DUNKELHEIT LAG ÜBER DEM REICH, von Grenze zu Grenze, vollständig und ungebrochen bis auf einen diffusen Lichttümpel um die Burg des Waldkönigreichs. Dämonen zogen lautlos durch die Schwärze, die alles erstickte, und schärften ihre Klauen an der morschen Rinde sterbender Bäume. Die Sonne schien nicht mehr, und das Licht des Mondes, der Nacht für Nacht über den Himmel wanderte, war grau und kränklich. Die Pflanzen verkümmerten aus Lichtmangel, und die Tiere des Waldes verhungerten oder fielen der unstillbaren Gier der Dämonen zum Opfer. Schnee und Eis bedeckten den Boden, und die frostige Luft sog die letzte Wärme aus allem, was sie berührte. Die Menschen verbarrikadierten sich mit den Ihren im Innern der Häuser, so gut sie konnten, und beteten um eine Morgendämmerung, die nie kam. Kalt und schwarz und ohne jedes Erbarmen herrschte die lange Nacht über das Reich. Aber plötzlich durchdrang ein neues Geräusch den Dunkelwald, tief und voll wie der Klang einer ehernen Riesenglocke. Das Geräusch wurde immer lauter, steigerte sich zu einem mächtigen Dröhnen, das in der Finsternis widerhallte, bis es den Grund erschütterte und die Bäume zum Erzittern brachte. Es schrie der Stille seine Herausforderung entgegen. Dämonen erschauerten, fauchten und versuchten zu fliehen, aber da das unerbittliche Dröhnen von überall und nirgends zugleich kam, konnte ihm niemand entgehen. Das Bassgrollen erreichte seinen Höhepunkt und verstummte jäh, als der Raum selbst zerriss und sich schmerzhaft grelles Silberlicht in den Dunkelwald ergoss.
Prinz Rupert und seine Gefährten waren endlich heimgekehrt.
Rupert starrte wie betäubt umher, während er durch den schimmernden Silbertunnel nach unten schwebte, und geriet ein wenig ins Stolpern, weil er viel zu schnell Boden unter den Füßen spürte. Er war sicher, dass er nicht mehr als ein paar Sekunden in dem Tunnel verbracht hatte, aber in diesem kurzen Moment hatte sich die Welt weiterbewegt, und alles war verändert. Der bekannte Gestank nach Moder und Verwesung stieg ihm in die Nase; lähmendes Entsetzen legte sich auf ihn und hüllte ihn ein wie ein vertrauter alter Mantel. Er umkrampfte die Zügel des Einhorns und starrte entsetzt umher, fest davon überzeugt, dass der Große Zauberer gepfuscht und sie wieder im Dunkelwald abgesetzt hatte, dem sie soeben erst entronnen waren. Aber dann landete der letzte Mann auf dem holprigen Pfad, der Silbertunnel schnurrte zu einem Nichts zusammen, und mit ihm verschwand das gleißende Licht. Hilflos in der unerbittlichen Schwärze, wandte Rupert die Blicke dem einzigen Licht zu, das er entdeckte – dem schwachen, wabernden Schein, der von der Burg ausging.
Einen Moment lang schnürte ihm der Schmerz die Luft ab, und er schüttelte in stummer Abwehr den Kopf. Er hatte den Schwarzen Turm rechtzeitig erreicht; es konnte einfach nicht sein, dass die lange Nacht so weit in das Waldkönigreich vorgedrungen war. Aber da stand die Burg und schimmerte weiß unter einer dicken Decke aus Schnee, Eis und Raureif.
Lange spitze Eiszapfen hingen von jedem Türmchen und jedem Fenster, und der Burggraben hatte sich in eine Spiegelfläche verwandelt. Fackeln brannten in regelmäßigen Abständen auf den Zinnen, aber ihr flackerndes graugelbes Licht konnte der näher rückenden Nacht kaum Einhalt gebieten.
Rupert begann heftig zu zittern, und das hatte wenig mit der bitteren Kälte zu tun, die sich in seinen Knochen festbiss. Es war eine Sache, sich durch den Dunkelwald zu kämpfen, um ein Abenteuer zu bestehen oder den kürzesten Weg zum Großen Zauberer zu wählen. Aber die Finsternis hatte kein Recht, seine Heimat zu belagern. Der Dunkelwald hatte sich stets irgendwo in bequemer Ferne befunden. Bis jetzt hatte Rupert nicht ernsthaft daran geglaubt, dass die Burg, die den Waldkönigen seit dreizehn Generationen als Residenz diente, der Finsternis zum Opfer fallen könnte. Es war unmöglich; es konnte einfach nicht sein… Er kämpfte gegen das aufsteigende Entsetzen an und bekam sich allmählich wieder in die Gewalt. Seine Gedanken wanderten fahrig hierhin und dorthin, auf der Suche nach einer Antwort, irgendeiner Antwort auf die Frage, was geschehen war. Wie war es möglich, dass sich der Dunkelwald so rasch ausgebreitet hatte? Und dann, nach langer Zeit, schaute Rupert auf.
Unmittelbar über ihm, inmitten der ewig währenden sternlosen Nacht schwebend, hing der Vollmond. Seine Farbe erinnerte an schimmligen Käse oder aussätziges Fleisch; die einzige Farbe, die das Auge in der Schwärze der Nacht wahrnahm. Der Blaue Mond war aufgegangen.
Im Dunkelwald f ließt die Zeit anders.
Rupert wandte sich um und starrte den Großen Zauberer an. »Was haben Sie getan?«, fragte der Prinz, und seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. »Was zum Henker haben Sie getan?«
Der Zauberer sah ihn an und schluckte trocken. Seine Miene war starr vor Entsetzen. »Keine Ahnung«, sagte er schließlich. »Da muss etwas mit meinem Teleport-Bann schief gelaufen sein. Der Ort stimmt, aber die Zeit nicht. Ich verstehe das nicht…«
»Darüber können wir später diskutieren, Sire.« Die Stimme des Champions klang ruhig und kühl, aber seine Hand umklammerte die doppelschneidige Streitaxt so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Ringsum wimmelt es von Dämonen. Unsere Ankunft scheint sie ebenso erschreckt zu haben wie uns selbst, aber das wird nicht lange so bleiben.
Wir täten gut daran, so rasch wie möglich von hier zu verschwinden.«
Rupert warf einen kurzen Blick auf die Soldaten, die mit gezückten Schwertern und erhobenen Laternen einen engen Verteidigungsring bildeten. Er nickte. Die Gelassenheit und Kampfbereitschaft, die sie ausstrahlten, gaben ihm sein Gleichgewicht zurück, und er verbannte gewaltsam die Reste von Furcht und Panik, die immer noch tief in seinem Innern rumorten.
»Sie haben Recht, Sir Champion. Erteilen Sie den Marschbefehl! Sie und ich übernehmen die Spitze, und der Zauberer gibt uns mit seiner Magie Rückendeckung. Das können Sie doch wenigstens, Großer Zauberer, oder?«
Der Angesprochene zuckte zusammen und nickte steif.
Rupert zog sein Schwert, wog es in der Hand und wandte sich an seine Männer.
»Bleibt zusammen, seid wachsam und haltet nicht mehr an, sobald wir losmarschiert sind! Es sind höchstens fünfhundert Meter bis zur Burg, und nach allem, was wir durchgemacht haben, können uns ein paar lumpige Dämonen nicht an der Heimkehr hindern. Es geht los, Leute! Wer das Burgtor als Letzter erreicht, gibt eine Runde aus!«
Es war keine großartige Anfeuerungsrede, doch die Männer antworteten mit rauen Hurrarufen. Rupert war ungemein stolz auf seine tapfere Truppe. Er grinste breit und wandte sich rasch ab, um die Tränen zu verbergen, die ihm in den Augen brannten. Er umklammerte die Zügel des Einhorns und marschierte los, zügig, aber ohne Hast. Wenn die Dämonen den Eindruck gewannen, dass der Trupp vor ihnen floh, würden sie angreifen. Andererseits ließen sie sich durch gespieltes Selbstvertrauen vielleicht lange genug täuschen, bis die Heimkehrer die Burg erreicht hatten. In diesem Stadium kam es auf jede Kleinigkeit an. Rupert beobachtete unauffällig seine Umgebung. Der Champion, der neben ihm einherschritt, schwang die schwere Streitaxt so locker, als hätte sie überhaupt kein Gewicht. Die Gardesoldaten und der Zauberer folgten ihnen dicht gestaffelt und spähten angespannt in das Dunkel. Der Zauberer machte mehr Lärm als alle Kämpfer zusammen. Rupert konnte die Dämonen nicht hören, die sie von allen Seiten umzingelten, aber hin und wieder glommen rote Augenpaare wie glühende Kohlen auf, und missgestaltete Wesen huschten vor und hinter ihnen von Schatten zu Schatten.
Rupert runzelte die Stirn und zog den Umhang enger um die Schultern. Die Kälte setzte sich in seinen Knochen fest, bis er am ganzen Körper zitterte. Es war lange her, seit er etwas anderes als Schnee- und Graupelschauer und den Eishauch des frühen Winters gespürt hatte. Allmählich kam ihm das Gefühl für Wärme abhanden. Er nahm im Augenwinkel eine plötzliche Bewegung wahr und starrte hilflos in die Schwärze. Die Burg kam immer näher, doch ihr Lichtschein reichte nicht weit in den Dunkelwald. Rupert lächelte grimmig. Er musste die Dämonen gar nicht sehen, um zu wissen, dass sie sich ganz in der Nähe befanden, und es war ihm verdammt gleichgültig, wie viele es waren. Falls es zu einem Kampf käme, würden vermutlich weder er noch seine Begleiter die Burg lebend erreichen. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, unbehelligt so nahe an das Burgtor heranzukommen, dass sie die letzten Meter im Laufschritt zurücklegen konnten. Keine große Hoffnung, wie er sich eingestehen musste.
Rupert umkrampfte den Schwertgriff, bis die Finger schmerzten, aber das Zittern in den Händen ließ nicht nach.
Der Dunkelwald mit all seinen Schrecken drückte ihn erbarmungslos nieder, und das Gewicht war keine Spur leichter geworden. Immer, wenn ihn die Pflicht zwang, in die Schwärze zurückzukehren, hoffte er wider alle Vernunft, dass es diesmal besser würde, aber jedes Mal wurde es noch schlimmer. Angst, Panik und eine alles betäubende Verzweiflung sickerten wie Eiswasser in seine Seele, bis er sich zu Boden werfen, ganz klein zusammenrollen und nur noch laut schreien wollte. Aber das durfte er nicht. Das wollte er nicht.
Er hatte seine Männer nicht bis hierher gebracht, um so kurz vor der Heimkehr aufzugeben. Rupert starrte die Burg an, die mit jedem Schritt näher rückte. Fast erreicht. Fast daheim. So verdammt nahe…
Das Einhorn trottete müde neben ihm her, und Rupert tätschelte ihm tröstend den Hals.
»Bald haben wir es geschafft«, murmelte er mit rauer Zärtlichkeit. »Noch einmal richtig ins Zeug legen, und dann können wir alle ausruhen.«
»Das hast du schon so oft gesagt«, erinnerte ihn das Einhorn missmutig. »Lang ausschlafen, in einem warmen, trockenen Stall… Das glaube ich erst, wenn ich es mit eigenen Augen sehe, und keine Sekunde früher. Ich hoffe nur, dass sie auf der Burg etwas Vernünftiges zu fressen haben. Wochenlang nichts als Gras, das muss man sich mal vorstellen! Ich glaube, ich könnte für eine Hand voll Hafer einen Mord begehen.«
»Sobald wir uns innerhalb der Burgmauern befinden, begrabe ich dich in Hafer!«
»Angesichts unserer gegenwärtigen Lage finde ich diese Bemerkung geschmacklos.«
Rupert und das Einhorn wechselten einen Blick und mussten beide grinsen.
»Alles in allem war es ein komisches Unternehmen«, meinte Rupert.
»Da magst du ausnahmsweise Recht haben.«
»Du weißt, dass wir es vermutlich nicht schaffen.«
»Der Gedanke kam mir flüchtig.«
»Ich möchte mich… bei dir bedanken. Dafür, dass du immer da warst, wenn ich dich brauchte.«
»Ich möchte keines unserer Abenteuer missen. Du bist kein schlechter Kumpel, Rupert. Für einen Menschen, meine ich.«
»Danke für das Kompliment. Sind wir wieder Freunde?«
»Klar. Warum nicht?«
»Super.«
»Das heißt nicht, dass ich auf den versprochenen Hafer verzichte.«
Rupert lachte laut los, und der Champion warf ihm einen fragenden Blick zu. Der Prinz schwang sein Schwert und merkte, dass seine Hand nicht mehr so stark zitterte. Irgendwie hoffte er fast auf einen Angriff der Dämonen, damit er die Sache endlich hinter sich bringen konnte. Wenn er kämpfte, hatte er außerdem keine Zeit, sich zu fürchten. Er atmete tief durch, um ruhiger zu werden, und bereute es sofort, als ihm der Verwesungsgestank des Dunkelwalds voll in die Nase drang. Er schüttelte ärgerlich den Kopf und warf einen Blick über die Schulter. Die Männer marschierten immer noch in dichten Reihen hinter ihm, die Schwerter kampfbereit. Aber dann geriet sein Herzschlag ins Stolpern, als er sah, dass der Zauberer verschwunden war. Einen Moment lang erstarrte er vor Angst, doch dann entspannte er sich mit einem großen Seufzer der Erleichterung, als er nach oben schaute und erkannte, dass der Zauberer gut drei Meter über ihnen schwebte, die Augen geschlossen und die Stirn in tiefe Falten gelegt, als konzentriere er sich auf ein Problem, das niemand außer ihm sah. Seine Hände schienen schwach zu leuchten, und jetzt erst merkte Rupert, dass sein Trupp von einem kleinen Lichtkreis umgeben war. Beruhigt wandte er den Blick wieder nach vorn. Wenigstens waren die magischen Kräfte des Zauberers nicht gänzlich nutzlos.
Die Burg kam stetig näher, in ihrem eigenen Fackelschein fahl schimmernd wie ein gigantischer Steingeist. Auf den Wehrgängen waren keine Wächter zu sehen, aber die Zugbrücke war hochgezogen. Rupert lächelte düster. Wenn sich die Dämonen je zu einem Überfall auf die Burg entschließen sollten, würden sie sich nicht die Mühe machen, die Zugbrücke zu benutzen, sondern geradewegs an den Mauern hinaufklettern. Er erinnerte sich, wie er das letzte Mal in den verlassenen Burghof geritten war, und schüttelte ärgerlich den Kopf. Es konnte doch nicht sein, dass er die ganzen Mühen auf sich genommen hatte, um jetzt zu spät zu kommen! Es konnte nicht sein.
Wo zum Henker bleiben die Dämonen? Worauf warten sie noch?
Die Burg lag dreihundert Meter entfernt. Zweihundert.
Hundert. Und dann waren die Dämonen da.
Rupert fand kaum Zeit, das Schwert zu heben, ehe die Dämonen von allen Seiten auf ihn eindrangen, und dann war um ihn ein Gewirr aus Stahl, Blut und gierigen Klauenhänden. Er schwang die Klinge in kurzen, wilden Bögen, durchtrennte mit sparsamen Hieben Dämonenfleisch, und der Gestank von frischem Dämonenblut verpestete die Luft. Sie kamen aus allen Richtungen; verkrümmte, missgestaltete Wesen mit Fängen und Krallen, mit Augen, in denen nichts als ewiger, unersättlicher Hunger zu erkennen war. Die Erde wölbte sich unter Ruperts Füßen und riss dann langsam auf.
Hunderte von bleichen, schleimigen Tentakeln schnellten aus den Spalten und tasteten mit grausiger Zielstrebigkeit nach den wild um sich schlagenden Männern. Rupert starrte in einen der Risse, während er ein zuckendes Tentakel in Stücke hieb; hunderte von Mäulern mit nadelspitzen Zähnen geiferten ihm entgegen, und ein Riesenauge, größer als ein Wagenrad, verfolgte jede seiner Bewegungen. Rupert zuckte entsetzt zurück. Drei Tentakel wanden sich um einen Soldaten und zerrissen ihn. Das geschah so schnell, dass der Mann nicht einmal Zeit zum Schreien fand. Ein Ding mit Flügeln und pelzigen schwarzen Spinnenbeinen stieß auf einen Gardisten nieder, hackte ihm die Kehle auf und war im Dunkel verschwunden, noch ehe er zu Boden stürzte. Rupert war so erschöpft, dass er keine Schmerzen mehr empfand. Er lehnte sich mit dem Rücken an einen der knorrigen, abgestorbenen Bäume und schwang das Schwert mechanisch hin und her.
Die Angreifer vor ihm waren so dicht gedrängt, dass er sie gar nicht verfehlen konnte.
Und noch mehr Dämonen tauchten auf, manche auf zwei Beinen, andere auf vier, wieder andere auf dem Bauch durch den Moder schlitternd. Im flackernden Lichtschein hatte Rupert den Eindruck, dass viele der Albtraumgestalten im Vorwärtsdrängen ihre Form veränderten und zerflossen wie wässriger Lehm. Seltsam morbide Mischwesen aus Pflanzen und Insekten erhoben sich vor ihm und sanken zusammen, Ekel erregende Monster, die in der Natur niemals lebensfähig gewesen wären. Rupert kämpfte weiter. Für jede Kreatur, die unter seinem Schwert starb, kam eine Woge neuer Gegner.
Ein schweres Gewicht plumpste auf ihn herunter, und etwas Kaltes, Schuppiges schlang sich um seine Schultern, während klauenbewehrte, dünne Arme gierig nach seinen Augen und seiner Kehle tasteten. Rupert schrie in wilder Panik auf und versuchte verzweifelt, das Ding mit der Linken abzuwehren.
Der Ring der Dämonen schloss sich enger um ihn, und er hackte blindlings mit dem Schwert auf sie ein. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der pendelnde Schädel mit der langen Schnauze hinter ihm plötzlich zustieß, und dann bohrten sich hunderte nadelspitzer Zähne in seine linke Schulter. Er stöhnte auf, als die Kiefer zuschnappten, und ließ das Schwert fallen. Die Dämonen vor ihm versuchten ihm an die Kehle zu springen. Im nächsten Moment zischte ein grellweißer Blitz zwischen ihnen nieder, der sie in ein Häufchen Asche und verkohlter Knochen verwandelte.
Rupert wankte einen Schritt nach vorn, immer noch schwach gegen den Gegner ankämpfend, der ihm auf den Rücken gesprungen war, und ein zweiter Feuerstrahl schleuderte die Kreatur zu Boden. Nur der Kopf blieb zurück, noch im Tod in Ruperts Schulter verbissen. Rupert sank in die Knie und zog das Schwert an sich, das in den Schmutz gefallen war. Als er sich aufzurichten versuchte, merkte er, dass ihm die Kraft dazu fehlte. Plötzlich war der Champion an seiner Seite. Er schob seinen Dolch zwischen die Kiefer des Dämonenschädels und stemmte sie langsam auf. Rupert wandte angewidert den Blick ab. Ringsum flohen die Angreifer in die Schatten, um den grellen Blitzen des Zauberers zu entgehen. Blutverschmierte Tentakel zogen sich in die Erdspalten zurück und verschwanden, und binnen weniger Sekunden herrschte im Dunkelwald vollkommene Stille. Dem Champion gelang es endlich, den Dämonenschädel zu lösen.
Er schleuderte ihn zu Boden und half Rupert auf die Beine.
Das Einhorn war mit wenigen Schritten neben dem Prinzen, der sich dankbar an die Flanke des Tieres lehnte. Allmählich kehrten Ruperts Kräfte zurück. Die Schulter schmerzte zwar unvermindert weiter, aber zumindest gelang es ihm, seine Gedanken zu sammeln. Während er spürte, dass ihm Blut über den linken Arm lief, hatte er in der linken Hand überhaupt kein Gefühl.
Darum kümmere ich mich später, dachte er entschlossen.
Es gibt eine Menge Dinge, um die ich mich später kümmern muss.
»Sir Champion!«, rief er. Seine Stimme wollte ihm kaum gehorchen.
»Sire?« Der Champion stand neben ihm, mit geradem Rücken, den Kopf hoch erhoben. Sein zerfetztes Kettenhemd war mit Dämonenblut getränkt.
»Wir müssen versuchen, die Burg zu erreichen, Sir Champion. Im Laufschritt, da hilft alles nichts. Wenn wir stehen bleiben und weiterkämpfen, kommen wir alle um. Trommeln Sie die Männer zusammen und sagen Sie ihnen, dass wir sofort aufbrechen. Der Große Zauberer kann die Dämonen durch Störfeuer ablenken. Verstehen Sie mich? Ja? Gut. Sie übernehmen die Führung, Sir Champion. Alle anderen folgen Ihnen.«
»Jawohl, Sire. Wir kämen übrigens schneller voran, wenn Sie sich entschließen könnten, auf dem Einhorn zu reiten.«
Rupert wandte sich dem Einhorn zu. Trotz seiner Benommenheit erkannte er klar, dass die Flanken des Tieres blut
überströmt waren. So hatte das Einhorn schon einmal ausgesehen, damals auf der Lichtung des Dunkelwaldes, als er selbst nur knapp dem Tod entronnen war… Rupert schob die Erinnerung beiseite.
»Was ist, Einhorn?«, fragte er ruhig. »Kannst du mich so weit tragen?«
»Locker. Kein Problem. Ich habe kaum einen Kratzer abbekommen. Steig auf, Rupert!«
Der Champion formte die Hände zum Steigbügel und hievte Rupert mit Schwung auf den Rücken des Einhorns. Einen Moment lang schwankte Rupert im Sattel und kämpfte gegen die Ohnmacht an, die ihn zu überwältigen drohte. Er bemerkte mit einem grimmigen Lächeln, dass er irgendwie immer noch das Schwert umklammert hielt. Ein gutes Omen – wenn man an Omen glaubte.
Draußen in der Schwärze bewegte sich etwas.
»Im Laufschritt zur Burg! Los!« Ruperts Stimme war kaum mehr als ein raues Flüstern, aber seine Männer setzten sich in Bewegung, noch ehe er den Befehl richtig ausgesprochen hatte. Er hielt sich mit den Knien verzweifelt an den Flanken des Einhorns fest, als es lostrabte, und starrte angestrengt in das Dunkel. Der Champion lief vor ihm, die Streitaxt drohend erhoben. Der Große Zauberer schwebte über ihnen. Von seinen Fingerspitzen knisterten und zischten helle Blitze in die Nacht. Und vierzehn Kämpfer folgten Rupert in Richtung auf das Burgtor.
Vierzehn. Vierzehn von fünfzig. Rupert ließ den Kopf kraftlos in die Mähne des Einhorns sinken, zu erschöpft, um sich aufrecht im Sattel zu halten. Die Hand, die das Schwert umklammerte, wurde immer schlaffer, und nur der grässliche Schmerz, der ihn bei jedem Schritt seines Reittiers über den holprigen Boden durchzuckte, hielt ihn bei Bewusstsein. Es störte ihn nicht, dass er versagt hatte; das war er gewohnt.
Aber die Männer waren ihm gefolgt und hatten ihm vertraut, und er hatte sie ins Verderben geführt. So wie er das Einhorn ins Verderben geführt hatte, damals, als es blutüberströmt und gebrochen auf jener kleinen Lichtung im Dunkelwald lag.
Nur hatte er diesmal keinen Regenbogen, um die Finsternis zu vertreiben.
Trotz der Schmerzen in der Schulter fielen ihm die Augen immer wieder zu. Er wusste, dass er einer Ohnmacht nahe war, aber das war ihm gleichgültig. Die Bewusstseinstrübung schien sowohl die Schmerzen als auch die Erinnerungen zu dämpfen, und genau das hatte er jetzt nötig. Die Riesenbäume des Waldkönigreichs ragten aus dem Dunkel auf und verschwanden wieder, während das Einhorn der Burg entgegentrabte. Rupert kämpfte gegen ein Gefühl der Übelkeit an, als er die großen Faulstellen entdeckte, die sich überall durch die Rinde fraßen. Trotz der Finsternis und der Dämonenhorden hatte er bis jetzt nicht wahrhaben wollen, dass der Wald seiner Heimat tot war; allein der Gedanke daran schien ihm abwegig. Den Wald hatte es immer schon gegeben, lange vor den Menschen, und tief in seinem Innern war Rupert davon überzeugt gewesen, dass er weiter existieren würde, wenn die Menschen längst verschwunden und vergessen wären. Der Anblick der Todeszeichen an den großen alten Bäumen schmerzte ihn mehr als der Gedanke, dass er vermutlich selbst dem Tod geweiht war; denn wenn der Wald der Finsternis zum Opfer fiel, gab es ohnehin für nichts und niemanden mehr eine Hoffnung. In diesem Moment starb in Rupert der letzte Funke der Zuversicht. Langsam begann die Welt um ihn zu verblassen und mit ihr der Schmerz und das Leid.
Und dann schoss ein grinsender Dämon aus der Schwärze auf ihn zu, und ein Reflex riss seinen Schwertarm nach oben.
Das lange, dürre Wesen sprang in die Klinge und sank mit gefletschten Zähnen zu Boden, ohne einen Laut von sich zu geben. Rupert starrte verständnislos auf sein blutiges Schwert und schüttelte den Kopf, während der dumpfe Zorn, der in ihm schwelte, immer heißer loderte und ihn schließlich aus seiner Betäubung riss. Vielleicht kam er zu spät, um den Wald zu retten, aber er konnte ihn zumindest rächen. Eine Dämonenhorde stürmte aus der Dunkelheit heran, und Rupert hieb mit dem Schwert darauf ein, während das Einhorn seine letzten Kräfte sammelte, um das Burgtor zu erreichen, bevor die Angreifer es zu Boden zerren konnten.
Der Champion pflügte eine Gasse durch die Dämonen, ohne in seinem Lauf innezuhalten, den Blick starr auf die hochgeklappte Zugbrücke gerichtet. Die Soldaten nahmen das Einhorn in die Mitte und bildeten eine Abwehrkette gegen die Dämonen, die lautlos aus der Schwärze strömten. Rupert musste hilflos mit ansehen, wie drei weitere seiner Männer den Fängen und Klauen der Gegner zum Opfer fielen, und konzentrierte sich darauf, nicht abgeworfen zu werden. Er versuchte mit der Linken nach den Zügeln zu fassen, aber die Finger gehorchten ihm nicht. Die Burg war nur noch fünfzig Meter entfernt, doch ebenso gut hätten es fünfzig Meilen sein können. Die Straße zum Tor wurde von den Dämonen vollkommen blockiert. Ein unterdrückter Schrei zu seiner Rechten verriet, dass er schon wieder einen Mann verloren hatte, aber er fand nicht einmal die Zeit, sich nach ihm umzudrehen.
Die Dämonen hatten ihn fast erreicht, und die Schritte des Einhorns wurden immer schleppender. Rupert widerstand dem überwältigenden Drang, einfach umzukehren und zurück in die Finsternis zu reiten, um sein Schwert niedersausen zu lassen, bis er in Dämonenblut ertrank. Lieber im Kampf sterben als auf der Flucht! Der Impuls verflog so rasch, wie er aufgetaucht war, und der Prinz hieb mit einem grimmigen Lachen einen Angreifer entzwei, der die Klauen nach ihm ausstreckte. Er war nicht bis hierher gekommen, um sein Leben für eine Geste wegzuwerfen. Er hatte den Dunkelwald überwunden, um den Zauberer aus dem Schwarzen Turm zu holen, und nun kehrte er heim, und wehe dem, der ihn aufzuhalten wagte!
Das Einhorn stolperte weiter, Schritt für Schritt. Ruperts Schwertarm hob und senkte sich gleichmäßig und metzelte die Angreifer nieder. Die Burg kam langsam näher… aber die Dämonen gaben nicht auf. Vierzig Meter. Dreißig. Fünfundzwanzig. Wir könnten es doch noch schaf f en, dachte Rupert. Wir könnten es ganz knapp schaf f en! Gespenstische, verzerrte Gesichter tauchten bedrohlich aus der Dunkelheit ringsum. Er hieb mechanisch mit dem Schwert auf sie ein.
Ein schwerfälliges Pochen klang irgendwo weit hinter ihm auf; ein träger, dumpfer Laut wie das Schlagen eines gigantischen Herzens. Anfangs hielt der Prinz das ferne Geräusch für Donnergrollen. Doch dann erbebte der Boden im Takt zu dem tiefen Bassrhythmus, und er erkannte, dass sich etwas unbeschreiblich Großes und Schweres langsam durch den Dunkelwald hinter ihm heranwälzte. Rupert wagte einen raschen Blick über die Schulter, doch das undurchdringliche Dunkel nahm ihm die Sicht. Und dann spürte er, wie sich ihm die Nackenhaare aufstellten, als ein grausiger, halb erstickter Schrei die lange Nacht zerriss; ein ohrenbetäubendes Geheul, erfüllt von Hass und unvorstellbarer Wut. Der Boden bebte stärker, je näher die Kreatur kam. Das Gefühl einer uralten, bösen Macht breitete sich aus. Rupert dachte an den großen weißen Wurm, den er in der Kupferstadt bekämpft hatte, und trieb das Einhorn zur Eile an.
Plötzlich zerschnitt gleißendes Licht die lange Nacht, und die Finsternis wich zurück, als der Große Zauberer endlich seine Kräfte freisetzte. Bäume wurden entwurzelt und zur Seite geschleudert. Dämonen starben, die Mäuler weit aufgerissen, von einer unsichtbaren Macht zu Boden gepresst, bis jegliches Leben aus ihnen gewichen war. Die Erde hob und senkte sich wie eine Riesenwoge, als die Magie des Zauberers über sie hinwegstrich, und tief in ihrem Schoß schrie ein Riesengeschöpf vor Angst und Schmerz laut auf. Rupert erschauerte, als die faulig stinkende Luft zu pulsieren begann und die Kräfte des Zauberers ungezähmt und unaufhaltsam in die Dunkelheit flossen. Es steckte eine wilde Urgewalt in der Magie, die der Große Zauberer auf die Welt losgelassen hatte, eine Energie, die nur von seinem Willen in Zaum gehalten wurde. Sie brodelte und knisterte in der Luft, zerstörte alles ringsum, und doch wusste Rupert, dass der Zauberer sie so meisterlich beherrschte, dass sie nicht auch die Burg und den Wald mit allem, was sich darin befand, in einer großen Orgie der Gewalt vernichtete. Die Dämonen flohen ins Dunkel, und die Magie folgte ihnen. Rupert senkte das Schwert, und das Einhorn fiel in einen stolpernden Trab, als es merkte, dass der Weg zur Burg endlich frei war. Der Zauberer schwebte ein Stück hinter ihnen, sacht schaukelnd, als wiegten ihn Winde, die nur er spürte.
Rupert schwankte im Sattel, als der Bergfried plötzlich vor ihm aufragte, und er wusste, dass er seine letzten Kräfte verausgabt hatte. Er krampfte die Finger um den Schwertgriff, damit ihm die Waffe nicht aus der Hand glitt. Im gleichen Moment schoss ein behaartes, vierbeiniges Ding aus dem Dunkel und ließ sich auf den Nacken des Einhorns fallen. Das Tier geriet ins Stolpern und wäre um ein Haar gestürzt. Der Dämon klammerte sich an der Mähne fest. Sein Gewicht zwang das Einhorn fast zum Stehenbleiben. Dünne Blutfäden rieselten über seinen Hals, als ihm der Angreifer die Klauen tief ins Fleisch bohrte. Das Einhorn bäumte sich auf und schüttelte in wilder Panik den Kopf, als der Dämon ihm die Augen auszukratzen versuchte.
Rupert hatte Mühe, im Sattel zu bleiben, und hieb mit dem Schwert auf das Monster ein. Die Klinge durchtrennte den Dämon, aber kein Blut floss aus dem breiten Schnitt, und noch während Rupert hinsah, schlossen sich die Ränder, und die Wunde verschwand spurlos. Der Prinz hob das Schwert zum nächsten Hieb, und der gedrungene Leib des Angreifers verwandelte sich zuckend in ein Schlangenwesen, das den Nacken des Einhorns entlang auf Rupert zufloss. Es hinterließ eine Spur winziger Blutpunkte auf der fahlweißen Haut des Einhorns, so als bewege es sich mit hunderten messerscharfer Saugnäpfe fort. Irgendwie wankte das Einhorn weiter, schrill wiehernd und halb wahnsinnig vor Entsetzen und Schmerzen.
Rupert zielte sorgfältig, um das Einhorn nicht zu treffen, aber seine Schwerthiebe vermochten dem Ungeheuer nichts anzuhaben. Ständig stülpten sich ungleiche Arme und Beine aus seinem behaarten Leib und schnellten wieder zurück. Rupert spießte das Ding von einem Ende zum anderen auf, und es floss die Klinge entlang, um mit einem Dutzend knochiger Hände nach seinem Schwertarm zu greifen. Seine Berührung brannte wie ätzende Säure. Über einem geifernden breiten Maul mit hunderten von scharfen Zähnen saßen zwei grünlich gelbe Augen, die Rupert anstarrten. Er stieß einen wilden Fluch aus und schlug mit der tauben linken Hand nach dem Monster. Die Finger versanken dicht über den Augen tief in dem Fleisch des Widersachers und schlossen sich unerbittlich. Der Dämon versuchte sich loszureißen, aber Rupert achtete nicht auf den Schmerz, der ihm wie Feuer durch den Arm lief, und stieß die Hand immer tiefer in das Fleisch des Dämons. Seine Finger erwachten plötzlich wieder zu Leben.
Nackte Pein tobte durch seinen Körper, aber jenseits der Schmerzen spürte er, dass etwas Weiches, Nachgiebiges in seiner Hand pulsierte: das Herz des Dämons. Das Monster ließ seinen Schwertarm los und versuchte ihm an die Kehle zu fahren, das geifernde Maul weit aufgerissen. Rupert lachte und schleuderte den Angreifer mit letzter Kraft zu Boden, dicht vor die Läufe des Einhorns, das ihn unter schrillem Wiehern niedertrampelte. Endlich blieb der Dämon reglos liegen, und das Einhorn raste in blinder Hast auf die Burg zu.
Der eisbedeckte Burggraben lag dicht vor ihnen, und Sekunden später trommelten die Hufe des Einhorns laut über die alten Holzbohlen der Zugbrücke. Rupert schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen. Er hatte nicht mitbekommen, dass die Zugbrücke heruntergelassen worden war. Der Champion befand sich bereits im Bergfried und hämmerte nun mit der eisenbewehrten Faust gegen das verschlossene Innentor.
Langsam schwangen die schweren Flügel auf. Rupert ritt in den Torturm und zügelte das Einhorn; er wartete ungeduldig darauf, dass sich der Türspalt weit genug öffnete, um ihn mit seinem Reittier durchzulassen. Hinter sich hörte er schwere Schritte. Er warf einen Blick über die Schulter. Zehn Gardesoldaten näherten sich langsam der Zugbrücke, wankend vor Erschöpfung. Die zerfetzten Reste ihrer Kettenpanzer waren blutbespritzt, aber jeder von ihnen umklammerte ein Schwert.
Der Große Zauberer schwebte langsam hinter ihnen; die magischen Kräfte, die in schimmernden Wellen von ihm ausströmten, beugten die hohen alten Bäume, als peitsche sie ein Sturmwind. Dämonen lagen zuckend am Boden, getroffen von der Wucht seiner Magie, und ihre missgestalteten Leiber schmolzen und versickerten im Erdreich. Der Champion rief Rupert zu, er solle endlich kommen, und das Einhorn stolperte vorwärts. Er hob sein Schwert drohend gegen die Finsternis und ritt durch das Torhaus in die Sicherheit des Burghofs.
Hinter ihm schwangen die Türflügel wieder zurück.
»Nicht!«, schrie Rupert. Seine Stimme klang rau vor Müdigkeit und Schmerzen. »Lasst das Tor offen! Meine Männer sind noch draußen!«
»Zum Henker mit Ihren Männern!«, brüllte ihn ein Wachoffizier zornig an. »Da draußen sind Dämonen! Sollen die hier eindringen?«
Er unterbrach sein Gezeter plötzlich, als Rupert das Einhorn dicht neben ihm zügelte und ihm die Schwertspitze an die Kehle setzte. Ihre Blicke trafen sich, und die Einwände des Wachoffiziers verstummten. Er starrte die abgerissene, blutüberströmte Gestalt an, die sich über ihn beugte, und wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass dieser Mann gefährlicher war als jede Kreatur aus dem Dunkelwald.
»Das Tor bleibt offen, bis alle meine Leute die Schwelle passiert haben«, sagte Rupert. »Geben Sie den Befehl aus, oder Sie sind des Todes – hier und jetzt, das schwöre ich Ihnen!«
»Haltet die Türen auf!«, gellte der Wachoffizier. »Und zieht die Waffen, um den Eingang gegen Dämonen zu verteidigen! Es kommen noch Nachzügler.«
Rupert senkte das Schwert, drehte sich um und spähte in das Dunkel hinaus. Den Wachoffizier hatte er bereits vergessen. Seine Männer kehrten endlich heim, und so erschöpft, zerschlagen und blutüberströmt er auch war, spürte er doch einen bitteren Stolz in sich aufsteigen, als die zehn Überlebenden über die Zugbrücke und in den Hof wankten. Sie stützten einander und konnten sich kaum auf den Beinen halten, wehrten aber jede Hilfe vonseiten der Wachposten ab.
Nach allem, was sie durchgemacht hatten, nach allen Hindernissen, die sie überwunden hatten, waren sie fest entschlossen, auch den Rest des Weges aus eigener Kraft zurückzulegen. Das Licht des Großen Zauberers flackerte plötzlich und erlosch, und er ließ sich sacht mitten auf die Zugbrücke sinken, wo er stehen blieb und in die Finsternis hinausstarrte.
Die Hohe Magie, die er entfesselt hatte, war zur Ruhe gekommen, aber eine Spur seiner einstigen Macht blieb und verlieh seiner zerbrechlichen Gestalt eine düstere Würde.
Dämonen scharten sich um den Lichtkreis der Burg, wagten jedoch nicht, sich dem Zauberer zu nähern. Er kehrte ihnen den Rücken zu und ging steif über die Brücke. Erst als er das Torhaus des Bergfrieds durchquert und den Burghof betreten hatten, stürmten die Dämonen vorwärts.
Bewaffnete schrien Befehle, und die beiden Türflügel des äußeren Tores schlossen sich langsam. Rupert sah gerade noch, wie die Zugbrücke nach oben klappte, bereits halb erstürmt von Dämonen, die sich in Trauben an die Holzbohlen klammerten. Dann fielen die Eichentüren dröhnend zu, und Männer rannten herbei, um die schweren Eisenriegel vorzuschieben. Rupert schob endlich das Schwert in die Scheide und sank erschöpft im Sattel zusammen. Tausende von Dämonen hämmerten in ohnmächtiger Wut gegen die Außenmauern der Burg, ein ohrenbetäubendes Geräusch, das auf- und abschwoll wie endloses Donnergrollen. Und weit weg, tief im fauligen Herzen der Finsternis, heulte ein furchtbares, unmenschliches Wesen vor Zorn, weil man es um seine Beute betrogen hatte.
Rupert rutschte aus dem Sattel, tat ein paar wankende Schritte und ließ sich zu Boden gleiten, den Rücken gegen die innere Mauer des Burghofs gestützt. Selbst durch die fünf Meter dicke Barriere aus Stein war die schwache Vibration von unzähligen Dämonenfäusten zu spüren. Er bettete den linken Arm in den Schoß und entspannte sich, zum ersten Mal seit zu vielen Monaten. Alles drehte sich um, und er zitterte am ganzen Körper. Nur der Schmerz, der ihm in Wellen durch die linke Schulter jagte, bewahrte ihn davor, an Ort und Stelle ohnmächtig zu werden. Aber das alles war ihm verdammt gleichgültig. Er befand sich wieder auf der Burg, und nur das zählte. Was immer jetzt geschehen mochte, er hatte es geschafft. Er war heimgekehrt.
Nach einiger Zeit gaben es die Dämonen auf, gegen die Burgmauern anzurennen, und das dumpfe Dröhnen wich einer vollkommenen Stille, die noch bedrohlicher wirkte. Rupert schloss die Augen und ließ sich willenlos treiben. Seine Pflicht war getan. Er hatte das Recht, sich auszuruhen. Wenigstens eine kleine Weile. Ganz in seiner Nähe erklang ein leises, müdes Schnauben. Er öffnete die Augen, schaute auf und sah das Einhorn an seiner Seite stehen, den großen, knochigen Kopf müde gesenkt, mit verhüllten roten Augen ins Leere starrend. Rupert bedachte sein Reittier mit einem warmen Lächeln.
»Super gerannt, Einhorn«, sagte er heiser.
»Ich weiß«, entgegnete das Einhorn trocken. »Einen besseren Spurt wirst du nicht mehr erleben, so viel steht fest. Ich bin noch nie so schnell gerannt. Erstaunlich, was man alles schafft, wenn es sein muss. Wie fühlst du dich?«
»Bescheiden, um nicht zu sagen, beschissen. Ich glaube, ich könnte für einen Schluck Wasser zum Mörder werden.
Immer vorausgesetzt, ich hätte die Kraft dazu.«
»Nun hör schon auf, den Todkranken zu mimen! Wo bleibt der Hafer, den du mir versprochen hast?«
Rupert stieß ein krächzendes Lachen hervor und fand zum ersten Mal die Kraft, den Kopf zu heben und sich umzusehen.
Auf dem Burghof wimmelte es von Menschen, Bauersleuten, Handwerkern und Städtern, die vor den vorrückenden Dämonen geflohen waren und in der Residenz Schutz gesucht hatten. Der Finsternis entkommen, drängten sie sich in kleinen Familienverbänden zusammen, umgeben von ihrer armseligen Habe. Hier und da flackerten unruhige Feuer und versuchten die Winternacht mit etwas Licht und Wärme zu erfüllen.
Dennoch herrschte hier im Freien eine bittere Kälte, und dunkle Schatten sammelten sich zwischen den Feuern. Es gab ein paar schäbige Zelte und Unterstände, die aber keinen echten Schutz boten. Hunde und Katzen streiften umher und wühlten in der Asche nach Essensresten. Der Gestank, der von all den Menschen und Tieren ausging, war überwältigend, aber niemand schien es zu bemerken. Die Flüchtlinge auf dem Burghof waren daran gewöhnt.
Das Schlimmste war die Stille. Die Menschen saßen dicht beisammen, der Wärme und des Trostes wegen, aber sie sprachen nicht. Sie starrten in die Flammen, mit Augen, die zu viel Grauen und zu wenig Hoffnung gesehen hatten, und warteten darauf, dass die Finsternis kam und sie holte. Rupert lächelte bitter. Selbst die Mauern der Burg und die Magie, die darin steckte, reichten nicht aus, um den Einfluss des Dunkelwalds völlig fern zu halten. Angst, Unsicherheit und Verzweiflung hingen in der Luft wie ein zäher, alles erstickender Nebel und spiegelten sich in der Hilflosigkeit wider, die jedes einzelne Flüchtlingsgesicht zeichnete. Die Finsternis war in ihre Seelen eingedrungen und hatte ihnen ihren Stempel aufgedrückt. Rupert wandte den Blick ab. Trotz allem, was er erlitten und geleistet hatte, musste er am Ziel seiner Reise erkennen, dass seine Mission gescheitert war. Er kam zu spät.
Der Blaue Mond stand am Himmel, und das Waldreich befand sich im Bann der endlosen Nacht. Und von den fünfzig Männern, die ihm durch den Dunkelwald zum Schwarzen Turm gefolgt waren, hatten nur zehn überlebt.
Ich habe es versucht, dachte Rupert niedergeschlagen. Ich habe es zumindest versucht.
Er kämpfte gegen eine Woge von Selbstmitleid an, die ihn hinwegzuschwemmen drohte. Leid tun konnte er sich später, wenn er mehr Zeit dazu fand. Noch hatte er sich nicht beim König zurückgemeldet. Und er musste sich vergewissern, ob es seinen Männern gut ging. Schließlich hatten sie bis zuletzt für ihn gekämpft. Rupert sah sich nach dem Champion um, aber der war nirgends zu entdecken. Allem Anschein nach hatte er sich geradewegs zum König begeben, um ihm die Rückkehr des Großen Zauberers zu melden. Rupert zog die Stirn kraus. Da er das Unternehmen befehligt hatte, war es eigentlich seine Aufgabe und nicht die des Champions, über die Mission zu berichten. Zumindest hätte der Champion sich vorher mit ihm absprechen können. Rupert lächelte mit schmalen Lippen, als ihm die Antwort dämmerte. Der Champion hatte geschworen, ihm bis zum Ende des Unternehmens zu gehorchen. Nun, da sie sich wieder auf der Burg befanden, war Rupert für ihn nichts weiter als der nachgeborene Sohn, ohne jede Befehlsgewalt. Genau genommen musste Rupert sich von jetzt an gut vorsehen, damit der Champion ihm nicht in den Rücken fiel. Schwere Stiefel scharrten über das Kopfsteinpflaster, und als Rupert den Kopf hob, sah er den Wachoffizier vor sich stehen, groß, breitschultrig und eindrucksvoll. Ein Mann zum Fürchten, auch ohne den Zorn, der sein narbiges Gesicht verdüsterte. Er hielt eine rostige Pike in den mächtigen Pranken, und hinter ihm tauchten weitere Wachposten auf, die Rupert mit kalten, drohenden Blicken musterten. Rupert starrte ihnen gelassen entgegen.
»Was wollen Sie von mir?«
»Mein Name ist Chane«, sagte der Mann vom Torhaus.
»Sie wissen, wer ich bin? Dachte ich mir fast. Sie hätten uns alle umbringen können, Sie verdammter Blödmann, und das wegen ein paar Gardesoldaten! Ich weiß nicht, was zum Teufel Sie da draußen gesucht haben oder wie es Ihnen gelang, das Tor zu öffnen, aber ich verspreche Ihnen eines: Sobald wir mit Ihnen fertig sind, wünschen Sie sich vermutlich, dass Sie den Dämonen in die Hände gefallen wären!«
Klasse, dachte Rupert. Da pf lüge ich mich durch sämtliche Dämonen des Dunkelwalds, nur um gleich nach der Ankunf t von den eigenen Leute eine Packung zu kriegen! Das ist wieder mal typisch.
Er richtete sich auf. Sein linker Arm war unbrauchbar und schlenkerte schlaff am Körper. Das Einhorn trat schützend neben ihn. Chane hob die Pike und kam mit einem hässlichen Grinsen näher. Doch im gleichen Moment lösten sich zehn verdreckte, blutverkrustete Soldaten aus den Flüchtlingsknäueln und schoben sich zwischen Rupert und die Angreifer.
Chane und seine Freunde warfen einen Blick auf die wild entschlossenen Gestalten und wichen einen Schritt zurück.
Stahl schabte gegen Leder, als die Gardisten ihre Schwerter zogen, und die Wachposten wichen noch einen Schritt zurück.
»Das ist unser Anführer«, sagte einer der Soldaten ruhig.
Rupert erkannte Rob Hawke, den Schwertmeister. »Wagen Sie es nicht, ihn zu bedrohen! Er hat uns heil aus der Finsternis zurückgebracht. Wenn er nicht gewesen wäre, hättet ihr uns das Tor vor der Nase zugeschlagen und uns da draußen verrecken lassen! So – und jetzt weg mit diesen Piken oder wir rammen sie euch in die ungewaschenen Hälse! Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«
»Wer zum Henker seid ihr denn?«, stammelte Chane und ließ die Blicke unruhig über die grimmigen Gardesoldaten schweifen.
»Seit wann befehligen Sie die Torwache?«, fragte eine kalte, wohl bekannte Stimme. Rupert drehte den Kopf zur Seite und sah, dass der Champion neben ihn getreten war. Er hielt die Streitaxt in beiden Händen.
Chanes Kinnlade klappte nach unten, und jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht. »Sir Champion…«, raunte er kaum hörbar. »Es hieß, Sie seien tot! Aber… wenn Sie am Leben sind, dann muss das… dann ist das…«
Er starrte Rupert mit weit aufgerissenen Augen an. Der Prinz quittierte seinen Blick mit einem grimmigen Lächeln.
Und dann senkte Chane zu Ruperts großer Verblüffung die Pike, kniete vor ihm nieder und verneigte sich tief. Die anderen Wachposten folgten seinem Beispiel.
»Verzeihung, Sire«, sagte Chane, und seine Stimme schwankte vor Bewegung. »Verzeihung, dass ich Sie nicht gleich erkannte… aber es ist so lange her… wir hatten jede Hoffnung aufgegeben… und alle sagten, Sie seien tot! Alle!«
»Nun, wie Sie sehen, lebe ich«, entgegnete Rupert knapp.
»Ein Gespenst wäre wohl nicht so verdammt durstig, wie ich es bin.«
Rob Hawke reichte Rupert sofort seine Feldflasche. Der Prinz nickte ihm dankbar zu und schob sein Schwert in die Scheide. Er nahm die Flasche, zog den Stöpsel mit den Zähnen heraus und trank gierig. Nie zuvor hatte ihm lauwarmes Wasser so köstlich geschmeckt. Allmählich ließ sein Durst nach, und er reichte die Feldflasche zurück. Chane und seine Männer knieten immer noch vor ihm, und er gab ihnen durch eine verlegene Geste zu verstehen, dass sie endlich aufstehen sollten. Ihre Unterwürfigkeit war ihm peinlich.
»Willkommen daheim, Sire!« In Chanes Augen leuchtete fast so etwas wie religiöse Ehrfurcht. »Willkommen auf der Burg, Prinz Rupert!«
Seine Worte hallten laut in der Stille wider, und ein Raunen ging durch die Reihen der dicht gedrängten Flüchtlinge.
Köpfe drehten sich in Ruperts Richtung, und hier und da standen Menschen auf, um besser sehen zu können. Das Gemurmel wurde lauter und schwoll zu einem wilden Geschrei an. Innerhalb von Sekunden war alles auf den Beinen und rannte auf Rupert zu. Sein Name machte die Runde, und Hochrufe klangen auf. Die Gardesoldaten bildeten einen schützenden Ring um den Prinzen, und Chanes Männer unterstützten sie rasch, als sie die wogende Menge näher kommen sahen. Rupert wich an die Mauer des Burghofs zurück und beobachtete verwirrt den Freudentaumel. Viele der Männer und Frauen hatten Tränen in den Augen. Rupert warf dem Champion einen fragenden Blick zu.
»Was zum Henker hat das zu bedeuten?«
Der Champion lächelte. »Offenbar hatte man uns seit geraumer Zeit für tot erklärt. Und welche Hoffnung hatte es nach dem Scheitern Ihrer Mission zum Schwarzen Turm noch geben sollen? Aber jetzt sind Sie da, zurück von der Langen Nacht im letztmöglichen Moment, begleitet vom legendären Großen Zauberer, der natürlich mit einem Fingerschnippen alles wieder in Ordnung bringen wird. Sie sind die Erhörung ihrer Gebete, Sire!«
Rupert rümpfte die Nase. »Wollen Sie ihnen die schlechte Nachricht beibringen, Sir Champion, oder soll ich es tun?«
Der Champion lächelte freudlos. Die Flüchtlinge drängten wieder vorwärts, ohne auf die Warnungen der Wachen oder die erhobenen Schwerter zu achten. Die Stimmung der Menge wandelte sich allmählich, wurde verzweifelt und wütend.
Rupert war nicht nur der zurückgekehrte Held, er war auch ihr Prinz; sie wollten wissen, wo er gesteckt hatte, was ihm zugestoßen war, weshalb die Reise so lange gedauert hatte, warum er nicht rechtzeitig zurückgekehrt war, um sie vor der Finsternis zu bewahren. Sie sahen weder seine Erschöpfung noch seine Wunden, sie sahen nur den Helden und Retter, den sie sehen wollten, den Wunderwirker, der die Dämonen vertreiben und alles wieder in Ordnung bringen würde, so wie es früher gewesen war. Ihre Stimmen wurden streitlustig und fordernd, und sie schoben und schubsten, rempelten die Wachen an und streckten die Hände nach Rupert aus, um ihn zu berühren und seine Aufmerksamkeit zu erzwingen. Und wieder wandelte sich die Stimmung, wurde aggressiv und bedrohlich, als den Flüchtlingen allmählich dämmerte, dass Rupert ihnen nicht die Versprechungen machte, die sie hören wollten. Verschiedene Gruppen versuchten einander zu überschreien. Die einen baten um mehr Essen oder Wasser für ihre Familien oder Tiere, andere verlangten Quartiere in der Burg selbst, abgeschirmt von der Finsternis. Das Geschrei wurde immer lauter, während sie Hoffnung, Trost und Antworten forderten – Dinge, die Rupert nicht bieten konnte. Der Prinz konnte ihnen den Ärger nicht einmal verübeln; er war so müde und verwirrt, dass seine Erklärungen nicht viel Sinn ergaben. Die Flüchtlinge wogten aufgebracht vor und zurück.
Der Jubel, mit dem sie ihn eben noch begrüßt hatten, war erstickt. Die Wachen sahen Rupert unschlüssig an und warteten auf seine Befehle, während die Menge erneut heranstürmte.
»Lasst mich in Ruhe, verdammt noch mal!«, rief der Prinz mit dröhnender Stimme und zog sein Schwert. Die Gardesoldaten gingen sofort in Kampfstellung und warteten auf den Befehl zum Angriff. Die Wachmannschaft brachte ihre Spie
ße in die Waagrechte, und der Champion wog die Streitaxt nachdenklich in der Hand. Die blutverschmierten Klingen und schweren Piken glänzten schwach im Licht der Fackeln.
Die Flüchtlinge verstummten. Das unbehagliche Schweigen dehnte sich, während Rupert den Blick über die aufgebrachte Menge schweifen ließ.
»Ich bin total geschafft«, knurrte er schließlich. »Ich begebe mich jetzt erst einmal in meine Gemächer, um ein wenig Schlaf nachzuholen, und jeder, der mich stört, wird es bitter bereuen! Lasst mich mit euren Problemen zufrieden, bis ich mich erholt habe. Sie laufen nicht davon, verdammt noch mal! Und jetzt gebt mir den Weg frei, sonst lasse ich meine Männer eine Gasse frei machen!«
Das angespannte Schweigen wollte nicht enden.
»Na, immer noch der Diplomat in Person, Rupert?« fragte eine belustigte Stimme aus dem Hintergrund. Rupert spähte über die Köpfe der Menge hinweg und sah, wie Harald ohne Eile die Haupttreppe herunterkam. Er schlenderte lässig durch die Reihen der Flüchtlinge, nur so strotzend von Selbstvertrauen und Tüchtigkeit, und so erschöpft Rupert auch war, er musste den Auftritt seines Bruders bewundern.
Haralds ruhige Stimme versprach alles, ohne die geringste Verpflichtung einzugehen, und doch schien das den Flüchtlingen zu genügen, denn sie kehrten trübselig zu ihren Feuern und Tieren zurück, in leise Diskussionen vertieft. Keiner von ihnen hatte einen Blick für Rupert übrig. Sie waren von ihrem heimgekehrten Helden enttäuscht, weil er gezeigt hatte, dass er nur ein Mensch war. Rupert beobachtete, wie Harald zuversichtlich durch die Menge schritt, und schüttelte den Kopf.
Harald hatte, wenn es darauf ankam, stets die Gabe der Überredungskunst besessen. Mit seiner hohlköpfigen Nummer mochte er den Hof täuschen, aber Rupert kannte ihn besser.
Schon in der Kindheit hatte es Harald verstanden, Menschen und Situationen geschickt für sich zu nutzen, in der Regel auf Ruperts Kosten.
Trotz aller Fehler – und Harald besaß unleugbar eine Menge davon – war er ein glänzender Organisator. Vermutlich hatte er, noch bevor der Tag zu Ende ging, eine Liste mit sämtlichen Beschwerden der Flüchtlinge zusammengestellt und ein System ausgeklügelt, um die Probleme in der Reihenfolge ihrer Wichtigkeit zu behandeln. Rupert seufzte angewidert, schob das Schwert in die Scheide und lehnte sich gegen die Mauer des Burghofs. Bis vor kurzem hatte er geglaubt, dass Harald mit seiner Masche darauf abzielte, selbst gut dazustehen, während er die Hauptarbeit anderen Leuten überließ; aber nun sah er darin einen weiteren Grund, weshalb Harald eines Tages König werden würde und er nicht. Harald war ein Diplomat. Rupert zuckte mit den Schultern. Zum Henker mit der Diplomatie! Sollte mal einer versuchen, Dämonen mit Fingerspitzengefühl und schönen Worten zu bändigen! Das konnte im Nu Kopf und Kragen kosten.
Er schaute auf und nickte Chane und seinen Männern zu.
»Danke für den Beistand! Die Sache hätte leicht ins Auge gehen können.«
Die Wachen hoben verlegen ihre Piken und verneigten sich.
»Tut mir Leid, das mit den Flüchtlingen«, sagte Chane.
»Obwohl man es den Leuten kaum verdenken kann. Sie haben alles verloren, als die Dunkelheit hereinbrach. Es gibt kaum eine Familie, der die Dämonen nicht ein Kind, den Vater oder die Mutter geraubt haben. Sie sind verängstigt und hilflos, und das lange Warten macht nichts besser. Pech für Sie, Sire, dass sich die gereizte Stimmung ausgerechnet gegen Sie entlud.«
»Schon gut.« Rupert winkte müde ab. »Nochmals vielen Dank.«
»Keine Ursache«, sagte Chane. »Wenn Sie uns mal wieder brauchen, wissen Sie, wo wir zu finden sind. Aber jetzt kehren wir am besten auf unsere Posten zurück. Diese Dämonen können jederzeit die Burg stürmen.«
Er verbeugte sich noch einmal und marschierte an der Spitze seiner Männer zurück zum Torhaus. Rupert sah dem Trupp nach und runzelte nachdenklich die Stirn. Entweder war dieser Chane der versöhnlichste Mensch, dem er je begegnet war, oder hier ging etwas vor, das er nicht so recht durchschaute. Oder vielleicht… Rupert musste plötzlich lächeln. Oder vielleicht litt er selbst wieder einmal an Verfolgungswahn. Die Heimkehr brachte ihn offenbar jedes Mal ziemlich durcheinander. Er wandte sich mit einem Seufzer den wartenden Gardesoldaten zu. Ihnen zumindest konnte er blind vertrauen; sie waren ihm von Anfang an treu ergeben gewesen. Obwohl sie eigentlich keinen Grund dazu hatten…
Schließlich hatte sich der Champion seiner Führung nur auf Befehl des Königs unterworfen… Rupert schüttelte ärgerlich den Kopf, aber der Gedanke ließ sich nicht verscheuchen. Er wusste, dass er die Frage stellen musste, und sei es nur, weil er eine Heidenangst vor der Antwort hatte. So oder so, er wollte die Wahrheit erfahren. Ohne den Champion zu beachten, der immer noch geduldig neben ihm stand, trat er auf Rob Hawke zu.
»Warum seid ihr bis zuletzt auf meiner Seite geblieben?«, fragte er geradeheraus. »Als ich von hier aufbrach, hatte ich eine Abteilung von fünfzig Mann. Nur zehn von euch sind zurückgekehrt. Macht ihr mich nicht für den Tod eurer Freunde verantwortlich?«
Hawke schüttelte langsam den Kopf. »Wir machen Sie für gar nichts verantwortlich, Sire. Wir hatten nicht damit gerechnet, den Dunkelwald zu überleben, geschweige denn die Begegnung mit dem Großen Zauberer. Es war ausgemacht, dass wir desertieren würden, sobald wir der Burg den Rücken gekehrt hatten. Nichts für ungut, Sire, aber was wir von Ihnen gehört hatten, war nicht gerade ermutigend. Dem Hofklatsch nach hatten Sie noch nie eine Truppe geführt und waren ein Feigling, der die anderen mit Lügen über eine zweimalige Durchquerung des Dunkelwaldes zu beeindrucken versuchte.
Wir hatten nicht die Absicht, mit einem solchen Anführer in den Kampf zu ziehen.
Aber dann sahen wir, wie Sie es hier auf dem Burghof mit Ihrem Bruder und dem Champion aufnahmen. Sie trafen den Champion gleich zweimal! Das hatte noch niemand geschafft, seit er sein Amt antrat. Von dem Moment an gaben wir nichts mehr auf das Gerede. Dass Sie sich mit dem Champion anlegten, war nicht besonders klug, aber es bewies, dass Sie ein Kämpfer waren. Also beschlossen wir, wenigstens so lange bei Ihnen zu bleiben, bis wir Sie überreden konnten, den Plan mit dem Schwarzen Turm aufzugeben und mit uns zusammen zu desertieren. Der Champion wäre eines Morgens aufgewacht und hätte das Lager leer vorgefunden. Einfach so.
Und dann kamen wir in die Kupferstadt. Wir sahen, was in der Tiefe des Bergwerks hauste; wir sahen, wie Sie gegen dieses Monster kämpften und es besiegten. Von da an… Nun also, von da an glaubten wir an Sie und Ihre Mission. Und vielleicht glaubten wir auch an uns. Alles in allem ist die Sache nicht schlecht gelaufen. Kein Mensch musste je gegen eine solche Übermacht bestehen. Aber wir haben es geschafft.
Sie trifft keine Schuld am Tod unserer Kameraden, Sire. Wir sind stolz darauf, dass wir Sie begleiten durften.«
Rupert nickte steif, so stark von Rührung überwältigt, dass er kaum sprechen konnte. »Danke«, sagte er schließlich.
»Auch ich bin ungeheuer stolz auf euch. Ich werde mit meinem Vater sprechen. Falls wir die Finsternis überleben, soll jeder von euch ein Stück Land erhalten. Darauf gebe ich euch mein Wort.«
»Wir haben nur das getan, wofür wir bezahlt werden«, entgegnete Hawke. »Und die Kampfprämien, die uns von diesem kleinen Ausflug zustehen, müssten ein hübsches Sümmchen ergeben. Vorausgesetzt, Sie erweisen uns einen winzigen Gefallen, Sire.«
»Was immer ihr verlangt«, versicherte Rupert.
»Also«, begann Hawke zögernd, »wenn der Champion dem König berichtet, dass wir eigentlich desertieren wollten, bekommen wir keinen Heller…«
»Er wird es mit keinem Wort erwähnen«, sagte Rupert.
»Oder, Sir Champion?«
Der Champion warf ihm einen nachdenklichen Blick zu und nickte dann leicht. »Wie Sie wünschen, Sire.«
Die Soldaten grinsten breit, und dann reckte Hawke plötzlich das Schwert zum traditionellen Treueschwur der Krieger.
Die übrigen Männer folgten seinem Beispiel, und Sekunden später waren zehn Schwerter zum uralten Salut erhoben.
Einen Moment lang schien die Szene zu einem lebenden Bild erstarrt, dann rasselten die Schwerter in die Scheiden, und die Soldaten machten kehrt und marschierten zu ihren Unterkünften, um sich von den Strapazen des langen Kampfes zu erholen. Rupert schaute ihnen nach und wünschte sich, er könnte sie begleiten, um die schützende Kameradschaft in der Kaserne zu genießen. Aber das war nicht möglich. Er war ein Prinz, und das hieß, dass er in leere Gemächer zurückkehren musste, zu den Intrigen seiner Familie und seines Hofes. Er wandte den Blick ab und merkte, dass der Champion ihn forschend ansah.
»Stimmt etwas nicht, Sir Champion?«
»Ich weiß nicht, Sire. Ich muss darüber nachdenken.«
»Ich bin immer noch der nachgeborene Sohn.«
»Ja«, sagte der Champion. »Das ist mir bewusst.« Damit drehte er sich um und ging.
Rupert überlegte, ob er ihm nachgehen sollte, beschloss jedoch, dass die Aussprache auch bis zum nächsten Tag Zeit hatte. Genau genommen hatte alles Zeit bis zum nächsten Tag. Oder bis zum übernächsten Tag. Eilige Schritte rissen ihn aus seinen Gedanken, und als er aufschaute, bemerkte er einen stattlichen Jüngling in prächtigen Seidengewändern, der auf ihn zukam. Sein schulterlanges blondes Haar war nach der neuesten Hofmode frisiert, und inmitten der hungrigen Flüchtlinge wirkte er beinahe unverschämt wohlgenährt. Er blieb vor Rupert stehen, nahm eine elegante Pose ein und verbeugte sich würdevoll. Rupert nickte ihm argwöhnisch zu, und der junge Mann richtete sich wieder auf.
»Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, Sire, aber als ich die Kunde von Ihrer wundersamen Heimkehr vernahm, ließ ich alles liegen und stehen und eilte unverzüglich hierher.«
»Tatsächlich?«
»Aber ja, Sire! Sie kommen geradewegs aus der Schwärze der Nacht, um uns alle zu erretten. Ein herrlicher Stoff für eine Ballade!«
Rupert schaute ihn verständnislos an. »Eine Ballade?«
»Gewiss, Sire. Ich bin der neu ernannte Hofbarde. Aber keine Sorge, Sire, das Lied, das Ihren Wagemut rühmen soll, wird von Ihren Heldentaten ebenso künden wie von Ihrer Selbstlosigkeit. Es wird von Kühnheit und Ehre berichten, von Ihren Abenteuern und der Errettung aus tödlicher Gefahr…«
Er brach mitten im Satz ab, als er Ruperts Gesichtsausdruck bemerkte, wich Schritt für Schritt zurück, als Rupert das Schwert zog, und rannte Hals über Kopf davon, als Rupert mit Mordgier im Blick auf ihn zukam. Der Prinz gab die Verfolgung nach ein paar Schritten auf, aber der Barde war vernünftig genug, seine Flucht fortzusetzen.
»War das wirklich nötig?«, erkundigte sich das Einhorn.
»Absolut«, knurrte Rupert und lehnte sich wieder an die Mauer, nachdem er die Waffe weggesteckt hatte. »Schließlich waren es die Barden mit ihren blöden Balladen über edle Helden und ihre Abenteuer, die mich in diese bescheuerte Lage brachten.«
»Du siehst nicht besonders gut aus«, meinte das Einhorn.
»Da könntest du ausnahmsweise Recht haben.«
»Warum suchst du nicht deine Gemächer auf und legst dich hin, bevor du zusammenklappst?«
Rupert schloss die Augen und gönnte sich zum ersten Mal den Luxus, an ein heißes Bad und ein weiches Bett zu denken. Nach einem zufriedenen Seufzer schlug er die Augen wieder auf und musterte das Einhorn. Die Dämonen hatten es schlimm zugerichtet. Blutige Striemen bedeckten sein Fell vom Kopf bis zu den Läufen. Es ließ den Kopf hängen, und seine Beine zitterten vor Schwäche und Erschöpfung.
»Dein Zustand ist auch nicht der allerbeste«, meinte Rupert. »Du stehst da wie das Elend in Person, Einhorn. Die Dämonen haben ganze Arbeit geleistet.«
»Mit Komplimenten erreichst du bei mir gar nichts«, sagte das Einhorn. »Die paar Kratzer sind bis morgen verheilt. Was man von deinen Wunden nicht behaupten kann. Ich kannte Leute, die bei ihrer Beerdigung gesünder aussahen als du.
Nun gehorch einmal im Leben der Vernunft und leg dich ins Bett, verdammt noch mal! Ich freue mich auf meinen ersten richtigen Schlaf seit Wochen und habe keine Lust, deinetwegen schlecht zu träumen!«
»Ich bringe dich zu den Ställen.«
»Kommt nicht in Frage! So fertig, wie du bist, hängst du am Ende doch bloß wieder im Sattel – und mein Kreuz schmerzt wie verrückt. Geh zu Bett, Rupert! Ich finde mich schon zurecht. Und mit etwas Glück erwische ich einen Stallknecht, den ich so lange belabere, bis er mir eine Hand voll Hafer überlässt. Immer vorausgesetzt, ich schlafe nicht schon vorher ein.«
»Schon gut, ich gebe mich geschlagen«, grinste Rupert.
»Wird aber auch Zeit«, knurrte das Einhorn und entfernte sich humpelnd. »Und lass deine Schulter behandeln!«
»Ja, sicher«, murmelte Rupert. Er lehnte den Kopf gegen die Mauer, weil ihn plötzlich ein Schüttelfrost erfasst hatte.
Seine Hände begannen zu zittern, und die Zähne schlugen aufeinander. Das Frösteln verging so schnell, wie es gekommen war, aber er fühlte sich schwach und schwindlig. Er löste sich von der Mauer, kam jedoch nur ein paar Schritte weit, ehe er stehen bleiben musste. Der Boden schien unter seinen Füßen wegzukippen, und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten. Die Welt verschwamm vor seinen Augen und wurde erst wieder scharf, als er tief durchatmete und sich konzentrierte. Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen. Er wollte verdammt sein, wenn er seinen Kampf durch den Dunkelwald und die Dämonenhorden durch eine Ohnmacht mitten auf dem Burghof krönte! Er würde den Weg zu seinen Räumen ohne fremde Hilfe zurücklegen! Danach konnte er immer noch umkippen.
Er setzte einen Fuß vor den anderen und bewegte sich langsam durch die Menge der dicht gedrängten Flüchtlinge.
Wann immer ihn jemand ansprach, zog er ein finsteres Gesicht und legte die Hand an den Schwertknauf. Das genügte.
Sein linker Arm war wieder völlig taub; frisches Blut sickerte durch den Ärmel und tropfte ihm von der Hand. Vorsichtig schob er den verletzten Arm in das Lederwams und zog die Schnüre enger. Auf diese Weise entstand eine behelfsmäßige Schlinge. Mit jedem Schritt flammte der Schmerz in der Schulter von neuem auf, aber er war so müde, dass er ihn fast nicht beachtete. Viele der Flüchtlinge wichen erschrocken zurück, sobald er in ihre Nähe kam, und Rupert fragte sich, welchen Anblick er wohl bot. Sicher hatten sie sich ihren Helden ein wenig anders vorgestellt, nicht so müde und gereizt, nicht so verdreckt und blutverschmiert. Er nahm die Rechte vom Schwertgriff, aber das machte wenig Unterschied. Die Haupttreppe ragte vor ihm auf. Rupert wollte eben den Fuß auf die erste Stufe setzen, als Harald sich aus der Schar der Flüchtlinge löste und ihm den Weg versperrte.
»Willkommen daheim, mein Lieber. Wir machten uns allmählich Sorgen um dich.«
Rupert sah seinen Bruder müde an. »Du auch, Harald?
Echt?«
Harald zuckte mit den Schultern. »Du warst ewig lange fort. Wir hatten uns schon damit abgefunden, dass du nicht mehr heimkehren würdest. Ich machte mich allmählich mit dem Gedanken vertraut, dass ich ausziehen und Vergeltung üben müsste.«
Rupert musterte ihn genauer. »Weshalb solltest du dein Leben riskieren, um meinen Tod zu rächen.«
»Du gehörst zur Familie«, erklärte Harald. »Ich kenne meine Pflichten. Du hättest für mich das Gleiche getan.«
»Ja«, sagte Rupert langsam. »Wahrscheinlich.«
Er nickte Harald zu, ein wenig schroff, um seine Rührung zu verbergen. Harald lächelte kurz, ehe er seine gewohnt undurchdringliche Miene aufsetzte.
»Nun«, meinte Rupert, »was war so los während meiner Abwesenheit?«
»Nicht viel«, entgegnete Harald. »Der Dunkelwald hat uns vor etwa einer Woche erreicht. Es fällt schwer, die Tage zu zählen, wenn keine Sonne am Himmel steht. Wir haben es mit markierten Kerzen und Wasseruhren versucht, aber das sind keine sehr zuverlässigen Methoden.
Ich hoffe, dass mit dem Großen Zauberer alles ein wenig leichter wird. Du hast ihn doch mitgebracht, oder?«
»Das schon«, sagte Rupert. »Er ist wieder da.«
»Ich kann mich kaum an ihn erinnern, wenn ich ehrlich sein soll. Ist er wirklich so schlimm, wie er immer geschildert wird?«
Rupert dachte nach. »Ja und nein«, erwiderte er schließlich. »Aber spielt das eine Rolle? Er besitzt die Macht der Magie, und alles andere ist den Leuten gleichgültig.«
»Wird seine Macht ausreichen, um die lange Nacht zu verdrängen?«
»Schwer zu sagen.« Rupert drehte sich um und ließ den Blick über das Gedränge auf dem Burghof schweifen. »Wie viele Flüchtlinge beherbergen wir in der Residenz?«
»Etwa zwölftausend. Der Himmel weiß, wie viele noch da draußen schutzlos durch das Dunkel irren. Wir nahmen so viele wie möglich auf, als die Finsternis hereinbrach, aber dann kamen die Dämonen, und uns blieb keine andere Wahl, als die Tore zu verrammeln und die Zugbrücke hochzuklappen. Es geschah alles so plötzlich, ohne jede Vorwarnung.
Einen Frontalangriff haben die Dämonen bis jetzt nicht gewagt. Sie belagern unsere Mauern, warten und beobachten uns. Von Zeit zu Zeit imitieren sie Menschenstimmen und flehen uns an, sie einzulassen. Wir öffnen die Tore für niemanden mehr.«
Rupert zog erstaunt die Augenbrauen hoch. »Was bewog euch, für uns eine Ausnahme zu machen?«
»Nichts«, erklärte Harald. »Die Zugbrücke senkte sich von selbst, und die Türflügel schwangen wie von unsichtbarer Hand auf. Deshalb nahm ich auch an, dass du den Großen Zauberer mitgebracht hast.«
»Wo ist der Drache?«, fragte Rupert plötzlich. »Weshalb kam er uns gegen die Dämonen nicht zu Hilfe?«
»Offensichtlich hat er seinen letzten Kampf gegen die Monster immer noch nicht überwunden. Julia vermutet, dass er doch schwerer verwundet wurde, als wir alle dachten. Er liegt jetzt seit Monaten im Winterschlaf und versucht zu neuen Kräften zu kommen. So wie es aussieht, wacht er vielleicht nie mehr auf.«
Rupert warf Harald einen scharfen Blick zu. »Julia – wie geht es ihr?«
»Oh, sie erfreut sich bester Gesundheit. Und du bist genau zur rechten Zeit heimgekommen. Eigentlich hätten Julia und ich schon vor Wochen Hochzeit feiern sollen, aber irgendwie kam immer was dazwischen. Jetzt hat Vater ein Machtwort gesprochen und die Zeremonie auf morgen festgesetzt. Es wird der Moral des Hofes ungemein gut tun. Ich bin so froh, dass du zurück bist, Rupert. Ich brauche dich unbedingt als Brautführer.«
Rupert starrte ihn schweigend an, und Harald trat einen Schritt zurück. Die Müdigkeit und die Schmerzen in Ruperts Zügen waren wie weggewischt, verdrängt von einem kalten, genau kalkulierten Zorn. Haralds Augen verengten sich, und seine Hand tastete nach dem Schwertgriff.
»Glaubst du im Ernst«, sagte Rupert mit belegter Stimme,
»dass ich mir den Weg durch die lange Nacht freigekämpft und den Großen Zauberer unter Lebensgefahr aus seinem Turm geholt habe, damit du mir inzwischen Julia wegnimmst? Eher bringe ich dich um!«
Harald kämpfte gegen den Impuls an, noch einen Schritt zurückzuweichen. Er konnte es sich nicht leisten, Angst zu zeigen. Er schluckte trocken, als er sich an sein letztes Duell gegen Rupert hier auf dem Burghof erinnerte. Einige Kampfspuren würde er für immer zurückbehalten. Diesmal schien Rupert zwar durch seine Wunden und den starken Blutverlust geschwächt, aber Harald wollte dennoch kein Risiko eingehen. Ein Schimmern in Ruperts Augen mahnte ihn zur Vorsicht – etwas Kaltes, Dunkles und ungemein Gefährliches.
»Die Situation hat sich geändert«, sagte Harald schließlich.
»Du warst lange weg, fast sieben Monate, und Julia hatte Zeit zum Nachdenken. Genug Zeit, um die Dinge in einem neuen Licht zu betrachten. Julia und ich… sind uns während deiner Abwesenheit nahe gekommen. Sehr nahe sogar. Sie heiratet mich aus freien Stücken, Rupert. Weil sie mich lieber mag als dich.«
»Lügner!«
Harald setzte ein kühles Lächeln auf. »Frag sie selbst! Sie wird dir das Gleiche sagen. Du hast wieder einmal gegen mich verloren, Rupert.«
Er wandte sich zum Gehen. Rupert riss sein Schwert aus der Scheide und setzte ihm nach. Harald warf sich herum.
Auch er hatte die Waffe in der Hand. Ihre Klingen trafen sich in einem Funkenregen, und dann gaben Ruperts Knie nach, und er brach auf der Treppe zusammen. Er versuchte sich hochzurappeln und schaffte es nicht. Er hatte seine letzten Kräfte in der Finsternis verbraucht und besaß nun keine Reserven mehr. Hilflos lag er auf den Marmorstufen, schwer atmend, das Schwert immer noch in der Hand. Als er langsam den Kopf hob, sah er Harald, der mit einem Lächeln auf ihn herunterschaute.
»Ruh dich erst mal aus, mein Lieber«, sagte er gönnerhaft.
»Du hast eine Menge durchgemacht, und ich möchte nicht, dass du meine Hochzeit versäumst.«
Harald schob sein Schwert ein, wandte sich ab und ging, während sein Bruder blutüberströmt liegen blieb. Rupert wollte sich aufrichten, aber seine Beine machten nicht mit.
Die Schmerzen in der linken Schulter wurden unerträglich, und das Dämonenblut auf seinen Kleidern stank so bestialisch, dass sein Magen rebellierte. Rupert legte den Kopf auf den Schwertarm und schloss die Augen.
Ich bin müde, dachte er elend. Ich habe mein Letztes gegeben. Nun soll mir endlich jemand die Last abnehmen. Ich bin so verdammt müde…
Er hörte, wie jemand die Treppe herunter auf ihn zukam, aber er hatte nicht die Kraft, den Kopf zu heben und nachzusehen, wer es war. Die Schritte hielten neben ihm an. Eine feste Hand nahm ihn an der gesunden Schulter und rollte ihn herum. Rupert stöhnte unwillkürlich. Als er die Augen aufschlug, sah er den Großen Zauberer, der sich mit sorgenvoll gerunzelter Stirn über ihn beugte.
»Warum zum Henker haben Sie nicht gesagt, dass Sie verletzt sind?«
»Nur ein paar Kratzer«, murmelte Rupert benebelt.
»Blödsinn!«, fauchte der Zauberer. Er kniete neben Rupert nieder, und auf ein Schnippen seiner kurzen, dicken Finger löste sich das Lederwams langsam von der tiefen Wunde in seiner Schulter. Blut floss reichlich, als der frische Schorf wieder aufriss. Der Zauberer pfiff leise durch die Zähne.
»Seht euch das an… glatt bis zum Knochen durchgebissen und das Schulterblatt an mehreren Stellen gesplittert. Ein Wunder, dass Sie es bis hierher geschafft haben! Nun halten Sie schon still!«
Die Finger des Zauberers tänzelten und zuckten so schnell, dass Rupert die Bewegungen nicht mitverfolgen konnte, und dann war der Schmerz in seiner Schulter plötzlich wie weggeblasen. Rupert drehte mühsam den Kopf und beobachtete verblüfft, wie sich der gesplitterte Knochen in der offenen Wunde zusammenfügte. Die Wundränder schlossen sich, und Sekunden später war nichts außer einer langen weißen Narbe zu erkennen. Rupert starrte den Wulst atemlos an und bewegte vorsichtig den Arm. Er gehorchte ihm. Ein verblüfftes Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus, während er den Arm immer wieder hin und her schlenkerte. Er fühlte sich an wie neu. Der Zauberer lachte leise, und aus dem Nichts erschien ein Glas Wein in seiner Hand.
»Da – trinken Sie das! Es wird Ihnen gut tun.«
Rupert schnupperte misstrauisch an dem trüben Gesöff, ehe er es in einem Zug hinunterkippte. Das Zeug schmeckte noch scheußlicher, als es roch. Er schüttelte sich und reichte das Glas mit einer Grimasse zurück.
»Kein guter Jahrgang, Sir.«
Der Große Zauberer grinste, und das Glas verschwand in einem schwefelgelben Rauchwölkchen. »Sie hätten die Medizin kosten sollen, bevor ich sie in Wein auflöste. Sie wird die Blutbildung beschleunigen und einige der Gifte aus Ihrem Körper vertreiben, aber was Sie mehr als alles andere brauchen, ist eine längere Ruhepause. Sehen Sie zu, dass Sie endlich ins Bett kommen! Und mich entschuldigen Sie jetzt bitte. Es wird höchste Zeit, dass ich mich mit Ihrem Vater unterhalte. Wir haben eine Menge zu diskutieren.«
Er zögerte, als wolle er noch etwas sagen, aber dann drehte er sich um und stapfte die Treppe zur Eingangshalle nach oben. Rupert blieb auf den Marmorstufen liegen und genoss den wunderbaren Frieden, der dem Nachlassen seiner Schmerzen folgte. Er bewegte den Arm erneut. Die Schulter war ein wenig steif, und der frische Narbenwulst spannte, aber alles in allem fühlte sich Rupert besser als seit Monaten.
Eine angenehme Schwere durchströmte ihn, und er war allen Ernstes versucht, einfach die Augen zu schließen und hier auf dem kalten Marmor einzuschlafen, aber er wusste natürlich, dass sich das nicht schickte. Beim Aufwachen würde er es bitter bereuen. Er seufzte bedauernd und versuchte sich mit dem Gedanken an ein dampfend heißes Bad und ein weiches Bett in einem warmen Schlafzimmer aufzubauen. Himmlisch.
Einfach himmlisch. Er kam langsam auf die Beine, schob das Schwert in die Scheide, streckte sich, gähnte und stieg die Treppe zum Haupteingang hinauf. Nach all den Monaten in der Wildnis sollte er tatsächlich wieder in einer behaglichen Umgebung schlafen. Und jeder, der ihn daran zu hindern versuchte, würde gerade noch lange genug leben, um diesen Versuch zu bedauern.
Die Bedrängnis und Angst, die ihn durch den Dunkelwald begleitet hatten, fielen von ihm ab, als er tiefer in die Burg vordrang und immer mehr dicke Mauerschichten zwischen sich und die lange Nacht legte. Es war ein langer Weg bis zu seinen Gemächern im Nordwestturm, aber die Vorfreude machte das wieder wett. Nach so langer Zeit in der Fremde genoss er die vertrauten Eindrücke. Aber je weiter er kam, desto häufiger runzelte er die Stirn, als ihm eine Reihe von bedrohlichen Veränderungen ins Auge fielen. Die Flüchtlinge waren überall. Sie drängten aus ihren Quartieren in die Korridore und Passagen. Die meisten rührten sich nicht von der Stelle, als Rupert vorbeikam, sondern starrten ihn nur leer und teilnahmslos an. Vor allem die Kinder taten Rupert Leid; sie saßen da, wo ihre Eltern sie hinbefahlen, und spähten mit großen, ängstlichen Augen in die Schatten ringsum. Rupert deutete die Zeichen richtig. Sie hatten sich zu lange im Dunkelwald aufgehalten, und die lange Nacht hatte sie geprägt.
Er versuchte einige der Kinder anzusprechen, doch sie wichen zurück und ließen sich nicht trösten.
In allen Kaminen loderten Feuer, die einen beißenden Qualm verbreiteten, da die Entlüftungsanlagen hoffnungslos überlastet waren. Dennoch herrschte in den Korridoren der Burg eine feuchte Kälte, und eine dünne Reifschicht bedeckte die alten Steinmauern. Die Gänge und Gemeinschaftsräume waren nur spärlich erhellt. In der Residenz des Waldkönigreichs verwendete man seit altersher Ampeln mit Fuchsfeuer-Moos als Beleuchtung; in diesem Jahr aber hatten der frühe Wintereinbruch und die Furcht vor den Dämonen verhindert, dass die Vorräte rechtzeitig ergänzt wurden. Noch gab es Fackeln und Öllampen, doch ihr flackerndes Licht erfüllte die engen Steinkorridore mit zu vielen unruhigen Schatten.
Einige Höflinge begleiteten Rupert; sie überbrachten ihm den neuesten Klatsch und berichteten in groben Zügen, was sich während seiner Abwesenheit ereignet hatte. Rupert hörte ungläubig zu, als sie ihm von dem gescheiterten Umsturzversuch und seinen Folgen erzählten, aber er war zu müde, um Konversation zu machen. Schließlich sprachen sie über Ereignisse, die er nicht hören wollte; er legte die Hand auf den Schwertgriff und starrte sie wütend an, bis sie die Botschaft verstanden und sich aus dem Staub machten. Rupert ging allein weiter. Einige der Neuigkeiten hörten sich aufregend an, aber er war zu müde, um sich genauer damit zu befassen.
Die robuste Eichentür zu Ruperts Gemächern hatte nie einladender ausgesehen. Er lehnte sich müde gegen das Holz und zögerte die Vorfreude auf sein Bett noch einen Moment hinaus.
»Rupert! Wo zum Henker warst du denn so lange?«
Er drehte sich um, und Julia schlang ihm stürmisch die Arme um den Hals, noch bevor er antworten konnte. Rupert presste sie an sich und vergrub das Gesicht in ihren langen blonden Haaren. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich glücklich und geborgen. Endlich schob sie ihn auf Armeslänge von sich weg und schaute ihm in die Augen. Beide strahlten um die Wette. Doch dann bemerkte Julia die harten Linien der Erschöpfung, die sich in Ruperts blutverkrustetes Gesicht gegraben hatten, und sie wurde ernst.
»Rupert, du bist verwundet! Was ist geschehen?«
»Ein paar hundert Dämonen wollten mich mit Gewalt daran hindern, zu dir zurückzukehren. Das ist ihnen schlecht bekommen. Mir geht es wieder gut, ehrlich! Aber wie geht es dir, Julia? Du siehst umwerfend aus.«
»Nun ja«, meinte Julia trocken, »der Eindruck wäre noch besser, wenn du meine neuen Kleider nicht mit Blut verschmiert hättest!«
Rupert trat einen Schritt zurück und musterte sie genauer.
Sie war modisch, aber praktisch gekleidet und wie die Damen des Hofes geschminkt. Das hüftlange Haar wurde von einem schlichten Lederband zusammengehalten, und an ihrem breiten Gürtel war gut sichtbar ein Schwert befestigt.
»Das ist dein Schwert«, sagte Julia, als sie seinen Blick bemerkte. »Du hast es mir im Dunkelwald gegeben, erinnerst du dich noch?«
»Ja, ich erinnere mich.«
Seine Stimme klang plötzlich hart und kalt. Julia sah ihn erstaunt an.
»Was ist los, Rupert?«
»Harald hat mich eben zu eurer Hochzeit eingeladen.«
Julia senkte den Kopf, weil sie seinen Blick nicht ertragen konnte. »Wir glaubten alle, du seist tot. Ich dachte, ich hätte dich für immer verloren. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das für mich war, so völlig allein in dieser Burg. Außerdem hatte ich in diesen Heiratsplänen von Anfang an kein Mitspracherecht. Und Harald… Harald war während deiner Abwesenheit sehr nett zu mir.«
»Ja«, sagte Rupert. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen.«
Julia fuhr auf dem Absatz herum und stürmte davon. Rupert schüttelte wütend den Kopf. Warum zum Henker hatte er nicht den Mund gehalten? Jetzt musste er ihr nachlaufen und sich entschuldigen und… Er ließ die Schultern hängen. Welchen Sinn sollte das alles haben? Sie hatte zugegeben, dass sie Harald heiraten würde. Rupert spähte den Korridor entlang, aber sie war bereits verschwunden.
Er betrat seine Gemächer, schloss die Tür, schob den Riegel vor und drehte den Schlüssel zweimal herum. Dann lehnte er sich gegen das massive Eichenholz, stieß einen langen Seufzer aus und ließ den Blick über sein Reich schweifen.
Fünf mal fünf Meter, ein Großteil davon durch Bett, Kleiderschrank und Waschbecken ausgefüllt. Schäbige Teppiche bedeckten den Boden, aber die nackten Steinwände waren kalt und schmucklos. Eine schmale Verbindungstür führte in sein Badezimmer. Rupert war nie ein Mensch gewesen, der sich zu Prunk und Üppigkeit hingezogen fühlte, und jeder außer ihm hätte sein Schlafgemach als schlicht und karg empfunden. Als Prinz des Herrschergeschlechts besaß er Anspruch auf eine richtige Suite und ein halbes Dutzend Kammerdiener, aber davon hatte er nie Gebrauch gemacht.
Diener standen immer dann im Weg herum, wenn man seine Ruhe haben wollte, und er konnte sich schließlich nicht in mehreren Räumen gleichzeitig aufhalten.
Rupert ging auf sein Bett zu und kehrte dann noch einmal um, um sich zu vergewissern, dass die Tür abgeschlossen war. Er fuhr mit dem Daumen über den schweren Eisenriegel, bis er spürte, dass er bis ans Ende vorgeschoben war. Seit dem Tag, da er zum ersten Mal aus dem Dunkelwald heimgekehrt war, empfand er Dankbarkeit, dass sein Zimmer keine Fenster hatte. Das bedeutete, dass er nur die Tür gegen Dämonen sichern musste. Mit dem Schwert in der Hand konnte er ganzen Horden von Dämonen gegenübertreten, aber seit jener ersten Reise durch die endlose Nacht hatte er Angst vor Monstern, die sich womöglich aus dem Dunkel anschlichen, während er schlief und wehrlos war. Er brauchte dringend Erholung. Er brauchte dringend Schlaf. Aber er wusste, dass er keines von beidem fände, solange er sich nicht völlig sicher fühlte. Er trat an den Kleiderschrank, schüttelte ärgerlich den Kopf und gab seiner Angst ein weiteres Mal nach. Er stemmte die Schulter gegen das Seitenteil und schob den massiven Kasten langsam vom Fleck, bis er die Tür verbarrikadiert hatte. Erst dann stolperte er zu seinem Bett und setzte sich müde auf die Kante.
Eine Öllampe brannte auf dem schlichten hölzernen Waschstand. In Metallhalterungen am Kopfende seines Betts steckten zwei frische Kerzen. Rupert entzündete sie mit der Öllampe, sorgfältig darauf bedacht, die Flamme nicht zu löschen. Der Gedanke, dass er in einem völlig dunklen Raum erwachen könnte, war ihm unerträglich. Er löste langsam den Lederriemen des Schwertgehenks und legte die Waffe in Reichweite auf den Boden neben dem Bett. Und dann saß er einfach da und starrte die kahle Wand an.
Der Blaue Mond stand voll am Himmel. Die Finsternis hatte das Waldkönigreich verschlungen, weil er nicht rechtzeitig zurückgekehrt war. Und Julia…
Ich hätte dich lieben können, Julia.
Rupert legte sich auf das Bett, ohne die blutgetränkten Sachen auszuziehen, und flüchtete sich in den Schlaf. Seine Träume waren düster und unruhig.
Lord Darius hastete ruhelos durch die pechschwarzen Tunnel und murmelte leise vor sich hin. Seine dünne, quängelnde Stimme kam hohl von den mächtigen Steinwänden zurück und schien noch in der feuchten Stille widerzuhallen, wenn er längst verschwunden war. Von Zeit zu Zeit vernahm er das schwache Trippeln vieler winziger Pfoten, wenn die Ratten, die in den Entlüftungsschlitzen hausten, bei seinem Näherkommen in ihre Löcher flüchteten. Darius beachtete sie nicht.
Sie waren zu klein und ängstlich, um ihn anzufallen, solange er in Bewegung blieb. Ein schwacher Lichtschein tauchte im Dunkel vor ihm auf, wie ein einzelner Stern in einer mondlosen Nacht. Darius verharrte und kauerte reglos in der Finsternis, während er argwöhnisch den unsteten hellen Fleck weiter vorn beobachtete. Er hörte nichts außer seinem eigenen gequälten Atem. Nach einer Weile zog er den Dolch aus dem Ärmel und schlich vorsichtig weiter. Breite Streifen schmutzig goldenen Lichts fielen von einer Seitenöffnung hoch in der Tunnelwand herein. Ein rostiges Metallgitter teilte das Licht in ein Dutzend heller Strahlenbündel, in denen die Staub- und Rußteilchen der Tunnelluft tanzten. Darius blieb am Rande des Lichtscheins stehen und biss sich auf die Unterlippe. So viel Licht bedeutete, dass er sich einem bewohnten Teil der Burg näherte, und das bedeutete Essen und Trinken und die Gelegenheit, sich an seinen Feinden zu rächen.
Aber er musste vorsichtig sein. Seit er in das Labyrinth der verborgenen Tunnel und Entlüftungsrohre geflohen war (Wie lange lag das zurück? Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren.), hatte er Angst davor, in die Burg selbst zurückzukehren.
Selbst als der Hunger und Durst ihn schließlich dazu zwangen, seine Tunnel eine Weile zu verlassen, lebte er in der ständigen Furcht, von den Männern des Königs aufgespürt und gefasst zu werden. Er hegte keinen Zweifel daran, dass die Wachen ihn auf der Stelle töten würden. Er selbst hätte den Befehl dazu erteilt. Es war nur logisch. Und so verließ er das Dunkel nur, wenn es unbedingt sein musste, schlüpfte durch geheime Wandtüren und verborgene Entlüftungsschächte, wenn er sicher sein konnte, dass niemand ihn bemerkte. Er stahl Brot, Fleisch und Wein, nie so viel, dass es auffiel, und nie genug, um den Hunger zu stillen, der in seinen Eingeweiden nagte, wann immer er wach war.
Darius starrte in den goldenen Schimmer, der vor ihm lag, und kämpfte gegen den Impuls an, seine Tunnel zu verlassen und die Entdeckung zu riskieren, nur um wieder im Licht leben zu können. Die ständige Dunkelheit der verschlungenen Korridore lastete auf ihm und höhlte ihn unbarmherzig aus wie Wasser, das unentwegt auf einen Stein tropfte. Darius fauchte lautlos und schüttelte störrisch den Kopf. Noch war die Zeit nicht reif. Er hatte geschworen, in seinem Labyrinth zu bleiben, bis ihn sein Dunkler Herr und Meister rief und ihm Macht über seine Feinde verlieh. Wahre Macht. Zaubermacht. Er spürte, wie sie in ihm brannte und stetig stärker wurde. Der Dunkle Fürst hatte seine lang verschmähten Talente erkannt und zum Leben erweckt. Darius lächelte. Bald würde seine Macht brennen wie ein Leuchtfeuer, und dann würde er das Dunkel verlassen und Rache üben. Bis dahin wollte er warten, denn auch wenn er sich danach sehnte, wieder im Licht zu wandeln, der Wunsch nach Rache war größer. Erheblich größer.
Darius trat in das goldene Licht und stellte sich auf die Zehenspitzen, um durch die Öffnung zu spähen. Die Helligkeit tat seinen Augen weh, und Tränen liefen ihm über die schmutzverklebten, stoppeligen Wangen, aber er konnte die Blicke nicht abwenden. Nach einer Weile schmerzten ihm die Knöchel. Er verdrängte das unangenehme Ziehen so lange wie möglich, aber dann musste er die Füße ausschütteln und sich von dem tröstlichen goldenen Schein entfernen. Er blieb nachdenklich stehen, wog die Für und Wider ab und zog aus dem Ärmel den letzten kostbaren Kerzenstummel. Mit dem Dolchgriff schlug er Funken aus dem Metallgitter, bis der Kerzendocht endlich aufglomm. Im nächsten Moment umfing ihn der Tunnel, als habe er nur auf ein wenig Licht gewartet, um seine Existenz zu manifestieren. Darius zog erschrocken den Kopf ein, als er merkte, dass die Decke nur wenige Zentimeter über seinem Scheitel verlief. Auch die Wände rückten näher und machten ihm bewusst, wie entsetzlich eng ihn der Tunnel umschloss. Er stolperte hierhin und dorthin, und überall starrte ihm, kaum eine Handbreit entfernt, das alte Mauerwerk höhnisch entgegen. Kalter Schweiß lief ihm von der Stirn, und er stöhnte, wimmerte und fuchtelte ziellos mit den Händen, während ihn blanke Panik erfasste. Er drehte sich im Kreis, immer wieder, und konnte nicht stillstehen. Er war in den steinernen Eingeweiden der Burg lebendig begraben, Meilen entfernt von Licht, Luft und Freiheit. Plötzlich begann er laut zu schreien und mit den Fäusten gegen die Wand zu hämmern, bis er erschöpft zusammenbrach und schluchzend in den Schlick fiel, der den Tunnelboden bedeckte. Eine Zeit lang lag er da, blind vor Angst. Dann verklang sein Schluchzen allmählich, während die Panik nachließ und nichts außer einer schlichten, überwältigenden Müdigkeit zurückblieb. Er setzte sich auf und wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht. Er spürte etwas in der geschlossenen Faust, und als er die Finger öffnete, sah er, dass er den Kerzenstummel zu einer formlosen Wachsmasse zerdrückt hatte. Er schniefte noch einmal und warf das Wachs weg.
Er rappelte sich mühsam auf, fand den Dolch, den er fallen gelassen hatte, und kehrte zurück in das goldene Licht, das durch die Gitteröffnung einfiel. Er rieb an dem stinkenden Schlick herum, der sich in seine Kleidung gesogen hatte, und wünschte sich flüchtig, er hätte einen Spiegel zur Hand. Er fragte sich oft, wie er jetzt aussehen mochte. Dass er Gewicht verloren hatte, merkte er daran, wie ihn die Kleidung umschlotterte, aber er spürte, dass er sich auch sonst verändert hatte. Er fror ständig und ermüdete schnell, doch das störte ihn kaum noch. Er zuckte die Achseln und schob den Gedanken beiseite. Es war nicht wichtig. Nichts war mehr wichtig, bis auf das Gesicht, das stets vor ihm schwebte, selbst in den tiefsten, dunkelsten Gängen. Haralds Gesicht. Das kühle Lächeln auf den Zügen des Prinzen, als er Darius an seine Feinde verriet.
Tut mir Leid, Darius. Heutzutage kann man keinem Menschen mehr trauen.
Darius kauerte in dem goldenen Lichtkreis nieder. Zu beiden Seiten sah er die schmutz- und rußverschmierten Wände, an denen das Wasser in dünnen Rinnsalen zu Boden perlte und dort einen glitschigen Film bildete. Das Jahrhunderte alte Mauerwerk, das ihn umgab, wies Risse und Unebenheiten auf, und die Entwässerungskanäle, die das Kondenswasser und andere Ablagerungen ins Freie leiten sollten, waren hoffnungslos verstopft. Die Burg wurde alt und marode. So wie er. Er runzelte die Stirn und zählte mit leiser Stimme die Dinge auf, die er sich vorgenommen hatte, die Neuerungen.
Er hatte so viele Pläne gehabt… doch die konnte er nun vergessen.
Seine Rebellion war gescheitert. Vorbei. Unterdrückt, bevor sie richtig begonnen hatte. Er lachte leise, und es dauerte lange, bis der hässliche Laut in wispernden Echos erstarb.
Was ihm blieb, war seine Rache. Alle jene, die ihn belogen und ausgetrickst und in die Dunkelheit getrieben hatten, sollten mit ihrem Blut dafür bezahlen, was sie ihm angetan hatten. Das hatte ihm der Dunkle Fürst versprochen.
Darius umklammerte den Dolch noch fester und bewunderte die goldenen Lichtreflexe auf der schmalen Stahlklinge.
Nur nahe dem Heft wurde sie von braunen Flecken getrockneten Bluts verunziert. Darius runzelte die Stirn. Schade um Cecelia. Aber zweifellos war er ohne sie besser dran; sie hatte ihm nur im Weg gestanden und ihn aufgehalten. Hatte stets auf ihm herumgehackt. Und dennoch vermisste er sie immer noch. Mit Cecelia hatte er reden können, auch wenn sie nur die Hälfte davon verstand, was er sagte. Schade um Cecelia.
Aber sie hätte ihn nicht aufhalten sollen.
Darius erstarrte plötzlich, als er nicht weit entfernt das Auf und Ab von Stimmen hörte. Sie schienen sich zu nähern, weil sie stetig lauter wurden, klangen aber sonderbar verschwommen, sodass er nicht verstehen konnte, was gesprochen wurde. Der Minister presste sich erschrocken gegen die Wand, als sie unvermittelt wie Donner durch den engen Tunnel dröhnten und dann verstummten, mitten im Wort abgeschnitten. Darius lächelte unbehaglich und entspannte sich wieder.
Der Schall wanderte auf seltsamen Wegen durch die Entlüftungsschächte und hallte endlos wider, bis er nur noch ein Wispern war, aber hin und wieder drangen durch eine Laune der Akustik Stimmen und Bruchstücke von Unterhaltungen aus der Burg so deutlich an sein Ohr, als befände er sich im gleichen Raum wie die Sprechenden. Darius wusste um das Schicksal seiner Mitverschwörer. Mehr als einmal war er versucht gewesen, die Tunnel zu verlassen und den König zu bitten, dass er ebenfalls ins Exil gehen durfte, aber sein Stolz hinderte ihn daran. Er musste Rache üben, sonst wäre sein langes Umherirren im Dunkeln umsonst gewesen.
Er wandte sich von der Gitteröffnung ab und wanderte tiefer in den Tunnel hinein, fort von dem goldenen Lichtschein.
Bald umhüllte ihn wieder die gewohnte Schwärze. Darius murmelte leise vor sich hin, während er den langen, engen Tunnel entlanghastete; er zählte voller Vorfreude die blutigen Strafen auf, die er sich für seine Feinde ausgedacht hatte.
Bald, versprach er sich. Bald.
Der Große Zauberer langweilte sich. Der Champion hielt eine Konferenz mit dem König ab und durfte nicht gestört werden.
Rupert war verschwunden, und alle anderen schienen zu beschäftigt oder zu müde, um sich mit ihm zu unterhalten.
Der Zauberer schlenderte durch die endlosen Korridore der Burg, um sich ein wenig umzusehen, aber auch das ödete ihn bald an. Er sehnte sich nach frischer Luft und mehr Bewegungsfreiheit. Die Burg enthielt zu viele Erinnerungen. Er fand eine stille Ecke, setzte sich auf den Boden und versank rasch in Trance. Sein Astralleib löste sich vom Körper, schwebte nach oben und flog durch die Korridore zurück zur Eingangshalle und in den Hof hinaus, ein unsichtbares Wesen, leiser als ein Windhauch.
Der Burghof war überfüllt mit Obdachlosen, und die hohen Mauern aus Stein wirkten selbst unter freiem Himmel unerträglich einengend. Der Zauberer glitt rasch über die gebeugten Köpfe der teilnahmslosen Flüchtlinge hinweg, schwang sich über den Burgwall und flog hinaus in die lange Nacht.
Die vom Eis umschlossene Residenz schimmerte spukhaft in ihrem eigenen Silberglanz wie eine einzelne riesengroße Schneeflocke. Das Licht reichte nicht weit in den Dunkelwald. Einst war der Wald voller Leben gewesen, doch nun regte sich nichts außer Dämonen, die lautlos durch die ewige Nacht schlichen. Nur die Bäume selbst waren, wenngleich morsch und halb verrottet, auf schreckliche Art lebendig. Der Zauberer hörte sie wimmern.
Um ihn röhrte die Dunkelheit wie ein lang gezogenes Donnergrollen, und über ihm heulte unaufhörlich der Blaue Mond. Die Sinne des Zauberers enthüllten weit mehr von der Welt, als die meisten Menschen sahen, und was jedem gewöhnlichen Beobachter als stumme, statische Szene erschienen wäre, war für den Großen Zauberer mit Lärm und wildem Aufruhr erfüllt. Zu seiner Linken und zu seiner Rechten verfolgten die Geister der Vergangenheit ihre Schritte zurück; Momente, in der Zeit gefangen wie in Bernstein eingeschlossene Insekten. Hin und wieder verschwand ein Geist aus seinem Blickfeld wie eine geplatzte Seifenblase, wenn das Hier und Heute die vage Erinnerung an das Einst überlagerte.
Pfade der Macht, alt und stark, leuchteten rund um die Burg, unvermindert hell trotz des Dunkelwaldes. Der Zauberer runzelte die Stirn. Er spürte, wie sich tief in der Erde etwas regte, ein Wesen aus grauer Vorzeit, das sich hin und wieder aufbäumte und dann wieder in seinen langen Schlaf hinüberdämmerte. Der Zauberer entspannte sich ein wenig. Der Wald war älter, als seine Bewohner ahnten, und die Kreaturen, die hier lange vor der Menschheit gelebt hatten, waren nicht vollständig ausgerottet. Nur wenige wussten um ihren leichten Schlummer.
Der Zauberer hob den Kopf, als ein Dämon aus dem Dunkelwald trat. Die Kreatur ging unsicher auf zwei Beinen und ähnelte einem Menschen, aber von seinen Kiefern quoll unentwegt ein öliges grünes Feuer, das zischend und Funken sprühend zu Boden tropfte. In seinem breiten Maul saßen riesige Zahnhöcker, und seine Augen loderten gelb in der Nacht. Der Zauberer sah ihn prüfend an und hob eine Hand.
Der Dämon blieb stehen, fauchte lautlos und floh zurück in den Dunkelwald. Ein grimmiges Lächeln spielte um die Lippen des Zauberers.
Als der Dämon in der endlosen Nacht verschwand, brüllte etwas tief in der Finsternis seinen Hunger heraus, und der Zauberer zog nachdenklich die Stirn in Falten. Gegen Ende des letzten Dämonenangriffs hatte er gespürt, dass sich etwas Grauenhaftes auf die Burg zubewegte. Im letzten Moment hatte es innegehalten, anstatt seine Macht auf die Probe zu stellen, aber seither spielten sich Veränderungen im Dunkelwald ab, die dem Zauberer nicht entgingen. Die Dämonen sammelten sich zu einer neuen Attacke, und mit ihnen… Der Große Zauberer erschauerte plötzlich, obwohl er seinen Körper verlassen hatte. Unter dem Licht des Blauen Mondes waren Wesen aus einem Schlaf erwacht, der bis ans Ende der Zeit hätte dauern sollen, um erneut die Welt der Menschen zu durchwandern. Fleisch gewordene Albträume und Schreckensbilder regten sich unruhig in der endlosen Nacht und warteten voller Ungeduld auf den Befehl zum Angriff gegen die Burg.
Der Zauber zuckte die Achseln und schwebte wieder in die Lüfte. Der Lauf der Dinge ließ sich nicht aufhalten, und es hatte wenig Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Er schob die düsteren Gedanken beiseite und flog langsam über den Burggraben. Sinnend betrachtete er die dicke Eisschicht, die das Wasser bedeckte. Ein großer dunkler Schatten bewegte sich träge unter dem Eis und verfolgte seinen Weg mit. Der Große Zauberer verharrte mitten im Flug und der Schatten in der Tiefe hielt ebenfalls inne. Neugierig zog der Zauberer die Augenbrauen hoch. Allem Anschein nach hauste irgendein Lebewesen im Burggraben, auch wenn er sich nicht recht vorstellen konnte, was es war. Die Tatsache, dass es seinen Astralleib wahrnehmen konnte, verblüffte ihn besonders.
Doch was immer es sein mochte, es war unter dem Eis gefangen. Der Zauberer schwebte tiefer, bis er sich dicht über einem Riss im Eis befand, und spähte aufmerksam ins Wasser. Der dunkle Umriss lauerte unschlüssig, und dann zuckte der Zauberer instinktiv zurück, als er plötzlich auf die Unterseite der Eisdecke zuschoss. Der Riss verbreiterte sich und barst, und ein einzelnes rosafarbenes Stielauge tauchte in dem Spalt auf. Der Zauberer ließ sich in sicherer Entfernung auf dem Eis nieder.
»Hallo«, begann er höflich, »wer bist du?«
Eine dumpf blubbernde Stimme erreichte ihn. Er war sich nicht sicher, ob sie aus dem Riss im Eis kam oder unmittelbar in seine Gedanken eindrang.
Ich lebe hier, sagte die Stimme. Im Wasser. Im Burggraben. Mein Zuhause. Mein Name… das liegt weit zurück. Sehr weit zurück. Wer bist du?
»Ich bin der Große Zauberer. Ein Magier.«
Das Auge kreiste auf seinem Stiel, um ihn besser betrachten zu können. Ich glaube, ich erinnere mich. Wir sind uns begegnet. Am Schwarzen Turm.
»Ja, richtig!« Der Zauberer nickte. »Das ist schon einige Jahre her, nicht wahr? Du hattest mich bei der Arbeit gestört, und da verwandelte ich dich in irgendetwas und schickte dich zurück.«
Lange her, bestätigte die dumpfe Stimme, die nichts Menschenähnliches an sich hatte. Lange her. Jetzt lebe ich hier.
Im Burggraben. Mein Zuhause.
»Die Zeit vergeht so schnell«, sagte der Zauberer. »Tut mir Leid, mein Freund. Ich verwandle dich zurück…«
Nein! Bitte nicht. Ich f ühle mich hier glücklich als Hüter des Burggrabens. Mehr will ich nicht. Mehr wollte ich nie. Im Sommer kommen Fische, Vögel und Insekten, und ich höre ihre Stimmen, höre ihre Gesänge. Der Wind, der Regen und der Wald sind jetzt ein Teil von mir, und ich bin ein Teil von ihnen. Ich spüre, wie die Jahreszeiten vergehen und wie die Welt sich dreht. Ich f ühle den langsamen, gleichmäßigen Puls des Lebens. Das kann ich nicht auf geben. Ich möchte kein Mensch mehr sein.
»Ja«, sagte der Große Zauberer. »Das verstehe ich. Ich möchte es auch nicht. Aber kann ich sonst irgendetwas für dich tun?«
Das Stielauge nickte nachdenklich. Besuch mich manchmal, sagte die blubbernde Stimme. Rede mit mir! Manchmal f ühle ich mich einsam und sehne ich mich einer Menschenstimme.
»Ich werde kommen, wann immer ich kann«, erklärte der Zauberer.
Versprochen?
»Versprochen.«
Gut, gut. Das Stielauge schwenkte ein wenig zur Seite und starrte an ihm vorbei in die Finsternis. Die lange Nacht ist hereingebrochen, Zauberer. Im Innern der Burg wärst du sicherer.
»Du auch.«
Blubberndes Gelächter. Die Dämonen lassen mich in Ruhe.
Sie hüten sich, mit mir zu kämpf en. Kehr zurück in die Burg, Großer Zauberer! Kehr zurück ins Licht, in die Nähe anderer Menschen. Aber komm wieder, wenn die Nacht vorbei ist!
Bitte!
»Natürlich«, sagte der Zauberer. »Leb wohl, mein Freund!« Er wandte sich ab und schwebte wieder in die Lüfte. Das Stielauge starrte ihm nach, bis er hinter der Burgmauer verschwunden war. Dann betrachtete es kurz die vorrückende Dunkelheit und tauchte mit einem leisen Schmatzgeräusch unter. Der Riss in der Eisdecke schloss sich, und die verschwommene dunkle Gestalt glitt langsam durch das kalte Wasser des Burggrabens.
Rupert erwachte von einem lauten Pochen. Jemand hämmerte beharrlich gegen die Tür. Er rollte sich auf den Rücken und starrte zur Zimmerdecke hinauf, während seine Träume zögernd den Rückzug antraten. Dann schoss er kerzengerade in die Höhe und griff nach dem Schwert, das auf dem Boden neben dem Bett lag. Mit der Waffe in der Hand fühlte er sich einfach sicherer. Er warf einen Blick auf die Öllampe; sie war ausgegangen, aber die beiden Kerzen brannten noch. Er spähte in die Schatten, die in den Ecken seines Zimmers lauerten, und versuchte sich zu erinnern, was ihn geweckt hatte. Das Hämmern begann von neuem, und etwas in Ruperts Hinterkopf schrie: Dämonen, Dämonen Dämonen! Er schüttelte den Kopf und atmete tief durch, und die wilde, unlogische Furcht, die sein Herz zum Rasen gebracht hatte, verebbte langsam zu einem vertrauten Hintergrundmurmeln. Vorsichtig schwang er die Beine über die Bettkante, zuckte zusammen, als er die schmerzenden Glieder spürte, und legte nach kurzem Zögern das Schwert neben sich auf das Bett. Wer immer das sein mag, dachte er grimmig, hat hof f entlich einen guten Grund f ür diese Störung! Er rieb sich die verklebten Augen und trat zögernd auf den Schrank zu, der den Eingang versperrte.
Draußen klopfte sein Besucher erneut mit einigem Nachdruck.
»Wer ist da?«, knurrte Rupert und streckte sich, bis seine Gelenke knackten.
»Der Champion, Sire. Sie werden gebraucht.«
Seit wann?, dachte Rupert finster. »Also gut. Warten Sie einen Augenblick!«
Er stemmte die Schulter gegen den Schrank und rückte das schwere Möbelstück mühsam an seinen unsprünglichen Platz.
Breite Streifen auf dem Läufer vor der Tür verrieten, wo der Schrank in der Nacht gestanden hatte. Rupert bückte sich und drehte den Teppich sorgsam um. Wenn sich herumsprach, dass er seine Tür verbarrikadierte, ehe er sich schlafen legte, konnte er sich bei Hofe nicht mehr sehen lassen. Er schob den Riegel zurück und schloss in aller Ruhe auf. Was immer ihm der Champion zu sagen hatte, war vermutlich eine unangenehme Nachricht. Schließlich öffnete er die Tür und sah den Ersten Krieger des Landes feindselig an.
»Sind Sie sicher, dass Ihre Botschaft nicht warten konnte?«
»Ich sehe, dass es Ihnen wieder besser geht, Sire.«
Rupert starrte ihn nur an. Der Champion schüttelte betrübt den Kopf.
»Sie wollen doch nicht behaupten, dass Sie noch müde sind? Sie haben fast vier Stunden geschlafen.«
»Vier Stunden?« Rupert sah sich nach einem schweren Gegenstand um, mit dem er dem Champion den Schädel einschlagen konnte, und gab den Gedanken wieder auf, weil die Durchführung zu viel Kraft gekostet hätte. Er lehnte sich müde gegen den Türstock und musterte den Champion, der wie immer gelassen, ausgeruht und tatendurstig wirkte. »Heraus mit der Sprache, Sir Champion! Was ist passiert, während ich schlief?«
»Leider nicht viel, Sire. Die Dämonen lauern immer noch jenseits des Burgwalls, während der König und der Große Zauberer streiten, dass die Fetzen fliegen.«
»Klasse«, murmelte Rupert. »Echt Klasse!«
»Deshalb«, fuhr der Champion lässig fort, »fand ich, es könnte nicht schaden, wenn Sie die Kampfhähne zur Vernunft brächten.«
»Was schenkt Ihnen die Überzeugung, dass die beiden auf mich hören werden?«
»Sie wissen am besten über den Dunkelwald Bescheid, Sire. Niemand hat ihn öfter durchquert als Sie, ohne auf der Strecke zu bleiben.«
»Und?«
»Und Sie sind vermutlich das einzige Mitglied des Hofes, das nicht sein eigenes Süppchen kocht«, sagte der Champion.
»Ich kann es ja mal versuchen«, meinte Rupert mit einem Achselzucken. Er kehrte zurück ins Zimmer und schnallte sein Schwert um. Er hatte es nun so lange getragen, dass er sich ohne das Gewicht an der Hüfte beinahe nackt vorkam.
Alles in allem fühlte er sich nach den vier Stunden Schlaf doch ein wenig besser. Die linke Schulter war nicht mehr steif, und der frische Narbenwulst spannte kaum, wenn er den Arm bewegte. Die Müdigkeit konnte er verdrängen; darin hatte er inzwischen Übung. Er fuhr sich mit den Fingern durch das wirre Haar, zog das Lederwams gerade und schaute an sich herunter. Vier Stunden unruhiger Schlaf hatten seine blutverschmierte Kleidung nicht sauberer gemacht. Einen Moment lang war Rupert versucht, rasch in ein paar Sachen zu schlüpfen, die der Hofetikette angemessen waren, aber dann dachte er: Vergiss es! Er würde es überleben, wenn die Herrschaften über ihn die Nase rümpften. Also zog er in aller Ruhe den Gürtel fest und trat auf den geduldig wartenden Champion zu.
»Meinetwegen können wir gehen!«
Die Mundwinkel des Champions zuckten, als er einen Blick auf Ruperts Furcht einflößendes Äußeres warf. »Sie werden ihre Aufmerksamkeit wecken, Sire.«
»Gut so«, sagte Rupert und setzte entschlossen einen Fuß vor den anderen.
Prinz Rupert und der Champion blieben im Vorraum stehen und wechselten einen vielsagenden Blick. Obwohl die Doppeltüren zum Thronsaal fest geschlossen waren, drang der Streit bis zu ihnen durch. Rupert schüttelte den Kopf, trat energisch vor und stieß die Türflügel auf. Eine mächtige Klangwoge toste über ihn hinweg, während er auf der Schwelle stand und sich umsah – ein tierischer Lärm, der nackte Angst und Wut verriet. Die Höflinge begriffen endlich, dass die lange Nacht bis zur Residenz vorgedrungen war, und der Anblick der Finsternis trieb sie an den Rand des Wahnsinns. Die vornehmen Damen und Herren liefen aufgeregt hin und her, mit schrillen Stimmen und erschrockenen Augen, wanderten von einer Gruppe zur nächsten, wie Bienen, die ziellos von Blüte zu Blüte taumeln. Andere drängten sich zusammen, nahmen von nichts Notiz und klammerten sich weiterhin an ihre tröstlichen Lügen. Alle Männer im Saal trugen Schwerter, selbst jene, die noch nie im Leben eine Waffe in die Hand genommen hatten. Und überall sah Rupert geballte Fäuste und verzerrte Gesichter, Zorn, Furcht und unverhülltes Entsetzen. Der Dunkelwald hatte die Burg erreicht.
Am anderen Ende des Saals saß König Johann mit steifem Rücken auf seinem Thron, flankiert von zwei Gardesoldaten.
Seit wann benötigt er an seinem eigenen Hof den Schutz von Bewaf f neten? Rupert runzelte verwundert die Stirn. Der König bedachte den Großen Zauberer, der stolz aufgerichtet vor ihm stand, mit eisigen Blicken, und Rupert musste nicht hören, was die beiden sagten, um zu wissen, dass sie sich ein erbittertes Wortgefecht lieferten. Sein Stirnrunzeln vertiefte sich, als er ihre Mienen studierte. Ärger war darin zu lesen, Ärger und Angst, aber hinter dieser verständlichen und für alle sichtbaren Reaktion lag noch etwas anderes verborgen – vielleicht Verrat. Verrat auf beiden Seiten.
Er war ein Verräter. Ein Verräter, ein Feigling und ein Trunkenbold.
Rupert wandte den Blick ab. Zur Rechten des Königs stand Harald in glänzender Rüstung, jeder Zoll der Prinz. Mit eindrucksvollem Muskelspiel wechselte er von einer Heldenpose in die andere. Rupert lächelte grimmig. Harald hatte diese Rolle immer schon weit besser beherrscht als er selbst. Und dann entdeckte er Julia, die sich bei Harald untergehakt hatte.
Sein Lächeln verflog, und nur die Bitterkeit blieb zurück. Er beobachtete wortlos, wie Julia mit einer vertrauten Geste Haralds Arm tätschelte. Harald flüsterte ihr etwas ins Ohr, das sie zum Lachen reizte. Dann schauten beide instinktiv zum Eingang und entdeckten Rupert, der sie beobachtete.
Julia zuckte bei seinem ruhigen Blick zusammen und starrte trotzig zurück. Harald lächelte und verneigte sich höflich.
Rupert drehte den Kopf zur Seite. Er fühlte sich müde, so unendlich müde. Einen Moment lang kämpfte er gegen den übermächtigen Wunsch an, einfach in sein Zimmer zurückzugehen, sich ins Bett zu legen und zu schlafen, schlafen, schlafen, bis alles vorbei war und niemand mehr Forderungen an ihn stellte. Der Moment verging, aber die Müdigkeit blieb.
Rupert seufzte unhörbar. Noch war ihm keine Ruhe gegönnt.
»Sehen Sie sich das an!«, sagte der Champion angewidert und deutete mit dem Kinn auf die Höflinge. »Die lange Nacht hat die Burgtore erreicht, und die feinen Damen und Herren streiten und zetern wie eine Schar kleiner Kinder im Sandkasten. Als Nächstes werden sie sich anspucken und an den Haaren zerren.«
Rupert musste unwillkürlich lachen. »Wissen Sie, Sir Champion, ich glaubte anfangs wirklich, der Große Zauberer könnte einige unserer Probleme lösen… Ich hätte es besser wissen müssen.«
Die Miene des Champions wurde düster. »Ich hatte Sie gewarnt, Sire. Ich traue dem Großen Zauberer nicht weiter, als ich ein nasses Kamel werfen könnte.«
»Weshalb haben Sie dann Ihr Leben aufs Spiel gesetzt, um mich auf einer Reise zu begleiten, deren einziger Zweck darin bestand, den Zauberer zur Rückkehr zu überreden?«
»Weil der König es mir befahl«, erklärte der Champion.
»Deshalb.«
»Oh, Mann!« Rupert schüttelte den Kopf. »Ich denke, wir bereiten dem Geschrei jetzt ein Ende, damit endlich etwas vorangeht. Wenn die so weitermachen, verliert der Große Zauberer noch die Geduld, und wir stehen plötzlich vor einem Thronsaal voll verdutzt dreinblickender Kröten!«
»Er wird es nicht wagen, seine Magie gegen den Hof anzuwenden!«
»Da wäre ich nur halb so sicher«, meinte Rupert. »Der Große Zauberer besitzt den gesunden Menschenverstand und den Selbsterhaltungstrieb eines depressiven Lemmings.«
Er betrat den Saal und fand sich im Nu von den blind umherlaufenden Höflingen eingeschlossen. Der Lärm war ohrenbetäubend und das Gedränge so dicht, dass es für den Prinzen kaum ein Durchkommen gab. Er erspähte eine Lücke in der Menge, aber im nächsten Moment blockierte ein Hofschranze den Weg. Rupert versuchte sich an ihm vorbeizuschlängeln, doch der Mann schoss ihm einen gehässigen Blick zu und wich keinen Schritt zur Seite. Der Prinz packte den Höfling an der Schulter, drehte ihn herum, holte ihn mit einem Fausthieb von den Beinen und stieg über ihn hinweg.
Die am nächsten stehenden Lords und Ladies wollten empört protestieren, aber als sie die Miene des Prinzen sahen, machten sie hastig eine Gasse frei. Rupert schritt ungehindert auf den Thron zu, und das Stimmengewirr erstarb, als eine Gruppe nach der anderen die grimmige, blutverkrustete Gestalt in ihrer Mitte bemerkte. Schweigend starrten sie ihn an.
Vor den Stufen des Throns blieb der Prinz schließlich stehen. Der König und der Zauberer stritten weiter, zu vertieft in ihren Disput, um Ruperts Anwesenheit oder die plötzliche Stille zu bemerken. Rupert erhaschte einen Blick seines Bruders. Harald trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und Sorgenfalten auf der Stirn beeinträchtigten seinen glatten, selbstgefälligen Gesichtsausdruck. Die Zeit im Dunkelwald hatte Rupert verändert, und zum ersten Mal spürte Harald eine leise Furcht, die ihm ein Kribbeln im Nacken verursachte. Der blutverschmierte Fremde mit den kalten Augen hatte nichts mit dem stillen, nachgiebigen jüngeren Bruder gemeinsam, den er so viele Jahre lang unterdrückt hatte.
Harald starrte zu Boden, weil er Ruperts Blick nicht länger ertragen konnte. Ohne zu wissen warum, hatte Harald plötzlich Angst. Der Tod schien Rupert anzuhaften wie ein Leichentuch – fast, als habe er einen Hauch der endlosen Nacht mit in den hell erleuchteten Thronsaal gebracht. Ein Frösteln überkam Harald, und er merkte, dass es sich nicht unterdrücken ließ. Er versuchte sich auf das Streitgespräch zwischen seinem Vater und dem Zauberer zu konzentrieren und achtete nicht auf den kalten Schweiß, der ihm auf die Stirn trat.
»Wir können uns nicht ewig hinter diesen Mauern verkriechen!«, schrie der König. »Wenn wir die Dämonen nicht angreifen, werden sie die Burg bestürmen.«
»Du bist entweder blind oder verrückt!«, knurrte der Große Zauberer. »Du redest, als würde das Waldreich immer noch vom Dunkelwald belagert. Gewöhn dich an den Gedanken, Johann – das Waldreich gibt es nicht mehr! Draußen findest du nichts außer der langen Nacht. Jenseits dieser Mauern herrscht völlige Finsternis, die nur von Dämonen durchstreift wird. Von Dämonenscharen, um genau zu sein! Jedes Heer, das du ihnen entgegenschickst, wird allein durch ihre Überzahl vernichtet. Auf einen Soldaten kommen tausend dieser Kreaturen. Jeder, der die Burg verlässt, ist zum Tod verurteilt.«
»Und was rätst du uns?«, fragte der König mit gepresster Stimme. »Dass wir in unserem kleinen Gefängnis ausharren, bis die Mächte der Finsternis noch stärker werden? Bis der Dämonenfürst uns persönlich holt? Ich habe bereits jetzt nicht mehr genügend Männer, um die Burgmauern zu bewachen. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Dämonen über die Wälle klettern und uns alle niedermetzeln.«
»Ich brauche Zeit«, erklärte der Zauberer. »Es gibt Bannformeln, die gegen die Dämonen helfen müssten, aber es dauert eine Weile, sie vorzubereiten. Du wirst es doch schaffen, die Finsternis noch ein wenig länger abzuwehren!«
»Womit denn?«, fuhr der König auf. Rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangen. »Die Männer sterben mir weg. Es fehlt uns an Lebensmitteln, Wasser, Feuerholz… Ich bin nicht sicher, ob ich die Dämonen zurückwerfen könnte, wenn sie in diesem Moment einen Sturmangriff wagten. Nun tu doch endlich etwas, verdammt noch mal!
Du bist der Große Zauberer! Tu etwas oder wir sind alle dem Tod geweiht!«
»Immer ich, nicht wahr? Immer soll ich mit meiner Magie alles richten. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, dass ich es irgendwann satt haben könnte, die Dinge, die du verbockt hast, wieder in Ordnung zu bringen? Kannst du nicht ein einziges Mal selbst die Verantwortung für deine Schnitzer übernehmen? Du hast dich nicht die Spur geändert, Johann.
Du sitzt auf deinem blöden Thron und stammelst und zauderst, bis dir alles aus dem Ruder läuft, und dann soll ich mit einem Fingerschnippen das Unheil von dir abwenden. Egal, ob es mir in den Kram passt oder nicht. Egal, ob ich dabei mein Leben riskiere oder nicht. Nein, mein Lieber, diesmal wird das gemacht, was ich sage! Ich habe keine Lust, meinen Kopf auf den Richtblock zu legen, nur weil du nicht abwarten kannst!«
»Ich bin dein König! Ich befehle dir…«
»Steck dir deine Befehle…«
»RUHE!« Ruperts plötzlicher Ausbruch übertönte die Stimmen der beiden Streithähne und brachte sie jäh zum Schweigen. Stille breitete sich im Saal aus. Ein Höfling in Ruperts Nähe öffnete den Mund zum Protest und starrte gleich darauf entsetzt und fasziniert auf die Schwertspitze, die sich sachte gegen seinen Bauch drückte.
»Ein Wort«, sagte Rupert ruhig, »und ich schlitze Ihnen die Eingeweide auf. Das gilt übrigens für alle Anwesenden.«
Die Höflinge sahen seine grimmige Miene und das blutverschmierte Schwert in seiner Hand und gelangten zu dem Schluss, dass er seine Drohung ernst meinen könnte. Rupert ließ seine Blicke über die entgeisterten Gesichter wandern und lächelte schwach.
»Nun, da ich Ihre Aufmerksamkeit besitze, können wir die Situation vielleicht in aller Ruhe diskutieren, anstatt zu kreischen und zu schreien und wie eine aufgeregte Hühnerschar umherzurennen.«
Er steckte sein Schwert ein, und ein Seufzer der Erleichterung war zu hören, nicht zuletzt von dem Höfling, den Rupert benutzt hatte, um sein Anliegen zu unterstreichen.
»Sie lernen, Sire«, sagte der Champion anerkennend.
Rupert drehte sich um. Er war nicht sonderlich überrascht, dass der Champion dicht hinter ihm stand, und nickte dem Weggefährten höflich zu, ehe er sich wieder dem Hofstaat zuwandte. Er war nicht sicher, wie viel Unterstützung er vom Champion erwarten konnte, nun da ihre Mission vorüber war, doch im Moment sah es zumindest so aus, als habe er am Hof seines Vaters einen Verbündeten, und sei es nur, weil die Verachtung für die Hofschranzen sie zusammenschweißte…
Der Prinz trat einen Schritt vor und verneigte sich kurz vor seinem Vater. Der König starrte ihn lange an. Weder seine reglose Miene noch sein kühler Blick verrieten, was er empfand.
»Ich dachte, du seist tot«, sagte er schließlich. »Nachdem ich so lange nichts von dir gehört hatte, war ich überzeugt, dass du nicht mehr zurückkämst.«
»Das habe ich gemerkt«, entgegnete Rupert trocken. »Die meisten Leute im Burghof führten sich auf, als hätten sie ein Gespenst vor sich. He, Moment mal! Berichteten dir die Kobolde nicht, dass ich noch lebe? Sie sind doch unversehrt hier eingetroffen, oder?«
»Ja«, sagte der König. »Leider. Aber das liegt Monate zurück. Du hättest inzwischen längst da sein müssen.«
Es entstand eine Pause, während sie sich mit ausdruckslosen Mienen ansahen, jeder darauf wartete, dass der andere das Wort ergriff.
»Du könntest wenigstens sagen, dass du dich freust, mich wieder zu sehen«, meinte Rupert schließlich. »Oder war meine Heimkehr auch diesmal nicht eingeplant?«
»Du hast dich nicht verändert«, sagte der König. »Du hast dich nicht im Geringsten verändert, Rupert!«
»Darauf würde ich an deiner Stelle nicht unbedingt wetten!« In Ruperts Stimme schwang plötzlich eine unerbittliche Härte mit, bei der der König zusammenzuckte und die Harald ein nachdenkliches Stirnrunzeln entlockte. Rupert wandte sich dem Großen Zauberer zu. »Nun, da Sie Zeit zum Nachdenken hatten, Sir Zauberer, können Sie mir vielleicht erklären, was zum Henker mit Ihrem Teleport-Bann schief gelaufen ist. Wir hätten lange vor dem vollen Mond eintreffen sollen. Sie versprachen mir, dass Sie uns rechtzeitig hierher brächten. Ich habe mich auf Ihr Wort verlassen, Großer Zauberer.«
»Es war nicht meine Schuld«, entgegnete der Zauberer mit einem fast kindlichen Trotz. »Jemand auf der Burg hat meinen Zauber gestört, sodass wir zwar am richtigen Ort, aber nicht in der richtigen Zeit ankamen.«
»Jemand hier auf der Burg?«, fragte Rupert. »Sind Sie sicher?«
»Völlig! Schließlich bin ich der Große Zauberer! Doch wer immer es war, besitzt nur schwache Kräfte. Er konnte den Bann weder brechen noch ins Böse umkehren, sondern lediglich ablenken. Wenn ich mich nicht täusche, sollten wir noch weiter in der Zukunft landen – in einer Zeit, da die Burg bereits gefallen war… aber dazu reichte seine Magie nicht aus.«
Rupert schüttelte den Kopf und versuchte die Erklärung richtig einzuordnen. »Wie konnte jemand hier in der Burg Ihren Bann stören? Kein Mensch wusste von Ihrer Absicht, durch Teleportation zurückzukehren.«
»Der Dämonenfürst wusste es«, sagte der Große Zauberer.
Ein leises Murmeln lief durch den Saal, und mehrere Höflinge sahen sich furchtsam um, als könnte der Dunkle Fürst allein durch Erwähnung seines Namen herbeigerufen werden.
Der König beugte sich stirnrunzelnd in seinem Thronsessel vor und zupfte sich am Bart.
Rupert sah den Zauberer scharf an. »Wollen Sie behaupten, dass der Dämonenfürst selbst die Finger im Spiel hatte, als Ihr Bannspruch versagte?«
»Indirekt, ja. Eigentlich ist seine Macht auf den Dunkelwald beschränkt, aber er kann durch Mittelsmänner agieren.
Irgendwo auf dieser Burg gibt es einen Verräter, der dem Dunklen Fürsten dient.«
»So viel wissen wir bereits, Zauberer«, knurrte der König.
»Aber lässt sich herausfinden, wer es ist?«
»Er hat seine Spuren zu gut verwischt. Wenn ich Zeit hätte, vielleicht…«
»Wir haben keine Zeit«, unterbrach ihn Rupert scharf.
»Auf Verräterjagd können wir später gehen. Zuerst müssen wir etwas gegen die Dämonen unternehmen, die unseren Burgwall belagern. Vater – wie viele Bewaffnete kannst du noch aufbieten?«
»Nicht mehr viele, Rupert. Die Pest hat vor den Truppen nicht Halt gemacht.«
»Pest?« Rupert lief ein kalter Schauer über den Rücken.
»Welche Pest?«
Der König lächelte gezwungen. »Du hast während deiner Abwesenheit viel versäumt, Rupert. Die Pest wütet seit Monaten unter den Bewohnern unseres Reiches. Erst Übelkeit, dann hohes Fieber, das den Körper schwächt und schließlich zum Tod führt. Wir haben alles versucht, aber es gibt kein Mittel dagegen. Die Pest breitete sich wie ein Lauffeuer im Waldreich aus und erreichte die Burg etwa eine Woche vor der Dunkelheit.«
»Wie viele Leute haben wir verloren?«, fragte Rupert leise.
»Hunderte«, erwiderte der König. »Vielleicht auch tausende. Wir haben aufgehört, die Toten zu zählen.«
»Verdammt!« Der Große Zauberer schnitt eine Grimasse, als hätte er Essig getrunken, und sein Blick verriet, dass ihm soeben eine neue Erkenntnis gekommen war. »Wusste ich es doch! In dem Moment, da Rupert mir erzählte, dass das Einhorn seine Zierde an die Dämonen verloren hatte, ahnte ich, dass es dafür einen Grund geben musste!«
»Könnten Sie sich etwas deutlicher ausdrücken?« Rupert sah den Zauberer verständnislos an. »Was hat das Horn des Einhorns mit der Pest zu tun?«
»Alles«, erklärte der Zauberer. »Sie müssen Folgendes wissen, Rupert: Erstens liegt es in der Natur des Dämonenfürsten, Verderben zu säen. Und zweitens hat das Horn eines Einhorns eine ganz besondere Eigenschaft: Es kann Gifte aufspüren und unschädlich machen. Zählen Sie eins und eins zusammen, und der Ursprung der Pest ist klar: Das Horn eines verstümmelten Einhorns, das Gift verbreitet, anstatt vor Gift zu schützen. In den Händen des Dunklen Fürsten hat dieses Horn eine grässliche Pest erzeugt, die von seinen Dämonen verbreitet wird und weder mit natürlichen noch mit magischen Mitteln zu heilen ist.«
»Wenn wir die Seuche nicht heilen können«, sagte der König, »dann gibt es keine Rettung mehr. Mein Volk ist dem Untergang geweiht, ganz gleich, was wir unternehmen. Ich glaube das einfach nicht, Zauberer. Es muss einen Ausweg geben!«
»Es gibt einen Ausweg«, erklärte der Große Zauberer.
»Vernichte den Dämonenfürsten – und die Pest wird mit ihm untergehen!«
»Das klingt ja alles sehr spannend«, warf Harald trocken ein. »Aber irgendwie scheinen wir vom Thema abzuschweifen. Der Dämonenfürst und die Pest sind Aufgaben der Zukunft – falls wir noch eine Zukunft haben. Darf ich vielleicht daran erinnern, dass wir im Moment von Dämonen belagert werden? Rupert, ich hatte den Eindruck, dass du eine Lösung für dieses Problem vorschlagen wolltest – vorhin, als du die Diskussion so… abrupt unterbrachst.«
»Diskussion?«, fragte Rupert spöttisch. »So viel ich dem wirren Geschrei entnehmen konnte, kreiste die Diskussion vorwiegend um zwei Standpunkte: Schiere-Gewalt-und-Ignoranz oder Machen-wir-die-Augen-zu-bis-alles-vorbei-ist.
Wenn ihr weiter in diesen beiden Richtungen denkt, Leute, dann stehen wir tatsächlich mit einem Fuß im Grab!«
»Ich gehe davon aus, dass du einen besseren Einfall hast«, warf Julia ein.
Rupert schaute die Prinzessin an, die sich demonstrativ bei Harald untergehakt hatte. »Ja«, sagte er schließlich. »Ich denke schon. Vater, wo ist der Astrologe?«
»Er verbringt seine Tage in völliger Abgeschiedenheit«, erklärte der König, »um mit Hilfe seiner Magie herauszufinden, wer das Curtana gestohlen hat und wo es versteckt ist.«
»Das Curtana?« Rupert schüttelte verwirrt den Kopf. »Wie konnte das jemand stehlen? Ich denke, das Schwert befindet sich im verloren gegangenen Südflügel?«
»Nicht mehr«, sagte Julia. »Wir entdeckten einen Weg in den Südflügel – der Seneschall, seine Leute und ich. Als wir jedoch in das Alte Arsenal eindrangen, war das Curtana verschwunden.«
Rupert schwirrte der Kopf, weil zu viel Neues gleichzeitig auf ihn einströmte. Du hast während deiner Abwesenheit viel versäumt, Rupert. Er seufzte und unterdrückte entschlossen den Wunsch, alle jene Fragen zu stellen, die ihm auf der Zunge lagen. Er wusste, dass kostbare Zeit verginge, bis sie beantwortet wären, und er ahnte, dass die Antworten ihn keinen Schritt weiterbrächten.
»Du scheinst dich sinnvoll beschäftigt zu haben, Julia«, sagte er deshalb nur. »Aber darüber können wir uns später unterhalten. Zunächst einmal solltest du den Astrologen holen lassen, Vater. Wenn mein Plan gelingen soll, brauchen wir jede verfügbare Magie.«
»Was kann der Astrologe schon groß beisteuern?«, knurrte der Champion. »Soll er den Dämonen vielleicht Horoskope stellen und ihnen sagen, dass die Gestirne für einen Burgenangriff ungünstig stehen?«
»Er ist immerhin ein Zauberer«, gab Rupert zu bedenken.
»Und Magie ist der Schlüssel zu der ganzen Geschichte.«
»Magie ist die Waffe des Dämonenfürsten«, entgegnete der Champion und schoss dem Großen Zauberer einen finsteren Blick zu. »Wenn wir Feuer mit Feuer bekämpfen, werden wir uns alle die Finger verbrennen. Jetzt ist der Moment für kalten Stahl gekommen, Sire! Jetzt zählen Stärke und Heldenmut!«
»Überlegen Sie, wie weit uns das im Dunkelwald gebracht hat!«, meinte Rupert. »Kalter Stahl genügt nicht mehr. Den Dämonen ist es gleichgültig, welche Verluste sie erleiden, wenn sie uns nur besiegen! Jenseits des Burgwalls warten tausende der verdammten Monster, und Gott weiß, wie viele noch aus dem Dunkelwald strömen, wenn die ersten Angreifer fallen. Nein, Sir Champion, der Dunkelwald ist ein Ort der Magie und muss mit Magie bezwungen werden.«
Der König setzte zum Sprechen an und hob verblüfft den Kopf, als unvermittelt die Flügel des Portals aufschwangen und der Astrologe den Thronsaal betrat.
»Tut mir Leid, dass ich so spät komme, Sire, aber ich denke, dass ich auf meiner Suche nach dem Curtana einen Durchbruch erreicht habe. Wenn mich nicht alles täuscht, existiert das Schwert des Zwangs nicht mehr. Wer immer es aus dem Arsenal holte, muss es vernichtet haben. Ich gestehe, dass ich schwanke, ob ich das gut oder schlecht finden soll.«
Das leise Gemurmel der Höflinge ließ darauf schließen, dass sie ebenfalls schwankten.
König Johann zupfte sich am Bart und runzelte nachdenklich die Stirn. »Das Schwert hätte uns vielleicht vor der Finsternis retten können, Thomas. Ich nehme an, du weißt nicht, wer es entwendet hat.«
»Ohne das Curtana? Nein, Majestät.« Der Astrologe wandte sich dem Großen Zauberer zu und verneigte sich tief. »Wie schön, Sie nach all den Jahren wieder zu sehen, Sir Zauberer.
Die geringen magischen Kräfte, die ich besitze, stehen Ihnen selbstverständlich zur Verfügung.«
»Danke, Sir Astrologe«, erwiderte der Große Zauberer höflich. »Ich bin überzeugt, dass Sie ein äußerst wertvoller Verbündeter sind.«
»Nettigkeiten können wir später austauschen«, warf Rupert gereizt ein. »Im Moment gilt es, einige hunderttausend Dämonen zu besiegen.«
»Ah«, spöttelte Harald, »jetzt kommen wir wieder zu deinem berühmten Plan!«
»Harald«, sagte Rupert langsam, »du gehst mir auf den Sack! Noch eine solche Bemerkung von dir, und ich versetze dir einen Tritt, dass dir die Eier um die Ohren fliegen!«
Es entstand ein peinliches Schweigen, als alle betont weghörten.
»Dein Plan, Rupert«, sagte der König schließlich.
»Der ist recht einfach«, erklärte Rupert. »Im Gegensatz zu den meisten hier im Saal habe ich bereits gegen die Finsternis gekämpft. Schwerter sind ebenso wenig die Lösung wie Bannsprüche – aber wenn wir beides kombinieren, gibt es vielleicht noch Hoffnung. Also stellen wir erst einmal alle Mann, die noch laufen und ein Schwert in Händen halten können, zu einem Heer zusammen. Dann versuchen wir dieses Heer mit Bannsprüchen des Großen Zauberers, des Astrologen und sonstiger Magier zu schützen und zu stärken. Als Nächstes greifen wir die Dämonen, die uns belagern, mit allem an, was wir haben. Wenn es uns nur dieses eine Mal gelingt, die Mächte der Finsternis zurückzuschlagen, können wir das Blatt noch wenden. Die Dämonen sind nicht unschlagbar. Falls wir eine größere Anzahl von ihnen töten, werden sie die Flucht ergreifen. Und ohne die Dämonen als Vorhut kann die lange Nacht nicht vordringen. Wenn wir uns dem Feind hier und jetzt entgegenstemmen, können wir der Finsternis die Stirn bieten. Zugegeben, es ist kein unfehlbarer Plan… aber was haben wir zu verlieren?«
Es entstand eine längere Pause.
»Nun ja, unter einem guten Plan hatte ich mir etwas anderes vorgestellt«, sagte der König taktvoll.
»Ich gebe zu, dass es ein verdammt lausiger Plan ist«, meinte Rupert. »Nur – eine andere Möglichkeit haben wir nicht. Die Dämonen da draußen werden nicht weniger. Aber greift sie an, mit vereinten Kräften, und ihr werdet sehen, dass sie genauso sterben wie alle anderen Geschöpfe.«
Der König nickte zögernd. »Falls sonst keine konstruktiven Vorschläge kommen… ich sagte konstruktiv, Harald…
also gut. Wie die Uhren anzeigen, zieht in etwa drei Stunden der neue Tag herauf. Eine halbe Stunde vorher will ich sämtliche kampffähigen Männer im Hof versammelt sehen. Mit einigem Glück haben wir bis dahin die Flüchtlingsfamilien anderweitig untergebracht. Daß mir keiner zu spät kommt!
Wir öffnen die Tore pünktlich. Und dann liefern wir den Dämonen einen Kampf, wie sie ihn noch nie erlebt haben.
Das ist alles. Rupert, Harald, ihr begleitet mich in meine Privatgemächer. Jetzt.«
Der König erhob sich von seinem Thronsessel, nickte den sich verneigenden Höflingen kurz zu und verließ mit entschlossenen Schritten den Saal. Seine Leibgarde folgte ihm mit einem Respektabstand. Im Saal wurde die gedämpfte Diskussion eine Weile weitergeführt, ehe sich die gewohnten Gruppen bildeten und ein allgemeiner Aufbruch einsetzte.
Der Große Zauberer und der Astrologe verließen den Raum gemeinsam, in ein leises Gespräch über magische Taktiken vertieft. Die Höflinge strebten in kleinen Gruppen ihren Wohnquartieren zu, um Schwerter, Rüstungen und ihren ganzen Mut zusammenzusuchen, in dem Wissen, dass sie in wenigen Stunden den Dämonen gegenübertreten und aller Voraussicht nach sterben mussten. Trotz seiner Verachtung für den Hofadel im Allgemeinen war Rupert insgeheim beeindruckt von der Art und Weise, wie sie die Sache aufnahmen. Zum ersten Mal in ihrem Leben lamentierten und diskutierten sie nicht. Natürlich waren sie sprachlos vor Angst, aber Rupert hegte keinen Zweifel daran, dass die meisten von ihnen zum vereinbarten Zeitpunkt mit dem Schwert in der Hand im Burghof stehen würden. Und die wenigen, die zu feige waren, in die Entscheidungsschlacht zu ziehen, würden im Kampf ohnehin wenig nützen.
Die Blicke des Prinzen wanderten zu Julia hinüber, die sich leise mit Harald unterhielt. Sie schienen beide nur Augen füreinander und nicht für ihn zu haben. Rupert wollte sich abwenden und konnte es nicht. Anfangs hatte er geglaubt, dass Julia ihn immer noch mochte und mit Harald nur tändelte, um ihn selbst eifersüchtig zu machen. Aber nun wusste er es besser. Zum ersten Mal erkannte er, wie natürlich Julia in ihren höfischen Gewändern wirkte. Sie passte an die Seite von Harald, als sei das ihr angestammter Platz. Rupert schaute an seiner zerfetzten, blutverkrusteten Kleidung hinunter, und die Vorstellung, dass die hoch gewachsene, stattliche Prinzessin neben ihm einherschreiten könnte, erschien ihm plötzlich lächerlich.
Ich bin nur der nachgeborene Sohn, dachte er bitter. Und das werde ich ewig bleiben. Es konnte nicht lange dauern, bis Julia entdeckte, wer in unserer Familie das Sagen hat. Er warf einen letzten Blick auf die prachtvolle blonde Prinzessin, die mit Prinz Harald schäkerte, und wandte sich dann ab.
Das ist nicht die Frau, die ich kannte, dachte er müde. Das ist nicht die Frau, die Seite an Seite mit mir im Dunkelwald kämpf te… die Frau, die ich lieben lernte. Jene Julia war nur eine Illusion, ein Traum, geboren aus der gemeinsam bestandenen Gef ahr… und aus der Einsamkeit. Ich hätte es besser wissen müssen.
Er ging in steifer Haltung an dem leeren Thronpodest vorbei auf die Privatgemächer des Königs zu, die Pflicht wie eine schwere Last auf den Schultern. Aber das machte ihm nichts aus. Es war alles, was er noch hatte.
Julia schaute ihm nach und biss sich auf die Unterlippen. Sie wollte ihn zurückrufen, aber das ließ ihr Stolz nicht zu. Es lag an ihm, den ersten Schritt zu tun; sie dachte nicht daran, zu Kreuze zu kriechen. Nach allem, was sie durchgemacht hatte, nach all den Monaten, als sie ihn für tot gehalten hatte… Als die Nachricht von seiner unversehrten Heimkehr zu ihr durchgedrungen war, hatte sie vor lauter Freude und Fassungslosigkeit nicht gewusst, ob sie lachen oder weinen oder durch die Gänge tanzen sollte. Sie hatte den Seneschall gedrängt, ihr zu verraten, wo sich Ruperts Räume befanden, und war den ganzen Weg dorthin gerannt, um ihn willkommen zu heißen, nur damit er sie mit eisiger Kälte empfangen und beleidigen konnte. Sie hätte ihm die Sache mit Harald und der Hochzeit schon erklärt, wenn er ihr die Möglichkeit dazu gegeben hätte. Aber nein, er musste den Gekränkten mimen!
Dazu hatte er kein Recht. Er wusste nicht, wie sie sich auf dieser Burg gefühlt hatte, ganz allein, während die Finsternis immer näher rückte. War es vielleicht ein Wunder, dass sie sich Harald zugewandt hatte, als er verschollen blieb und der Drache allem Anschein nach seinem Tod entgegendämmerte?
Sie hatte Trost gebraucht, und es gab niemanden sonst…
Julia sah Rupert nach, bis er aus dem Thronsaal verschwunden war, und ihre Hände waren so fest zu Fäusten geballt, dass sie schmerzten.
Dann warf sie einen Blick auf Harald. Der Kronprinz starrte nachdenklich die Tür an, die sich langsam hinter seinem Bruder schloss. Julia konnte nicht leugnen, dass Harald in den vergangenen Monaten immer mehr in den Mittelpunkt ihres Lebens gerückt war. Dennoch wusste sie nicht so recht, was sie für ihn empfand. Er benahm sich freundlich, aufmerksam, charmant – und doch entdeckte sie manchmal in seinen Augen eine Kälte, die sie frösteln ließ.
Zweifellos hatte Harald seine Fehler, aber Julia war beeindruckt von der ruhigen Sachkenntnis, mit der er die Dinge in die Hand genommen hatte, als die Dunkelheit immer näher rückte und die Lage sich mit jedem Tag verschlimmerte.
König Johann hatte sein Bestes getan, doch als der Strom der Flüchtlinge aus den von Pest und Dämonen heimgesuchten Gebieten nicht abreißen wollte, war ihm nichts anderes übrig geblieben, als seine Ohnmacht einzugestehen. Harald und der Seneschall hatten ihm einen Großteil der Last abgenommen, aber König Johann war zunehmend verbittert und niedergeschlagen geworden. Er machte sich Vorwürfe, dass er die Herrschaft über sein Reich verloren hatte, und regierte immer lustloser, sodass Harald gar keine andere Wahl blieb, als die meisten Entscheidungen allein zu treffen. Er machte seine Sache gut – zumindest so gut, wie es unter den gegebenen Umständen möglich war.
Und trotz all seiner Probleme fand Harald die Zeit, sich mit ihr zu unterhalten und ihr Gesellschaft zu leisten. Er war längst nicht mehr der aufdringliche, ungestüme Verehrer, der sie mit seinen plumpen Aufmerksamkeiten verfolgte. Julias Mundwinkel zuckten in einem Anflug von Heiterkeit. Wenn schon sonst nichts, so hatte sie Harald zumindest Manieren beigebracht. Sie betrachtete ihn beinahe zärtlich, doch dann erstarb ihr Lächeln, als sie sah, wie sich seine Miene jäh veränderte. Harald starrte immer noch die Tür an, die sich hinter Rupert geschlossen hatte, und plötzlich gruben sich harte, unnachgiebige Linien in sein Gesicht, die sein sonst so liebenswürdiges Äußeres völlig veränderten. Julia beobachtete ihn verblüfft; es war, als hätte er eine Maske abgelegt, hinter der nun eine völlig verwandelte Persönlichkeit auftauchte. Sie runzelte nachdenklich die Stirn, unschlüssig, ob sie sich über den neuen Harald freuen sollte oder nicht. Sie entdeckte Energie in seinen Zügen, Entschlossenheit und einen eisernen Willen, aber sie sah auch Furcht, und plötzlich fiel es Julia wie Schuppen von den Augen: Harald hatte Angst vor Rupert. Doch im nächsten Moment war alles vorbei.
Harald setzte seine gewohnte Maske auf, drehte sich um und sah Julia mit einem Lächeln an. Alles Einbildung, sagte sie sich. Die kalte, mörderische Wut, die du in seinen Augen gesehen haben willst, existiert nur in deiner Phantasie!
»So, Julia«, sagte Harald freundlich, »der König erwartet mich. Aber ich denke, die Beratung wird nicht lange dauern.
Warum kommst du nicht in etwa einer Stunde in meine Suite?
Uns bleibt noch ein wenig Zeit, ehe ich unsere Truppen in den Kampf führen muss.«
»Ja«, sagte Julia. »Natürlich. Harald, ich…«
»Es geht um Rupert, nicht wahr?«, fragte Harald. »Mach dir seinetwegen keine Sorgen, mein Schatz! Du wirst ihn vergessen, wenn wir erst verheiratet sind. Du musst nicht einmal mit ihm sprechen, wenn du nicht willst. Das wäre vielleicht sogar das Beste. Rupert hat einen ungünstigen Einfluss auf dich – obwohl ich, ehrlich gestanden, nie ganz begreifen konnte, was du an ihm findest. Wenn unser Gespräch mit Vater vorbei ist, wird er sich wohl irgendwo verkriechen, bis er im Morgengrauen mit uns in die Schlacht ziehen muss. Rupert schwingt zwar große Reden, aber ein großer Kämpfer war er nie.«
»In eurem letzten Duell blieb er immerhin Sieger«, entgegnete Julia und ärgerte sich im nächsten Moment über ihre Antwort.
Harald musterte sie scharf. »Reiner Dusel. Er hatte ein paar neue Tricks auf Lager, das ist alles. Das nächste Mal…«
»Einen Augenblick!« Julias Augen wurden plötzlich schmal. »Habe ich mich eben verhört, oder stimmt es, dass Rupert im Morgengrauen mit in die Schlacht ziehen wird?«
»Natürlich wird er das«, sagte Harald. »Es ist seine verdammte Pflicht!«
»Das kann nicht dein Ernst sein! Du hast ihn im Thronsaal gesehen. Er ist mit seinen Kräften am Ende.«
Harald zuckte kühl mit den Schultern. »Das lässt sich nicht ändern. Das Volk erwartet, dass Rupert, Vater und ich an der Spitze des Heeres reiten. Jemand muss den Haufen schließlich befehligen. Obwohl es ziemlich gleichgültig ist, ob Rupert auftaucht oder nicht, solange ich zur Stelle bin. Ich bin der Kronprinz, mir werden sie folgen.«
»Er wird da sein, das weißt du ganz genau«, sagte Julia.
Ein kalter Zorn hüllte sie ein wie ein vertrauter alter Mantel.
»Rupert kennt seine Pflichten. Er hat sie immer gekannt. Und er ist kein Feigling!«
Harald lachte höhnisch. »Rupert war immer ein Feigling.
In seinem Zimmer muss heute noch ein Nachtlicht brennen, damit er schlafen kann.«
Julia wandte sich wortlos ab und stieg die Stufen des Thronpodests hinunter. Harald eilte ihr nach.
»Julia! Wohin gehst du?«
»Ich muss Rupert sehen. Ich muss mit ihm reden.«
Harald holte sie am Fuß des Podests ein und packte sie am Arm. Sie riss sich los und umklammerte den Schwertgriff.
»Lass mich in Frieden, Harald!«
»Nein, Julia!«, sagte er mit großer Bestimmtheit. »Dafür ist es jetzt zu spät. Du hast deine Wahl getroffen und kannst sie nicht mehr rückgängig machen.«
»Du bist dir deiner Sache sehr sicher, Harald.«
»Allerdings. Oder glaubst du wirklich, Rupert nähme dich noch, wenn er wüsste, wie nahe wir uns während seiner Abwesenheit gekommen sind?«
»Ich glaubte, er sei tot.«
»Ich bezweifle, dass das für Rupert einen großen Unterschied macht. Er war schon immer eher… altmodisch… in solchen Dingen. Finde dich mit den Tatsachen ab, meine Liebe! Du hast mein Bett gemacht – und jetzt musst du darin schlafen! Vergiss Rupert! Wir werden in Kürze heiraten, Julia, und als meine Gemahlin musst du lernen, mir zu gehorchen.«
Julia zog mit einem Ruck das Knie hoch, und Harald krümmte sich keuchend. Ohne sich nach ihm umzusehen, eilte sie auf die Tür zu, hinter der Rupert verschwunden war.
Ein einziger Gedanke trieb sie vorwärts: Wenn sie jetzt nicht Rupert sprach, zog er womöglich in dem Glauben gegen die Dämonen, dass sie ihn nicht mehr liebte. Und sie konnte ihn nicht so in den Tod gehen lassen.
Sie stürmte aus dem Thronsaal und den Korridor entlang, der zu den Privatgemächern des Königs führte. Einen Moment lang verschnaufte sie an der Eingangstür, ehe sie höflich klopfte. Niemand forderte sie zum Eintreten auf, und als sie den Drehgriff betätigen wollte, gab er nicht nach. Sie boxte mit der Faust gegen das massive Holz und wich plötzlich einen Schritt zurück, als im Paneel ein glühendes Auge erschien und sie anstarrte. Julia begann am ganzen Leib zu zittern. Alle ihre Instinkte befahlen ihr, kehrtzumachen und zu fliehen, aber sie blieb eisern stehen und starrte trotzig zurück.
Diese Tür ist versiegelt, sagte eine kalte Stimme in ihrem Kopf.
»Du musst mich einlassen«, flehte Julia. »Ich muss den König sprechen.«
Nur Prinz Harald, Prinz Rupert und der Große Zauberer haben hier Zutritt, erklärte die kalte Stimme. Für alle anderen sind die Räume versiegelt. Geh jetzt!
»Ich muss den König sprechen! Es ist wichtig!«
Geh jetzt!
»Verdammt, lass mich durch!«
Julia griff nach ihrem Schwert, und ein greller Blitz schleuderte sie zu Boden. Sie schüttelte den Kopf, um ihre Gedanken zu ordnen, und erhob sich unsicher, sorgsam darauf bedacht, das Schwert nicht mehr zu berühren. Das Auge in der Tür starrte sie ruhig an, hell, metallisch und ganz und gar unmenschlich.
Geh, sagte die kalte Stimme. Geh jetzt!
Julia bedachte das unerbittliche Auge mit wütenden Blicken, ehe sie sich abwandte und den Korridor zurückging.
Das Auge sah ihr nach, schloss sich dann und verschwand wieder im Türpaneel. Julia kehrte langsam in den Thronsaal zurück. Was immer König Johann mit seinen Söhnen und dem Großen Zauberer zu besprechen hatte, musste verdammt wichtig sein, wenn er sich mit einem derart mächtigen Bann vor unbefugten Eindringlingen schützte. Dann würde sie eben später mit Rupert sprechen.
Sie musste ihm die Wahrheit sagen, solange noch Zeit dazu war.
Tief im ständigen Halbdunkel des Südflügels schwang langsam eine verborgene Tür auf, und Lord Darius trat in den Gang hinaus. Er spähte vorsichtig umher, aber nichts und niemand bewegte sich in der breiten, leeren Galerie, die sich zu beiden Seiten erstreckte, kalt, dunkel und still. Mit einem schwachen Lächeln zog Darius die Tür hinter sich zu. Sie schloss sich mit einem kaum hörbaren Klicken, und nichts deutete mehr darauf hin, dass die Wandvertäfelung ein Geheimnis barg. Eine einzelne Fuchsfeuer-Ampel nahe der Decke verbreitete ein trübes Licht, aber Darius hatte seine Augen so an das Dunkel gewöhnt, dass er den Korridor deutlich erkennen konnte. Seine Blicke glitten unruhig hin und her. Er fühlte sich nach dem langen Aufenthalt in dem engen, verwinkelten Tunnellabyrinth hier im Freien nicht besonders wohl, und so kauerte er sich mit dem Rücken zur Wand auf dem Boden nieder. Die einst so modische Kleidung starrte vor Schmutz und umschlotterte seinen ausgezehrten Körper.
Die Haut wirkte fleckig und wächsern und bildete schlaffe Falten um Wangen und Kinn, weil er in zu kurzer Zeit zu viel Gewicht verloren hatte. Niemand aus der noblen Hofgesellschaft hätte den eleganten Lord Darius wiedererkannt, der wie eine dürre, halb wahnsinnige Vogelscheuche auf dem Boden hockte, weil er die Dämmerung dem Licht vorzog.
Seine verquollenen Augen glitzerten, als er in das Halbdunkel blinzelte, bereit, beim geringsten Anzeichen von Gefahr die Flucht zu ergreifen. Immer wieder tastete er ruhelos nach dem Dolch in seinem Ärmel, aber kein Schatten bewegte sich, und kein Laut außer seinem eigenen unregelmäßigen Atem unterbrach die Stille. Der Südflügel lag so verlassen da wie seit vielen Jahren, aber in der dumpfen Luft lastete eine Spannung, als ahnten die Steine selbst, dass etwas Böses durch die leeren Korridore schlich.
Ein kalter, düsterer Ausdruck lag auf Darius' Zügen, als trage er ein furchtbares Wissen mit sich herum, von Dingen, die im Dunkel geplant und ausgeführt werden mussten, weil sie das Licht des Tages scheuten. Rupert hätte diesen Ausdruck richtig gedeutet. Er hatte die endlose Nacht durchquert und etwas von jener Finsternis war für immer in seiner Seele zurückgeblieben. Der Dunkelwald hatte sie beide gezeichnet, aber während Rupert dagegen ankämpfte, hatte sich Darius bereitwillig in sein Schicksal ergeben – in der Hoffnung auf den versprochenen Lohn.
Darius hielt die linke Hand hoch, und Flammen umflackerten seine Finger, ohne sie zu versengen. Er besaß jetzt Macht, die dunkle Macht seines Herrn und Meisters, und mit dieser Macht wollte er alle offenen Rechnungen begleichen, alle Kränkungen rächen. Darius lachte leise, und die Flammen verschwanden. Er kauerte allein im Schatten, stumm und stumpf, und wartete in der Stille und Kälte des verlassenen Südflügels auf jene, die er fürchtete und hasste.
König Johann seufzte und beobachtete mürrisch, wie sein Atem in der frostigen Luft dampfte. Er wickelte sich enger in seinen Umhang und rückte den Sessel etwas näher an das schwach glimmende Feuer. Selbst in seinen Privatgemächern tief im Innern der Burg konnte er der bitteren Kälte des Dunkelwaldes offenbar nicht entrinnen. Er warf einen nachdenklichen Blick auf den Großen Zauberer, der auf der anderen Seite des Kamins Platz genommen hatte. Der Magier lümmelte wie ein Bauer in seinem Lehnstuhl und nagte an einem Hühnerbein. Die Kälte schien ihm nicht das Geringste auszumachen.
Lampen und Kerzen nahmen jedes freie Fleckchen des überladenen Zimmers ein, und doch wirkte der Raum insgesamt eher düster. In der Vergangenheit hatte der König stets Kraft und Trost aus den alten Mauern gezogen, die ihn Schicht um Schicht einhüllten, Kraft und Trost aus der Magie und den Mysterien der Waldburg, die sein Erbe und seine angestammte Heimat war. Seit zwölf Generationen hatten seine Vorfahren das Waldkönigreich gegen alle Gefahren verteidigt, und Johann war immer davon überzeugt gewesen, dass etwas von ihrem Mut und ihrer Entschlossenheit in der Burg selbst fortlebte. Aber nun war die lange Nacht angebrochen, und all die Magie der ehrwürdigen Gemäuer hatte nicht ausgereicht, um den Dunkelwald fern zu halten. Der König zog gereizt die Stirn kraus; eine wahrhaft schlimme Zeit, wenn ein Mensch nicht einmal mehr in den eigenen vier Wänden Trost und Frieden fand. Ein flüchtiges Lächeln huschte über seine Züge, als ihm die Kleinlichkeit seiner Gedanken zu Bewusstsein kam, und er schob sie entschlossen beiseite. Wieder musterte er den Großen Zauberer, und nicht alle Erinnerungen, die ihm dabei durch den Kopf gingen, waren schlecht. Obwohl er und der Zauberer nie enge Freunde gewesen waren, hatten sie doch viele Jahre gut zusammengearbeitet. Eine Zeit lang hatte er den Magier sogar als seinen starken rechten Arm betrachtet, aber das lag weit zurück. Das lag so weit zurück.
Der Zauberer löste die letzten Fleischfasern von dem Hühnerbein, und noch während der König ihn beobachtete, zerbrach er den Knochen und saugte das Mark aus, wie ein Kind, das an einer Zuckerstange lutscht. Als er fertig war, warf er den Knochen ins Feuer und wischte sich die fettigen Finger an seinem Gewand ab. König Johann schaute weg. Der Große Zauberer, an den er sich erinnerte, war elegant und kultiviert gewesen, fast so etwas wie ein Dandy. Stets nach der neuesten Mode gekleidet und jede Locke an ihrem Platz. Und er hatte bis zum bitteren Ende Haltung bewahrt. Nach den Worten der Tavernenwirte war er der würdevollste Säufer gewesen, den sie je gesehen hatten. Johann musste unwillkürlich lächeln, doch er wurde wieder ernst, als ihm andere Dinge in den Sinn kamen. Er schloss die Augen, und nach einer Weile verblassten die schlimmen Bilder, obwohl ein leiser Schmerz zurückblieb, wie immer. Er sah erneut den Zauberer an, der geistesabwesend ins Feuer starrte. Seine Miene war ausdruckslos, und Johann hatte keine Ahnung, woran der Mann dachte.
»Ich war nicht sicher, was ich bei unserem Wiedersehen empfände«, sagte König Johann langsam. »Hass oder Furcht oder was immer. Es ist viel Zeit vergangen, nicht wahr?«
Der Große Zauberer nickte. »Allerdings.«
»Du siehst fast genauso aus, wie ich dich in Erinnerung hatte. Du bist überhaupt nicht gealtert.«
»Transformationsmagie. Ich kann mir selbst aussuchen, wie alt ich sein möchte. Natürlich verbrennt meine restliche Lebensenergie umso schneller, je jünger ich mich mache. Ich bin inzwischen ein alter Mann, Johann, älter als du und dein Vater zusammen. Weißt du, manchmal fehlt mir Eduard. Mit ihm konnte ich reden. Du und ich, wir hatten nie viel gemeinsam.«
»Das nicht«, stimmte ihm der König zu. »Aber deine Ratschläge waren immer gut.«
»Dann hättest du sie befolgen sollen.«
»Vielleicht.«
Sie schwiegen beide, und lange Zeit mochte keiner von ihnen das Gespräch wieder aufnehmen. Das Feuer flackerte unruhig, und das Knistern der Flammen klang in der Stille unheimlich laut.
»Es war nicht nötig, mich zu verbannen, Johann«, sagte der Zauberer schließlich. »Ich hatte mich bereits selbst verbannt.«
Der König zuckte mit den Schultern. »Ich musste etwas unternehmen. Eleanor war tot, und ich musste irgendetwas unternehmen.«
»Ich habe alles Erdenkliche für sie getan, Johann.«
Der König starrte ins Feuer und schwieg.
»Was hältst du von Ruperts Plan?«, fragte der Zauberer nach einer Weile.
»Vielleicht gelingt er. Alles andere haben wir bereits versucht. Wer weiß?«
»Ich mag Rupert. Ein kluger junger Mann, wenn du mich fragst. Und mutig.«
»Ja«, sagte Johann langsam. »Das ist er wohl.«
Sie sahen einander verlegen an. Zu viele Jahre Schmerz, Zorn und angesammelte Bitterkeit lagen zwischen ihnen, und das wussten sie beide. Sie hatten einander nichts mehr zu sagen; es war bereits alles gesagt. Der Große Zauberer erhob sich.
»Ich denke, es ist an der Zeit, ein paar Worte mit Thomas Grey zu wechseln. Seine magischen Kräfte haben während meiner Abwesenheit offenbar zugenommen; vielleicht kann er mich tatsächlich ein wenig unterstützen. Gute Nacht, Johann. Wir sehen uns noch, ehe wir in den Kampf ziehen.«
»Gute Nacht, Zauberer.«
Der König starrte ins Feuer und entspannte sich erst, als die Tür hinter dem Großen Zauberer ins Schloss fiel. Die Erinnerungen wollten ihn nicht loslassen, auch jetzt nicht, nach all den Jahren. Er schloss die Augen, und wieder standen er und der Zauberer gemeinsam an Eleanors Bett. Ihr Gesicht war mit einem Laken verhüllt.
Sie ist tot, Johann. Es tut mir so Leid.
Hol sie zurück ins Leben!
Das kann ich nicht, Johann.
Du bist der Große Zauberer! Hol sie zurück, verdammt noch mal!
Das kann ich nicht.
Du versuchst es doch nicht einmal.
Johann…
Du hast sie sterben lassen, weil sie deine Liebe nicht erwiderte!
Der König vergrub das Gesicht in den Händen, aber die Tränen wollten nicht kommen. Er hatte sie vor langer Zeit vergossen und besaß keine mehr. Er nahm rasch Haltung an, als sich die Tür hinter ihm öffnete, und setzte die gewohnt strenge Miene auf. Rupert und Harald traten auf ihn zu und verneigten sich ehrerbietig. Sie standen Schulter an Schulter, aber getrennt durch eine unsichtbare Wand der Kälte. König Johann lächelte müde. Er wollte seine Stiefel samt Schnallen fressen, wenn die beiden je mehr füreinander empfanden als eisige Abneigung. Rupert und Harald warteten geduldig, die Blicke auf einen Punkt irgendwo über dem Kopf des Königs gerichtet. Johann atmete tief durch. Weder Rupert noch Harald würde gefallen, was er ihnen zu sagen hatte, aber er war jetzt auf ihre volle Unterstützung angewiesen.
»Setzt euch!«, sagte er schließlich schroff. »Das Zimmer sieht ungemütlich aus, wenn ihr so herumsteht!«
Harald ließ sich sofort in den Sessel sinken, den der Zauberer eben erst freigegeben hatte, sodass sich Rupert auf die Suche nach einer zweiten Sitzgelegenheit machen musste.
Johann bewahrte mühsam Haltung, während er dem Rumpeln angeschrammter Möbel und einstürzender Büchertürme lauschte. Schließlich tauchte sein jüngerer Sohn wieder auf, der achtlos einen Lehnstuhl hinter sich herschleifte. Harald bekam einen Hustenanfall, den der König mit einem zornigen Blick erstickte. Johann drehte sich nicht um. Er wollte nicht sehen, welches Chaos Rupert wieder angerichtet hatte. Das hätte er bei seiner Gemütsverfassung nicht ertragen.
»'tschuldigung«, murmelte Rupert, während er den Lehnstuhl exakt zwischen Harald und den König platzierte.
»Schon gut«, sagte Johann höflich. »Es ist ein wenig eng hier.«
Er wartete geduldig, bis Rupert Platz genommen hatte, und zupfte dann nachdenklich an seinem Bart, weil er nicht so recht wusste, wie er anfangen sollte. Die Stille dehnte sich hin, und immer noch zögerte er. Er wusste, dass sein Vorhaben richtig und notwendig war, aber das machte es nicht leichter.
»Du wolltest uns sprechen, Vater«, begann Harald schließlich. »Geht es um die Hochzeit?«
»Nein«, erwiderte der König. Ihm entging nicht, dass Ruperts Hand lässig mit dem Schwertgriff spielte. »Ich fürchte, deine Hochzeit muss wieder mal verschoben werden.«
»So ein Pech aber auch!«, spöttelte Rupert.
»Das kannst du laut sagen«, meinte Harald.
»Worum geht es dann?«, fragte Rupert. »Um meinen Angriffsplan gegen die Dämonen?«
»Das Wort Plan ist wohl etwas übertrieben«, erklärte Harald. »Ich würde eher von Massenselbstmord sprechen.«
»Wenn du einen besseren Vorschlag hast, dann wird es Zeit, uns davon zu unterrichten!«, fuhr Rupert auf. »Oder sollen wir uns in der Burg verkriechen, bis uns die Dämonen holen? Glaub mir, Harald, es ist besser, im Kampf zu sterben!«
»Es ist besser, überhaupt nicht zu sterben«, sagte Harald.
»Es muss einen anderen Weg geben. Vielleicht weiß der Große Zauberer…«
»Nein«, unterbrach ihn der König ruhig, »selbst auf dem Gipfel seines Ruhms war er nie so mächtig. Aber du hast Recht, Harald. Es muss einen anderen Weg geben. Und mir ist auch etwas eingefallen. Etwas, das zumindest unsere Stellung gegen die Dämonen verbessern könnte.«
»Das verstehe ich nicht.« Rupert runzelte die Stirn.
»Wenn es einen anderen Weg gibt, warum hast du ihn dann nicht vor versammeltem Hofstaat erwähnt?«
Der König wich seinem Blick nicht aus. »Weil der Hofstaat ihn nicht gebilligt hätte.«
»Es hat etwas mit dem Curtana-Schwert zu tun, nicht wahr?«, warf Harald unvermittelt ein.
»In gewisser Weise ja«, entgegnete der König. »Ich hatte die feste Absicht, das Curtana gegen die Dämonen einzusetzen, aber das ist nun nicht mehr möglich. Es gibt jedoch andere Schwerter, die ebenso mächtig, wenn nicht noch mächtiger sind.«
Rupert und Harald sahen einander entgeistert an, als ihnen dämmerte, wovon er sprach, und Johann beobachtete mit einer Spur von Belustigung, dass sie sich zumindest in ihrer entsetzten Ablehnung einig zu sein schienen.
»Du sprichst von den Schwertern der Hölle«, sagte Rupert ungläubig. »Das kann nicht dein Ernst sein, Vater!«
»Warum nicht?«
»Die Schwerter der Hölle sind für uns tabu«, erklärte Harald, doch der König sah sehr wohl die kalte Berechnung in seinem Blick.
»Wir können sie nicht einsetzen«, sagte Rupert. »Das Curtana war schlimm genug, aber diese Klingen… ich bin nicht sicher, was mir mehr Angst einjagt, die Dämonen oder diese Schwerter des Bösen!«
»Verständlich«, meinte Harald. »Aber wir wissen ja, dass dir viele Dinge Angst einjagen.«
Rupert schaute ihn an, und Harald rutschte unruhig in seinem Sessel hin und her. »Sprich ruhig weiter, Harald«, sagte Rupert leise. »Reden ist schließlich deine große Stärke!«
»Schluss jetzt!«, fauchte der König. »Verschiebt eure Privatfehde, bis wir einen Weg aus der Finsternis gefunden haben. Das ist ein Befehl!« Er starrte seine Söhne an, bis sie beide zögernd nickten. Johann lehnte sich zurück, und als er wieder das Wort ergriff, klang seine Stimme unbewegt: »Die Schwerter der Hölle besitzen Macht. Genug Macht, um uns vor der Langen Nacht zu retten, die das Waldkönigreich bedroht. Und nur das zählt.«
»Aber wir wissen nicht einmal, was diese Schwerter bewirken«, protestierte Rupert. »Es ist so lange her, seit jemand die Klingen zu ziehen wagte, dass selbst die Legenden in diesem Punkt unklar sind. Felsenbrecher! Blitzstrahl! Hundsgift! Diese Namen können alles Mögliche bedeuten. Vielleicht bringen sie mehr Unheil in die Welt, als die Dämonen je anrichten können.«
»Selbst ein böses Schwert kann einem guten Ziel dienen«, erklärte Harald. »Vorausgesetzt, man behält es wachsam im Auge.«
Rupert schüttelte störrisch den Kopf. »Ich traue keinem Zauberschwert mehr.«
»Wir haben keine andere Wahl«, erklärte der König ruhig.
»Denk an deine eigenen Worte, Rupert: Der Dunkelwald ist ein Ort der Magie und muss mit Magie bezwungen werden.
Die Legenden berichten, dass die Schwerter der Hölle die mächtigsten Waffen waren, die der Mensch je ersonnen hat.«
»Und als sie das letzte Mal gezogen wurden, verwüsteten sie die halbe Welt, ehe es gelang, sie zu bändigen und wieder in ihre Scheiden zu stecken. Berichten die Legenden…«
»Diesmal könnten sie die Welt retten!«
»Oder vollständig zerstören.«
»Welchen Unterschied macht das schon?«, fragte Harald.
»Jenseits dieser Mauern herrscht die Finsternis. Das Reich steht vor dem Untergang. Die Schwerter der Hölle sind unsere letzte Hoffnung… oder sie vernichten uns alle. Es ist im Grunde völlig gleichgültig. Wir sind verdammt, wenn wir handeln, und wir sind verdammt, wenn wir nicht handeln. Ich persönlich nähme unsere Feinde gern mit in den Abgrund, wenn sich das irgendwie bewerkstelligen lässt.«
Rupert zog die Stirn kraus und schüttelte den Kopf. »Es muss einen anderen Weg geben.«
»Nein«, entgegnete Johann. »Wir sind am Ende unserer Möglichkeiten angelangt, Rupert. Die Schwerter der Hölle sind unser letzter Ausweg.«
»Dann sei Gott unseren Seelen gnädig«, murmelte Rupert.
Johann, Harald und Rupert starrten eine Weile schweigend ins Feuer, weil keiner dem anderen in die Augen schauen mochte. Sie wussten, dass sie sich in Kürze zum Südflügel begeben würden, um die verbotenen Schwerter aus den alten Hüllen zu ziehen. Aber nicht sofort. Noch nicht. Sie starrten mit stummer Verzweiflung in die Flammen, jeder in seine eigenen Gedanken verloren. Rupert erinnerte sich an die Grube nahe der Kupferstadt und an den Wurm, dem er dort begegnet war. Am deutlichsten aber erinnerte er sich an das Zauberschwert, das ihn im Stich gelassen hatte.
Felsenbrecher. Blitzstrahl. Hundsgif t.
Rupert begann zu zittern und konnte sich nicht mehr beruhigen.
In dem stillen, verlassenen Saal, der den Übergang zum Südflügel bildete, verdichtete sich die Finsternis. Es gab zwar lodernde Fackeln, Öllampen und Fuchsfeuer-Ampeln, aber ihr Schein reichte nicht aus, um die Düsterkeit zu durchdringen, die wie ein schmuddeliger Nebel die Luft erfüllte. Rupert stand am Nordeingang und starrte zweifelnd auf die verschlossene Doppeltür am anderen Ende des weitläufigen, widerhallenden Saales. Irgendwo hinter diesem Portal befand sich das Arsenal mit den Schwertern der Hölle, der letzten Hoffnung des Waldkönigreichs. Rupert runzelte die Stirn und trat unbehaglich von einem Fuß auf den anderen. Dieser Saal führte in den Südflügel, und seine Atmosphäre gefiel ihm ganz und gar nicht; er erinnerte ihn zu sehr an den Dunkelwald.
Rupert hatte Wert darauf gelegt, sich vor den anderen einzufinden, zum Teil, weil er ein wenig allein sein wollte, vor allem aber, um den wieder entdeckten Flügel verdammt genau in Augenschein zu nehmen, ehe er einen Fuß hineinsetzte. Eine Menge Geschichten hatten sich während der zweiunddreißig Jahre um den verschollenen Teil der Burg gerankt
– und keine einzige davon mit gutem Ausgang. Über hundert Suchtrupps hatten im Lauf der Zeit versucht, dem Rätsel des Südflügels auf die Spur zu kommen, aber zurückgekehrt waren nur jene, die den Eingang nicht gefunden hatten. Rupert ließ die Blicke umherschweifen und schüttelte den Kopf.
Nach allem, was er bisher gesehen hatte, wäre es kein Unglück gewesen, den Flügel weiterhin in seiner Versenkung ruhen zu lassen.
Eine Lampe flackerte plötzlich und erlosch. Die Schatten rückten näher. Rupert spürte ein wachsendes Unbehagen.
Aber statt seiner Angst nachzugeben, betrat er entschlossen den Saal. Er nahm die Lampe aus ihrer Nische und stellte mit einem kurzen Schütteln fest, dass sich kein Öl mehr im Behälter befand. Er lächelte und entspannte sich ein wenig. Von innen wirkte der Saal nicht mehr so groß und abweisend, aber die Stille und die unbewegte Luft legten sich auf sein Gemüt.
Und plötzlich hörte er leise schlurfende Schritte hinter sich.
Er fuhr herum, das Schwert in der Hand, und entdeckte den Seneschall, der am Nordeingang stand und ihn mit einem eisigen Blick bedachte. Rupert lächelte entschuldigend und schob die Waffe wieder ein.
»Tut mir Leid, Sir Seneschall!«
»Ach, auf mich müssen Sie keine Rücksicht nehmen«, meinte der Seneschall. Er kam in den Saal gehumpelt, schwer auf seinen knorrigen Gehstock gestützt. »Ich bin schließlich nur ein Lakai von vielen. Niemand nimmt Rücksicht auf mich, weshalb also sollten Sie es tun? Ich meine – schließlich bin ich nur der Mann, der im Alleingang die magische Barriere zum Südflügel fand und zerstörte. Aber hört deshalb jemand auf mich? Haltet euch vom Südflügel fern, sage ich den Leuten. Da drinnen seid ihr nicht sicher, sage ich. Aber hört jemand auf mich? Ganz im Gegenteil. Jeder macht genau das, was ihm in den Kram passt. Ich hätte längst zusammenbrechen müssen, wenn ich mir das zeitlich leisten könnte.«
»Hat Sie jemand gekränkt, Sir Seneschall?«, erkundigte sich Rupert vorsichtig.
»Ha!«, fuhr der Burgverwalter auf. »Gekränkt! Nur weil mich die halbe Leibgarde des Königs aus dem Bett gezerrt und in den Audienzsaal geschleift hat? Nur weil ich dort von einem Neandertaler mit Affenarmen und der denkbar niedrigsten Stirn erfuhr, mir sei die einmalige Ehre zuteil geworden, die Königliche Familie in den Südflügel zu geleiten, und zwar un-ver-züg-lich! Kein Bitte und kein Wenn es Ihnen recht ist!« Der Seneschall ließ müde und mutlos die Schultern hängen. Darauf verstand er sich; er hatte in jüngster Zeit viel Übung in solchen Gesten entwickelt. »Als ob es nicht reichen würde, dass ich seit der Ankunft der Flüchtlinge keine freie Minute mehr hatte. Als ob es nicht reichen würde, dass ich den lieben langen Tag durch die Korridore hetze, immer auf der Suche nach einem freien Plätzchen für alle diese Leute und immer auf die Gefahr hin, dass der König es sich im nächsten Moment wieder anders überlegt! Nein, jetzt verlangt er auch noch, dass ich ihn zum Arsenal bringe, zu einer Zeit, da jeder halbwegs vernünftige Mensch tief und fest schläft!
Der alte Herr wird senil, wenn Sie mich fragen! Als Nächstes braucht er jemanden, der ihn zum Abort führt!«
Rupert hörte sich das Geschimpfe des Seneschalls an und grinste breit. Es gab also noch ein paar Dinge, die sich während seiner langen Abwesenheit nicht geändert hatten.
Allmählich verrauchte der Zorn des Burgverwalters, und Rupert fand Gelegenheit, seinen Wortschwall mit einer Frage zu unterbrechen. »Was ist eigentlich mit Ihrem Bein passiert, Sir?«
»Mein Bein?« Der Seneschall starrte ihn verständnislos an und betrachtete dann den dicken Eichenknüppel, auf den er sich stützte. »Ach das. Julia und ich stießen auf ein paar Dämonen, die sich im Südflügel versteckt hatten. Keine Sorge, die sind längst erledigt.«
Er beließ es dabei, und Rupert beschloss, lieber nicht nach Einzelheiten zu fragen. Er glaubte nicht, dass er die volle Wahrheit wissen wollte.
»Ich hatte noch nicht mal Zeit, meinen eigenen Großvater zu begrüßen«, grummelte der Seneschall weiter. »Nicht dass wir uns viel zu sagen hätten, aber immerhin…«
»Ihren Großvater?«, fragte Rupert.
»Der Große Zauberer«, erklärte der Seneschall. »Muss zwanzig Jahre her sein, seit ich ihn zum letzten Mal sah.«
Rupert hörte Schritte hinter sich. Er warf einen Blick zurück und sah, wie Harald und der König die Halle betraten.
Der Seneschall rümpfte die Nase und drehte allen betont den Rücken zu. Rupert und der König wechselten einen wissenden Blick.
»Hat Sie jemand gekränkt, Sir Seneschall?«, fragte der König höflich.
»Ha!«, machte der Seneschall.
»Rupert«, sagte der König, »warum ist der Seneschall beleidigt?«
»Ich bin nicht beleidigt!«
»Worauf warten wir dann noch?«, erkundigte sich Harald.
»Auf in den Südflügel!«
»Einen Augenblick!«, unterbrach ihn Rupert. »Nur wir vier? Ohne Wachen, ohne Eskorte? Nach den Worten des Seneschalls ist der Südflügel nicht ganz ungefährlich.«
»Du kannst ja hier bleiben, wenn du Angst hast«, meinte Harald.
»Ich dachte eher an die Sicherheit des Königs«, entgegnete Rupert.
»Natürlich, was denn sonst?«, spottete Harald.
»Jetzt reicht es!«, sagte der König scharf. »Wir verzichten auf Wachen, Rupert, weil der Hofstaat eingriffe, wenn er die leiseste Ahnung von unserem Vorhaben hätte. Und wir haben keine Zeit mehr, eine Rebellion zu unterdrücken.«
»Was geschieht, wenn wir mit den Schwertern zurückkommen?«, wollte Rupert wissen. »Den Höflingen wird es nicht gefallen, dass wir sie über unsere Absicht im Unklaren gelassen haben.«
»Das dürfen Sie laut sagen!«, motzte der Seneschall.
»Nun fangen Sie nicht wieder von vorn an, Sir Seneschall«, sagte der König mit fester Stimme. »Sie hatten sich bereit erklärt, uns zu helfen.«
»Außerdem«, fügte Harald hinzu, »soll uns die Ansicht der Höflinge schnuppe sein, wenn wir die Schwerter erst besitzen.«
»Diskutieren können wir später«, mahnte der König. »Jetzt müssen wir handeln. Es wird bald hell, und wir sind noch nicht mal in der Nähe des Arsenals. Sir Seneschall, zeigen Sie uns bitte den Weg…«
»Meinetwegen«, brummte der Seneschall widerwillig.
»Wenn ich bis jetzt mitgemacht habe… Ich bin einfach zu gutmütig. Das ist mein großer Fehler. Ich lasse mich immer wieder ausnützen…«
Der Burgverwalter grummelte halblaut vor sich hin, während er sie aus dem Saal und zum Südflügel führte. Harald und der König folgten ihm auf den Fersen. Rupert bildete die Nachhut, die Hand nie weit vom Schwertgriff entfernt. Er ließ die Blicke aufmerksam umherschweifen, als die kleine Gruppe durch die düsteren, nur von Fuchsfeuer-Ampeln erhellten Passagen und Korridore hastete, und anfangs war er enttäuscht, dass alles so… normal wirkte. Nach all den Balladen und Legenden über den verschwundenen Südflügel hatte er eigentlich mit einer Umgebung gerechnet, die Furcht und Schrecken einflößte. Ein grimmiges Lächeln huschte über seine Züge. Hatte er nicht selbst die Erfahrung gemacht, dass Balladen und Legenden in den wenigsten Fällen stimmten?
Und doch hatte der Südflügel etwas… Beunruhigendes an sich. Rupert hatte es bereits beim Verlassen des Saales gespürt, und je tiefer er durch die leeren, hallenden Gänge in das Herz des wieder entdeckten Gebäudeteils vordrang, desto deutlicher wurde der Eindruck des Unfertigen, Unvollendeten
… als sei etwas im Wachsen, im Entstehen; etwas, das kein Ende hatte… Eine kalte Brise erfasste ihn, und die Nackenhaare sträubten sich ihm. Unwillig schüttelte er den Kopf. Er durfte sich jetzt nicht vom Verfolgungswahn überwältigen lassen. Doch dann kam ihm ein neuer Gedanke, und er beschleunigte seine Schritte, bis er neben dem Seneschall ging.
»Sir Seneschall, weshalb ist dieser Flügel leer, während der Rest der Burg von Flüchtlingen überquillt? Sollten wir nicht einen Teil der Leute hier einquartieren?«
»Niemand will hier bleiben«, erklärte der Seneschall ruhig.
»Vor zweiunddreißig Jahren geschah etwas in diesem Flügel – etwas so Furchtbares, dass die Echos bis heute nicht verstummt sind. Man spürt es im Boden und in den Wänden, ja sogar in der Luft – einen Hauch des Bösen, das hier vor langer Zeit seinen Anfang nahm und immer noch nachwirkt, nach all den Jahren. Die Steine erinnern sich. Sie spüren es auch, nicht wahr, Rupert? Jeder spürt es nach einer Weile.
Die ersten Leute, die wir hier unterbrachten, ergriffen nach wenigen Stunden die Flucht. Die Nächsten hielten es nicht einmal so lange aus. Schließlich gaben wir auf und überließen den Südflügel sich selbst. Was immer hier lauert, verbirgt sich im Dunkeln. Es will keine Gesellschaft.«
Rupert schluckte. Seine Kehle fühlte sich plötzlich so trocken an. »Dann ist dieser Flügel völlig leer?«
»Ja – wenn man von deinen abscheulichen Freunden absieht«, meinte Harald.
»Ach so, die hatte ich ganz vergessen.« Der Seneschall nickte. »Die Kobolde leben hier, Sire. Sie scheinen sich ausgesprochen wohl zu fühlen. Entweder sind sie nicht abergläubisch oder total unempfindlich gegen diese Umgebung.«
Rupert lächelte. »Vermutlich beides.«
»Ganz recht«, ertönte ein dumpfer Bass aus den Schatten.
»Willkommen daheim, Prinz Rupert!«
Der Suchtrupp blieb unvermittelt stehen, als der Anführer der Kobolde in das trübe Licht heraustrat, umringt von einem halben Hundert seiner Gefolgsleute. Sie trugen alle mehr oder weniger passende Rüstungen und waren bis an die Zähne mit Messern, Kurzschwertern und Äxten bewaffnet. Eine Weile rührte sich nichts, doch dann knieten die Kobolde wie ein Mann nieder und verneigten sich vor Rupert. Selbst der Anführer senkte kurz den Kopf und deutete eine Verbeugung an.
Rupert sah sie an, und ein erfreutes Grinsen breitete sich auf seinen Zügen aus. Das regelmäßige Essen und die besseren Lebensbedingungen auf der Burg hatten der ausgehungerten Schar gut getan. Mehr noch, die meisten von ihnen handhabten inzwischen ihre Waffen mit der Selbstverständlichkeit gut gedrillter und erfahrener Kämpfer. Jedenfalls machten die Kobolde einen weit besseren Eindruck als bei ihrer ersten Begegnung mit Rupert im Schlingpflanzenwald. Fast hatte er das Gefühl, er müsse sich vor ihnen verneigen.
»Erhebt euch!«, sagte er schließlich, ohne die Wärme in seiner Stimme zu verbergen. »Ihr seid jetzt Krieger!«
»Na, sie versuchen es zumindest«, knurrte der Anführer und bedachte seine Truppe mit einem strengen Blick. »Wir freuen uns, Sie wiederzusehen, Sire. Es hieß, Sie seien tot, aber das haben wir nicht geglaubt, keine Sekunde lang.«
»Danke«, sagte Rupert. »Es ist schön, wieder unter Freunden zu sein.«
Harald lachte spöttisch. »Das sieht dir ähnlich, Rupert, dich mit Kobolden anzufreunden! Aber andere Kämpfer hätten eine solche Allianz wohl auch nicht nötig.«
Der Anführer winkte lässig, und ein halbes Dutzend Kobolde, die in der ersten Reihe standen, packten Harald und holten ihn ohne viel Federlesens von den Beinen. Harald schnappte wütend nach Luft und griff nach seinem Schwert, erstarrte aber mitten in der Bewegung, als der kleinste Kobold vortrat und ihm ein Messer mit gezackter Schneide an die Kehle hielt.
»Erteilen Sie den Befehl, und wir ziehen ihm die Haut ab!«, erklärte der kleinste Kobold fröhlich. »Es reicht auch, wenn Sie nicken. Wir haben es nicht so mit Stil und Zeremonien. Oder sollen wir Hackfleisch aus ihm machen? Wir könnten ihn auch langsam über einem Holzfeuer rösten.«
»Daran zweifle ich keine Sekunde lang«, entgegnete Rupert. »Leider brauchen wir Harald lebendig, momentan zumindest. Ihr könnt ihn wieder loslassen. Ich bin sicher, dass er in Zukunft bessere Manieren an den Tag legt.«
»Dürfen wir ihn nicht wenigstens ein paarmal gegen die Wände werfen?«, bettelte der kleinste Kobold.
»Vielleicht später«, versprach Rupert.
Die Kobolde murrten enttäuscht und entfernten sich zögernd, nachdem sie Harald noch ein paarmal kräftig geschubst hatten. Der Kronprinz setzte sich auf, sah hasserfüllt in die Runde und tastete unauffällig nach seinem Schwert, senkte aber den Arm, als er merkte, dass hundert gut bewaffnete Kobolde jede seiner Bewegungen beobachteten. Also beschloss Harald, das Kleine Volk keines Blickes mehr zu würdigen. Er rappelte sich auf und nahm mühsam eine würdevolle Haltung ein.
König Johann beobachtete Rupert, der sich leise mit dem Anführer der Kobolde unterhielt. Anfangs war er eher belustigt über die Ehrfurcht des Kleinen Volkes gewesen, aber allmählich dämmerte ihm, dass sich hinter der lächerlichen Bewunderung Ehrfurcht und echter Respekt verbargen. Seit sich die Kobolde auf der Burg befanden, hatten sie sich kein einziges Mal vor dem König verneigt. Und wenn das jemand von ihnen verlangt hätte, so wären die rebellischen kleinen Geschöpfe vermutlich in lautes Gelächter ausgebrochen. Aber Rupert zeigten sie freiwillig ihre Ehrerbietung. Ebenso wie die Gardesoldaten, die mit ihm aus der langen Nacht zurückgekehrt waren. Wenn man die Geschichten hörte, die sie in den Kasernen erzählten, konnte man Rupert für einen jener Helden halten, die in den Balladen besungen wurden. Sogar der Champion war voll des Lobes über Ruperts Mut und Kampfgeschick gewesen. Sogar der Champion… König Johann runzelte die Stirn und zupfte sich am Bart. Darüber musste er nachdenken. Rupert schickte sich tatsächlich an, ein Krieger und ein Held zu werden, und das… war gefährlich.
»Ich muss jetzt los«, sagte Rupert zum Anführer der Kobolde. »Wir haben es furchtbar eilig. Ihr wisst sicher, dass wir in ein paar Stunden gegen die Dämonen ins Feld ziehen, oder?«
»Klar«, entgegnete der Anführer der Kobolde mit barscher Stimme. »Einige von uns werden Sie begleiten. Wir haben nicht vergessen, was die Dämonen uns und unseren Familien antaten. Sie kamen in der Nacht, als kein Mond am Himmel stand. Sie töteten zuerst unsere Kinder und dann unsere Frauen, und nur die wenigen unter uns, denen die Flucht gelang, überlebten, um von dem Massaker zu berichten. Damals wussten wir nichts von Hass und Rache. Wir wussten nicht, wie man sich zur Wehr setzt. Aber wir haben in kurzer Zeit viel gelernt. Es heißt, die Menschen können vergessen, Prinz Rupert. Vielleicht bringen sie uns auch das irgendwann bei.
Wir vergäßen vieles so gern, aber wir wissen nicht, wie das zu bewerkstelligen ist. Wir haben immer noch das Blut und den Tod vor Augen, und in unseren Ohren hallen immer noch die Schreie wider.
Immerhin haben wir gelernt, wie man Dämonen tötet. Das reicht für den Augenblick. Wenn wir schon keinen Seelenfrieden finden, geben wir uns mit Rache zufrieden. Vielleicht lernen wir auch noch, tapfer zu sein, jetzt, da wir keine andere Wahl haben.«
Rupert streckte die Hand aus, und der Anführer der Kobolde nahm sie fest zwischen seine knorrigen Finger.
»Sie werden eines Tages stolz auf uns sein, Prinz Rupert.«
»Ich bin jetzt schon stolz auf euch«, sagte Rupert. »Ich bin es jetzt schon.«
Der Anführer der Kobolde nickte kurz, ehe er sich umdrehte und in den Schatten zurückzog. Sekunden später verschmolz auch seine Truppe mit dem Dunkel des Korridors – ebenso lautlos, wie sie aufgetaucht war. Rupert blinzelte heftig und drehte sich erst zu seinen Begleitern um, als seine Augen wieder trocken waren. Der König warf ihm einen sonderbaren Blick zu, sagte aber nichts. Harald brachte unauffällig seine Kleidung in Ordnung und tat so, als wäre überhaupt nichts vorgefallen. Der Seneschall lehnte ein Stück weiter vorn an der Wand, starrte die Decke an und wippte ungeduldig mit den Zehenspitzen.
»Können wir jetzt weitergehen?«, fragte er mit Blick zur Decke hinauf. »Diese Konversationen mögen ja sehr aufschlussreich sein, aber sie bringen uns keinen Schritt näher an das Arsenal heran.«
»Einen Augenblick, Sir Seneschall«, unterbrach ihn der König. »Sie haben einen Weg um den fehlenden Turm herum gefunden?«
»Amateure!«, seufzte der Seneschall. »Immer muss ich mich mit Amateuren herumplagen. Natürlich habe ich einen Weg um den Turm herum gefunden. Das ist schließlich meine Aufgabe, oder? Hat man mich nicht aus den warmen Federn gerissen, weil ich mich als Einziger in diesem verdammten Labyrinth auskenne? Nun folgen Sie mir bitte und bleiben Sie ganz in meiner Nähe! Ich kann meine kostbare Zeit nicht damit verschwenden, dass ich mich um jeden Nachzügler einzeln kümmere.«
»Natürlich nicht, Sir Seneschall«, beschwichtigte ihn der König.
Leise vor sich hin schimpfend humpelte der Seneschall den Korridor entlang, und nach kurzem Zögern setzte sich die kleine Gruppe in Bewegung. Rupert übernahm wieder die Nachhut. Er zog nachdenklich die Stirn kraus, während er über die Worte des Seneschalls nachsann. Was zum Henker hatte dieser fehlende Turm zu bedeuten, und warum war es so wichtig, dass man ihn mied? Und überhaupt, wie waren die Dämonen in den Südflügel gelangt? Rupert schüttelte grimmig den Kopf. Man hatte ihm wieder mal jede Menge Neuigkeiten vorenthalten. Offensichtlich war viel geschehen, seit Julia den Südflügel wieder entdeckt hatte, doch das erstaunte ihn nicht sonderlich. Wo immer Julia ihre Finger im Spiel hatte, gab es Komplikationen. Ein Lächeln huschte über Ruperts Züge, und dann bemühte er sich krampfhaft, an etwas anderes zu denken. Die Erinnerung an Julia bereitete noch zu große Schmerzen.
Die Lichter wurden spärlicher, als die Gruppe tiefer in den Südflügel vordrang. Korridore wechselten mit breiten Galerien, Sälen, Rotunden und scheinbar endlosen Treppen, bis die Männer schließlich vor dem Arsenal standen. Der Seneschall sperrte das hohe Portal auf und trat einen Schritt zur Seite, damit der König als Erster über die Schwelle treten konnte, aber einen Moment lang blieben alle unschlüssig stehen. Rupert starrte die Flügeltüren an und spürte ein leises Kribbeln, das eine Mischung aus Angst und Ehrfurcht in ihm hervorrief. Seit nunmehr fast vierzehn Generationen war das Arsenal die Waffenkammer der Waldkönige. Jenseits dieses Portals lagen alle jene geschichts- und legendenträchtigen Klingen, all jene Waffen der Helden, Schurken und besiegten Feinde des Reiches. Und irgendwo im Dunkel jenseits dieses Portals lagen die Schwerter der Hölle: Felsenbrecher, Blitzstrahl und Hundsgift.
Rupert musterte den König, der immer noch keine Anstalten traf, das Arsenal zu betreten. Seine Züge waren ernst und angespannt, und Schweißperlen drangen unter dem Stirnreif hervor. Ruperts Blicke streiften Harald, aber der verbarg seine Gefühle wie gewohnt hinter einer Maske kühler Gelassenheit. Und vielleicht bildete sich Rupert nur ein, in den Augen seines Bruders einen gierigen Glanz zu erkennen.
Rupert betrachtete wieder das einladende Portal, trat entschlossen vor und schob den linken Flügel auf, der lautlos nach innen schwang, obwohl er seit vielen Jahren nicht mehr bewegt worden war. Der Seneschall war im Nu an seiner Seite und hielt eine lodernde Fackel hoch, während Prinz Rupert die Schwelle zum Arsenal der Waldkönige überschritt.
Der Saal war so weitläufig, dass seine Grenzen im Dunkel jenseits des Fackelscheins verschwammen. Links und rechts und vor ihm ragten Klingen auf, von denen er sein Leben lang gehört hatte, ohne sich jedoch die Hoffnung zu machen, sie jemals zu Gesicht zu bekommen. Langsam ging Rupert durch den schmalen Mittelgang. Schwerter, Äxte und Streitkeulen füllten die Waffenregale und hingen stolz an den Wänden, das ziselierte Metall und die reich verzierten Lederhüllen dank der Magie des Arsenals makellos erhalten. Unter einem schlichten Messingschild, in dem der Name eingraviert stand, hing das berühmte Breitschwert Rechtsprecher, das sieben Waldkönige nacheinander gedient hatte, bis es schließlich so schartig und verbeult war, dass es keinen scharfen Schnitt mehr ausführen konnte. Nicht weit davon entfernt erhob sich die schlanke Silberklinge namens Verräter, die der schnöde Sternenlicht-Herzog während der kurzen Zeit seiner gewaltsamen Machtübernahme geschwungen hatte. Und mehr…
und mehr… Ein Gefühl von Alter und Geschichte überwältigte Rupert, als er langsam bis zum Ende des Arsenals vordrang. Das Waldkönigreich war sehr viel älter, als die meisten Leute ahnten oder sich vorstellen konnten.
Viele der Regale standen leer; man hatte sie ausgeräumt, um die Männer auszurüsten, die sich bereit erklärt hatten, die Burg gegen die Dämonen zu verteidigen. Andere Schwerter waren zurückgeblieben, weil sie so viele Einsätze gesehen hatten, dass sie nur noch als Erinnerungsstücke oder Zeremonienwaffen taugten. Dennoch enthielt das Arsenal tausende und abertausende von Waffen, die in langen Reihen geduldig auf den Tag warteten, da sie wieder zur Verteidigung des Waldkönigreichs benötigt würden. Manche Klingen kannte Rupert seinem Namen oder seiner Geschichte nach, während andere längst aus der Erinnerung getilgt waren. Mehr als einmal starrte er eine namenlose Waffe an und sann darüber nach, welcher Triumph oder welche Tragödie sich hinter dem glatten Stahl verbergen mochte. Doch die Schwerter der Hölle erkannte er auf den ersten Blick, obwohl er sie noch nie zuvor gesehen hatte.
Sie standen gemeinsam in einer Nische, drei mächtige Langschwerter in Scheiden aus ziseliertem Silber. Die Griffe waren mit dunklem, fleckigem Leder umwickelt. Die Klingen hatten eine Länge von mindestens zwei Metern und am Ansatz eine Breite von etwa fünfzehn Zentimetern. Rupert betrachtete sie und wusste, weshalb er bereits vor dem Betreten des Arsenals einen Schauder gespürt hatte. Einen Moment lang drang ihm der Gestank von Blut in die Nase, aber der Eindruck verflog so rasch, dass Rupert ihn als Einbildung abtat. Die Klingen ragten vor ihm auf, kalt und majestätisch und allem Anschein nach nicht gefährlicher als jedes gewöhnliche Schwert. Dennoch spürte Rupert tief im Innern eine dumpfe Vorahnung, als wälze sich ganz in seiner Nähe eine uralte, Furcht erregende Kreatur unruhig im Schlaf. Ärgerlich verdrängte er diesen Gedanken und griff nach der erstbesten Klinge. Der Seneschall packte ihn rasch am Arm und zog ihn zurück.
»Vorsicht, Sire, die Schwerter sind geschützt! Wenn Sie eines davon berühren, ehe der Bann gelöst ist, können wir vermutlich Ihre Reste in einem Eimer wegtragen.«
»Natürlich, Sir Seneschall«, sagte Rupert. »Das hatte ich völlig vergessen.« Er merkte, dass seine Wangen brannten, und schalt sich insgeheim einen Trottel. Selbst ihm hätte klar sein müssen, dass so mächtige Waffen wie die Schwerter der Hölle nicht für jedermann zugänglich herumstanden. »Ich nehme an, dass es einen Gegenzauber gibt.«
»Ja«, warf der König ein. »Ich erfuhr ihn von meinem Vater, so wie er ihn von seinem Vater erfahren hatte. Allerdings hätte ich nie geglaubt, dass ich ihn eines Tages anwenden müsste.«
Rupert und der Seneschall gaben den Weg für König Johann frei. Harald hielt sich ein wenig im Hintergrund. Er trug immer noch die Maske der Gleichgültigkeit, beobachtete aber ganz genau, was sein Vater tat. Der König blieb eine Weile vor den drei großen Schwertern stehen und stieß schließlich drei Worte in einer rauen, gutturalen Sprache hervor, die Rupert noch nie zuvor gehört hatte. Die Worte hingen in der Luft, brachen sich an den Wänden und schienen endlos widerzuhallen. Und dann antworteten ihm die Schwerter.
Ruperts Nackenhaare sträubten sich, als ihn die leisen, unheimlichen Stimmen von überall und nirgends erreichten, anschwollen und verebbten und sich zu seltsamen, unnatürlichen Klängen verwoben, die er beinahe verstand und doch nicht ganz zu fassen bekam. Es hörte sich vieldeutig, fließend und ganz und gar fremdartig an. Der König antwortete hin und wieder, mit Worten, die sich hart und angestrengt von der sanften, fast verführerischen Sprache der Schwerter abhob.
Und dann verstummten die Klingen unvermittelt. Die Stimme des Königs nahm einen sonderbar unangenehmen Rhythmus an und senkte sich zu einem beinahe unhörbaren Flüstern. Im Saal wurde es merklich kälter. Rupert sah, dass sein Atem dampfte. Die in die Silberscheiden eingravierten Runen schienen sich zu winden, als seien sie zum Leben erwacht, und Rupert spürte plötzlich einen Druck ganz in der Nähe…
eine Kraft, die gegen ihre Fesseln ankämpfte. Die Luft roch nach frisch vergossenem Blut. Etwas bewegte sich in den Schatten jenseits des zuckenden Fackelscheins. Und dann presste der König erneut drei Worte hervor, und die Schwerter der Hölle lachten leise. Eine lauernde Gier schwang in ihrem Lachen mit. Rupert zuckte angewidert zusammen, als hätte ihn das Lachen irgendwie besudelt. Das letzte Echo verhallte, und im Saal herrschte wieder Stille. Die Fackel flackerte und zuckte, aber die Schatten waren nur noch harmlose Schatten. Die Luft erwärmte sich, und der überwältigende Gestank nach Blut verwehte zu einer unangenehmen Erinnerung. König Johann starrte die Schwerter der Hölle unbewegt an. Als er schließlich sprach, klang seine Stimme wieder gelassen.
»Drei Schwerter«, sagte er ruhig. »Eines für jeden aus dem Geschlecht der Waldkönige im Kampf gegen die ewige Nacht. Ich wähle… Felsenbrecher.«
»Der Herr erlöse uns von allem Übel«, murmelte der Seneschall.
König Johann streckte den Arm aus und nahm das linke Schwert aus dem Ständer. Die gewaltige Klinge schien in seiner Hand fast nichts zu wiegen, doch er traf keine Anstalten, sie aus der Scheide zu ziehen. Er starrte sie einen Moment lang an, ehe er den Riemen über die linke Schulter streifte und festzurrte. Der Griff ragte hoch hinter seinem Kopf auf, während die Spitze einen Finger breit über dem Boden endete. Er hob kurz die Schulter an, um den Tragriemen zurechtzurücken, und trat dann zur Seite, damit Harald seine Wahl treffen konnte.
Harald näherte sich vorsichtig den beiden noch verbliebenen Schwertern. Sein Blick wanderte unschlüssig von einer Klinge zur anderen, ehe er an der Waffe zur Rechten haften blieb. Die Maske der Unbekümmertheit war verschwunden.
Dahinter kam ein Gesicht mit harten Linien und dunklen, entschlossenen Augen zum Vorschein. Ein grimmiges Lächeln, das nichts mit Humor zu tun hatte, umspielte seine Lippen. Er buchstabierte die alten Runen, die in den Quergriff eingraviert waren. »Blitzstrahl«, sagte er leise. »Ich wähle Blitzstrahl.« Er nahm die Waffe rasch aus dem Ständer, streifte sie über die linke Schulter und zerrte so ungeduldig an den Riemen, dass ihm der Seneschall beim Festziehen der Schnallen helfen musste.
König Johann forderte Rupert mit einer Handbewegung auf, an den Waffenständer zu treten. Rupert musterte das Schwert, das übrig geblieben war, rührte sich aber nicht von der Stelle. Beeil dich!, flüsterte eine Stimme in seinem Innern. Es ist nur ein Schwert! Die Silberscheide glänzte verführerisch im unruhigen Fackelschein. Hundsgift. Ein Schwert der Macht.
Und Rupert stand wieder in der Bergwerksgrube der Kupferstadt, reckte sein Schwert in die Höhe und rief um Beistand – um einen Beistand, der nie kam.
»Nein«, sagte er schließlich und wandte sich ab. »Ich habe kein Vertrauen mehr in die Zauberschwerter. Gib es einem anderen!«
»Nimm das Schwert!«, verlangte König Johann. »Du bist von königlichem Geblüt. Es ist dein Recht und deine Pflicht, mit diesem Schwert zu kämpfen. Das Volk braucht Symbole, damit es uns in die Schlacht folgt.«
»Nein«, erklärte Rupert. »Es gibt Dinge, die ich einfach nicht tun kann, Vater, auch wenn du sie als meine Pflicht bezeichnest!«
»Nimm das Schwert!«, schnauzte der König. »Das ist ein Befehl!«
»Ich lasse mir nichts mehr befehlen!« Rupert drehte sich um und ging. Seine Schritte hallten dumpf in der Stille wider, als er sich durch den Mittelgang entfernte. Die Schwerter zahlloser Helden schienen ihn vorwurfsvoll anzustarren, weil er sich von ihnen abwandte. Rupert ging weiter, mit hoch erhobenem Kopf. Er hatte genug geleistet. Niemand hatte das Recht, noch mehr von ihm zu fordern. Er würde sich den Dämonen stellen, weil das die letzte Hoffnung für das Reich war, aber mit einer ehrlichen Waffe in der Hand. Er wollte sich nicht auf den Zauber des Bösen verlassen, den die Schwerter der Hölle ausstrahlten. Eine Woge der Erschöpfung erfasste ihn, und er überlegte, ob er sich vor dem Kampf im Morgengrauen noch eine Stunde Schlaf gönnen sollte. Er war so entsetzlich müde… Er schüttelte den Kopf und lächelte bitter. Nach dem Kampf hatte er genug Zeit, sich auszuruhen, so oder so. Alle Zeit der Welt. Er verließ das Arsenal und trat in den Korridor hinaus, wo Darius schon auf ihn wartete.
Rupert sah einen kurzen Lichtreflex, als der Dolch die Luft zerschnitt, und warf sich hastig zur Seite. Die Klinge durchtrennte sein Kettenhemd, als er zu Boden stürzte, verfehlte aber wie durch ein Wunder seine Rippen. Rupert rollte sich ab und sprang rasch wieder auf, das Schwert in der Hand.
Darius kam auf ihn zu, fauchend und wirr vor sich hin murmelnd.
Das winzige verfärbte Messer schnellte in kurzen Bögen von links nach rechts, als Darius auf ihn eindrang, und Rupert wich Schritt um Schritt zurück. Sein geübter Blick erkannte das Gift auf der Klinge, und er wollte kein Risiko eingehen.
Sein Schwert war lang genug, um den Gegner auf Abstand zu halten, bis die anderen ihm zu Hilfe kamen.
Harald und König Johann erschienen am Eingang des Arsenals, und Darius knurrte sie an wie ein Tier. Schwarze Flammen zuckten von seinen Fingern, als er die Hand ausstreckte. Mit einer fließenden Bewegung riss Harald Blitzstrahl aus der Scheide und hielt Darius das Zauberschwert entgegen. Der schimmernde Stahl sog die Flammen auf.
Darius wandte sich dem König zu, doch der hatte bereits Felsenbrecher gezogen. Darius ließ Rupert stehen und hob die Hände zu einer beschwörenden Geste. Plötzlich klaffte ein langer, gezackter Spalt im Steinboden vor ihm, der sich zusehends verbreiterte. Blutroter Nebel quoll hervor, gefolgt von einer Teufelshorde mit spitzen Klauen und Fängen, in deren Augen Mordlust glomm. Die Luft war erfüllt von Schwefelgestank. Einen Moment lang standen Harald und der König wie gelähmt da, gebannt von den Urängsten, die in ihnen aufstiegen, aber dann löste sich die Erstarrung, und sie griffen mit wildem Kriegsschrei an. Blitzstrahl und Felsenbrecher reflektierten den rötlichen Höllenschein. Die Teufel kreischten und wimmerten, als die Zauberschwerter sie niedermähten, aber ihre Wunden heilten im Nu, und sie erhoben sich immer wieder, um sich auf die Feinde zu stürzen. Harald und der König standen Rücken an Rücken und kämpften weiter.
Darius wandte sich von neuem Rupert zu und drängte ihn gegen eine Wand. Immer wieder verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und versuchte, die Deckung des Prinzen zu durchbrechen. Er brannte darauf, Rupert mit dem Dolch zu töten. Er wollte spüren, wie sich die Klinge in sein Fleisch bohrte. Das würde ihm Befriedigung verschaffen.
Rupert folgte den Bewegungen des Lords und überlegte verzweifelt, wie er sich aus dieser Falle befreien konnte. So wie es aussah, brauchten Harald und der König dringend seine Hilfe, aber die Wand schnitt ihm den Fluchtweg ab, und Darius fuchtelte gefährlich nahe mit seinem vergifteten Dolch herum. Rupert spürte, wie ihm der Schweiß über den Rücken lief, während er die Hiebe parierte. Darius vernachlässigte seine Deckung sträflich, aber Rupert wagte keinen Vorstoß, denn der geringste Kratzer mit diesem Dolch wäre sein Tod gewesen. Andererseits verrieten ihm seine schmerzenden Muskeln, dass er nicht mehr lange durchhalten konnte. Obwohl der Große Zauberer sein Möglichstes getan hatte, um ihn zu heilen, war er noch vom Kampf gegen die Dämonen geschwächt, während Darius in seinem Wahn ungeahnte Kräfte entwickelte. Rupert runzelte die Stirn. Er musste etwas unternehmen, so lange er noch die Energie dazu besaß.
Rupert parierte den nächsten Hieb und schwang sein Schwert in einem weiten, flachen Bogen gegen die Augen des Angreifers. Instinktiv wich Darius zurück. Rupert setzte mit einem weiten Satz nach, umklammerte den Gegner in der Taille und packte seinen Messerarm. Sie stürzten gemeinsam zu Boden. Im nächsten Moment schloss sich die Spalte im Boden, und die Teufel waren spurlos verschwunden.
Rupert und Darius rappelten sich hoch. Darius lachte keuchend und hechtete nach vorn, um Rupert mit dem Dolch die Kehle aufzuschlitzen. Harald hielt ihn mitten im Sprung mit einem gewaltigen Hieb von Blitzstrahl auf. Blut spritzte auf, und Darius wurde gegen die Korridorwand geschleudert. Das Zauberschwert hatte ihm den Schädel gespalten, und doch versuchte Darius sich umzudrehen und zu fliehen. Harald trat vor und stieß ihm die Klinge in den Rücken. Darius sank mit einem gurgelnden Geräusch zusammen und hinterließ eine breite Blutspur auf den ehrwürdigen Holzleisten.
Harald versuchte das Schwert aus der Wunde zu ziehen, aber das war nicht so einfach zu bewerkstelligen. Ein rötlicher Schimmer kroch langsam die stählerne Klinge entlang, während sie sich immer tiefer in die klaffende Wunde bohrte.
Harald umklammerte den Griff mit beiden Händen und schaffte es schließlich unter Aufbietung aller Kräfte, das Schwert an sich zu reißen. Der rote Glanz hatte sich verstärkt.
»Nun«, ertönte die ruhige Stimme des Seneschalls vom Eingang des Arsenals her, »zumindest scheinen die Schwerter der Hölle ihrem Ruf gerecht zu werden. Kaum im Einsatz –
und schon mit Blut eingeweiht!«
»Allerdings.« Harald nickte. »Blut scheinen sie zu lieben.
Und sie töten gern.« Er betrachtete nachdenklich Blitzstrahls rot glänzende Klinge und schob das Schwert in die Scheide.
Seine Züge wirkten gelassen wie immer, aber seine Augen verrieten eine gewisse Unruhe, als käme ihm jetzt erst zu Bewusstsein, worauf er sich mit dieser Waffe eingelassen hatte. Plötzlich sah er, dass seine Hände mit Blutspritzern übersät waren, und er wischte sie mit schnellen, fast zwanghaften Bewegungen an seinem Wams ab.
»Auf alle Fälle haben wir endlich unseren Verräter erwischt«, sagte er, nachdem er sich gesäubert hatte. »Darius muss die Dämonen durch die Entlüftungsschächte, die er so gut kannte, in den Südflügel geschleust haben. Und er hat vermutlich seine neu erworbenen magischen Kräfte dazu genutzt, den Teleport-Bann des Großen Zauberers zu stören.«
Er warf einen Blick auf Darius, der leblos in einer Ecke des Korridors lag. »Zum Glück ist sein Tod kein großer Verlust.
Niemand wird ihn vermissen.«