KAPITEL FÜNF Der Schwarze Turm

TIEF IM DUNKELWALD, im verborgenen Herzen der endlosen Nacht, lag eine Lichtung. Hoch droben neigten sich die Baumkronen nach innen und verwoben ihre knorrigen, verwachsenen Äste zu einem Geflecht, das eine dichte Laube bildete und jegliches Tageslicht aussperrte. Die Stämme waren gesprenkelt mit phosphoreszierenden Flechten, die einen unheimlichen blauen Schimmer verbreiteten. Pilze und schmierige Moospolster bedeckten den Boden der Lichtung, in deren Mitte ein einzelner halb verfaulter Baumstumpf in Form eines Herrscherthrons aufragte. Und in diesem Dunkel, auf diesem modrigen Thron, saß der Dämonenfürst.

Im Vergleich zu seinen Artgenossen wirkte der Dämonenfürst fast wie ein Mensch. Er hatte das Aussehen eines Menschen, wenngleich seine Züge verschwommen waren und seine dünnen Finger in Klauen endeten, aber die glühenden roten Augen verrieten keine Spur von menschlichen Gedanken oder Gefühlen. Er sah wie ein Mensch aus, weil es ihm Spaß machte, Menschengestalt anzunehmen. Früher einmal hatte er eine andere äußere Form angenommen, und vielleicht tat er das in Zukunft wieder, aber jetzt lebte er nun einmal in der Welt der Menschen – wenn man bei einem Wesen, das nie geboren worden war, das Wort leben verwenden konnte.

Selbst im Sitzen war er unnatürlich groß. Er wirkte hager bis an die Grenze der Auszehrung, seine fahle Haut hatte einen flackernden Perlmutt-Glanz, und seine Kleidung bestand aus tiefschwarzen Lumpen und Fetzen. Er trug einen verknautschten, breitkrempigen Hut, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Während er einer Aaskrähe gleich auf dem Thron hockte, kaute er lässig auf etwas Lebendigem herum, das noch schwach zappelte und fiepte. Der Dämonenfürst brauchte keine Nahrung, aber seine Natur zwang ihn dazu, Angst zu verbreiten, und er liebte es, andere Geschöpfe zu töten.

Um den morschen Thron scharten sich die Dämonen des Dunkelwalds, bucklige Schatten, so weit die Lichtung reichte.

Am Boden kauernd oder hockend, auf den Bäuchen kriechend, huldigten sie ihrem Herrscher. Sie beobachteten, wenn sie Augen hatten, lauschten, wenn sie Ohren hatten, oder…

warteten ganz einfach. Sie waren Geschöpfe der Finsternis, und die Finsternis war geduldig.

Eine strahlende Silberkugel erschien plötzlich vor dem Thron, schwebte schimmernd und pulsierend in der faulig stinkenden Luft. Der Dämonenfürst grinste schauerlich, wischte sich das frische Blut vom Kinn und ließ seine Beute achtlos fallen. Zwei Dämonen zankten sich um die Reste. Der Herr der Finsternis winkte lässig, und die Kugel schwebte näher heran.

»Meister!«, erklang eine ruhige Stimme aus der Kugel, und der Dämonenfürst fletschte die blutverschmierten Zähne.

»Ja, mein teurer Verräter – ich warte auf deinen Bericht!«

Er sprach leise und zischelnd, in einem Tonfall, der den Ohren wehtat.

»Prinz Rupert und sein Gefolge nähern sich den Grenzen deines Reiches, Meister. Sie wollen durch die lange Nacht reiten, um zum Schwarzen Turm zu gelangen. Du musst sie aufhalten, ehe sie den Großen Zauberer erreichen…«

»Er ist bedeutungslos«, entgegnete der Dämonenfürst belustigt. »Kein Mensch vermag etwas gegen die Dunkelheit auszurichten – oder bist du etwa anderer Ansicht?«

Er ballte die Hand zur Faust, und aus der Kugel drangen laute Schmerzensschreie. Die am Boden kauernden Dämonen rutschten unbehaglich umher, beunruhigt durch die Gewaltandrohung ihres Herrschers. Der Herr der Finsternis öffnete die Hand. Die Schreie verebbten zu einem gequälten Atmen.

»Verzeih mir, Meister, ich…«

»Du vergisst die Rangfolge, mein teurer Verräter. Einst suchtest du Macht über mich zu erlangen, aber nun gehörst du mir mit Leib und Seele, und ich kann über dich gebieten, wie es mir beliebt. Ein falsches Wort, und ich verwandle dich in den Geringsten meiner Dämonen! Aber wenn du mir bedingungslos gehorchst, sollen alle Königreiche dieser Welt dir gehören…«

»Ja, Meister. Ich bin dein treuester Diener.«

»Du bist mein Sklave.« Der Dämonenfürst stützte das Kinn in die knochige Hand und starrte nachdenklich die Schwebekugel an. Der breitkrempige Hut tauchte sein Gesicht in Schatten, in ein tiefes Dunkel, aus dem nur seine roten Augen glommen. »Nun, Verräter, hast du das Curtana?«

»Ja, Meister. Es befindet sich hier auf der Burg, in einem sicheren Versteck.«

Der Herr der Finsternis lachte leise, und die Dämonen zuckten zusammen. »Du hast deine Sache gut gemacht, Verräter. Ohne dieses Schwert können sie nichts gegen mich ausrichten. Ich habe die Zaubergemme. Ich habe das Horn des Einhorns. Ich habe meine prächtigen Dämonen. Und endlich, nach Jahrhunderten des Wartens, zeigt sich am Himmel wieder der Blaue Mond. Meine Zeit ist nahe.«

»Aber der Große Zauberer, Meister!«

Der Dämonenfürst ballte die Faust, und wieder erschollen Schreie aus der Kugel. »Trotz seines Wissens und trotz seiner Macht ist der Zauberer nur ein Mensch. Ich bin solchen Menschen schon früher entgegengetreten und habe sie mit Vergnügen zerbrochen.«

Er öffnete die Hand, und die Schreie verstummten. Eine Weile hörte man auf der Lichtung nichts außer dem rauen, keuchenden Atmen. Der Dämonenfürst lächelte.

»Zurück an die Arbeit, Sklave! Sei wie zuvor meine Augen und Ohren unter den Höflingen des Königs! Sei meine Finsternis im Herzen ihres Lichts!«

Die Kugel flackerte und verschwand, und wieder lag Dunkelheit über der Lichtung, gemildert nur vom bläulichen Schimmer der phosphoreszierenden Flechten. Der Herr der Finsternis ließ den Blick über die geduckt wartenden Dämonen schweifen und lachte leise.

»Bald«, versprach er ihnen. »Bald…«

Prinz Rupert zügelte das Einhorn und warf einen düsteren Blick auf den Dunkelwald, der vor ihm aufragte. Die Schwärze fiel wie ein Vorhang vom Himmel, der den Beginn der langen Nacht markierte. Rupert fröstelte und zog den Mantel enger um die Schultern. Tief hängende Wolken verdeckten die Mittagssonne, und der eisige Wind peitschte Graupelschauer vor sich her. In der Luft lag Fäulnisgestank. Die Bäume ringsum wirkten dürr und kränklich, ausgezehrt und verkrüppelt von der näher rückenden Finsternis. In die rissige Rinde hatten sich Flechten und Schwämme eingenistet, und der alte Pfad verschwand fast völlig unter verdorrtem Laub.

Rupert spürte, wie die Männer hinter ihm unruhig wurden; es war das erste Mal, dass sie den Dunkelwald aus der Nähe sahen. Er runzelte die Stirn und winkte den Champion an seine Seite. Je eher er seine Schar in die lange Nacht führte, desto besser – sonst verloren sie noch den letzten Rest ihres Selbstvertrauens. Rupert starrte durch die Graupelschleier, unfähig, den Blick von den morschen Bäumen an der Grenze des Dunkelwaldes abzuwenden. Seine Hände zitterten, und der scharfe Geruch des eigenen Angstschweißes stieg ihm in die Nase. Er hatte sich die Reise einfacher vorgestellt. Dabei hatte er die Finsternis bereits zweimal besiegt. Er wurde von einer Schutztruppe begleitet, die ihm den Rücken freihielt.

Und dennoch stockte ihm der Atem, und das Herz hämmerte ihm gegen das Brustbein. Seine Hände umklammerten die Zügel des Einhorns so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Rupert warf den Kopf nach hinten, um die Panik zu verscheuchen. Er würde erneut in den Dunkelwald eindringen, gleichgültig, was geschah, und diesmal wollte er bei seinem Ritt durch die Finsternis ein Zeichen setzen, das den Dämonen für immer im Gedächtnis blieb!

Der Champion lenkte sein gerüstetes Streitross neben das Einhorn und nickte Rupert kurz zu. »Das also ist der Dunkelwald«, sagte er bedächtig, und ein seltsames Leuchten stand in seinen kalten, dunklen Augen. »Sie haben nicht übertrieben, eher das Gegenteil. Er ist wie ein Albtraum, der in den hellen Tag eindringt – ein Wegweiser zur Hölle.«

Rupert sah den Champion mit fragend hochgezogenen Brauen an. »Heißt das, dass Sie den Dunkelwald noch nie zuvor gesehen haben?«

»Tut mir Leid, Sire – nein! Die Pflichten eines Champions erfordern meine Anwesenheit auf der Burg, und der Dunkelwald war seit Jahrhunderten keine echte Bedrohung für unser Reich. Dafür sorgte der Schlingpflanzenwald. Ich habe natürlich die Berichte gelesen, aber…«

»Ja«, sagte Rupert, »ich weiß.«

Der Champion schien ihn mit völlig neuen Augen zu betrachten. »Und Sie haben dieser Finsternis zweimal getrotzt!

Kein Wunder, dass Sie verändert zurückkehrten.« Er wandte sich ab, ehe der Prinz etwas entgegnen konnte, und zog aus einer seiner Satteltaschen eine in Leder geritzte Karte. Rupert wartete ungeduldig, bis er sie entrollt hatte, und beugte sich dann vor, um auf die Stelle zu deuten, an der sie sich gerade befanden.

»Sie sehen selbst, Sir Champion, uns bleibt keine andere Wahl, als den Dunkelwald zu durchqueren. Wenn wir uns nach Osten wenden, versperren uns die Schattenberge den Weg. Im Westen erwarten uns die Großen Wasserfälle. Au­

ßerdem würde jede dieser beiden Routen die Reise um Wochen verlängern. Wir können es uns nicht leisten, so viel Zeit zu verschwenden. Aber wenn die Berichte unserer Kundschafter stimmen, ist der Dunkelwald hier eher spärlich. Mit etwas Glück müssten wir es schaffen, in zwei bis drei Stunden auf die andere Seite zu gelangen.«

»Und wenn wir Pech haben?«

»Dann kommen wir nie drüben an«, entgegnete Rupert ruhig.

Der Champion lachte und warf einen prüfenden Blick auf den schwarzen Wall, der vor ihnen aufragte. »Ist Ihnen je der Gedanke gekommen, Sire, dass der Dunkelwald an dieser Stelle absichtlich ausgedünnt sein könnte? Als Verlockung für Reisende…«

»Natürlich«, entgegnete Rupert. »Ich bin fast sicher, dass es sich um eine Falle handelt. Aber gerade deshalb tut Eile Not. Wir müssen uns durchschlagen, ehe die Dämonen überhaupt bemerken, dass wir uns in ihrem Gebiet aufhalten.«

Der Champion zuckte ergeben die Achseln und rollte die Karte wieder zusammen. »Eigentlich schade. Ich hatte gehofft, den einen oder anderen Dämon vor die Klinge zu bekommen.«

Rupert strich mit den Fingerspitzen über die Narbenwülste, die seine rechte Gesichtshälfte verunzierten. »Ein Freizeitvergnügen, das oft überbewertet wird. Wenn uns die Dämonen aufspüren, Sir Champion, dann sind wir so gut wie tot. Alle.«

»Vermutlich kamen sie Ihnen besonders blutrünstig vor, weil Sie allein gegen eine ganze Horde kämpfen mussten, Sire. Aber…«

»Sie hatten keine Ahnung vom Dunkelwald, bis Sie ihn mit eigenen Augen sahen«, unterbrach ihn Rupert schroff.

»Und Sie wissen nichts von den Dämonen, solange Sie nicht miterlebt haben, wie sie aus der Finsternis hervorbrechen.

Aber genug der Worte! Sagen Sie den Leuten, dass wir aufbrechen! Da ich nicht sicher bin, wie die Pferde auf die lange Nacht reagieren werden, sollen erst einmal alle Mann absitzen und die Tiere am kurzen Zügel führen. Lassen Sie sämtliche Laternen und Öllampen entfachen und an den Sattelgurten festschnallen! Von dem Moment an, da wir den Dunkelwald betreten, hält jeder Kämpfer Schwert und Schild in Händen, aber unser einziger echter Schutz gegen die Finsternis wird der Lichtschein sein, den wir verbreiten.«

»Glauben Sie nicht, dass diese Vorsichtsmaßnahmen etwas übertrieben sind, Sire?«

»Nein.«

»Gut, wie Sie meinen, Sire. Welchen Weg nehmen wir?«

»Allen Legenden zufolge gab es stets nur einen Pfad durch den Dunkelwald – und der verläuft Meilen entfernt. Nein, Sir Champion, wir schlagen eine Bresche in das Gestrüpp am Waldrand und bahnen uns selbst einen Weg durch die Finsternis. Das dürfte nicht allzu schwierig sein – diese Bäume sind durch und durch morsch.«

Der Champion musterte ihn mit zusammengekniffenen Augen. »Wenn sich in der Gegend Dämonen herumtreiben, hören sie uns ohne Frage, Sire.«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Ich habe versucht, mich an ihnen vorbeizuschleichen, Sir Champion. Das gelingt nicht. Unsere einzige Hoffnung ist schnelles Handeln.«

Der Champion nickte mit unbewegter Miene, verstaute die Karte wieder in der Satteltasche und ging zu den Soldaten, um ihnen die notwendigen Befehle zu erteilen. Rupert richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Grenze des Dunkelwaldes, musste den Blick jedoch rasch abwenden. Die Schwärze weckte zu viele Erinnerungen. Um sich abzulenken, sah er nach seinen Leuten, die bereits absaßen und nach Feuerstein und Stahl suchten, um ihre Laternen anzuzünden.

Die Gardisten wirkten ziemlich gelassen, aber ihre Pferde verrieten Unruhe. Sie scharrten mit den Hufen, warfen die Köpfe zurück und bliesen schnaubend weiße Atemwolken in die kalte Luft. Obwohl die Finsternis sie zu faszinieren schien, rollten sie wild mit den Augen, sobald die Männer versuchten, sie näher an die Waldgrenze heranzuführen.

Rupert beobachtete die Tiere mit gerunzelter Stirn und schlug dann vor, ihnen Decken oder Umhänge um die Köpfe zu wickeln, damit sie beim Betreten des Dunkelwaldes nicht in Panik gerieten.

Die Soldaten nickten ehrerbietig und kamen seinem Befehl rasch nach. Der Anblick des Dunkelwaldes aus nächster Nähe hatte sie höllisch beeindruckt, und das Wissen, dass Rupert ihn bereits zweimal passiert und dieses Abenteuer überlebt hatte, wog nun viel stärker als zuvor. Rupert lächelte bitter.

Die Männer mochten in ihm so etwas wie einen Fachmann sehen, aber er wusste, dass er diesen Anspruch nicht erfüllen konnte. Er schwang sich aus dem Sattel und mischte sich unter die Truppe, unterhielt sich mit den Leuten und versuchte ihre Fragen über den Dunkelwald zu beantworten. Seine Auskünfte über die Gefahren, die vor ihnen lagen, waren nicht unbedingt beruhigend, doch die Gardisten nahmen jedes seiner Worte auf, lachten höflich über seine Scherze und machten deutlich – auch wenn sie es nicht direkt aussprachen–, dass sie seine Aufrichtigkeit zu schätzen wussten. Einige klopften ihm auf die Schultern und erklärten, dass sie schon schlechtere Anführer erlebt hätten. Rupert hatte Tränen in den Augen, als er zu seinem Einhorn zurückkehrte. Er war so stolz auf seine Leute und zugleich so beschämt, weil er fürchtete, ihren Erwartungen nicht gerecht zu werden.

Schließlich war alles zum Aufbruch bereit. Rupert lehnte sich an die Schulter des Einhorns, während er einen letzten Blick auf seine Truppe warf. Lampen und Laternen hingen an jedem Sattel und verbreiteten einen blassen Schein, der im Tageslicht kaum auszumachen war. Rauch von einem halben Dutzend Fackeln erfüllte die Luft. Schwerter blitzten in den Fäusten der Kämpfer. Die Pferde stampften unruhig, beunruhigt vom Gestank des Dunkelwaldes, aber die Hüllen um die Augen bewirkten, dass sie sich ohne größeren Widerstand führen ließen. Rupert nagte an der Unterlippe und überlegte noch einmal, ob er an alles gedacht hatte. Der Proviant war diesmal kein Problem, aber er hatte zur Sicherheit noch einmal alle Feldflaschen an einem nahen Bach mit frischem Wasser füllen lassen. Rupert seufzte. Was getan werden musste, war getan. Alles Weitere wäre eine Ausrede gewesen, um die Begegnung mit der Finsternis noch etwas hinauszuschieben – die Begegnung, die ihn für immer gezeichnet hatte.

Er schüttelte ärgerlich den Kopf und warf einen Blick auf den Champion, der geduldig am Rand des Dunkelwaldes wartete, die mächtige Doppel-Streitaxt in der Faust. Die beiden Klingen blitzten kurz auf, als der Champion die Waffe hochnahm. Er schaute Rupert fragend an, und der Prinz nickte ihm kurz zu. Mit einem wilden Grinsen wandte sich der große Kämpfer der Finsternis zu, zögerte kurz, schwang die Axt hoch über den Kopf und ließ sie auf den erstbesten Baum des Dunkelwaldes niedersausen. Die Klinge sank tief in das morsche Holz, und der Gestank nach Fäulnis und Verwesung verstärkte sich sofort. Der Champion riss die Axt heraus und kappte den Baum mit dem zweiten Hieb. Der Stamm war hohl, von innen zerfressen. Mühelos schwang er die Riesenaxt. Er drang in den Wald ein, und dann verschluckte ihn die Schwärze. Die Beilhiebe waren immer noch zu hören, aber nur gedämpft, wie aus weiter Ferne. Rupert winkte einem halben Dutzend seiner Leute, und sie machten sich daran, den neuen Pfad in das Dunkel zu verbreitern.

Rupert beobachtete mit Unbehagen, wie die Schwerter einen Weg durch das modrige Geflecht bahnten. Die frischen Narben im Gesicht schmerzten heftig und pochten im Rhythmus der Schwertstreiche. Er musste die Finsternis nicht durchqueren. Er konnte immer noch seinen Entschluss ändern und den längeren Weg am Dunkelwald vorbei wählen. Rupert ballte die Fäuste, bis sich seine Fingernägel schmerzhaft in die Handflächen gruben. Er hatte den Dunkelwald schon zweimal überwunden; er konnte ihn erneut besiegen. Er musste ihn besiegen. Und sei es nur, weil seine Männer darauf vertrauten, dass er sie unversehrt ans andere Ende der Barriere brachte. Er merkte, dass er die Zügel des Einhorns umkrampfte, und lockerte den Griff.

»Rupert«, sagte das Einhorn ruhig, »hältst du das wirklich für einen guten Einfall?«

»Nein«, entgegnete Rupert. »Wenn du einen besseren hast, dann heraus damit!«

Das Einhorn sog laut die Luft ein und warf den Kopf zurück. »Ich bin nur das Beförderungsmittel. Wer hört schon auf mich?«

»Fang nicht wieder damit an!«, murmelte Rupert müde.

»Du bist mein Freund, und ich brauche jede Hilfe, die ich bekommen kann. Wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, rechtzeitig zum Turm des Großen Zauberers zu gelangen, nähme ich sie sofort wahr. Oder glaubst du etwa, ich reiße mich darum, in die Finsternis zurückzukehren?«

»Nein«, sagte das Einhorn leise. »Das nicht. Aber ich reiße mich auch nicht darum.«

»Wir haben keine andere Wahl.« Ruperts Stimme schwankte ein wenig, und das ärgerte ihn. »Wenn der Blaue Mond aufgeht, ehe wir unsere Mission erfüllt haben, können wir uns den Heimweg sparen. Der Große Zauberer ist vermutlich unsere letzte Hoffnung, die lange Nacht aufzuhalten.«

»Das Regenbogenschwert…«

»… hat uns einmal gerettet. Es kann uns nicht immer helfen. Ich wollte den Regenbogen erneut beschwören, als ich mich drunten in der Kupfermine befand und von diesem Ding verfolgt wurde. Aber nichts geschah.«

»Kein Wunder«, meinte das Einhorn. »Wie soll ein Regenbogen zu dir gelangen, wenn du dich tief unter der Erde in einem Bergwerk verkriechst?«

»Das kam mir auch in den Sinn«, erklärte Rupert traurig.

»Ich habe es seither wohl ein Dutzend Mal versucht, aber ohne Erfolg. Der Zauber, der in dem Schwert steckte, wirkt nicht mehr.«

»Klasse«, sagte das Einhorn. »Einfach Klasse. Ich stelle fest, dass du diesen Umstand mit keinem Wort erwähnt hast, bevor wir zum Dunkelwald kamen.«

»Muss ich wohl vergessen haben.«

Das Einhorn schnaubte und stampfte so heftig mit den Hufen, dass der Schlamm aufspritzte. »Kein Drache, kein Regenbogenschwert, aber wir kehren in die Finsternis zurück!

Wir müssen verrückt sein! Aber was soll's? Vielleicht finden wir wenigstens den Mistkerl, der mein Horn geklaut hat. Seit der Zeit fühle ich mich irgendwie nackt.«

»Du bist doch immer nackt«, sagte Rupert.

»Menschen sind eine Rasse zum Abgewöhnen«, meinte das Einhorn.

Rupert lachte trocken und schaute dann auf, als einer der Soldaten nach ihm rief. Die Männer hatten den Weg verbreitert. Rupert atmete tief durch, nahm das Einhorn fest am Zügel und drang an der Spitze seiner Leute in den Dunkelwald ein.

Die Nacht brach herein, als Rupert die Grenze überschritt.

Wind und Graupelschauer konnten ihm nicht folgen, aber die Dunkelheit war noch kälter – ein eisiger Frost, der an den Knochen nagte und ins Mark drang, bis er das Gefühl hatte, die Wärme habe ihn für alle Zeiten verlassen. Als immer mehr Gardisten den Dunkelwald betraten, drängten ihre Lampen und Laternen die Finsternis zurück, und Rupert atmete freier. Nicht weit vor ihm standen der Champion und sein halbes Dutzend Helfer in ihrem eigenen kleinen Lichtkreis und schlugen langsam und systematisch einen Pfad in die Schwärze. Rupert zückte sein Schwert und starrte umher, aber der schwache Lampenschein drang nicht weit in die endlose Dämmerung vor. Knorrige, verkrüppelte Bäume tauchten in den goldenen Lichtkegeln, und hin und wieder bewegte sich ein krummer Ast, obwohl in der langen Nacht Windstille herrschte.

»Wie geht es dir?«, fragte das Einhorn leise.

»Lausig«, entgegnete Rupert. »Ich habe ständig das Gefühl, dass wir beobachtet werden.«

»Dieses Gefühl trügt vermutlich nicht.«

»Du bist ein echter Trost. Siehst du da draußen etwas?«

»Nein.«

Rupert runzelte die Stirn. »Sie wissen, dass wir hier sind.

Das spüre ich. Es ist nur eine Frage der Zeit… Wenn wir Glück haben, sind wir in einer Stunde durch.«

Der Einhorn schnaubte. »Hatten wir denn jemals Glück?«

Es war eine harte, kräftezehrende Arbeit, einen Pfad zu schlagen, und je tiefer die Gruppe in den Dunkelwald vordrang, desto mühsamer kam sie vom Fleck. Die Soldaten der Leibgarde drängten sich dicht zusammen und warfen ängstliche Blicke umher, als sich die bedrückende Schwärze der langen Nacht wie eine schwere Last in ihre Seelen senkte.

Ihre Witze und Blödeleien wichen bald einem angespannten, argwöhnischen Schweigen.

Rupert wechselte die Trupps der Holzfäller, sobald sie erste Spuren von Ermüdung zeigten, aber die Männer benötigten nun einmal eine gewisse Zeit, um die Bäume umzuhauen und aus dem Weg zu räumen. Die Axthiebe dröhnten schaurig durch die Stille, aber von den Dämonen war nichts zu sehen.

Das Warten zerrte an Rupert, und er musste sich zusammennehmen, um nicht bei jedem Knacken oder Zittern eines Astes zusammenzuzucken. Schritt für Schritt kämpften sie sich weiter, und seine Sorge wuchs, dass die Kerzen in den Laternen heruntergebrannt wären, bevor seine Leute den Waldrand erreicht hatten. Er überschlug, wie viel Öl noch für die Lampen übrig war, und biss sich auf die Unterlippe, als ihm einfiel, dass er den größten Teil im Kampf gegen die grässliche Kreatur in der Kupferstadt verbrannt hatte. Mit einem leisen Fluch untersuchte er die Kerze seiner eigenen Laterne. Sie war bis auf einen daumengroßen Stummel heruntergebrannt; in spätestens einer halben Stunde würde sie erlöschen. Rupert runzelte die Stirn. Vielleicht war das der Plan der Dämonen – abzuwarten, bis der Gruppe das Licht ausgegangen war, und sie dann im Schutz der Dunkelheit anzugreifen. Rupert rief den Männern zu, eine kurze Rast einzulegen, und trat neben den Champion.

»Ich finde es unklug, hier anzuhalten, Sire«, sagte der Champion ruhig.

»Wir verbrauchen zu viel Licht«, entgegnete Rupert knapp. »Entweder schränken wir uns ein, oder wir stehen in Kürze in völliger Dunkelheit da.«

Der Champion nickte nachdenklich. »Ich werde den Befehl erteilen, alle Lampen zu löschen. Die Laternen müssten ausreichen. Kurz bevor die Kerzen heruntergebrannt sind, zünden wir die Lampen wieder an.« Er warf Rupert einen warnenden Blick zu. »Das wird den Männern widerstreben.«

»Die Finsternis wird ihnen noch heftiger widerstreben«, wandte Rupert ein. »Alles ist besser als diese Finsternis.«

Der Champion blickte in Ruperts von Erinnerungen gequälte Augen und wandte sich ab. »Ich gebe die Order aus, Sire.«

Er trat zu seinen Leuten, und eine Lampe nach der anderen erlosch, bis die Helligkeit auf einen trüben kleinen Lichtkreis geschrumpft war. Die Männer wirkten unruhig, und einige warfen Rupert wütende Blicke zu, aber niemand murrte offen.

Der Prinz war zu besorgt und erschöpft, um sich Gedanken darüber zu machen. Nach einer Weile gesellte sich der Champion wieder zu ihm.

»Es gibt Schwierigkeiten, Sire. Uns sind seit Betreten des Dunkelwaldes sieben Leute abhanden gekommen.«

Einen Moment lang starrte ihn Rupert nur verständnislos an. Dann spürte er, wie ihm die Kälte durch die Adern kroch, und er erstarrte. »Sieben? Sind Sie sicher?«

Der Champion nickte grimmig. »Spurlos verschwunden –

mitsamt ihren Pferden und ihrer Ausrüstung. Als hätte es sie nie gegeben. Sie wurden lautlos weggeholt, einer nach dem anderen. Niemand hat etwas gehört oder gesehen.«

Rupert stieß einen rauen Fluch aus und trat mit dem Stiefel zornig gegen das tote Laub. Wenn die Dämonen sie bereits entdeckt hatten… »Ab sofort arbeiten die Männer nur noch zu zweit. Einer fällt die Stämme, der andere bewacht ihn. Es kann nicht mehr als eine Hand voll Dämonen da draußen lauern, sonst hätten sie uns längst offen angegriffen. Vermutlich dauert es noch eine Weile, bis sie Verstärkung erhalten.

Wenn wir schnell genug sind, kommen wir vielleicht mit heiler Haut davon.«

»Ohne Sterne, die uns die Richtung weisen, gelingt es uns möglicherweise nicht, eine gerade Schneise durch den Wald zu schlagen«, gab der Champion zu bedenken. »Allzu große Hast führt nur in die Irre.«

Rupert warf einen Blick über die Schulter. Das diffuse Licht erhellte nur wenige Meter des Pfades, den sie angelegt hatten. Er zuckte ärgerlich mit den Schultern. »Wir sind so verteilt, Sir Champion, dass wir rasch merken würden, wenn wir im Kreis liefen, und ein kleiner Umweg spielt bei der kurzen Distanz, die wir zurücklegen, keine entscheidende Rolle.«

Und so bahnte sich die Gruppe weiter ihren Weg durch die lange Nacht. Die Dunkelheit umdrängte sie, verschluckte alle Geräusche und dämpfte das Licht, in dem sie sich bewegten.

Die Kerzenstummel in den Laternen flackerten. Einer nach dem anderen erlosch und wurde durch eine Öllampe ersetzt, und immer noch fällten die Soldaten die morschen Bäume, ohne das Ende des Dunkelwaldes zu erblicken. Sie verloren keine Männer mehr an die Schwärze, aber Rupert spürte, dass sie beobachtet wurden. Seine Narben pochten bei dem Gedanken an die ausgestandenen Schmerzen, und nur der Stolz hielt ihn davon ab, ständig ins Dunkel zu spähen. Seine Laterne flackerte, und er wühlte in seinem Packen nach einer Öllampe. Und dann kam der Angriff von allen Seiten gleichzeitig.

Das Erdreich klaffte und bäumte sich unter ihren Füßen auf. Dutzende von leichenfahlen Armen ragten aus Rissen und Spalten, schnappten nach den Knöcheln der Männer und zerrten sie in die Tiefe. Lange, klebrige Fäden aus blutrotem Gespinst lösten sich aus den Kronen der morschen Bäume, wickelten sich um die verwirrten Soldaten und zogen sie mit entsetzlicher Leichtigkeit hoch ins Geäst, wo sie der Lichtschein nicht mehr erreichen konnte. Blut lief die Stämme entlang, und die Schreie der Soldaten durchdrangen die Stille, bis sie unvermittelt abgeschnitten wurden. Winzige Geschöpfe trippelten zu hunderten aus dem Dunkel, fielen über die angstvoll wiehernden Pferde her und fraßen sie bei lebendigem Leib.

Der Prinz und der Champion standen Rücken an Rücken und töteten alles, was in Reichweite ihrer Waffen kam. Aus dem Augenwinkel sah Rupert, wie sich das Einhorn immer wieder aufrichtete, die umherhuschenden Geschöpfe abschüttelte und unter seinen Hufen zermalmte. In kürzester Zeit war ein Dutzend Männer vom Pfad verschwunden, aber noch während Rupert seinen Zorn in die Nacht hinausschrie, tat sich vor ihm ein Riss im Boden auf, und einer der Soldaten kämpfte sich blutüberströmt ins Freie. Andere folgten ihm, und einer kletterte von einem Baum herab und sah sich wutentbrannt nach neuen Gegnern um.

Dunkle, verkrüppelte Gestalten mit hungrig glühenden Augen fielen mit Fängen und Klauen über die Gardisten her, die nun einen Verteidigungsring um die wenigen überlebenden Pferde und das Einhorn bildeten und die Angreifer langsam zurückdrängten. Schwerter und Äxte blitzten im Lampenlicht. Blut spritzte umher und breitete sich in Pfützen auf dem Boden aus. Rupert schwang seine Klinge mit beiden Händen, vor Anstrengung ächzend und stöhnend. Für jedes gefallene Geschöpf erhob sich ein neues, und Rupert mähte sie alle mit wildem Grinsen nieder. Die Finsternis hatte ihm endlich einen Feind beschert, den er bekämpfen konnte, einen Feind, den er sehen und besiegen konnte. Rupert, der Champion und die überlebenden Männer hatten es mit einem zahlenmäßig zehnfach überlegenen Gegner zu tun, und doch wollten sie sich der dunklen Macht nicht ohne weiteres ergeben. Sie kämpften Seite an Seite und wichen nicht von der Stelle, und plötzlich ließen die Geschöpfe der Finsternis von ihnen ab und verschmolzen mit den Schatten, aus denen sie hervorgebrochen waren.

Rupert senkte langsam sein Schwert und starrte argwöhnisch umher. Keine Arme versuchten ihn aus der Tiefe zu packen, keine Fäden hingen von den Bäumen, und ringsum herrschte völlige Stille. Die kleinen Angreifer lagen zu Dutzenden verrenkt und zermalmt am Boden, aber die Pferde waren ebenfalls alle tot, auch das Streitross des Champions.

Die Rüstung hatte ihm letztlich wenig Schutz geboten. Der Champion kniete neben dem gefallenen Tier nieder und tätschelte ihm die Schulter, als wolle er sich entschuldigen.

Rupert sah sich in Panik nach dem Einhorn um. Es kam langsam auf ihn zu, mit blutigen Striemen an den Flanken, aber sonst allem Anschein nach unverletzt. Rupert stieß einen Seufzer der Erleichterung aus und lehnte sich kurz gegen den Hals des Einhorns, ehe er sich seiner Eskorte zuwandte. Von den sechsundvierzig Männern, die ihm und dem Champion Geleitschutz gegeben hatten, waren nur noch dreißig am Leben. Sieben hatte er unterwegs verloren, neun weitere während des Kampfes. Rupert fluchte leise und betrachtete angewidert das blutverspritzte Schwert in seiner Hand. Ein zweiter Regenbogen-Lauf hätte seine Leute retten können, aber das Regenbogenschwert war nur noch ein ganz gewöhnliches Schwert, und der Dunkelwald war immer noch dunkel.

Der Champion trat neben ihn und stützte sich lässig auf seine Streitaxt. »Sieht so aus, als hätte ich mich getäuscht, Rupert. Dämonen jagen doch in Rudeln.«

Rupert lächelte müde. »Neun Männer, Sir Champion. Wir haben neun weitere Männer verloren.«

»Wir hatten verdammt viel Glück, dass es nicht mehr waren. Wie schätzen Sie unsere Aussichten für einen Durchbruch ein?«

»Nicht sehr hoch. Wir können nicht mehr weit vom Waldrand entfernt sein, aber die Dämonen würden über uns herfallen, ehe wir den Pfad um einen Meter verlängert hätten.«

»Wir könnten den Rückzug antreten…«

Der Champion sprach den Satz nicht zu Ende. Dämonen traten aus dem Dunkel und kauerten am Rand des Lichtkreises nieder. Hunderte der missgestalteten Kreaturen bildeten einen dichten Ring um die Gruppe. Dazu kamen hunderte, die sich ungesehen durch die Tiefen des Waldes bewegten. Das Scharren und Rascheln drang deutlich durch die Stille bis an Ruperts Ohr.

»Sie haben uns hier aufgelauert«, stellte Rupert bitter fest.

»Sie müssen uns entdeckt haben, als wir den Dunkelwald betraten. Wir hätten nie das andere Ende erreicht. Die ganze Mühe – umsonst.«

»Es gelang Ihnen schon einmal, die Dämonen zu besiegen«, gab der Champion zu bedenken.

»Damals hatte ich ein Zauberschwert«, entgegnete Rupert.

»Aber der Zauber wirkt nicht mehr.«

»Dann müssen wir eben unsere Ellbogen einsetzen.« Der Champion lachte leise und umklammerte seine Streitaxt. »Es geht weiter, Leute! Dafür bekommen wir schließlich unser Geld.«

»Wenn wir siegen, verlange ich eine Solderhöhung«, knurrte einer der Gardisten, und die anderen applaudierten begeistert. Rupert schaffte es nicht, ihren Galgenhumor zu teilen. Er trug die Verantwortung für diese Leute, und er hatte versagt. Er hatte ihnen vorgemacht, es gäbe eine Hoffnung, das Waldkönigreich zu retten. Stattdessen führte er sie nun in den sicheren Tod. Seine Blicke schweiften über die Köpfe der Kämpfer hinweg, und plötzlich war er ungeheuer stolz auf seine kleine Truppe. Die Männer warteten geduldig auf seine Befehle. Sie hatten die schlimmsten Prüfungen des Dunkelwaldes auf sich genommen und bestanden. Und nun standen sie bereit, sich dem Grauen noch einmal zu stellen, obwohl sie zahlenmäßig hoffnungslos unterlegen waren.

Rupert warf den Kopf zurück und lachte, obwohl in seinen Augen Tränen der Rührung brannten. Was immer als Nächstes geschah – es war nicht wichtig. Die Finsternis hatte versucht, ihn und seine Männer zu zerbrechen, und die Finsternis hatte versagt, und das war letztlich das Entscheidende. Rupert starrte in die blutroten Augen, die aus dem Dunkel hervorglommen, und lachte. Trotz ihrer erdrückenden Überzahl wagten es die Dämonen nicht, den Lichtkreis zu betreten. Sie warteten mit ihrem Angriff lieber, bis die letzte Lampe erloschen war. Und dann brach Ruperts Gelächter unvermittelt ab, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss, ein so nahe liegender Gedanke, dass er sich hätte schlagen können, weil er ihm nicht längst eingefallen war.

»Die Lampen!«, rief er begeistert und wirbelte so heftig herum, dass ihn der Champion sprachlos anstarrte. »Die verdammten Öllampen! Das könnte die Rettung sein. Männer –

verteilt das Öl in einem Ring um uns! Leert zuerst die Reservekanister, aber wenn das nicht reicht, gießt das Öl aus den Lampen dazu! Nun steht nicht herum – beeilt euch! Es gibt doch noch einen Ausweg!«

Die Soldaten beeilten sich, seinem Befehl nachzukommen.

Jenseits des Lichtkreises hörten sie das unruhige Geraschel der Dämonen. Rupert grinste so breit, dass die Wangenmuskeln schmerzten.

»Begreifen Sie, was ich vorhabe, Sir Champion? Wir müssen nur abwarten, bis die Dämonen angreifen, und dann das Öl anzünden. Den Bäumen des Dunkelwaldes kann das Feuer nichts anhaben, aber die Dämonen werden brennen. Und bis sich die Überlebenden von ihrem Schrecken erholt haben und erneut angreifen, haben wir vermutlich den Durchbruch geschafft. Es kann nicht mehr weit bis zum Waldrand sein.«

»Es wird eine knappe Sache«, wandte der Champion zögernd ein.

»Ich weiß«, erwiderte Rupert energisch. »Aber immer noch besser, als wenn wir uns kampflos in unser Schicksal ergeben.«

Und dann traten die Dämonen aus dem Dunkel. Rupert schrie seinen Leuten einen Befehl zu. Ein Dutzend Fackeln tauchte in das Öl. Gelbe Flammen schossen in die Höhe und verdrängten die Finsternis. Die ersten Gegner, die das brennende Öl erreichten, stolperten ins Feuer und verglühten im Nu. Die nächste Angreiferwoge rollte heran wie ein Mottenschwarm, der unweigerlich vom Licht angezogen wird. Sie versuchten die Flammen mit ihren Körpern zu ersticken und benutzten die verkohlten Leichen ihrer Gefährten als Trittsteine, um ins Innere des Feuerrings zu gelangen und sich auf Prinz Rupert und seine Kämpfer zu stürzen. Es war ein Versuch, dachte Rupert enttäuscht, während er den ersten Dämonen niedermähte, der die Flammen übersprang, aber er hat nichts gebracht. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er sterben musste, und er stellte erstaunt fest, dass er darüber eher ver­

ärgert als traurig war. Es gab so viele Pläne, die er nun nicht mehr in die Tat umsetzen konnte. Er hatte Julia nicht ein einziges Mal gesagt, dass er sie liebte. Er trug ihr Unterpfand immer noch nahe am Herzen, gut geschützt von seinem Lederwams. Die Meute stürmte heran. Rupert trat den Dämonen mit hoch erhobenem Schwert entgegen.

Aber plötzlich loderten die Flammen höher. Das Öl hatte die ersten Bäume erreicht, die Feuer fingen und wie Fackeln brannten. Rupert wich vor der sengenden Hitze zurück, und die Männer folgten seinem Beispiel. Die Dämonen brachen ihre Attacke ab, verwirrt und verunsichert. Rupert trat einen weiteren Schritt zurück – und blendende Helle drang auf ihn ein. Einen Moment lang dachte er, die Flammen hätten ihn eingeholt, aber dann hörte er ringsum Schreie der Erleichterung und Freude. Rupert wischte sich mit dem Handrücken über die tränenden Augen und lachte laut auf. Sie waren gerettet. Sie hatten die Grenze des Dunkelwaldes erreicht.

Als Rupert wieder klar sehen konnte, entdeckte er, dass die Sonne fast den Horizont erreicht hatte. Es war Spätnachmittag. Er schüttelte verblüfft den Kopf. Bei ihrem Aufbruch in den Dunkelwald war gerade erst die Mittagsstunde angebrochen.

Im Dunkelwald vergeht die Zeit anders.

Rupert schluckte trocken und beobachtete, wie die letzten seiner Männer aus der Finsternis ins Licht stolperten. Die Dämonen folgten ihnen nicht. Ihm blieb zwar verborgen, was sich jenseits der schwarzen Barriere abspielte, aber er war sicher, dass die Dämonen sie beobachteten. Er drehte sich lachend zu seinen Leuten um und bemerkte erst jetzt, wie stark die Truppe dezimiert war. Langsam zählte er. Fünfundzwanzig. Fünfundzwanzig Mann von fünfzig. Rupert senkte den Blick. Er fühlte sich elend.

»Nehmen Sie es nicht zu schwer«, versuchte ihn der Champion aufzumuntern.

»Leicht gesagt«, entgegnete Rupert bitter. »Die Hälfte meiner Leute ist tot. Das wirft ein bezeichnendes Licht auf meine Fähigkeiten als Anführer!«

»Angesichts der Ausgangslage ist es eher ein Wunder, dass es so viele Überlebende gab. Ohne Ihr schnelles Handeln wäre unser aller Schicksal besiegelt gewesen, lange bevor wir das Ende des Dunkelwaldes erreicht hätten. Schön, Sie haben die Hälfte Ihrer Leute verloren. Aber Sie haben die andere Hälfte gerettet. Kein Mensch hätte mehr erreichen können.

Alles in allem bin ich sehr zufrieden mit Ihnen. Ich mache noch einen richtigen Prinzen aus Ihnen.«

Rupert warf dem Champion einen argwöhnischen Blick zu.

»Vergessen Sie nicht, dass ich nur der nachgeborene Sohn bin.«

»Danke für den Hinweis.« Der Champion drehte sich um und starrte auf die schwarze Wand, die hinter ihnen aufragte.

»Wir können uns kein zweites Mal durch den Dunkelwald kämpfen, aber wir haben auch nicht die Zeit, ihn zu umgehen.

Irgendwie müssen wir den Großen Zauberer dazu bewegen, mit uns in die Residenz zurückzukehren.«

Rupert nickte müde. »Sagen Sie den Männern, dass wir aufbrechen, Sir Champion. Noch eine Meile – dann können wir vielleicht ein wenig ausruhen.«

»Ausruhen?«, fragte der Champion. »Am Schwarzen Turm?«

»Genau!« Der Champion erhielt unerwartete Unterstützung vom Einhorn. »Wenn nur ein Teil der Geschichten stimmt, die ich über diesen Zauberer gehört habe, dann wären wir wohl besser im Dunkelwald geblieben. Wie mächtig ist der Kerl eigentlich?«

»Hoffentlich mächtig genug, um dem Treiben der Dämonen Einhalt zu gebieten und die Finsternis zu bannen«, erwiderte Rupert.

»Aber wie weit können wir ihm vertrauen?«

»Etwa so weit, wie du gegen den Wind spucken kannst.«

»Klingt ermutigend«, meinte das Einhorn. »Absolut ermutigend. Warum begehen wir eigentlich nicht gleich Selbstmord? Das würde die Sache etwas verkürzen.«

»Komm schon!«, sagte Rupert liebevoll und nahm die Zügel des Einhorns. »Deine Stimmung wird sich bessern, wenn wir erst mal unterwegs sind.«

»Darauf würde ich nicht unbedingt wetten«, knurrte das Einhorn. »Ich habe eine böse Vorahnung.«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Von Legenden halte ich längst nicht mehr so viel wie früher. Ich war ein Kind, als der Große Zauberer den Hof verließ, aber ich erinnere mich noch genau an das herrliche Feuerwerk, das er zu meinem fünften Geburtstag veranstaltete. Die Raketen, die ins Dunkel zischten, und die Feuerräder, die endlos am Himmel wirbelten. Er erzählte mir Geschichten und versuchte mir Kartentricks beizubringen. Sie waren damals schon am Hof, Sir Champion. Wie war er wirklich?«

Der Champion umklammerte seine Streitaxt fester. Sein Blick wirkte kalt und abweisend.

»Er war ein Verräter, Sire. Ein Verräter, ein Feigling und ein Trunkenbold!«

Rupert stolperte verbissen durch den gefrierenden Schlamm, den Kopf gesenkt, um die Augen vor den Graupelkörnern zu schützen. Der Wind, der von allen Seiten zugleich pfiff, verfing sich in seinem Mantel und zerrte an seiner Kapuze. Er murmelte einen Fluch und packte die Zügel des Einhorns fester. Alle paar Schritte schaute er nach rechts, um sich zu vergewissern, dass er die Riemen noch in der Hand hielt. Er wollte auf keinen Fall von seinem Reittier getrennt werden, aber er hatte trotz der dicken Handschuhe längst kein Gefühl mehr in den Fingern. Er hob den Kopf und starrte mit zusammengekniffenen Augen in den Sturm, der an Stärke zunahm. Der Schwarze Turm war immer noch nicht zu sehen.

Und letzten Monat war noch Sommer, dachte er verbittert.

Was zum Henker ist nur mit diesem Wetter los?

Er stolperte und wäre fast gestürzt, als der Wind erneut die Richtung wechselte. Das Einhorn rückte näher und versuchte ihn mit seiner Flanke gegen die schlimmsten Böen zu schützen. Rupert tätschelte ihm dankbar den Hals und blinzelte in das Schneetreiben. Er machte sich Sorgen um das Einhorn. Es schleppte sich immer langsamer dahin, halb erstarrt von der Kälte, die bis ins Mark drang; daran änderten auch die Decken nichts, in die er das Tier eingehüllt hatte. Eiskristalle glitzerten in seiner Mähne, und sein Atem stockte fast so oft wie seine Hufe. Rupert wusste, dass die Kälte und Erschöpfung ihren Tribut fordern würden; wenn er nicht bald einen geschützten Rastplatz fand, brach das Einhorn tot zusammen.

Das Unwetter war über Rupert und seine Begleiter hereingebrochen, nachdem sie den Dunkelwald hinter sich gelassen hatten. Innerhalb kürzester Zeit waren schwarze Wolken heraufgezogen, und die Abendkühle hatte sich in eisigen Frost verwandelt. Es begann in Strömen zu regnen und bald darauf heftig zu schneien. Der Wind frischte auf, aber Rupert stemmte sich verbissen gegen die Böen, die ihm heulend entgegenbliesen. Er war nicht bis hierher vorgestoßen, um sich nun dem Sturm zu beugen.

Er stampfte bei jedem Schritt kräftig auf den Boden, damit seine Zehen nicht völlig erstarrten. Der Schnee fiel in dicken Flocken, und die Kälte nahm stetig zu. Hin und wieder erhaschte Rupert einen Blick auf die blutrote Sonne, die tief am Himmel stand, und zwang sich, schneller zu gehen. Sobald sie unter den Horizont gesunken war, würden die Dämonen das Land durchstreifen. Der Prinz warf einen Blick über die Schulter. Die Männer folgten ihm durch den Schneematsch, dicht zusammengedrängt, um sich gegenseitig ein wenig zu wärmen. Nur der Champion ging allein, wie immer. Obwohl sein Brustharnisch von einer silbrigen Reifschicht bedeckt war, schien ihm die Kälte wenig auszumachen. Sein Rücken war gerade und sein Kopf hoch erhoben, als er mit weit ausgreifenden Schritten durch die sich immer höher auftürmenden Schneewehen stapfte. Rupert runzelte die Stirn. Die Haltung des Champions hätte ihm Mut machen sollen, aber irgendwie fand er seine eiserne Willenskraft unmenschlich.

Einen Moment lang flaute der Wind ab, die Schneewolken teilten sich, und Rupert erhaschte einen kurzen Blick auf den Dunkelwald, der wie ein unheimlicher Schatten hinter ihnen aufragte. Ruperts Miene verdüsterte sich, und er schaute wieder nach vorn.

Und dann war der Schneesturm vorbei. Rupert torkelte noch ein paar Schritte weiter, ehe er unsicher stehen blieb.

Langsam hob er den Kopf und sah sich um, während die plötzliche Stille ihm in den Ohren dröhnte. Das Gras unter seinen Füßen war saftig grün, unberührt von Graupelkörnern oder Schnee. Der Himmel zeigte das tiefe Blau eines Sommerabends. Kein Lüftchen wehte. Er stand am Rand einer großen Lichtung, die ringsum von einem Wall aus dichten Schneeflocken umgeben war. Seine Männer kamen einer nach dem anderen aus dem Schneetreiben in den Sommer gestolpert und ließen die Kälte hinter sich. Rupert sank erschöpft in das weiche Gras und streckte die Beine aus. Finger und Zehen prickelten schmerzhaft.

»Eine Zufluchtsstätte«, murmelte er. »Einhorn, wir haben eine Zufluchtsstätte gefunden.«

»Da bin ich nicht so sicher«, meinte das Einhorn. »Guck mal, was da drüben steht!«

Rupert folgte den Blicken des Einhorns. In der Mitte der Lichtung erhob sich ein Turm auf einem kleinen Hügel. Das etwa zwölf Meter hohe, aus dunkelgrauen Steinen errichtete Bauwerk war uralt und verwittert. Efeu bedeckte das Mauerwerk und bildete ein dichtes Gespinst vor den geschlossenen Fensterläden.

»Der Schwarze Turm«, sagte der Champion leise. »Ich hatte ihn mir viel größer vorgestellt.«

Rupert fuhr zusammen, sprang auf und funkelte den Champion wütend an. »Müssen Sie sich unbedingt anschleichen und mich halb zu Tode erschrecken? Meine Nerven liegen im Moment ziemlich blank.«

»Tut mir Leid, Sire«, entgegnete der Champion gelassen.

Irgendwann bist du dran, dachte Rupert schüttelte dann aber resigniert den Kopf. »Also schön, Sir Champion, sammeln Sie die Männer und lassen Sie durchzählen! Ich hoffe, alle haben das Unwetter heil überstanden. Inzwischen werde ich dem Großen Zauberer melden, dass er Besuch hat.«

Der Champion verneigte sich knapp und schlenderte zu der stark geschrumpften Garde hinüber. Die Männer hatten ihre Schwerter gezogen und beäugten misstrauisch den Schwarzen Turm. Rupert lächelte mit schmalen Lippen; er kannte ihre Gefühle ganz genau. Entschlossen schob er die Kapuze zurück und klopfte sich den Schnee aus dem Mantel. Nachdem er umständlich das Schwert zurechtgerückt hatte, seufzte er.

Er wusste, dass er Angst vor der Begegnung mit dem Großen Zauberer hatte. Und er wusste auch, dass sich der Moment nicht mehr lange hinausschieben ließ. Der Abend war angenehm warm, aber die Dämmerung brach rasch herein. Ganz offensichtlich hielt ein Zauber den Schneesturm fern – aber war er stark genug, um auch die Dämonen fern zu halten, wenn es dunkel wurde? Seine Leute benötigten eine sichere Unterkunft für die Nacht, und es gab weit und breit nur ein Bauwerk aus Stein. Er seufzte noch einmal, schlug den Umhang nach hinten, damit seine Schwerthand frei war, und stapfte langsam den kleinen Hügel zum Schwarzen Turm hinauf.

»Sei vorsichtig!«, rief ihm das Einhorn verzagt nach, ehe es den Kopf senkte und das üppige Gras rupfte.

Der Prinz schritt zweimal um den Turm herum und zählte nicht weniger als siebzehn fest verrammelte Fenster, entdeckte jedoch keine einzige Tür. Die Fenster selbst waren etwa einen halben bis einen Meter breit und in unterschiedlichsten Höhen angebracht; die niedrigsten befanden sich gut anderthalb Meter über dem Boden. Rupert blieb vor einem der Fenster stehen und runzelte nachdenklich die Stirn. Der Gro­ße Zauberer war schon immer etwas… exzentrisch gewesen.

Ganz zu schweigen von seiner Trunksucht und seinem Jähzorn. Während all der Jahre, die er in der Burg gelebt hatte, waren seine Exzesse fast so legendär gewesen wie seine Zauberkunst. Sein Hauptaugenmerk hatte stets dem Wein und den Weibern gegolten, wenn auch nicht immer in dieser Reihenfolge, und seine Art, ohne Rücksicht auf Verluste die Wahrheit zu sagen, hatte seine Beliebtheit bei Hofe nicht eben gesteigert. Als König Johann den Großen Zauberer schließlich aus seinem Reich verbannte, ging ein Aufatmen durch die Reihen des Adels, und im Umkreis von mehreren Meilen holten die Untertanen ihre Töchter und ihre Weinfässer aus sicheren Verstecken. Rupert zupfte sich nachdenklich am Kinn. So lange er zurückdenken konnte, war nie offen darüber gesprochen worden, weshalb der König den Großen Zauberer ins Exil geschickt hatte. Er hatte seit Eduards Zeiten am Hof gelebt und die Erziehung von König Johann übernommen. Wenn man einmal von Thomas Grey absah, war er stets der bevorzugte Ratgeber des Königs gewesen. Und dann starb Königin Eleanor.

Noch in ihrer Todesstunde hatte der Große Zauberer seine spärliche Habe zu einem Bündel geschnürt und war in den Wald geritten. Als König Johann davon erfuhr, berief er den Hofstaat ein und verlas das Verbannungsurteil. Tränen des Zorns und der Verzweiflung liefen ihm über die Wangen, als er formell verkündete, dass dem Großen Zauberer innerhalb der Grenzen seines Reiches Speis und Trank ebenso zu verweigern seien wie Unterkunft und Freundschaft. Bald danach brachten Reisende die Kunde, dass der Große Zauberer sein Domizil in einem alten Grenzturm jenseits des Waldes aufgeschlagen habe. Rupert erinnerte sich noch genau an den Gesichtsausdruck des Königs, als der Champion diese Neuigkeit schließlich bestätigt hatte. Damals war er zu jung gewesen, um die Gefühle zu begreifen, die er so deutlich gesehen hatte, aber heute wusste er, dass sich in den Zügen seines Vaters hilfloser Zorn gespiegelt hatte. Der Große Zauberer hatte sich der Verbannung widersetzt – und der König konnte nichts dagegen unternehmen. Obwohl er es versuchte, schon um seines Stolzes willen.

Er berief die Magier von der Zauberer-Akademie zu sich, aber die Macht des Großen Zauberers war größer als alle ihre Beschwörungen und Flüche. Er schickte Soldaten aus, um den Turm des Zauberer niederzureißen. Sie kehrten nie zurück.

Und so wandte sich der König schließlich anderen Dingen zu, und der Zauberer blieb sich selbst überlassen. Die Zeit verging. Düstere Geschichten spannen sich um den Schwarzen Turm und die Magie des Großen Zauberers. Es gab viele Geschichten, aber nur wenige Fakten, und da der Zauberer seinen Turm in all den Jahren nicht verließ, verblasste die Realität zur Legende, und er verwandelte sich in eine jener Schreckgestalten, mit denen Mütter ihren ungehorsamen Kindern zu drohen pflegten.

Er war ein Verräter. Ein Verräter, ein Feigling und ein Trunkenbold.

Leise Schritte kamen näher, und der Prinz warf sich herum, die Hand am Schwertgriff. Der Champion starrte an Rupert vorbei zum Turm hinauf und lächelte kalt.

»Schlangen hausen in ihren Löchern, Ratten hausen in ihren Nestern, und der Zauberer haust immer noch in seinem Turm. Er hat das Tageslicht schon immer gescheut. Haben Sie die Tür gefunden, Sire?«

»Es scheint keine zu geben, Sir Champion.«

Der Champion zog die Augenbrauen hoch, beugte sich vor und klopfte vernehmlich gegen das erstbeste Fenster. Eine Zeit lang rührte sich nichts. Dann aber flogen die Läden auf, ein grauhaariger Alter im schwarzen Talar funkelte den Prinzen und den Champion gleichermaßen zornig an und keifte:

»Verschwindet!« Dann schlug er die Läden wieder zu. Rupert und der Champion wechselten einen Blick.

»Wir versuchen es erst mal mit Höflichkeit«, sagte Rupert entschlossen. »Sonst müssen wir am Ende die Nacht noch im Freien verbringen.«

Der Champion nickte und klopfte noch einmal an die Fensterläden. »Bitte, kommen Sie heraus, Großer Zauberer! Wir müssen Sie unbedingt sprechen.«

»Nein!«, kam die gedämpfte Antwort.

»Wenn Sie nicht freiwillig herauskommen, holen wir Sie mit Gewalt!«, erklärte der Champion ruhig.

»Sie und welches Heer?«

»Wir und dieses Heer!«

Wieder flogen die Läden auf, und der Große Zauberer spähte an Rupert und dem Champion vorbei zu den fünfundzwanzig Gardesoldaten hinüber, die sich am Fuß des kleinen Hügels versammelt hatten. Der Prinz drehte sich um und versuchte seine Leute mit den Augen des Zauberers zu sehen.

Ihre Rüstungen waren verbeult und blutverschmiert, aber sie umklammerten ihre Waffen mit grimmiger Entschlossenheit.

Sie wirkten erschöpft, verwahrlost und doch ungeheuer bedrohlich – keine Eskorte, sondern eher eine Räuberbande. Der Zauberer rümpfte die Nase und richtete den Blick starr auf den Champion.

»Das sind Ihre Kämpfer?«

»Ja.«

»Wenn sie nicht sofort von meinem Rasen verschwinden, verwandle ich sie allesamt in Frösche!«

Wieder knallte der Zauberer die Fensterläden zu. Rupert sah den Champion an.

»Was tun wir jetzt?«

»Hm«, meinte der Champion nachdenklich. »Ich sage den Männern am besten, dass sie von seinem Rasen verschwinden sollen.«

Rupert sah dem Champion wütend nach. Manchmal fragte er sich allen Ernstes, auf welcher Seite der Recke eigentlich stand. Er seufzte, trat zögernd zu dem Fenster und klopfte höflich.

»Großer Zauberer? Sind Sie noch da, Sir?«

Es kam keine Antwort, und die Läden blieben geschlossen.

Klasse, dachte Rupert angesäuert. Jetzt haben wir ihn vergrault. Er warf einen Blick über die Schulter. Die Männer hatten auf Befehl des Champions die Schwerter weggesteckt und sich ein Stück vom Turm entfernt. Sie bemühten sich erfolglos, lässig und ungefährlich dreinzusehen. Der Prinz musterte den dunklen Himmel, und sein Stirnrunzeln vertiefte sich zu Sorgenfalten. Die Nacht war hereingebrochen. Schon wurde die Luft kühler, und ihm schien es, als sei der Wall aus wirbelnden Schneeflocken ein Stück näher an den Schwarzen Turm herangerückt. Er hämmerte mit den Fäusten gegen die Fensterläden, aber der Zauberer reagierte nicht. Rupert stieß einen Fluch aus. Er dachte nicht daran, seine Männer im Freien übernachten zu lassen, wenn es hier ein Dach über dem Kopf gab. Nachdenklich betrachtete er die verrammelten Fenster. Er grinste plötzlich und schob sein Schwert in den Spalt zwischen die beiden Läden, die nicht allzu robust aussahen. Anfangs hatte er wenig Spielraum, aber als er den Druck verstärkte, glitt die Klinge bis ans Heft ins Innere. Er wartete einen Moment und horchte, aber der Zauberer rührte sich nicht. Wahrscheinlich beleidigt abgedampf t, dachte Rupert optimistisch. Er war schon immer leicht eingeschnappt. Rupert zögerte, als ihm der verwandelte Bote einfiel, der nun den Burggraben bewachte, und schüttelte dann heftig den Kopf. Seine Leute brauchten ein Nachtquartier.

Er packte den Schwertgriff fest mit beiden Händen und stemmte sein Gewicht langsam dagegen. Er vermied es, allzu großen Druck auf die Klinge auszuüben, weil er befürchtete, dass sie zerspringen könnte. Aber wie auch immer er den Hebel ansetzte – die Fensterläden gaben nicht nach. Rupert warf einen prüfenden Blick zum Abendhimmel. Der letzte helle Streifen verschwand im Westen. In einem Anfall von hilfloser Wut warf er sein ganzes Gewicht gegen den Schwertgriff. Der rechte Fensterladen flog auf, während Rupert nach vorn kippte und auf die Nase fiel. Reglos lag er im Gras, mit wild klopfendem Herz, aber die Zeit verstrich, und nichts rührte sich im Turm. Vorsichtig rappelte er sich auf, ohne das Schwert loszulassen, und wagte einen Blick durch das offene Fenster.

Der Raum dahinter war ein Chaos. Grob gezimmerte Tische und Werkbänke säumten die Wände, halb verschwunden unter Bergen von alchimistischen Gerätschaften. Glasretorten und Steinguttiegel bedeckten jede freie Fläche und standen sogar auf dem blanken Boden aus gestampfter Erde herum.

Eine Hälfte der schlampigen Hexenküche nahmen ganze Stapel von Tierkäfigen ein, jeder bis zum Bersten voll gepfropft mit kreischenden Vögeln und Affen, mit Ratten und Salamandern und sogar ein paar Ferkeln. Der Gestank war infernalisch. Eine große schmiedeeiserne Kohlepfanne, in der ein Häufchen rötlicher Glut qualmte, beherrschte die Unordnung. Und quer durch den Raum breitete sich ein Labyrinth von zusammengesteckten Glasröhren aus. Sie schlängelten sich wie Lianen oder Tentakel über die Tische und die Wände entlang bis in die entferntesten Nischen.

Der Große Zauberer selbst schien sich in Luft aufgelöst zu haben. Rupert steckte sein Schwert ein und schwang sich mit einem Klimmzug auf den schmalen Fenstersims. Dann musterte er kopfschüttelnd die überfüllte Tischplatte auf halber Höhe, bis er eine Lücke in dem Durcheinander entdeckt hatte, und ließ sich vorsichtig in die Tiefe hinab. Glas knirschte unter seinem Stiefel, als er hastig zu Boden sprang. Von innen wirkte der Raum viel größer. Er hatte einen Durchmesser von gut zehn Metern und wurde von einer Glühkugel, die frei zwischen den hohen Deckenbalken umherschwebte, hell erleuchtet. Rupert runzelte die Stirn. Der Größe nach zu urteilen, nahm der Raum das gesamte Erdgeschoss des Turms ein, aber es schien keine Treppe zu den oberen Stockwerken zu geben. Er sah zwar eine Falltür in der Decke, aber keine Möglichkeit, zu ihr hinauf zu gelangen. Er zuckte die Achseln und schlenderte behutsam durch den Raum, fasziniert von all den Utensilien. Die Käfigtiere beäugten ihn neugierig, und ein alter Affe mit traurigen Augen streckte die Pfote durch die Gitter, als er vorbeiging, fast so, als flehe er stumm um Hilfe. Der Prinz lächelte den Affen schuldbewusst an und ging weiter. Eine farblose Flüssigkeit blubberte durch die Glasröhren und wurde von Zeit zu Zeit in Auffanggefäße entleert, die genau unter den Öffnungen angebracht waren.

Rupert beugte sich vor, um an der Flüssigkeit zu riechen, und erschrak, als er mit dem Fuß gegen etwas Hartes stieß. Er bückte sich und hob das Ding vom Boden auf. Es war ein Menschenschädel, dem der Unterkiefer fehlte. Rupert legte ihn auf die nächste Werkbank und umklammerte den Schwertgriff.

»Ich kann mich nicht erinnern, Sie hereingebeten zu haben«, sagte eine sanfte Stimme über ihm. Ruperts Herz tat einen Sprung, als er zur Decke schaute. Eine Strickleiter baumelte aus der offenen Falltür, und Rupert beobachtete mit offenem Mund, wie der Große Zauberer behände in die Tiefe kletterte. Aus der Nähe betrachtet, machte der Magier keinen sonderlich imposanten Eindruck. Er war so klein, dass er dem Prinzen kaum bis zur Brust reichte, und sein schwarzer Umhang unterstrich noch, dass er eine spindeldürre Statur besaß.

Tiefe Falten hatten sich in das schmale Gesicht gegraben, und sein Blick wirkte verschwommen. »Was suchen Sie hier?«, fragte er Rupert freundlich. »Und weshalb verderben mir diese Soldaten die schöne Aussicht?«

»Wir brauchen Ihre Hilfe«, begann Rupert zögernd. Der Zauberer schien seine schlechte Laune von vorhin völlig abgeschüttelt zu haben, und der Prinz wollte ihn nicht von neuem reizen. »Der Dunkelwald…«

»Ein schrecklicher Ort«, unterbrach ihn der Zauberer.

»Zappenduster.« Ein Glas Weißwein erschien aus dem Nirgendwo in seiner Hand. »Möchten Sie auch einen Schluck?«

»Danke, im Moment nicht«, sagte Rupert höflich.

»Ist aber ein guter Tropfen«, beharrte der Zauberer. »Eigenhändig destilliert.« Er deutete mit der freien Hand auf die Glasröhren und beugte sich dann vertraulich vor. »Ich lege in jedes neue Fass eine tote Ratte, um dem Zeug etwas mehr Substanz zu geben.«

Rupert beschloss, nicht näher darüber nachzudenken. »Über den Wein können wir uns später unterhalten, Sir. Im Moment brauche ich dringend Ihre Hilfe.«

Der Zauberer grinste schief. »Wissen Sie, wer ich bin, junger Mann?«

»Natürlich«, entgegnete Rupert. »Sie sind der Große Zauberer – die letzte Hoffnung des Waldkönigreichs.«

Der Blick des Zauberers war mit einem Schlag völlig scharf und klar. »Das Waldkönigreich ist mir scheißegal!

Geht das nicht in eure kleinen Köpfe? Meinetwegen kann euer stinkendes kleines Land in der Hölle verfaulen! Verschwinden Sie mir aus den Augen! Verschwinden Sie aus meinem Turm und lassen Sie mich in Frieden, verdammt noch mal!«

»Das ist keine Art, mit dem Sohn Ihres Königs zu sprechen«, sagte eine kalte Stimme hinter Rupert. Er drehte sich rasch um und sah zu seiner Erleichterung die hünenhafte Gestalt des Champions am Fenster. Der Zauberer starrte den Ersten Krieger des Reiches finster an. Dann schienen ihn die Kräfte zu verlassen. Er hob das Weinglas an die Lippen, aber es war leer. Sein Mund zuckte, und er ließ das Glas fallen.

»Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?«, klagte er.

»So geht doch endlich und lasst mich in Ruhe!«

»Meinetwegen könnten Sie in Ihrem Loch bleiben, bis die Hölle einfriert«, erklärte der Champion, während er sich über den Fenstersims schwang und vorsichtig auf die Tischplatte stieg. »Leider besteht der König auf Ihrer Hilfe.«

»Ich komme nicht zurück«, sagte der Große Zauberer kategorisch. »Und Sie können mich nicht umstimmen, was immer Sie vorbringen. Mich zieht nichts und niemand ins Waldkönigreich zurück. Nichts und niemand!« Er unterbrach sich plötzlich und studierte Rupert zum ersten Mal genauer.

»Der Champion behauptet, Sie seien ein Prinz. Stimmt das?

Sie sind einer von Johanns Söhnen?«

»Ich heiße Rupert und bin der jüngere der beiden Prinzen.«

»Natürlich. Rupert. Deshalb kam mir Ihr Gesicht so bekannt vor.« Die Züge des Zauberers wurden weicher. »Sie haben starke Ähnlichkeit mit Ihrer Mutter.«

»Ich habe fünfundzwanzig Mann da draußen stehen«, sagte Rupert. »Können Sie meinen Leuten für eine Nacht Quartier geben?«

»Die sind da draußen in Sicherheit«, erwiderte der Zauberer. »Die Dämonen können meine Sperren nicht durchdringen. Ihre Männer dürfen heute Nacht draußen kampieren, wenn sie morgen wieder verschwinden. Sie sind mir natürlich herzlich willkommen, Rupert. Es ist lange her, seit ich Sie das letzte Mal sah.«

»Einundzwanzig Jahre«, erklärte der Champion. »Einundzwanzig Jahre, seit Sie zum Verräter wurden.«

»Ich bin kein Verräter! Ich war nie ein Verräter!« Hektische rote Flecken brannten auf den Wangen des Zauberers, als er mit blitzenden Augen und geballten Fäusten auf den Champion zukam. »Ich verließ den Hof aus freien Stücken, nachdem ich mehr als fünfundvierzig Jahre über die Waldkönige gewacht und das Land vor Schaden bewahrt hatte. Ich war bereits Johanns Beschützer, als Sie noch nicht wussten, an welchem Ende man ein Schwert anfasst! Warum ich schließlich ging, ist ganz allein meine Sache. Fünfundvierzig Jahre meines Lebens im Dienste der Krone sind genug. Sie haben nicht das Recht, noch mehr von mir zu verlangen.«

»Sehen Sie sich den alten Säufer gut an, Sire«, sagte der Champion ruhig. »Es gab einmal eine Zeit, da war er ein Held. Der mächtigste Zauberer, den das Waldkönigreich je gekannt hatte. Seine Taten sind Legende. Es gibt Dutzende von Balladen, die ihn rühmen; sicher kennen Sie einige davon. Manche Leute behaupteten sogar, er hätte das Zeug zum Meister aller Magier. Aber irgendwann beschloss er, alles hinzuwerfen. Er kümmerte sich nicht mehr um seine Pflichten und verschwendete sein Talent für Feuerwerke, Jahrmarktschwindel und hübschen Tand für die Damen. Er hätte Vorbild für eine ganze Generation sein können, aber statt dessen ließ er sich voll laufen und vergnügte sich mit Tavernen-Schlampen. Der Große Zauberer – ein Feigling und ein Abtrünniger, der seinen König im Stich ließ, als der ihn am meisten brauchte.«

»So war das nicht!«, schrie der Zauberer. »So war das ganz und gar nicht, du Dreckskerl!«

Der Champion lachte. Wut verzerrte die Züge des Zauberers, und eine reinweiße Stichflamme zischte von seiner ausgestreckten Hand in die Brust seines Widersachers. Der Champion taumelte rückwärts. Glasröhren zerbrachen, als er gegen den Tisch unter dem Fenster stürzte. Blut floss ihm aus Mund und Nase, und die Käfigtiere kreischten schrill. Der Champion versuchte sich aufzurichten und sein Schwert zu ziehen. Wieder streckte der Zauberer die Hand aus, und die knisternden weißen Flammen, die aus seinen Fingerspitzen schossen, schmetterten den Champion gegen die Wand des Turms. Rupert hob sein Schwert und trat vor. Der Zauberer holte ihn von den Beinen, ohne sich auch nur umzudrehen.

Rupert versuchte sich aufzurappeln und schaffte es nicht. Er konnte nur hilflos mitansehen, wie der Champion auf einer weißen Feuersäule langsam nach oben schwebte und in sechs bis sieben Metern Höhe an die Wand gepresst wurde.

»Ich konnte Sie noch nie ausstehen«, bemerkte der Zauberer. »Sie und Ihr ewiges Gerede von der Pflicht. Wissen Sie überhaupt, was dieses Wort bedeutet? Für Sie war Pflicht doch immer nur eine willkommene Ausrede zum Töten! Aber nun ist kein König da, der seine Hand schützend über Sie hält, Sir Champion. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet…«

Rupert suchte verzweifelt nach seinem Schwert. Schon glühte das Kettenhemd des Champions unter der erbarmungslosen Hitze des weißen Feuers kirschrot, und die ersten Ringe schmolzen zu Tropfen flüssigen Metalls. Endlich entdeckte Rupert seine Waffe etwa einen halben Meter entfernt unter einem Tisch. Er biss die Zähne zusammen und robbte unauffällig näher, bis er in Reichweite der Klinge war. Sein Kopf schmerzte von dem harten Aufprall, aber sobald er den Schwertgriff zu fassen bekam, spürte er, wie seine Kraft zurück in den Körper strömte. Er umklammerte die Tischkante und zog sich hoch. Der Große Zauberer wandte ihm den Rücken zu und war ganz mit seinem Opfer beschäftigt. Der Champion hatte die Augen geschlossen und schien nicht zu atmen. Rupert wankte zwei Schritte vorwärts und setzte dem Zauberer die Schwertspitze zwischen die Schulterblätter.

»Holen Sie ihn auf der Stelle herunter!«, befahl er scharf.

»Scheren Sie sich zum Teufel!«, entgegnete der Zauberer.

»Wer mich einen Verräter nennt, muss sterben.«

»Ich befehle Ihnen im Namen meines Vaters, den Ersten Krieger seines Reiches freizugeben!«

Das Zauberfeuer verschwand. Der Champion schwebte langsam nach unten und landete sanft auf der Tischplatte neben ihnen. Rupert schob den Zauberer beiseite und untersuchte den Champion. Die Ringe seines Kettenpanzers waren an einer Stelle zu Klumpen verschmolzen, und das Lederwams darunter wies ein großes schwarzes Brandloch auf, aber die nackte Haut schien völlig unversehrt. Der Atem des Champions ging ruhig und gleichmäßig, alles deutete darauf hin, dass er bald aus seiner Ohnmacht erwachen würde. Rupert fuhr herum und warf dem Zauberer einen fragenden Blick zu. Der zuckte missmutig die Achseln.

»Ein einfacher Heilzauber. In einer Weile ist er wieder ganz der Alte.«

»Hätten Sie ihn wirklich umgebracht, wenn ich nicht dazwischengegangen wäre?«

»Wahrscheinlich nicht«, meinte der Zauberer. »Ich war schon immer zu weichherzig, um mal richtig durchzugreifen.

Und leider verdammt treu – Ihrem Vater gegenüber. Sie kämpfen hinterhältig, Rupert!«

»Natürlich. Ich bin ein Prinz.«

Beide grinsten sarkastisch. Zwei Gläser Weißwein erschienen in den Händen des Zauberers. Er reichte eines davon Rupert, der es dankbar annahm. Der Prinz fand, dass er nach allem, was ihm widerfahren war, einen guten Tropfen verdient hatte. Er nahm einen kräftigen Schluck und zog anerkennend die Brauen hoch.

»Kein schlechter Jahrgang, Sir.«

Der Große Zauberer lächelte bescheiden. »Eines meiner nützlicheren Talente. Aber nun zu Ihnen, Prinz Rupert. Was führt Sie nach all den Jahren zum Schwarzen Turm?«

»Der Dunkelwald«, erwiderte Rupert. »Er breitet sich aus.

Wir glauben, dass der Dämonenfürst zurückgekehrt ist.«

Der Zauberer starrte in sein Glas. »Verdammt«, sagte er leise. »Das ist schlimm. Wie schnell rückt er denn vor?«

»Etwa eine halbe Meile täglich. So war es zumindest, als wir von der Burg aufbrachen. Aber wenn erst der Blaue Mond aufgeht…«

»Nicht so schnell, nicht so schnell!« Der Große Zauberer schloss kurz die Augen, als kämpfe er gegen Schmerzen an.

»Stimmt das mit dem Blauen Mond?«

Rupert starrte ihn verblüfft an. »Wann haben Sie den Mond zum letzten Mal betrachtet?«

»Ich war seit einundzwanzig Jahren nicht mehr im Freien«, sagte der Zauberer. »Ich habe hier in meinem Turm alles, was ich brauche.«

Er machte eine kurze Handbewegung; im nächsten Moment schwebte er zusammen mit Rupert langsam nach oben, bis sie auf gleicher Höhe mit dem offenen Fenster waren.

Draußen war die Nacht hereingebrochen. Sterne funkelten am Himmel, und die Soldaten hatten ein Feuer entfacht, aber das hellste Licht verbreitete der Mond, dem noch etwa ein Viertel zu seiner vollen Rundung fehlte. Er hing fett und aufgebläht in der Nacht, ein fahler Wanst, der von bläulichen Adern durchzogen war. Der Zauberer starrte verwirrt und mit wachsendem Entsetzen auf den fleckigen Mond. Es dauerte eine Weile, bis er den Blick davon losreißen konnte und sich wieder Rupert zuwandte.

»Das wusste ich nicht«, murmelte der Zauberer. »Ich hätte es wissen müssen, aber irgendwie ist es mir entgangen. Was habe ich sonst noch verpasst?«

Er runzelte sorgenvoll die Stirn, als er neben Rupert wieder zu Boden schwebte. »Es tut mir Leid, Prinz Rupert. Ich scheine den Kontakt zur Außenwelt verloren zu haben.

Ist das alles wirklich einundzwanzig Jahre her? Wo ist nur die Zeit geblieben? Nun ja, das kommt davon, wenn man als Einsiedler lebt und vor sich hin säuft. Ihr Vater schickt Sie, um mich an den Hof zurückzuholen? Das habe ich mir fast gedacht. Typisch Johann! Sieht tatenlos zu, bis alles aus dem Ruder läuft, und erwartet dann, dass ich Wunder vollbringe!

Ich schwöre Ihnen, wenn es nicht auch um meinen Hals ginge, bliebe ich hier, würde Däumchen drehen und ließe ihn in seinem eigenen Saft schmoren. Leider schaffe ich so etwas nicht, und das weiß er ganz genau! Trotz allem, was zwischen uns vorgefallen ist – ich kann das Waldkönigreich nicht im Stich lassen. Ein merkwürdiger Gedanke, nach all den Jahren in meine alten Gemächer auf der Burg heimzukehren. Hoffentlich hat man sie inzwischen renoviert. Die Tapeten waren scheußlich. Ich kann doch davon ausgehen, dass Johann das Verbannungs-Edikt aufgehoben hat.«

»Natürlich«, sagte Rupert, erleichtert, dass er endlich zu Wort kam. »Er braucht Sie, Sir!«

Der Große Zauberer grinste plötzlich. »Und ich möchte wetten, dass ihm das gewaltig stinkt! Wohlan, Prinz, dann machen wir uns am besten auf die Socken. Es ist ein ziemlich weiter Weg bis zur Residenz. Je eher wir losziehen, desto besser.«

»Sie möchten jetzt aufbrechen?«, fragte Rupert. »Mitten in der Nacht? Das schaffen wir nicht, Sir! Meine Männer sind nicht mehr in der Lage, gegen die Dämonen des Dunkelwalds zu kämpfen. Sie müssen erst schlafen und wieder zu Kräften kommen.«

»Keine Sorge«, erklärte der Zauberer lässig. »Wir werden den Dunkelwald nicht durchqueren. Ich kenne eine Abkürzung.«

Rupert musterte ihn scharf und erstarrte im nächsten Moment, als hinter ihm ein wütendes Knurren ertönte. Der Prinz warf sich herum, das Schwert in der Hand, und ging in Zweikampfstellung. Der Champion sprang mit lautem Getöse von dem Tisch, auf den ihn der Zauberer verfrachtet hatte. Sein Gesicht war zornrot, aber seine Augen wirkten eiskalt. Mit einem grimmigen Lächeln hob er das Schwert und schritt langsam auf den Magier zu.

»Sie sind ein toter Mann, Zauberer«, sagte der Champion.

»Sie hätten mich besser umbringen sollen, als ich noch wehrlos war.«

»Ach, Mist!«, murmelte der Zauberer müde. »Den hatte ich völlig vergessen. Würden Sie ihm bitte den Stand der Dinge erläutern, Rupert? Oder soll ich ihn in ein weniger rauflustiges Geschöpf verwandeln? In eine Haselmaus vielleicht…«

»Er hört auf mich«, warf Rupert rasch ein. Der Zauberer schlenderte achselzuckend zu den Käfigen hinüber, um sich mit seinen Tieren zu unterhalten. Der Champion starrte ihm aufgebracht nach, und Rupert stellte sich hastig zwischen die beiden Streithähne. »Stecken Sie Ihr Schwert ein, Sir Champion! Der Große Zauberer hat sich bereit erklärt, uns im Kampf gegen den Dunkelwald zu helfen.«

»Gehen Sie mir aus dem Weg, Rupert!«

»Wir sind auf seine Zauberkünste angewiesen.«

»Er hat versucht, mich zu töten!«

»Ja«, sagte Rupert langsam. »Und es wäre ihm wohl auch gelungen, wenn ich ihn nicht daran gehindert hätte. Aber selbst wenn Sie jetzt tot und steif zu meinen Füßen lägen, würde ich weiter mit ihm verhandeln. Er ist unsere Waffe gegen die Finsternis, die einzige Hoffnung, die das Waldkönigreich hat. Und das bedeutet, dass sein Leben mehr wiegt, als Ihr oder mein Leben je wiegen werden. Also stecken Sie Ihr Schwert ein, Sir Champion! Das ist ein Befehl.«

Der Champion murmelte etwas Unverständliches, schob das Schwert in die Scheide und schoss wütende Blicke zu dem Zauberer hinüber, der an einem der weiter entfernten Tische stand, das Chaos durchwühlte und dazu ein leises Selbstgespräch führte.

»Der Große Zauberer war bereits ein alter Mann, als ich an den Hof kam«, sagte der Champion. »Er müsste jetzt hoch in den Neunzigern sein. Hat er überhaupt noch die Kraft, uns gegen den Dunkelwald beizustehen?«

»Momentan nicht«, erklärte der Zauberer, ohne sich umzudrehen. »Aber das wird sich noch ändern. Ah – da haben wir ja, was wir suchen!« Er hob einen Holzbecher an die Lippen, nippte vorsichtig an der schäumenden Flüssigkeit, die er enthielt, und schnitt eine Grimasse. »Irgendwann muss ich den Geschmack von diesem Zeug verbessern.«

Er überwand seinen Ekel, trank den Becher hastig leer und stellte ihn ab. Unvermittelt beugte er sich vor, presste beide Hände an die Brust und zitterte plötzlich wie Espenlaub.

Noch bevor er umkippen konnte, stand Rupert neben ihm und hielt ihn an den Schultern fest. Der Mann schien nur noch aus Haut und Knochen zu bestehen; er war leicht wie eine Feder.

Und dann spürte Rupert ein Kribbeln im Nacken, als das Fleisch des Zauberers sich unter seinen Händen wand. Ungläubig beobachtete er, wie neue Muskelstränge die schlaffe Haut ausfüllten. Die Schultern wurden breiter, der krumme Rücken streckte sich, dass die Wirbel knirschten und knackten wie feuchte Holzscheite im Feuer. Das graue Haar wurde dichter und dunkler. Der Zauberer richtete sich mit einem tiefen Seufzer auf. Der spärliche Bart fiel ab, und darunter kam junge, vor Gesundheit strotzende Haut zum Vorschein.

Tiefschwarzes Haar wallte ihm bis auf die Schultern, ein verwegener Schnurrbart schmückte seine Oberlippe, und seine Statur hätte einem Dreißigjährigen alle Ehre gemacht.

Als er Ruperts Verwirrung sah, grinste er breit.

»Was nützen die schönsten Verwandlungskünste, wenn man für sich selbst nichts tun kann, nicht wahr, mein Junge?«

Rupert nickte, immer noch sprachlos.

»Nun denn«, fuhr der Zauberer geschäftig fort, »ich nehme an, Sie sind wegen des Dunkelwaldes gekommen.«

»Darüber sprachen wir bereits«, sagte Rupert.

»Tatsächlich? Mein Gedächtnis ist auch nicht mehr das, was es einmal war. Ich habe mir fest vorgenommen, in dieser Richtung an mir zu arbeiten, aber leider vergesse ich es immer wieder. Also – unser Hauptproblem ist nicht der Dunkelwald, sondern der Dämonenfürst.«

»Zu diesem Schluss sind wir auch gelangt«, erklärte Rupert.

Der Zauberer starrte ihn mit einem durchdringenden Blick an. »Unterbrechen Sie mich noch einmal, und ich verwandle Sie in ein Erdferkel! Verstanden?«

Rupert nickte. Er wusste nicht genau, wie ein Erdferkel aussah, verspürte aber keine gesteigerte Lust, es im praktischen Versuch herauszufinden.

»Der Dämonenfürst«, sagte der Große Zauberer nachdenklich. »Das Böse in Menschengestalt, ungeboren, seelenlos.

Eines jener Wesen, die zwischen den Welten auf der Lauer liegen. Seine Macht wächst, wenn der Blaue Mond zunimmt.

Wir müssen ihn besiegen, ehe der Mond voll ist… ehe die Wilde Magie auf das Land losgelassen wird…« Die Stimme versagte ihm, und er ließ die Schultern hängen. Trotz seiner neuen Jugend wirkte er auf einmal kraftlos und müde. »Hört euch das an! Ich rede, als könnten wir den Dämonenfürsten überwinden. Selbst in meiner besten Zeit war ich ihm unterlegen. Und ich bin weit von meiner besten Zeit entfernt.

Meine Macht beruht auf der Hohen Magie, aber der Dunkelwald ist ein Werk des alten Zaubers, der Wilden Magie.«

»Wo liegt da der Unterschied?«, wollte Rupert wissen.

Der Große Zauberer lächelte düster. »Die Hohe Magie ist beherrschbar. Die Wilde Magie dagegen erkennt keine höhere Macht als sich selbst an.« Er unterbrach sich plötzlich und zuckte mit den Schultern. »Ach, zum Henker, ich weiß nicht.

Im Arsenal der Burg warten immer noch die Schwerter der Hölle. Vielleicht schaffen wir es damit.«

Zum ersten Mal merkte Rupert, dass der mächtige und Ehrfurcht gebietende Große Zauberer ebenso unsicher und ängstlich war wie er selbst, wenn es um den Dunkelwald ging. »Zeigen Sie mir einen Weg, die Finsternis zu bekämpfen, und ich folge Ihnen überallhin!«, rief er. »Selbst in den Dunkelwald, wenn es sein muss!«

Der Zauberer musterte ihn und grinste plötzlich. »Sie sind mehr der zupackende Typ, was?«

Rupert erwiderte das Grinsen. »Ich hatte gute Lehrmeister,«

»Also gut«, sagte der Zauberer entschlossen. »Lassen wir es auf einen Versuch ankommen. Vielleicht haben wir Glück.«

»Können wir jetzt aufbrechen?«, fragte der Champion.

»Die Zeit läuft uns davon.«

»Aber sicher«, entgegnete der Zauberer liebenswürdig. Er sah Rupert an. »Wer von uns ist schneller am Fenster?«

»Eine Frage noch, Sir«, sagte Rupert. »Warum gibt es hier eigentlich keine Türen?«

»Fenster sind leichter zu verteidigen«, erklärte der Zauberer mit einem verschlagenen Lächeln. »Außerdem brauchte ich bis jetzt nie eine Tür. Ich hatte keine Sehnsucht, den Turm zu verlassen.« Er sah sich wehmütig in dem überfüllten Raum um. »Welch ein Chaos! Ich wollte immer mal richtig ausmisten, aber ich kam einfach nicht dazu. Hmm. Vielleicht sollte ich die Tiere in Winterschlaf versetzen, ehe ich fortgehe. Ist sicher besser, als sie… nun ja, es wird schon alles klappen.«

Er schniefte und zuckte die Achseln, ehe er an das nächst gelegene Fenster trat. »Wissen Sie, Rupert, ich hätte nie die Zauberer-Akademie verlassen sollen. Ich war voll und ganz zufrieden damit, Gold in Blei zu verwandeln.«

»Äh – Blei in Gold, wollten Sie sagen?«

»Deshalb musste ich ja meinen Hut nehmen«, gestand der Große Zauberer.

Der Wall aus wirbelndem Schnee bedrängte den Schwarzen Turm, und die Nachtluft war bitterkalt. Eine dünne Silberschicht aus Raureif bedeckte das Gras und glitzerte auf dem Mauerwerk des alten Turms. Der Zauberer brach auf, der Sommer war vorbei, und schon forderte der öde Mittwinter das Land, das ihm so lange versagt geblieben war. Hin und wieder erspähte Rupert unheimliche dunkle Schatten, die zielstrebig durch den heulenden Schneesturm huschten und darauf zu lauern schienen, dass der Große Zauberer endlich die Grenzen seines Schutzrings überschritt. Ruperts Miene verdüsterte sich, und seine Hand blieb in der Nähe des Schwertgriffs. Seine Männer waren von ihrem Marsch durch den Dunkelwald erschöpft, zerschlagen und verwundet, und nun musste er sie bitten, den Weg noch einmal auf sich zu nehmen. Der Zauberer hatte von einer Abkürzung gesprochen, mit der sich die lange Nacht vermeiden ließ, aber Rupert kannte die Karten. Es gab nur eine Route, die ihn und sein Gefolge noch vor dem Vollmond zurück in die Residenz brächte – den Pfad, den sie selbst durch den Dunkelwald geschlagen hatten.

»Ich habe Hunger«, sagte das Einhorn.

»Du hast immer Hunger«, entgegnete Rupert. »Wie kannst du jetzt an Futter denken?«

»Übung«, meinte das Einhorn. »Worauf warten wir eigentlich noch? Ich hasse es, so herumzuhängen.«

»Nur keine Eile! Wir kehren noch früh genug in den Dunkelwald zurück.«

»Wenn ich es mir recht überlege, habe ich doch nichts dagegen, noch ein Weilchen herumzuhängen.«

Rupert lachte trocken und tätschelte den Hals des Einhorns. »Diesmal ist es sicher nur halb so schlimm. Der Große Zauberer begleitet uns.« Wie auf dieses Stichwort kam der Zauberer näher. Er hatte ein Glas in der Hand und sang ein Lied, das den Hofdamen sehr missfallen hätte. Das Einhorn musterte ihn aufmerksam.

»Das ist der Große Zauberer? Unsere ganze Hoffnung gegen den Dämonenfürsten?«

»Ja.«

»Dann ist die Kacke echt am Dampfen!«

»Leise!«, zischte Rupert und trat rasch auf den Zauberer zu, um ihn zu begrüßen.

»Ach, Rupert!«, sagte der Zauberer geistesabwesend und trank sein Glas leer. »Sind Ihre Leute zum Aufbruch bereit?«

»Ja, Sir. Es sind tüchtige Männer. Sie können sich darauf verlassen, dass sie uns den Rücken freihalten, sobald wir in den Dunkelwald eindringen.«

»Das glaube ich gern«, erwiderte der Zauberer. »Aber es wird zum Glück nicht nötig sein. Wir kehren nicht durch den Dunkelwald zurück. Ich befördere uns direkt auf die Burg des Waldkönigreichs.«

Ruperts Mut sank. Sein Mund fühlte sich plötzlich sehr trocken an. »Das ist Ihre Abkürzung? Teleportation?«

»Sie haben die Sache voll erfasst, mein Junge!«

Rupert kämpfte mühsam gegen seinen aufsteigenden Zorn an. »Vielleicht täusche ich mich, Sir, aber soviel ich weiß, kann bei diesen Teleportationen eine ganze Menge schief gehen.«

»Das ist vollkommen richtig«, bestätigte der Zauberer.

»Deshalb werden die entsprechenden Zauberformeln heute fast nicht verwendet. Außer in Notfällen.«

»Sir«, erklärte Rupert mit Nachdruck, »ich habe meine Männer nicht quer durch das Waldkönigreich und die lange Nacht geführt, um sie jetzt der Laune eines Magiers zu opfern! Sehen Sie sie doch an! In Ihrem Zustand ist eine Teleportation gefährlicher als ein Kampf gegen die Dämonen!«

Der Große Zauberer sah ihn fest an. »Prinz Rupert, wenn es eine andere Möglichkeit gäbe, die Burg rechtzeitig zu erreichen, ergriffe ich sie. Aber es gibt keine. Eine Teleportation ist unsere einzige Hoffnung.«

»Eine Teleportation kann uns alle umbringen! Hören Sie, wenn es nur um mich und meine Leute ginge, dann würde ich den Versuch wagen. Aber ich kann nicht zulassen, dass Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen. Sie sind die letzte Hoffnung des Waldkönigreichs, Sir. Ohne Sie müssen wir uns der Finsternis ergeben.«

»Verlassen Sie sich nicht auf mich«, sagte der Zauberer.

»Das könnte ein tödlicher Fehler sein.« Seine Stimme klang leise, müde und sehr bitter. »Ich habe zu lange mit mir allein gelebt, um mich irgendwelchen Träumen hinzugeben, Rupert.

Ich bin längst nicht mehr so mächtig wie früher, und ich war nie so mächtig, wie es die Barden gern darstellen. Ich hatte Talent, aber ich verschwendete es für Wein und Weiber, wie der Champion ganz richtig feststellte. Ich stehe dazu; ich hatte meine Gründe. Gute Gründe. Aber erwarten Sie nicht zu viel von meiner Zauberkunst! Ich kann den Dämonenfürsten nicht mit einem Fingerschnippen verschwinden lassen. Alles, was noch an Können, Wissen und hinterhältigen Tricks in meinem Hirn gespeichert ist, steht Ihnen zur Verfügung. Und wenn ich es schaffe, uns vor dem Vollmond in die Burg zu bringen, ist das schon eine Menge Hilfe. Aber für Ihren Kampf brauchen Sie mich nicht unbedingt, Rupert. So wichtig bin ich nicht mehr – und war es nie, wenn man es recht betrachtet.«

Rupert schüttelte den Kopf. »Ich zweifle nicht an Ihrer Zauberkunst, Sir. Es ist das Weinglas in Ihrer Hand, das mich beunruhigt. Im Suff macht jeder Fehler.«

Der Zauberer grinste schief. »Ich bin betrunken kein Meister meines Fachs, Rupert. Aber nüchtern bringe ich noch weniger zustande. In meinem alten Schädel spuken zu viele Erinnerungen herum, zu viele traurige Erinnerungen. Nur der Wein hält sie in Schach. Der Champion hat Recht. Ich besaß das Zeug zum Meister aller Magier. Ich hätte ein Held werden können, wie ihn die Legenden besingen. Leider scheiterte ich. Nicht alle halten durch. Genau genommen bin ich nicht aus dem Holz eines Helden geschnitzt. Ich bin weder besonders tapfer noch besonders klug. Ich besitze ein gewisses Talent zur Magie und habe die Zauberkunst mein Leben lang studiert, aber Ihre Familie erwartete immer so verdammt viel von mir! Wann immer eine Bedrohung auftauchte, schickten sie mich los, gleichgültig, ob ich Kopf und Kragen riskierte oder nicht. Für jedes Ungeheuer, jeden Dämon, jede Naturkatastrophe war ich zuständig… Irgendwann hatte ich es satt.

Die Verantwortung, den Druck, die ständige Angst. Damals begann ich zu trinken. Anfangs half es. Aber Ihre Familie lud mir immer mehr Verantwortung auf, bis ich schließlich unter der Last zusammenbrach. So einfach war das. Und dann verliebte ich mich in eine Dame, die einem anderen den Vorzug gab, und… die alte Geschichte.

Damit möchte ich sagen, dass Ihr Besuch einen Neuanfang für mich bedeuten könnte. Verlangen Sie nicht, dass ich zu trinken aufhöre, denn das schaffe ich nicht. Aber wenn Sie mir vertrauen, werde ich mein Bestes geben. Das verspreche ich Ihnen.«

Rupert sah den Großen Zauberer lange an. Die neu gewonnene Jugendlichkeit des Magiers konnte nicht verbergen, dass er die Schultern müde hängen ließ, aber noch trug er den Kopf hoch und wartete gespannt auf Ruperts Antwort. Der Prinz legte ihm lächelnd eine Hand auf den Arm.

»Bereiten Sie die Teleportation vor«, sagte er. »Es wäre ein langer, mühsamer Marsch zurück durch den Dunkelwald.

Und ich möchte den Rest meiner Leute unversehrt heimbringen.«

»Danke, Sire«, entgegnete der Zauberer. »Sie werden Ihren Entschluss nicht bereuen. Darauf gebe ich Ihnen mein Wort.«

Die Nacht schritt langsam voran. Der blaufleckige Mond verbreitete sein fahles Licht, als der Zauberer die Männer zusammenscheuchte und in einer engen Formation aufstellte.

Anfangs hatte sie der Magier mit seiner Gedankenverlorenheit und dem verkleckerten Umhang nicht gerade beeindruckt, aber ihr Respekt war deutlich gewachsen, als sie sahen, was er in seinem Groll mit dem Kettenhemd des Champions angestellt hatte. Der Champion trat neben Rupert und deutete mit dem Kinn auf den Großen Zauberer, der mit überkreuzten Beinen in der Luft schwebte und ins Nichts starrte.

»Sie müssen diese Teleportation verhindern, Sire. Das Risiko ist zu hoch.«

»Ich habe meine Entscheidung getroffen, Sir Champion.«

»Er ist ein Verräter und Säufer. Er…«

»Schnauze!«

Der Champion riss die Augen weit auf, verblüfft von Ruperts plötzlichem Zornausbruch.

»Ich höre von Ihnen kein Wort mehr über den Zauberer!«, fuhr Rupert ruhig fort. »Gehen Sie zu Ihren Leuten und bleiben Sie dort! Das ist ein Befehl.«

Der Champion musterte ihn lange, verbeugte sich dann knapp und nahm seinen Platz bei den Soldaten ein.

»War das wirklich nötig?«, fragte das Einhorn.

»Ja«, entgegnete Rupert knapp.

»Es gibt Momente, da könnte man dich mit deinem Bruder verwechseln.«

Der Schneesturm rückte näher. Jenseits des weißen Walls, der allmählich die Lichtung eroberte, versammelten sich die Dämonen in immer größeren Horden. Die erbarmungslose Kälte und das Sturmgeheul schien sie gleichgültig zu lassen.

Reif umhüllte den Schwarzen Turm wie ein Kokon aus Eis und schimmerte weiß auf den Rüstungen der Männer. Ruperts Atem dampfte in der Nachtluft, und die Wangen brannten ihm vor Kälte. Leichter Schneefall setzte auf der Lichtung ein.

Und dann ließ sich der Zauberer endlich zu Boden sinken und nickte Rupert energisch zu.

»Tut mir Leid, dass es so lang gedauert hat, Sire. Ich musste die Koordinaten überprüfen. Eine Dezimalstelle daneben, und wir könnten ein paar hundert Fuß über dem Erdboden auftauchen. Wenn es ganz dumm läuft, sogar darunter.«

Die Soldaten sahen sich erschrocken an.

»Fangen wir an!«, sagte Rupert hastig, und der Zauberer nickte.

»In Ordnung, Sire. Wenn Sie und das Einhorn sich hier neben mich stellen würden… danke. Es kann losgehen!«

Er hob gebieterisch die Arme, den Blick starr auf ein Ziel gerichtet, das nur er sah. Eine Zeit lang geschah gar nichts.

Tiefe Furchen gruben sich in die Stirn des Zauberers, während er sich konzentrierte. Jenseits der Lichtung tobte der Sturm immer stärker. Und dann schien die Lichtung selbst zu flackern und zu flimmern. Ein Dröhnen, so tief, dass es fast unter der Hörschwelle lag, erschütterte Rupert bis ins Mark.

Die Erde unter seinen Füßen begann zu beben. Vor dem Zauberer tat sich ein breiter silberner Tunnel auf, der in endlose Fernen zu führen schien. Der Zauberer schwebte langsam in die Luft – und einer nach dem anderen folgte ihm in den Tunnel –, Prinz Rupert, das Einhorn, der Champion und die Soldaten.

Der Riss im Gewebe des Alls schloss sich und war gleich darauf spurlos verschwunden. Die letzten Barrieren, die der Zauberer mit seinen Bannsprüchen errichtet hatte, brachen zusammen. Entfesselt fegte der heulende Sturm über die Lichtung und kreiselte winselnd um den verlassenen Schwarzen Turm.

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