Burg eine Frau gesehen, die ich mir wünsche. Sie ist hoch gewachsen, voller Anmut und Schönheit, und sie soll mir gehören. Noch würdigt sie mich keines Blickes, aber ich werde ihren Willen brechen und sie mir bald gefügig machen. Sie unterwerfen sich alle.« Er kicherte plötzlich, befingerte das winzige Messer in seinem Ärmel und nahm erneut einen Schluck Wein.

Harald wandte sich angewidert ab. Die Ärmste, die sich der Landgraf als Bettgespielin einbildete, tat ihm jetzt schon Leid.

»Prachtvolles Mädchen«, murmelte Guillam leise und seine Augen glänzten. »Prachtvolles Mädchen, diese Julia.«

»Was zum Henker hat das zu bedeuten?«, fragte Julia.

Bodeen zog sein Schwert und trat einen Schritt zurück, sodass er den schmalen Eingang blockierte. Die Männer der Königlichen Garde hoben ebenfalls ihre Waffen, und Julia sah frisches Blut auf den Klingen.

»Verrat«, entgegnete der König. »Und dieser Mann ist Teil der Verschwörung. Habe ich Recht, Bodeen?«

»Ich kann Sie leider nicht passieren lassen, Sire«, sagte Bodeen ruhig. »Ich habe meine Befehle.«

»Lassen Sie den Unsinn, Bodeen!«, zischte Julia. »Diese Leute meinen es ernst!«

»Ich auch«, erklärte Bodeen. Kerzenlicht schimmerte auf seiner Schwertklinge. Die Männer der Königlichen Garde, die ihm am nächsten standen, traten unruhig von einem Fuß auf den anderen.

»Ich habe Ihnen vertraut«, sagte König Johann. Seine Stimme verriet nichts, aber in seinen Augen konnte Julia Verwirrung und Zorn lesen. »Sie brachten meinem Sohn den Umgang mit dem Schwert bei. Sie kämpften im Grenzkrieg an meiner Seite. Und nun verraten Sie mich. Geben Sie mir Ihr Schwert! Dann haben Sie wenigstens die Möglichkeit, lebend davonzukommen und sich vor einem Kriegsgericht zu verteidigen.«

»Das ist nicht viel besser«, entgegnete Bodeen.

»Sie können unmöglich eine ganze Abteilung besiegen«, beschwor ihn Julia. »Kommen Sie, Bodeen, seien Sie vernünftig! Man wird Sie töten.«

»Da könnten Sie Recht haben«, meinte Bodeen. Im nächsten Moment packte er Julia am Handgelenk, drehte ihr den Arm nach hinten und zog sie zu sich heran. Der König und sein Leibwächter wollten sich auf ihn stürzen, aber Bodeen setzte Julia die Schneide seiner Waffe an die Kehle.

»Noch ein Schritt, und sie stirbt!«

»Bleiben Sie stehen!«, schrie der König seinen Leibwächter an. Der Mann gehorchte. König Johann trat näher.

»Bis hierher und nicht weiter!« Bodeen drückte die scharfe Klinge leicht an Julias Kehle. Sie spürte, dass ihre Haut aufplatzte und Blut in den hohen Kragen ihres Oberteils sickerte.

Der König hielt ebenfalls inne. Julia versuchte so flach wie möglich zu atmen.

»Lassen Sie sie los!«, befahl der König.

»Ich denke nicht daran«, erwiderte Bodeen ruhig. »Sie ist meine Lebensgarantie. Ich werde mich jetzt durch diesen Korridor zurückziehen, und Sie werden nichts dagegen unternehmen. Denn sobald Sie mich angreifen, werden Sie Julias Vater zur Beerdigung einladen müssen.«

Julia versuchte ihren Arm aus dem brutalen Griff zu entwinden, aber Bodeen drehte ihn sofort noch stärker nach hinten. Ihr Kopf bewegte sich unwillkürlich, als sie einen Schmerzensschrei ausstieß, und weiteres Blut rann ihr die Kehle entlang.

»Halten Sie still, Prinzessin«, keuchte Bodeen. »Ich will Sie nicht verletzen, aber ich werde es tun, wenn Sie mich dazu zwingen.«

Er meint es ernst, dachte Julia in Panik. Er meint es wirklich ernst.

König Johann bedeutete seinen Gardesoldaten, sich nicht von der Stelle zu rühren, und starrte Bodeen wütend an. »Also gut, Verräter! Sie diktieren die Bedingungen!«

»Zuerst legen alle ihre Schwerter ab«, erklärte Bodeen ungerührt. »Dann werden Julia und ich einen kleinen Spaziergang unternehmen. Ich muss ein paar Leute warnen. Und falls mir jemand folgen sollte, Sire, schneide ich der jungen Dame die Kehle von einem Ohr zum anderen durch.«

Julia rammte mit voller Wucht ihren Hinterkopf gegen Bodeens Gesicht. Sein Nasenbein knirschte, er stieß einen Schmerzensschrei aus und lockerte einen Moment lang seinen Griff. Julia stieß ihm den Ellbogen in die Rippen, tauchte unter der bedrohlichen Klinge weg und riss sich los, während Bodeen das Gleichgewicht wieder zu finden versuchte. Er fuchtelte blindlings mit dem Schwert umher, und Julia warf sich zur Seite. Die Waffe pfiff an ihrem Gesicht vorbei. Mit einem Ruck riss Julia ihr Schwert aus der Scheide, während sie mechanisch in Angriffsstellung ging. Bodeen schüttelte den Kopf, immer noch ein wenig benommen. Er ging erneut mit dem Schwert auf sie los. Metall klirrte auf Metall, als sie seinen Hieb parierte, und dann schlug sie seine Waffe zur Seite und traf ihn dicht unter dem Herzen. Einen Moment lang schien die Szene wie erstarrt: Julia mitten im Ausfallschritt und Bodeen, der verständnislos das Schwert ansah, das seine Brust durchdrang. Dann versuchte er die Waffe zu heben, aber ein Blutschwall kam aus seinem Mund, und er sank schlaff in sich zusammen. Der König und seine Männer wollten sich auf ihn stürzen, aber Julia winkte sie zurück. Sie löste das Schwert aus Bodeens Brust und kniete neben ihm nieder. Er verzog die blutverschmierten Lippen zu einem schwachen Grinsen.

»Ich hatte vergessen, wie gut Sie kämpfen können«, murmelte er. »Verdammt! Verdammt! «

»Hätten Sie mich wirklich umgebracht?«, fragte Julia.

»Ich weiß nicht«, sagte Bodeen undeutlich. »Wahrscheinlich.«

»Warum?«, erkundigte sich Julia traurig. »Warum haben Sie den König verraten?«

Bodeen lachte mühsam. »Die Barone bezahlten mir mehr.«

Und damit starb er.

Julia schaute auf, als ihr König Johann sacht eine Hand auf die Schulter legte. »Kommen Sie, Julia. Es ist vorbei. Einer meiner Männer wird Sie zu Ihren Gemächern zurückbringen.«

»Es ist noch nicht vorbei«, entgegnete Julia. Sie stand auf und sah König Johann ruhig an. »Ich will die Männer kennen lernen, die meinen Freund gekauft haben.«

»Sie sollten sich da besser heraushalten«, riet ihr der König. »Es ist im Grunde nicht Ihre Angelegenheit.«

Julia fuhr sich mit der Hand über die Kehle und zeigte König Johann das Blut an ihren Fingern. »Wirklich nicht?«

Der König schaute sie einen Moment lang an und wandte dann den Blick ab. »Also gut. Aber kommen Sie uns nicht in die Quere. Das Ganze wird nicht sonderlich angenehm sein.«

»Angenehm ist Verrat nie«, sagte Julia und wischte sich die blutverklebten Finger an den Beinkleidern ab.

Der König gab seinen Leuten ein Zeichen, und die Gruppe marschierte zielstrebig den Korridor entlang in den Ostflügel.

Immer wieder entdeckten die Männer des Königs gegnerische Posten, die in den Gängen Wache hielten, aber es gab kaum Widerstand. Einige versuchten beim Anblick der Garde zu fliehen und wurden überwältigt; die meisten jedoch ergaben sich kampflos. Schließlich bog die Truppe um eine Ecke und gelangte an ein verschlossenes Portal, vor dem zwei Wachposten standen. Der König beobachtete wortlos, wie sie entwaffnet und zur Seite gezerrt wurden, und nickte dem Gardekommandanten kurz zu. Der Offizier verneigte sich formell, trat einen Schritt vor und hämmerte mit der eisengeschützten Faust gegen die Tür.

»Macht auf – im Namen des Königs!«

Chaos breitete sich im Saal aus. Die Gäste rannten wie aufgescheucht hin und her, stießen Flüche und Schreie aus und zückten ihre Schwerter und Dolche. Einige setzten hastig ihre Masken auf, als könnten ihnen die dünnen Larven Schutz bieten. Tische kippten um, als die Menge blindlings hierhin und dorthin lief, und die Leute, die im Gewühl stürzten, wurden rücksichtslos niedergetrampelt. Lord Darius bemühte sich verzweifelt, die Panik zu unterdrücken, aber seine Stimme ging im Lärm unter. Cecelia, deren Gesicht spitz und weiß vor Entsetzen war, umklammerte seinen Arm, aber Darius nahm sie überhaupt nicht wahr. Gregory versuchte sich zu ihr durchzukämpfen, aber er kam in der Menge kaum vom Fleck.

Die drei Landgrafen starrten einander an.

»Die Büchertür im Arbeitszimmer von Darius«, sagte Blays. »Wir fliehen durch den Geheimgang und dann…«

»Und dann was? « Guillam lief der kalte Angstschweiß in großen Tropfen von der Stirn. »Man hat uns verraten! Der König wird uns alle hinrichten lassen!«

»Dazu muss er uns erst fangen«, fauchte Blays. »Reißen Sie sich zusammen, Mann! Sie sind schließlich Schwertmeister, oder? Wir müssten notfalls in der Lage sein, uns den Fluchtweg freizukämpfen, wenn Sie nicht die ganze Zeit über mit Ihren Fähigkeiten maßlos übertrieben haben. Nun beruhigen Sie sich und denken Sie nach! Das Portal besteht aus massiver Eiche und wird durch zwei schwere Riegel gesichert. Die Männer des Königs brauchen mindestens eine Stunde, um es aufzubrechen, und bis dahin sind wir längst verschwunden. Wir müssen lediglich unbemerkt zu den Ställen gelangen. Dann haben wir die halbe Strecke zur Eichengrund-Domäne zurückgelegt, ehe der König überhaupt merkt, dass wir uns nicht mehr auf der Burg befinden. Und sobald wir uns im Bergfried meines Herrn verschanzt haben, kann niemand mehr Hand an uns legen.«

»Wo ist Harald?«, fragte Bedivere plötzlich.

Die drei Landgrafen spähten hastig umher, aber Harald war verschwunden. Das hohe Portal erzitterte erneut unter einem herrischen Pochen, und die gleiche Stimme wie zuvor forderte im Namen des Königs Einlass. Händler und Höflinge hatten kleine Gruppen gebildet und die Waffen gezogen. Die adligen Damen und Herren traten ebenfalls zusammen, sichtlich um Würde bemüht. Das Panik- und Zorngeschrei verebbte und wich trotzigem Gemurmel oder gespielter Tapferkeit.

Und dann wurde es im Saal totenstill, als ein neuer Laut das leise Stimmengewirr übertönte – das unverkennbare Geräusch eines schweren Eisenriegels, der zurückgezogen wurde. Als sich die Aufmerksamkeit der Verschwörer auf das Portal richtete, sahen sie gerade noch, wie Prinz Harald den zweiten Riegel löste und dann lässig die Tür öffnete. König Johann nickte seinem Sohn ruhig zu, während er den Saal betrat, umgeben von der Königlichen Garde. Harald entdeckte Julia inmitten der Wachen und zog fragend die Augenbrauen hoch, schüttelte jedoch den Kopf, als sie etwas sagen wollte. Julia nickte verständnisvoll. Für Erklärungen war später noch Zeit genug. Der König überschritt die Schwelle, und die Verschwörer wichen schweigend zurück, bis nur noch Darius, Cecelia und Gregory vor ihm standen. Darius sah Harald an, der am Türpfosten lehnte und traurig den Kopf schüttelte.

»Tut mir Leid, Darius«, sagte Harald. »Heutzutage kann man keinem Menschen mehr trauen.«

Die Verschwörer starrten den Prinzen fassungslos an. Darius trat vor und schluckte mehrmals.

»Warum?«, fragte er schließlich. » Warum? Wir hätten Sie zum König gemacht!«

Harald zuckte lässig die Achseln, aber seine Augen waren kalt. »Wer einen König verrät, der findet auch nichts dabei, einen zweiten zu verraten, wenn es ihm in den Kram passt.

Dachten Sie denn, ich sei blind, Darius? Sie bedrohten meinen Vater, Sie bedrohten mich. Ihre Intrigen hätten zum Untergang des ganzen Landes führen können! Ich kenne meine Pflichten, Darius! Das Waldkönigreich ist wichtiger, als Sie oder ich je sein werden. Glaubten Sie wirklich, ich würde es Ihnen in die Hände spielen? Sie hatten Ihr Leben lang noch nie etwas anderes als den eigenen Vorteil in Ihrem dämlichen Schädel!«

»Es reicht, Harald«, sagte der König. »Du hast deine Sache gut gemacht. Besitzt dieser Saal noch weitere Ausgänge?«

»Nur die Tür dort rechts hinten. Sie bietet keinen Fluchtweg, da sie nur zu den Privatgemächern von Darius führt.«

Darius fuhr herum und starrte seine Mitverschwörer an.

»Steht nicht so tatenlos herum, verdammt noch mal! Auf jeden Gardesoldaten treffen drei von uns! Tötet den König, und das Reich gehört uns! Tötet den König – oder wir enden alle auf dem Block des Henkers!«

Die Blicke der Verschwörer wanderten zwischen Darius und dem König hin und her.

»Legt eure Schwerter nieder«, sagte König Johann ruhig.

»Alle, die sich ergeben, können unbehelligt ins Exil ziehen.

Darauf gebe ich euch mein Wort.«

Die Verschwörer sahen einander an.

»Greift an, ihr Feiglinge!«, schrie Darius. Rote Flecken brannten auf seinen Wangen. »Wir können sie besiegen!«

Aber die Händler und Höflinge und die Herren und Damen des Adels legten ihre Schwerter und Dolche wortlos auf das blank polierte Parkett des Saales. Darius starrte sie ungläubig an. In seinen Augen spiegelte sich Zorn und Verzweiflung.

Gregory trat schützend neben Cecelia, das Schwert griffbereit.

»Es ist aus, Darius«, sagte Lord Vivian. Seine kalten Worte zerschnitten die Stille. »Besser ein ehrenhaftes Exil als das Henkersbeil.«

Darius drehte sich blitzschnell um und lief quer durch den Saal, der Verbindungstür zu seinen Gemächern entgegen.

Cecelia und Gregory folgten ihm.

»Ihnen nach!«, rief der König, und zwanzig Gardesoldaten machten sich an die Verfolgung. Julia rannte mit ihnen, das Schwert in der Hand. Bodeen war auf das Ränkespiel des Ministers hereingefallen und gestorben, und sie hatte sich geschworen, seinen Tod zu rächen. Flüchtende und Verfolger verschwanden durch die Tür am anderen Ende des Raumes, und wieder legte sich ein dumpfes Schweigen über den Saal.

Seite an Seite traten König Johann und Prinz Harald auf die drei Landgrafen zu, die einzigen Männer unter den Anwesenden, die ihre Schwerter noch in den Händen hielten. Etwa die Hälfte der Königlichen Garde bildete einen schützenden Halbkreis um den König.

»Hallo, Johann«, sagte Blays. »Alles in allem ein aufregender Tag, nicht wahr?«

König Johann lächelte traurig. »Glaubten Sie wirklich, mein Sohn hinterginge mich, Blays?«

Der Landgraf zuckte mit den Schultern. »Die Möglichkeit war nicht ganz von der Hand zu weisen.«

»Wir kennen einander nun schon eine halbe Ewigkeit, Blays. Es gab eine Zeit, da waren Sie einer meiner treuesten Verbündeten. Sie standen mir so nahe wie meine eigenen Familienangehörigen. Und nun dies. Warum, Blays? Warum haben Sie sich gegen mich gewandt?«

»Das Curtana«, entgegnete Blays knapp. »Als Sie beschlossen, dieses verfluchte Schwert einzusetzen, empfand ich das als Bedrohung meines Herrn. Sie müssen gewusst haben, dass ich dies nicht tatenlos hinnähme.«

»Deshalb stahlen Sie das Curtana – aus Angst, ich könnte es gegen die Barone verwenden.« König Johann schüttelte müde den Kopf. »Das war nie meine Absicht, Blays. Ich brauche das Schwert heute mehr denn je, um die Finsternis zurückzudrängen. Geben Sie es mir zurück, und ich verspreche Ihnen, dass ich Sie lediglich in die Verbannung schicken werde.«

Die Augen des Landgrafen verengten sich, und sein Lächeln drückte offene Verachtung aus. »Was ist das nun wieder für ein Spiel, Johann? Sie wissen, dass wir das Schwert nicht haben. Oder suchen Sie nur nach einem Vorwand für unsere Hinrichtung?«

»Ich befehle Ihnen, mir das Schwert des Zwangs auszuhändigen, Blays!«

»Ich habe es nicht.«

»Sie entwendeten es aus meinem Arsenal. Verräter!«

»Lügner!«

Blays warf sich dem König entgegen, die Schwertspitze auf die Kehle des Gegners gerichtet. Harald parierte den Hieb, und zwei Wachleute durchbohrten Blays mit ihren Waffen. Der Landgraf stürzte zu Boden und rührte sich nicht mehr. Blut quoll aus seinen Wunden und bildete im Nu eine breite Pfütze. Mit einem lauten Aufschrei ging Sir Bedivere zum Angriff über. Der erste Hieb seines mächtigen Schwerts zerteilte das Kettenhemd eines Gardesoldaten und senkte sich tief in dessen Brust. Mit einem unterdrückten Fluch sprang Harald vor und stellte sich schützend zwischen seinen Vater und den Berserker. Bedivere riss sein Schwert aus der Brust des tödlich Getroffenen und wandte sich dem Prinzen zu.

Harald duckte sich unter der herabsausenden Klinge weg und stieß dem Landgrafen sein Schwert durch den Kettenpanzer in die Rippen. Bedivere knurrte wie ein wildes Tier, ehe er den Prinzen mit einem Schlag seiner Riesenpranke von den Beinen fegte. Harald fiel nach hinten, ohne sein Schwert loszulassen. Bedivere stieß einen Schrei aus, als sich der Stahl aus seinem Brustkorb löste. Blut strömte aus der klaffenden Wunde, aber Bedivere torkelte vorwärts und mähte alle Gardesoldaten nieder, die sich ihm in den Weg stellten.

Verbissen kämpfte er sich zu König Johann durch, der mit erhobenem Schwert auf ihn wartete.

Der König starrte dem blutbespritzten Hünen mit einem Gemisch aus Entsetzen und Faszination entgegen. Das Schwert in seiner Hand hatte ein beruhigendes Gewicht, aber er wusste, dass es nicht ausreichen würde, um Bedivere aufzuhalten. Sein Gardekommandant drängte ihn zum Rückzug, doch König Johann schüttelte nur den Kopf. Es reichte nicht, dass ein Herrscher tapfer war; er musste beweisen, dass er tapfer war. Außerdem – wenn er Bedivere nicht jetzt gegenübertrat, würde er sich für den Rest seines Lebens die Frage stellen, ob er es geschafft hätte, den Mann zu besiegen. Plötzlich sanken die Leibwächter wenige Meter vor ihm zusammen. Blut floss in Strömen, als der Berserker ihre Reihen durchbrach. Einen Moment lang trafen sich die Blicke die beiden Männer. Bediveres Kettenhemd hing ihm in blutgetränkten Fetzen vom Leib, aber das erhobene Schwert wankte nicht, und in seinen Augen brannte wieder das rote Feuer.

König Johann sah, dass die nächste Reihe Leibwächter auf den Landgrafen eindrang, aber er wusste, dass sie Bedivere nicht mehr rechtzeitig erreichen würden. Den Mann konnte nichts und niemand davon abhalten, ihn zu töten. Bedivere riss sein Schwert nach oben, und König Johann machte sich auf den Hieb gefasst, der ihn nie traf. Denn Harald trat dazwischen und zerschnitt dem Angreifer von hinten die Kniesehnen. Der hünenhafte Landgraf brüllte vor Zorn, als die durchtrennten Beinmuskeln ihm plötzlich den Dienst versagten. Er schlug schwer zu Boden, das Schwert entglitt ihm, und König Johann sah grimmig zu, wie sich ein Dutzend Leibwächter auf den Wehrlosen stürzte und ihn immer wieder mit den Klingen durchbohrte. Sir Bedivere hatte Schaum vor dem Mund und versuchte noch im Sterben in die Schwerthände seiner Gegner zu beißen.

»Tut mir Leid, Vater«, sagte Harald. »Aber er hätte dich getötet.«

König Johann nickte kurz und richtete seine Aufmerksamkeit auf Sir Guillam. Der einzige Überlebende der drei Landgrafen starrte verzweifelt umher, das Schwert in der zitternden Hand. Johann fragte sich, warum der Mann nicht längst die Flucht ergriffen hatte, und erkannte im nächsten Moment, dass seit dem Angriff und Tod von Blays und Bedivere kaum eine Minute vergangen war. Er warf Guillam einen zornigen Blick zu und wandte sich dann müde ab. Es hatte genug Tote für einen Tag gegeben. Der König nickte den Wachen zu, die ihm am nächsten standen, und sie nahmen Haltung an.

»Bringt Sir Guillam weg«, sagte er schroff, und die beiden Männer traten entschlossen vor.

Guillam stieß einem Leibwächter die Klinge ins Herz und hatte dem zweiten die Kehle durchgeschnitten, noch ehe das erste Opfer zusammengesunken war. Einen Moment lang standen alle wie erstarrt. Der Angriff des Landgrafen war so blitzschnell erfolgt, dass man seine Bewegungen nur verschwommen erkennen konnte. Und dann schrie jemand auf, und alles geschah gleichzeitig. Als die Königliche Garde Sir Guillam einzukesseln versuchte, empfing er sie mit erhobenem Schwert und richtete ein mörderisches Blutbad an. Die meisten der Männer wurden niedergemäht, ohne je zu merken, was sie getötet hatte.

»Du liebe Güte!«, murmelte König Johann entsetzt. »Der Mann ist ein Schwertmeister! Ich wunderte mich schon, weshalb die Barone ihn zum Landgrafen ernannt hatten… Aber gibt es einen besseren Meuchelmörder als einen Mann, der mit dem Schwert in der Hand buchstäblich unschlagbar ist?

Ich hätte es wissen müssen… aber Schwertmeister sind heutzutage selten geworden. So selten…«

»Sieh zu, dass du den Saal verlässt«, sagte Harald ruhig.

»Die Leibwache kann Guillam nicht mehr lange zurückhalten.

Er ist gefährlicher, als es Bedivere je war.«

»Mag sein«, sagte der König. »Aber ehe ich die Flucht ergreife, möchte ich alle anderen Möglichkeiten ausschöpfen.

Auch wenn Sir Guillam mit dem Schwert nicht zu schlagen ist – wir wollen doch mal sehen, was er gegen eine Armbrust ausrichten kann.«

Er winkte zwei Soldaten seiner Garde herbei, die ihre Armbrüste bereits gespannt und mit einem Bolzen bestückt hatten und nun rasch nach vorn traten. Auf ein Zeichen des Königs gingen sie ein paar Schritte auseinander, um Guillam ins Kreuzfeuer zu nehmen. Dann stemmte jeder von ihnen die schwere hölzernen Säule gegen die Schulter und zielte sorgfältig. Guillam schrie gellend auf, als er sie sah, fuhr unvermutet herum und rannte auf die Tür am anderen Ende des Saales zu. Er hieb mit dem Schwert wild auf die Höflinge ein, die nicht schnell genug aus dem Weg sprangen, und unbewaffnete Männer und Frauen brachen blutüberströmt zusammen. Dann schwirrten zwei Sehnen gleichzeitig, und Guillam wurde hart gegen die rechte Wand geschleudert. Er stieß ein leises Wimmern aus; dann fiel ihm das Schwert aus den schlaffen Fingern, und er hing vorgebeugt da, gehalten von den beiden Stahlbolzen, die ihn an die Wand nagelten.

Als Julia in die Privatgemächer des Ministers stürmte, sah sie gerade noch, wie ein Teil der großen Bücherwand langsam aufschwang und den Blick auf einen Geheimgang freigab.

Darius stand neben dem Regal und wartete ungeduldig darauf, dass die Öffnung sich verbreiterte. Cecelia klammerte sich wild schluchzend an seinen Arm, geschüttelt von Panik und Entsetzen. Gregory drehte sich mit dem Schwert in der Hand um und sah Julia an. Die Prinzessin blieb unschlüssig im Eingang stehen. Sie hatte die Gardesoldaten mit ihren schweren Rüstungen weit hinter sich gelassen und konnte nicht damit rechnen, dass sie rasch genug einträfen, um ihr beizustehen. Ein hartes Lächeln umspielte ihre Lippen. Notfalls musste sie eben mit zwei Gegnern fertig werden. Gregory hob sein Schwert und warf einen Blick über die Schulter.

»Bringen Sie Cecelia hier weg!«, sagte er ruhig zu Darius.

»Ich halte die Verfolger auf.«

Darius versuchte seine Leibesfülle durch den Spalt zwischen Wand und Bücherregal zu quetschen. Cecelia drängte sich schluchzend an ihn und umklammerte Trost suchend seinen Arm. Darius wollte sie abschütteln, aber sie ließ ihn nicht los, und zu zweit kamen sie nicht durch die schmale Öffnung. Von draußen näherten sich Schritte, die immer lauter wurden, und dann tauchte der erste Wachsoldat an der Tür auf, dicht gefolgt von einem Dutzend seiner Gefährten.

Gregory warf sich ihnen entgegen. Das Schwert in seiner Hand zitterte, aber in seinen Augen las Julia die grimmige Entschlossenheit, sein Leben möglichst teuer zu verkaufen.

Er sah seine Gegner trotzig an und drehte sich noch einmal nach Cecelia um. Im gleichen Moment zog Darius einen Dolch aus seinem Ärmel und stach damit auf Cecelia ein, bis sie seinen Arm losließ und zusammensank. Gregory schrie ihren Namen, warf das Schwert weg und lief auf die leblose Gestalt zu, während Darius hinter der Bücherwand verschwand und die Tür sich langsam wieder schloss. Als die Wachen dem Minister nachstürzen wollten, war der Spalt bereits so schmal, dass sie ihn nicht mehr passieren konnten.

Sie standen da und mussten hilflos zusehen, wie die Geheimtür ins Schloss schnappte.

Julia ging zögernd auf Gregory zu, das Schwert abwehrbereit erhoben, aber er saß völlig reglos auf dem Boden und hielt Cecelia an sich gedrückt. Ihre Augen starrten ins Leere, und das Blut, das aus ihrem zerfetzten Mieder quoll, tränkte Gregorys Uniform. Er schaute zu Julia auf, und ihr wurde elend zumute, als sie sah, dass der junge Gardeoffizier weinte.

»Weshalb hat er das getan?«, fragte Gregory. »Weshalb hat er das nur getan? Cecelia! Cecelia, Liebes!«

Julia steckte ihr Schwert weg. »Kommen Sie«, sagte sie schroff. »Sie können nichts mehr für sie tun.«

»Cecelia!«

»Sie ist tot, Gregory.«

Er achtete nicht auf ihre Worte. Er saß da und redete leise auf Cecelia ein, als müsse er ein Kind in den Schlaf wiegen.

Die Glöckchen an ihrem Kleidersaum klingelten bei jeder Bewegung. Tränen liefen Gregory über die Wangen, und er sah und hörte nichts von dem Geschehen um ihn herum.

Das leise knisternde Feuer verbreitete Wärme und Trost, aber Julia war sogar zu erschöpft, um die Hände über die Flammen zu halten. Auf dem kurzen Weg zu den Privatgemächern des Königs hatte sie eine bleierne Müdigkeit erfasst. Ein dumpfer, beharrlicher Schmerz pochte in ihren Rücken- und Beinmuskeln, und es fiel ihr schwer, die Augen offen zu halten.

Julia setzte sich aufrecht in den harten, abgenutzten Polstersessel und kämpfte gegen den Schlaf an. Es wäre schön gewesen, sich einfach zurückzulehnen und vor dem Kaminfeuer einzudösen, aber noch war der lange, anstrengende Tag nicht zu Ende.

Sie gähnte hinter vorgehaltener Hand, und Harald, der ihr gegenüber saß, lächelte verständnisvoll. Im Gegensatz zu Julia lümmelte er zusammengesunken in seinem Sessel, die langen Beine auf einen Fußschemel gestützt, und streckte die Zehen dem wärmenden Feuer entgegen. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe der Erschöpfung, die ihm ein grübelndes, zerstreutes Aussehen verliehen. Sein etwas schiefes Lächeln verriet, dass er gern seinem Stolz über sich selbst Ausdruck verliehen hätte, aber viel zu müde war, um sich die Mühe zu machen. Ein Becher mit gewürztem heißem Apfelwein stand auf einem Tischchen neben seinem Sessel, und er trank von Zeit zu Zeit einen Schluck, als müsse er seinen Mund von einem schlechten Geschmack befreien. Bei dem Gedanken musste Julia lächeln. Sie hatte von dem Wein gekostet und konnte absolut nicht begreifen, dass jemand dieses Zeug freiwillig trank.

Zwischen ihnen saß König Johann auf einem alten Stuhl mit hoher Lehne, zupfte sich versonnen am Bart und blickte stirnrunzelnd in die Flammen. Er trug immer noch seinen dicken Pelzmantel, und gelegentlich durchlief ihn ein Frösteln, als wehe ein eisiger Wind durch den Raum, den nur er spüren konnte. Julia beobachtete ihn besorgt. Auch wenn er offensichtlich erschöpft war, hätte er doch Freude oder zumindest Zufriedenheit empfinden müssen. Immerhin hatte er die Rebellion im Keim erstickt, die Rädelsführer zum größten Teil ausgeschaltet und so einen Bürgerkrieg verhindert, der das Ende des Waldkönigreichs bedeutet hätte. Aber stattdessen presste er die Lippen zusammen, machte eine sorgenvolle Miene und wirkte irgendwie… gealtert.

Julia wandte den Blick ab. Die Privatgemächer des Königs waren viel kleiner, als sie erwartet hatte. Ihr Vater hatte in Räumen gelebt, die weitläufig genug waren, um ganze Kompanien darin zu drillen. Prächtige Mosaiken schmückten die Fußböden und erlesene Gobelins die marmorverkleideten Wände, und durch hohe Glasfenster strömte das Licht herein; Sicher, der Palast war elend zugig und kaum zu beheizen, aber das kümmerte den Herzog verdammt wenig. Er musste seinen Rang auch nach außen zur Schau stellen, und sobald er einen Raum betrat, der weniger als fünfzehn Meter im Quadrat aufwies, schien ihn die Angst vor dem sozialen Abstieg zu erfassen. Julia kräuselte spöttisch die Lippen. Es gab ein paar Dinge im Hügelland, nach denen sie Sehnsucht hatte, aber der Palast ihres Vaters gehörte nicht dazu. Ihr Vater eigentlich auch nicht, wenn sie es recht bedachte.

König Johann lebte da viel bescheidener. Keines der Zimmer war größer als fünf Meter im Quadrat, und die Einrichtung wirkte eher behaglich als elegant. Julias Blicke schweiften anerkennend durch den Raum, der Wohn- und Schlafzimmer zugleich war, und sie lächelte nachsichtig. Hier herrschte die gemütliche, etwas chaotische Enge, die so typisch für allein stehende Männer war. Bücher säumten die Wände vom Boden bis zur Decke und stapelten sich auf Tischen und Stühlen, wo ihnen benutztes Geschirr und Staatspapiere den Platz streitig machten. Abgestoßene Statuetten und verblichene Miniaturen füllten jeden freien Winkel. Die meisten Möbel waren abgewetzt und schäbig und hatten das Aussehen von Dingen, die man einfach nur deshalb über ihren Nutzen hinaus behielt, weil sie alt und vertraut waren.

Selbst die vielen Teppiche, die den Boden bedeckten, wiesen durchgescheuerte Stellen auf. Und dann stürzte ein Holzscheit polternd in die Glut, und Johann rutschte unbehaglich in seinem Sessel hin und her.

»Völlig ungewohnt, so früh im Jahr in der Winterwohnung zu hausen«, murrte er. »Merkwürdiges Gefühl. Eben erst ist der Herbst angebrochen, aber der Schnee liegt bereits knöcheltief, und auf dem Burggraben hat sich eine Eisdecke gebildet. Und noch ehe die Bäume richtig kahl sind, schmerzen meine alten Knochen von der Kälte, wenn ich nicht Tag und Nacht kräftig einheize. Außerdem haben die verdammten Diener meine Möbel völlig falsch aufgestellt. Sicher mit Absicht, weil ich das eine oder andere Mal etwas laut geworden bin.«

»Wir mussten den Umzug in diesem Jahr früher als sonst durchführen«, erklärte Harald. »Du solltest ein wenig Nachsicht mit deinem Personal üben.«

»Will ich aber nicht!«, fauchte Johann. »Schließlich bin ich der König!«

Harald und Julia lachten, und mit etwas Verzögerung stimmte Johann ein.

»Du hast Recht; ich hätte nicht so herumschreien dürfen.

Aber wenn du mal so alt bist wie ich, wirst du merken, dass die kleinen Dinge im Leben immer wichtiger werden. In meinen Räumen hat alles seine feste Ordnung und seinen bestimmten Platz. Ja, lächeln Sie ruhig, Julia, ich weiß genau, was Sie denken! Mag sein, dass es für Sie eher nach Chaos aussieht, aber es ist meine Unordnung, in der ich mich genau auskenne! Wenn ich nachts aufwache, muss ich nur die Hand ausstrecken, um die Kerze an ihrem gewohnten Fleck zu finden. Das ist wichtig. Ich brauche sie nicht nur gegen das Dunkel, sondern auch um das verdammte Feuer wieder anzufachen, wenn es ausgehen will; andernfalls verbringe ich die halbe Nacht zähneklappernd unter meinen Decken. Ich hasse dieses Feuer. Es lauert, während ich einzuschlafen versuche, lässt mich zusammenzucken, wenn es unvermutet knistert und kracht, und starrt mich die ganze Zeit über an wie ein böses rotes Riesenauge.«

Er unterbrach sich, als sich die Tür plötzlich öffnete und Lord Vivian ruhig den Raum betrat, vorwärts geschoben von der Klinge eines Leibwächters. Auf Befehl des Postens blieb er stehen, ein gutes Stück vom König entfernt, in lässiger Haltung, ohne die Anwesenden zu beachten. Man hatte ihm nicht die Hände gefesselt, aber seine Schwertscheide war leer. König Johann nickte dem Posten kurz zu. Der Mann verbeugte sich steif und ging. Lord Vivian schaute den König an.

»Haben Sie so viel Vertrauen in mich, dass Sie mich ohne Bewacher in Ihrer Gegenwart dulden?«, fragte er.

»Natürlich«, entgegnete Harald lässig. »Sie sind doch unbewaffnet.«

Vivian bedachte ihn mit einem kalten Lächeln.

»Ich habe Sie kommen lassen, weil ich mit Ihnen zu reden habe«, sagte der König und sah Harald mit einem warnenden Stirnrunzeln an. »Die Landgrafen sind tot, und Darius bleibt verschwunden. Damit rücken Sie gewissermaßen zum Anführer der Rebellen auf. Ich gehe davon aus, dass die Verschwörer eher auf Sie als auf mich hören werden. Deshalb ist das, was ich Ihnen jetzt mitteilen werde, auch für ihre Ohren bestimmt. Ist das klar?«

»Natürlich«, sagte Lord Vivian. Seine stahlblauen Augen musterten den König unverhohlen. »Außerdem befinde ich mich kaum in einer Lage, in der ich Widerspruch äußern könnte. Sie haben mein Leben in der Hand.«

»Ich habe die Absicht, Sie und Ihre Mitverschwörer ins Exil zu schicken. Von einer Hinrichtung war nie die Rede.«

»Das Exil ist gleichbedeutend mit dem Tod. Nach altem Brauch erhalten die Verbannten keine Waffen, und niemand darf ihnen Zuflucht gewähren, bis sie die Landesgrenze erreicht haben. Sobald meine Freunde und ich die Mauern dieser Burg hinter uns lassen, sind wir eine leichte Beute für die umherstreifenden Dämonen.«

»Sie könnten die Barone um Schutz bitten«, sagte Harald.

»Kaum«, entgegnete Vivian. »Die Barone können ihre eigenen Untertanen nicht mehr ernähren, geschweige denn dreihundert zusätzliche Leute. Und ohne bewaffnete Eskorte erreicht vermutlich keiner von uns lebend die Grenze. Ich habe Spähtrupps von einem Ende des Königreichs zum anderen geführt; die Dämonen sind überall. Schicken Sie uns unbewaffnet vor die Tore der Burg – und Sie sprechen unser Todesurteil!«

»Es gibt vielleicht eine Alternative zum Exil«, sagte der König langsam.

Lord Vivian lächelte kühl. »Das dachte ich mir fast.«

»Am frühen Abend«, fuhr der König fort, »gewährte ich einer Abordnung von Grenzbauern eine Audienz. Sie führen einen vergeblichen Kampf gegen die Dämonenhorden, die ihre Höfe überfallen. Sie kamen mit der Bitte um Hilfe. Und ich konnte nichts für sie tun. Aber nun sieht es so aus, als gäbe es doch eine Möglichkeit, ihnen beizustehen.

Begleiten Sie sie, Lord Vivian, Sie und Ihre Rebellen. Geleiten Sie die Abordnung zurück zu ihren Höfen, schützen Sie die Leute gegen die Dämonen, und bringen Sie ihnen bei, sich selbst zu verteidigen. Ich stelle Ihnen Waffen, Pferde und die Vorräte zur Verfügung, die wir entbehren können. Es ist ein Risiko. Wenn die Dämonen Sie verschonen, erliegen Sie vielleicht der Pest, die dort draußen wütet. Aber ich biete allen, die mich in dieser Sache unterstützen, eine volle Begnadigung an, und wenn die Finsternis endgültig besiegt ist, können die Überlebenden ohne jeden Eintrag in ihrem Schuldregister in die Residenz zurückkehren.«

»Sie haben Recht«, sagte Vivian. »Es ist ein Risiko. Aber ich nehme Ihr Angebot für mich und meine Mitverschwörer an.«

Der König nickte steif. »Ich werde mein Versprechen halten. Allerdings kann es sein, dass keiner von euch mehr in den Genuss der Amnestie kommt.«

»Es ist ein großzügiges Angebot, Sire. Mehr habe ich nie verlangt.«

Lord Vivian stand gerade und aufrecht vor dem König, mit hoch erhobenem Kopf, und zum ersten Mal, seit er den Raum betreten hatte, strahlte er so etwas wie Stolz und Würde aus.

Julia sah ihn forschend an, gegen ihren Willen beeindruckt von seiner Haltung. Offenbar ließ sich aus der Tatsache, dass jemand ein Verräter war, nicht zwingend folgern, dass er auch ein Schurke oder Feigling war. Harald nahm wortlos einen Schluck von seinem Wein. König Johann starrte eine Weile ins Feuer, und als er wieder sprach, klang seine Stimme fest und ruhig.

»Mein Seneschall wird Sie zu den Bauern bringen. Ihr Anführer ist ein Mann namens Madoc Thorne. Gehorchen Sie seinen Befehlen, als würde ich sie erteilen. Und unterstützen Sie die Leute nach besten Kräften, Lord Vivian! Sie hielten mir selbst dann die Treue, als ich sie im Stich ließ.«

»Wir werden ihr Leben mit dem unseren verteidigen, Sire.

Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

König Johann schaute vom Feuer auf und studierte ihn lange. »Warum haben Sie mich verraten, Vivian?«

Vivian lächelte. »Ehrgeiz, Sire. Ich wollte unbedingt das Oberkommando über die Truppen.«

»Der einzige Grund?«

»Ja, Sire«, entgegnete Lord Vivian ruhig. »Der einzige erwähnenswerte Grund.«

Harald warf Vivian einen kurzen Blick zu, schwieg aber.

»Nun denn«, sagte König Johann zögernd. »Wir sehen uns wieder, Mylord, wenn alles vorbei ist.«

»Gewiss, Sire«, sagte Lord Vivian. Er verbeugte sich förmlich vor dem König, drehte sich um und ging, ohne Harald und Julia zu beachten. Eine Zeit lang schwiegen alle, in Gedanken verloren.

»Glaubst du wirklich, dass er bei den Bauern bleiben wird?«, fragte Julia schließlich.

»Natürlich«, erwiderte Harald. »Er hat sein Wort gegeben.«

Julia sah ihn nur an.

»Er ist ein seltsamer Kauz, dieser Vivian«, meinte der König. »Ich kenne ihn ein halbes Leben lang, aber ich begreife immer noch nicht, was hinter diesen kalten, leeren Augen vorgeht. Er ist überzeugt davon, dass er nur seinen eigenen Vorteil sieht, und doch denkt er dabei auf seine verdrehte Art immer an das Reich. Er folgt seiner Logik, aber mir ist nicht bekannt, dass er einmal sein Wort gebrochen hätte. Er will wieder in sein Amt eingesetzt werden und Buße tun. Ich habe ihm eben die Gelegenheit gegeben, beides zu verbinden. Es wird ihm schwer fallen, Befehle von Bauern entgegenzunehmen, aber er wird es tun und jeden seiner Mitverschwörer zurechtstutzen, der dies ablehnt. Ein seltsamer Kauz, dieser Vivian – aber immer loyal gegenüber dem Reich und seinen Bedürfnissen.«

»Keine Sorge, Julia«, sagte Harald. »Vivian ist ein eiskalter Bursche, aber er kennt seine Pflichten. Er wird uns kein zweites Mal verraten.«

»Hmm.« Der König zupfte sich nachdenklich am Bart.

»Damit hätten wir zumindest zwei Probleme gelöst. Leider wissen wir immer noch nicht, wo sich das Curtana befindet.«

Julia sah ihn forschend an. »Ich dachte, die Landgrafen hätten es.«

»Offensichtlich nicht. Ich habe meinen Wachen zwar befohlen, die Zimmer der Verräter zu durchsuchen, aber ich glaube nicht, dass sie etwas finden. Blays schwor bis zuletzt, dass er es nicht an sich genommen habe, und allmählich glaube ich ihm.«

»Guillam oder Bedivere könnten es in ihren Besitz gebracht haben.«

»Nicht ohne Blays' Wissen.«

»Ich bin geneigt, dir beizupflichten.« Harald starrte ernüchtert in seinen leeren Becher. »Und das bedeutet, dass es irgendwo in dieser Burg einen Verräter gibt, den wir noch nicht entdeckt haben.«

»Da hast du verdammt Recht«, sagte Julia. »Vermutlich der gleiche Verräter, der die Dämonen in den Südflügel ließ.«

»Das hatte ich völlig vergessen«, gab Harald zu.

»Ich nicht«, empörte sich Julia. »Ich habe immer noch Kratzspuren, die mich daran erinnern.«

»Darüber können wir uns morgen noch den Kopf zerbrechen.« König Johann gab sich keine Mühe, sein Gähnen zu unterdrücken. »Alles in allem war es, glaube ich, ein ziemlich erfolgreicher Tag. Wenn man überlegt, was alles hätte schief gehen können…«

»Das stimmt«, sagte Harald. »Nicht auszudenken, wie viele Menschen dieser Guillam getötet hätte, wenn die Armbrustschützen nicht gewesen wären.«

»Allerdings«, meinte der König. »In diesem Punkt hatte ich Glück. Die Landgrafen hatten mich früher am Abend offen bedroht, aber sofort eingelenkt, als sich die Bauern auf meine Seite stellten. Das machte mich stutzig. Was in aller Welt war mit den Bauern los, dass die Landgrafen so rasch aufgaben? Die Lösung war einfach: Meine Wächter besaßen Schwerter, aber die Bauern hatten Langbogen. Also folgte ich einer Intuition, und das zahlte sich aus!«

Es entstand ein langes, nachdenkliches Schweigen.

»Dreihundertachtundvierzig Verräter«, sagte Johann schließlich, und jegliche Befriedigung war aus seiner Stimme gewichen. »Dreihundertachtundvierzig. Nicht so viele, wie ich befürchtet hatte, aber doch um einige mehr, als ich gehofft hatte.«

»Quäl dich nicht mit Selbstvorwürfen«, ermahnte ihn Harald. »Sie haben das Land verraten, nicht dich. Außerdem unterhielt ich mich auf dem Fest mit den meisten von ihnen.

Glaub mir, du bist ohne sie besser dran!«

»Wie konntest du da überhaupt mitspielen?«, fragte Julia.

»Ein Doppelleben führen, jedem etwas anderes vorlügen…

wie hält man so etwas durch? Warum hast du Darius nicht kurzerhand eingebuchtet, als er zum ersten Mal mit diesem Ansinnen an dich herantrat?«

»Das wollte er«, warf König Johann ein. »Ich überredete ihn, zum Schein mitzumachen und mich auf dem Laufenden zu halten. Das Fest war Haralds Einfall. Ihm verdanken wir es, dass uns alle Ratten auf einmal in die Falle gingen. Jetzt weiß ich, wem ich vertrauen kann und wem nicht. Und ich weiß, dass Harald loyal ist.«

Harald zog lässig die Augenbrauen hoch. »Gab es daran jemals einen Zweifel?«

»Nein«, sagte König Johann liebevoll. »Aber es war schön, dass sich meine Meinung bestätigt hat.«

»Wie wird es jetzt mit den Baronen weitergehen?«, fragte Julia. »Neue Verschwörungen und Umsturzversuche?«

»Das glaube ich nicht«, entgegnete der König mit einem grimmigen Lächeln. »Sie wollten herausfinden, ob sie stärker sind als ich, und jetzt wissen sie es. Sie werden ihre Landgrafen enteignen, die Rebellion öffentlich verurteilen und mir Gott und die Welt versprechen, solange ich meine Truppen nicht abziehe und sie mit den Dämonen allein lasse. Nein, Julia, sie werden es nicht riskieren, das Boot noch einmal zum Schaukeln zu bringen.«

»Dann ist alles vorbei«, sagte Julia. »Die Rebellen haben aufgegeben.«

»Nicht ganz«, meinte Harald. »Wir haben immer noch keine Spur von Lord Darius. Es gelang uns zwar nach einiger Zeit, diese verdammte Geheimtür aufzustemmen, aber alles, was wir dahinter fanden, war ein Tunnel zu den Entlüftungsschächten, und die verzweigen sich endlos. Ich hatte keine Ahnung, dass so viele der Innenwände hohl sind.«

»Das bedeutet: Er könnte überall sein.« Julia sah sich rasch um. Eine Gänsehaut lief ihr über den Rücken.

»Eine Ratte mehr hinter den Tapeten«, sagte Harald achselzuckend. »Wir erwischen ihn, Julia, keine Angst. Die Wachen durchsuchen schon jetzt die Tunnel nach ihm. Ich denke, dass wir ihn spätestens morgen haben.«

»Wie geht es Gregory?«, fragte Julia unvermittelt.

Harald und der König sahen sich verständnislos an.

»Welchem Gregory?«, fragte Harald.

»Cecelias Liebhaber.«

»Ach der.« Harald zog die Stirn kraus. »Hat sich in seiner Zelle erhängt, der arme Kerl.«

»Ich konnte ihn nie leiden«, sagte Julia. »Aber irgendwie tut er mir nun Leid. Wie sich am Ende zeigte, hatte er einen guten Kern. Er hätte sicher etwas Besseres verdient als Darius und Cecelia.«

König Johann zuckte die Achseln. »Ich bin überzeugt davon, dass er auf Befehl der Barone jeden von uns getötet hätte. Er war einfach zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Und er liebte die falsche Frau«, ergänzte Julia.

»Ja.« Harald nickte. »Das wohl auch.«

»Ich bin müde«, murmelte Julia. »Wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, kehre ich in mein Zimmer zurück und versuche ein wenig zu schlafen.«

»Ich begleite dich ein Stück«, bot Harald sich an.

Julia sah ihn an. »Meinetwegen«, sagte sie schließlich.

»Ich bin ganz froh um etwas Gesellschaft.«

Sie stemmte sich aus ihrem Sessel, und Harald stützte sie, als er sah, dass sie vor Erschöpfung schwankte.

Der König nickte ihnen milde zu. »Ruht euch aus, meine Kinder! Ihr habt es verdient. Es war für uns alle ein langer, schwerer Tag.«

Sie hatten die Tür fast erreicht, als der König plötzlich den Kopf hob.

»Julia… Dieser Bodeen war ein Freund von Ihnen, nicht wahr?«

»Nein«, erwiderte Julia. »Eigentlich habe ich ihn kaum gekannt.«

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