KAPITEL ZWEI Die Heimkehr

GUT ZWEI MONATE SPÄTER zogen Rupert, Julia, der Drache und das Einhorn müde die lange Serpentinenstraße hinauf, die zu Ruperts Burg führte. Rupert ritt sein Einhorn, während es sich Julia auf den Schultern des Drachen bequem gemacht hatte. Prinz wie Prinzessin trugen ein Lederwams, eine lange Hose und darüber einen dicken Pelzumhang. Die Temperatur war in den letzten Wochen stetig gesunken. Dazu kam ein eisiger Wind, der ohne Unterlass durch den Wald blies.

»Heim kehrt der Held«, deklamierte Julia. »Eigentlich müssten sie dich mit Fanfaren oder Ähnlichem begrüßen.«

»Der erstbeste Barde, der mir über den Weg läuft, kann sich auf einiges gefasst machen«, sagte Rupert. »Mit dieser Zunft bin ich fertig.«

Der Drache hüstelte taktvoll. »Ich komme nicht gern auf dieses Thema zu sprechen, Rupert, aber deine Leute haben dich vermutlich auf Abenteuerfahrt geschickt, damit du einen Drachenschatz heimbringst. Gold und Geschmeide – oder zumindest die wertvolleren Körperteile eines toten Drachen.

Stattdessen schleppst du einen lebenden Drachen und eine Prinzessin ohne Mitgift an. Eine miserable Ausbeute, wenn du mich fragst. Du kannst trotz deiner zugegeben großen Taten nicht eine einzige Goldmünze vorweisen.«

Rupert grinste. »Ich habe immer noch das Regenbogenschwert.«

Julia warf ihm einen bestürzten Blick zu. »Du hast doch nicht im Ernst vor, es zu verscherbeln?«

Der Prinz zuckte die Achseln. »Das Waldkönigreich braucht das Geld dringender, als ich ein Zauberschwert brauche. Das Königshaus hat seine Verpflichtungen, wenn du dich erinnerst.«

»Und ob ich mich erinnere«, erwiderte Julia trocken. »Es wird mir schwer fallen, mich wieder an dieses Gesülze zu gewöhnen. An die unbequemen Gewänder, an die steife Etikette und an die Hofdamen, die dich daran hindern, all das zu tun, was Spaß macht.«

»Ich werde schließlich auch noch da sein«, versprach Rupert.

Julia lächelte. »Das ist ein Trost«, sagte sie und drückte ihm kurz die Hand.

Hohe, majestätische Eichen säumten die Straße; die schweren Äste waren kahl bis auf vereinzelte, herbstlich braun verfärbte Blätter. Es war Spätnachmittag, aber die Sonne sank bereits hinter den Horizont. Rupert zog die Stirn kraus, als die kalte Brise durch die Bäume raschelte. Der Winter schien früher als sonst hereinzubrechen. Als ob das Waldkönigreich nicht genug andere Probleme hätte… Er schüttelte bedächtig den Kopf. Dann atmete er tief durch und genoss den vertrauten Geruch nach Holz und feuchten Erdschollen, der ihm verriet, dass er bald daheim war. Daheim. Das Wort weckte viele Erinnerungen, wenn auch nicht unbedingt erfreuliche.

Rupert zügelte das Einhorn und wandte sich dem Drachen zu.

»Äh, Drache… ich halte es für besser, wenn du… also, wenn du…«

»Wenn ich mich erst mal rar mache?« Der Drache lächelte und entblößte einige Reihen nadelspitzer Zähne. »Ich verstehe, Rupert. Wir wollen sie nicht gleich zu Tode erschrecken, stimmt's?«

Rupert grinste den Drachen erleichtert an. »Genau. Es wird ihnen zunächst schwer genug fallen, so zu tun, als freuten sie sich über meine Rückkehr.«

»Da wären sie mit mir glatt überfordert.« Der Drache legte sich flach hin und wartete geduldig, bis Julia abgestiegen war. Dann verließ er ohne Eile die Straße, schlug sich in die umliegenden Büsche und war verschwunden.

Rupert klappte die Kinnlade nach unten. »Ich wusste nicht, dass sich Drachen unsichtbar machen können.«

»Können wir auch nicht«, erklärte eine körperlose Stimme vom Straßenrand. »Aber wir verstehen etwas von Tarnung, sonst müssten wir glatt verhungern. Ein zehn Meter langer Drache fällt im Allgemeinen auf, wenn er sich seiner Beute zu nähern versucht.«

»Gut«, sagte Rupert. »Sehr gut. Ich hole dich später ab, sobald ich Gelegenheit hatte, den Hofstaat auf deinen Besuch vorzubereiten. Ach, und noch etwas, Drache… wenn du zufällig auf ein paar fette, dämlich dreinblickende Vögel stoßen solltest, dann friss sie lieber nicht! Sie stehen unter dem persönlichen Schutz des Königs.«

»Zu spät«, meinte der Drache mit vollem Mund.

Rupert schüttelte resigniert den Kopf. »Nun ja, war wohl ohnehin Zeit, die Dodo-Population ein wenig auszudünnen.«

Er wandte sich Julia zu, die ungeduldig mitten auf der Straße wartete.

»Seid ihr beide mit eurem Palaver bald fertig?«, fragte sie drohend. »Es wird spät…«

»Keine Panik«, entgegnete Rupert. »Das Schloss ist gleich um die Ecke. Wir haben es fast geschafft.« Er zögerte und schwang sich aus dem Sattel.

»Was wird das jetzt wieder?«, erkundigte sich Julia.

»Nun ja«, meinte Rupert unbeholfen, »es macht sich vielleicht nicht so gut, wenn ich auf dem Einhorn reite und du zu Fuß gehst. Steig auf!«

»Nein, danke.«

»Aber du kennst die Hofleute…«

»Nein«, wiederholte Julia mit fester Stimme.

»Warum?«

»Weil ich nicht auf einem Einhorn reiten kann – darum!«

Rupert starrte zu Boden und zog mit der Stiefelspitze Kreise in den Staub.

»Hm«, sagte er schließlich.

»Was bedeutet das im Klartext?«

»Es bedeutet, dass er nachdenkt«, sagte das Einhorn. »Das ist immer ein schlechtes Zeichen.«

»Mein Gott, Jungfrau hin oder her!«, rief Julia gereizt. »Es gibt schlimmere Dinge.«

»Hierzulande leider nicht«, sagte Rupert. »Einhorn, du lahmst.«

»Stimmt doch gar nicht«, widersprach das Einhorn.

»Doch, du lahmst. Deshalb gehen Julia und ich zu Fuß.«

»Willst du damit etwa andeuten, dass ich humpeln soll?«, fragte das Einhorn.

»Du hast das Problem voll erfasst!«, sagte Rupert. »Und sieh zu, dass du überzeugend wirkst, sonst sorge ich dafür, dass du einen Monat lang nur Gras zu fressen bekommst!«

»Erpressung!«, maulte das Einhorn. Es setzte sich langsam in Bewegung und probierte dabei verschiedene Arten des gequälten Humpelns aus. Rupert und Julia sahen sich lächelnd an und folgten ihm.

Der Wald zu beiden Seiten der Straße lichtete sich, und schon bald erreichten sie den Schlossgraben. Rupert runzelte erstaunt die Stirn, als er die hochgeklappte Zugbrücke sah; solche Vorsichtsmaßnahmen wurden im Allgemeinen nur getroffen, wenn sich das Land im Ausnahmezustand befand.

Sein Stirnrunzeln vertiefte sich nach einem Blick auf die verlassene Brustwehr, und er rief sich das Land in Erinnerung, das sie seit dem Verlassen des Dunkelwaldes durchquert hatten. Es konnte während seiner Abwesenheit weder einen Krieg noch eine Rebellion gegeben haben, sonst wären sie an ausgebrannten Höfen vorbeigekommen oder hätten auf den Feldern Leichen gesehen, die man den Aaskrähen zum Fraß vorgeworfen hatte. Die Pest? Rupert fröstelte, als ihm in den Sinn kam, dass er unterwegs keiner Menschenseele begegnet war, aber gleich darauf rief er sich zur Vernunft. Im Falle einer Seuche hätte er zumindest Schwefelfeuer oder schwarze Kreuze an den Türen gesehen.

»Was ist los?«, fragte Julia.

»Ich weiß nicht recht.« Rupert spähte zum Torhaus des Bergfrieds hinüber. »Ho, Torwachen!«, rief er. »Lasst die Zugbrücke herunter!«

Während er ungeduldig auf eine Antwort wartete, wandte Julia ihre Aufmerksamkeit der Burganlage zu.

»Übermäßig groß ist sie ja nicht«, meinte die Prinzessin.

Rupert lächelte schwach. Er musste zugeben, dass die Residenz des Waldkönigreichs auf den ersten Blick nicht gerade imposant wirkte. Das von Wind und Regen angenagte Mauerwerk war rissig, die hohen, mit Zinnen geschmückten Türme sahen schief und arg mitgenommen aus – und dennoch rührten die vertrauten, bröckeligen Wehrgänge und die von Efeu umrankten Wälle sein Herz. Die Burg hatte Kriegen und Seuchen getrotzt, Dunkelheit und Verfall, hatte getreulich Wache über das Reich und seine Vorfahren gehalten. Vierzehn Generationen seiner Familie waren innerhalb dieser Mauern groß geworden, vierzehn Generationen im Dienste des Waldkönigreichs. Rupert seufzte leise. Manchmal lastete die Vergangenheit schwer auf seinen Schultern. Und obwohl er die meiste Zeit seines jungen Lebens gebetet hatte, der Enge dieser Burg entfliehen zu können, war sie letztlich doch sein Zuhause, auf das er sich freute.

»Die Burg macht wesentlich mehr her, wenn du sie von innen siehst«, versicherte er der Prinzessin.

»Das hoffe ich sehr«, sagte Julia.

»Wir haben vier separate Flügel mit je tausend Räumen, zwölf Bankettsäle, drei Ballsäle, dazu die Unterkünfte der Wachen und Diener, Ställe, Innenhöfe…«

Julia musterte die bescheidene Anlage, die höchstens hundert Meter breit und nicht mal dreißig Meter hoch war. »So viel Platz – da drinnen? «

»Mhm«, bestätigte Rupert lässig. »Die Burg ist innen grö­

ßer als außen.«

»Wie das?«

»Architekten-Pfusch«, meinte Rupert grinsend.

»Tausend Zimmer in einem Flügel«, murmelte die Prinzessin. »Wie kriegt ihr die bloß alle warm?«

»Die meisten heizen wir gar nicht«, gab Rupert zu. »Hoffentlich hast du einen Satz Thermo-Unterwäsche dabei.«

»Wie viele Räume habt ihr insgesamt?«

»Das wissen wir nicht so genau.« Allmählich bereute Rupert, dass er das Thema angeschnitten hatte. »Manche Zimmer sind nur an bestimmten Tagen da. Und kein Mensch kann den Südflügel wieder aufspüren, seit er uns vor zweiunddrei­

ßig Jahren verloren ging. Im letzten Herbst hatten wir, glaube ich, fünftausendzweihundertvierzehn Räume. Aber keine Sorge! Wenn du die Hauptkorridore nicht verlässt, bist du einigermaßen sicher.«

Ein heiserer Ruf vom Torhaus her ersparte ihm Julias Antwort. »Ho! Ihr dort am Burggraben! Verschwindet oder ich erlaube den Jungs, euch als Zielscheiben zu benutzen!«

Rupert starrte wütend zu den im Schatten liegenden Schießscharten über dem Fallgatter. Sobald er in der Burg war, würde er sich den Wachoffizier mal richtig vorknöpfen.

Er malte sich die Panik im Bergfried aus, wenn sie erst seine Stimme erkannten.

»Lass die Zugbrücke herunter, Kerl!«, befahl er schroff und nahm eine königliche Pose ein.

»Mach die Flatter!«, entgegnete der Posten. Das Einhorn unterdrückte ein Prusten. Ruperts Hand fuhr zum Schwert.

»Du weißt wohl nicht, wen du vor dir hast!«, schrie er.

»Nein«, erklärte die Stimme. »Und ich will es auch nicht wissen!«

»Ich bin Prinz Rupert!«

»Erzähl keinen Blödsinn!«

»Seid ihr sicher, dass ihr die richtige Burg angesteuert habt?«, erkundigte sich Julia honigsüß.

»Leider ja«, sagte das Einhorn. »Nun weißt du, warum wir immer so gern auf Heldentour gehen.«

»Ich bin der Prinz, hast du verstanden?«, brüllte Rupert, dem die Diskussion im Hinblick auf Julia äußerst peinlich war.

»Willst du uns verarschen?«, fragte die Stimme gelangweilt. »Jeder weiß, dass der junge Rupert auszog, um einen Drachen zu töten, und dass er seitdem verschollen ist. Der kommt wohl nicht mehr lebend wieder. Nun haut endlich ab, ihr Penner, oder wir spannen unsere Bogen, und die Hunde kriegen ihr Abendessen früher als gewohnt!«

»Penner!«, kreischte Rupert in höchstem Zorn. »Na, der kann was erleben! Die können alle was erleben!«

»Immer langsam«, besänftigte ihn Julia und umklammerte entschlossen Ruperts Arm, ehe er das Schwert ziehen konnte.

»Irgendwo hat er ja Recht. Wir sind nicht gerade in Samt und Seide gehüllt.«

Rupert warf einen Blick auf ihre verdreckten, abgerissenen Reisegewänder. Bitterer Zorn stieg in ihm auf.

»Posten! Ich befehle dir zum letzten Mal…«

»Bist du immer noch da, Mann?«

Rupert stand kurz vor der Explosion, als hinter ihm eine besonnene, aber sehr laute Stimme ertönte: »Aus dem Weg, Prinz Rupert! Den kaufe ich mir.«

Es entstand eine kurze Pause. Dann brach ein zehn Meter langer, zorniger Drache aus dem Gehölz, in seinem Sog Blätter und abgebrochene Zweige, die auf Rupert, Julia und das Einhorn niederprasselten. Seine mächtigen Schwingen trugen den Drachen rasch zu der hochgeklappten Zugbrücke und hielten ihn im Gleichgewicht, während die messerscharfen Klauen auf die dicken Holzbohlen einhieben und sie wie Papier zerfetzten. Der Posten im Torhaus erlitt einen kurzen, aber deutlich hörbaren Hysterieanfall und ergriff dann schreiend die Flucht. Der Drache schlug mit den Flügeln und warf sein ganzes Gewicht gegen die Winde, mit deren Hilfe die Brücke hochgezogen wurde. Licht schimmerte auf seinen Smaragdschuppen, als er die Muskeln anspannte. Plötzlich rasselten die Ketten. Rupert, Julia und das Einhorn traten zurück, die Zugbrücke senkte sich über den Burggraben und knallte hart am anderen Ende auf. Rupert und Julia applaudierten begeistert, und der Drache gesellte sich im Gleitflug zu ihnen.

»Guter Einfall!«, motzte das Einhorn. »Jetzt werden sie uns vermutlich ihr ganzes verdammtes Heer entgegenschicken.«

Rupert führte die Gruppe über die Zugbrücke, die unter dem Gewicht des Drachen ächzte. Etwas wühlte das Wasser des Burggrabens auf. Julia warf einen skeptischen Blick auf die Blasen, die aus der dunklen Brühe aufstiegen.

»Haltet ihr etwa Krokodile im Burggraben, Rupert?«

»Jetzt nicht mehr«, meinte Rupert geistesabwesend, den Blick fest auf das große Portal am anderen Ende des Bergfrieds gerichtet. »Wir hatten mal welche, aber dann kam irgendso ein Ding, das Ordnung im Graben schuf und sie alle fraß.«

»Was für ein Ding?«

»Das weiß keiner so genau«, sagte Rupert. »Aber das spielt auch keine Rolle. Wenn es Krokodile fressen kann, dann ist es sicher in der Lage, einen Burggraben zu bewachen…«

Die Flügel des massiven Eichenportals schwangen langsam vor ihnen auf, und Rupert führte seine Gefährten vom Bergfried in den Hof der Burg. Im Schatten des inneren Tores blieb er stirnrunzelnd stehen. Selbst zu dieser späten Tageszeit hätten Händler ihre Waren feilbieten müssen, umringt von feilschendem Marktvolk. Gaukler und Zigeunerinnen hätten da sein müssen, Messerschleifer und Kesselflicker, Bettler und Mönche. Wachtposten hätten an den Toren und Bogenschützen auf den Wehrgängen stehen müssen. Statt dessen breitete sich der große Platz still und leer vor ihm aus.

Weder Kohlebecken noch Fackeln erhellten das trübe Grau, und die Schatten wirkten beängstigend dunkel. Als Rupert langsam auf den Hof hinaustrat, hallten seine Schritte unnatürlich laut.

»Wo zum Henker sind denn die Burgbewohner geblieben?« Die hoch aufragenden Mauern warfen Ruperts Worte hohl zurück. Niemand gab Antwort.

»Ich habe schon lustigere Friedhöfe gesehen«, murmelte Julia.

»Wenn ich etwas entdecke, das auch nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Pestkreuz hat, kehre ich auf der Stelle um.« Das Einhorn rollte nervös die Augen. »Hier ist was faul.

Das rieche ich geradezu.«

»Nun krieg dich wieder!«, fauchte Rupert. »Wenn sie auf der Burg die Pest hätten, wäre das Tor verschlossen geblieben, Drache hin oder her.«

»Ich gehe davon aus, dass es hier sonst nicht so… still ist«, meinte der Drache.

»Nein, sonst nicht«, gab Rupert ein wenig gepresst zu. Er blieb am Fuß der langen Treppe stehen, die zur Haupteingangshalle hinaufführte, und starrte finster das abweisende Portal an. »Das Reich befindet sich offenbar in einem Ausnahmezustand. Die Lage scheint so bedrohlich zu sein, dass man die Verteidiger der Burg abgezogen und die Residenz hermetisch gegen die Außenwelt abgeriegelt hat.« Er starrte zu den unbemannten Zinnen und Wehrgängen hinauf und fröstelte plötzlich. »Aber was kann…«

»Der Dunkelwald«, sagte eine ruhige Stimme.

Rupert zog das Schwert und fuhr herum, als plötzlich der Schein von Fackeln den Hof erhellte. Am oberen Ende der Treppe stand eine hoch gewachsene, breitschultrige Gestalt in blitzendem Kettenpanzer, die sich gegen das halb geöffnete Hauptportal abhob. Das Licht reflektierte rötlich von der Schneide der mächtigen Doppelaxt, die der imposante Krieger in Händen hielt. Julia zog ihr Schwert und trat neben Rupert, als ein Dutzend bewaffneter Wachleute aus der Halle stürmte und hinter dem Mann Aufstellung nahm.

»Freunde von dir?«, fragte Julia beiläufig.

»Nicht unbedingt.«

Eine Zeit lang starrten sich die beiden Gruppen wortlos an.

Dann senkte der hoch gewachsene Recke lächelnd die Doppelaxt.

»Willkommen auf der Burg, Prinz Rupert.«

»Danke, Sir Champion. Ein schönes Gefühl, wieder daheim zu sein.« Rupert verneigte sich leicht, ohne jedoch das Schwert in die Scheide zu schieben. »Überrascht von meiner Rückkehr?«

»Ein wenig.« Der Champion starrte nachdenklich über Ruperts Schulter hinweg. »Wie ich sehe, haben Sie einen Drachen mitgebracht.«

»Ganz recht«, entgegnete der Prinz ruhig. »Würden Sie jetzt bitte Ihre Garde wegschicken? Oder soll ich ihm sagen, dass es Abendessen gibt?«

Der Champion lachte und nickte den Wachen kurz zu. Sie zogen sich in die Eingangshalle zurück, während der Champion majestätisch die Treppe herabschritt, um Rupert und seine Begleiter zu begrüßen. Prinz und Champion musterten einander eingehend, und Julia runzelte die Stirn, als sie sah, dass keiner der beiden Männer die Waffe wegsteckte. Der Champion beunruhigte sie. Er musste mindestens vierzig sein, aber er trug die mächtige Streitaxt wie ein Spielzeug.

Sein hartes, unnachgiebiges Gesicht war von Narben gezeichnet, und das Lächeln, das seine Lippen umspielte, spiegelte sich nicht in den kalten, dunklen Augen. Mörderische Augen, dachte Julia und fröstelte. Allein seine Nähe bereitete ihr… Unbehagen.

»Nun«, begann Rupert leise, »wie ist die Lage auf der Burg?«

»Unverändert, Sire«, sagte der Champion. »Ich bin vermutlich immer noch gezwungen, Sie zu töten.«

»Zum Wohle des Reiches?«

»Ja, Sire. Zum Wohle des Reiches.«

Ihre Blicke trafen sich, und Rupert schaute als Erster weg.

Der Champion wandte sich Julia zu. »Und wen haben wir da?«

»Prinzessin Julia«, stellte Rupert seine Begleiterin vor.

Der Champion verbeugte sich. »Wenn Sie mich einen Moment entschuldigen, Sire, dann lasse ich ein Gästezimmer für die Dame herrichten.«

Er drehte sich um und erklomm ohne Hast die Stufen zur Eingangshalle. Rupert rammte das Schwert mit einem leisen Fluch und unnötiger Heftigkeit in die Scheide. Nachdem Julia dem Champion eine Weile unsicher nachgestarrt hatte, schob auch sie ihre Waffe ein.

»Was sollte das Gequatsche, dass er keine andere Wahl hätte, als dich zu töten?«, fragte sie ruhig.

»Du weißt doch, ich bin der nachgeborene Sohn«, erwiderte Rupert grimmig. »Mein Bruder steht an erster Stelle der Thronfolge, aber es gibt mehrere Gruppen bei Hofe, die mich gern als Galionsfigur in ihren Machtspielen benutzen würden.

Die oberste Pflicht des Champions besteht darin, das Reich zu erhalten. Er würde mich bedenkenlos umbringen, wenn er damit einen Bürgerkrieg verhindern könnte. Das hat man mich praktisch von Geburt an wissen lassen. Eigentlich war geplant, dass ich auf meiner Drachensuche umkommen und damit allen eine Menge Ärger ersparen sollte. Stattdessen kehre ich in einem äußerst ungünstigen Moment zurück, und er befürchtet nun, dass ich die Lage, wie immer sie sein mag, ausnützen könnte.«

»Tätest du das?«, fragte Julia. »Die Lage ausnützen, meine ich.«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Rupert. »Vermutlich…«

»Still«, warnte das Einhorn. »Er kommt zurück.«

Eine Hand voll vornehmer Herren und Damen kämpften am Portal um die besten Plätze, als der Champion die Treppe herunterstieg, begleitet von vier Bewaffneten in rotgoldenen Garde-Uniformen. Julias Hand umklammerte erneut den Schwertgriff.

»Keine Angst«, flüsterte Rupert. »Das ist nur eine Eskorte.«

Julia bedachte die Wachen mit einem argwöhnischen Blick und schien sich dann ein wenig zu entspannen, aber Rupert bemerkte mit Sorge, dass ihre Hand das Schwert nicht losließ.

Ein höfliches Hüsteln lenkte seine Aufmerksamkeit zurück auf den Champion, der geduldig wartend vor ihm stand.

»Ja, Sir Champion?«

Der Recke musterte Rupert ausgiebig. »Bemerkenswerte Narben, die Sie da an der Wange haben, Sire.«

»Ich habe mich beim Rasieren geschnitten.«

»Und wo ist Ihre Rüstung?«

»Die habe ich im Schlingpflanzenwald zurückgelassen. Sie war mir hinderlich.«

Der Champion schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich überbrachte dem König die Nachricht von Ihrer Heimkehr, Sire.

Ihr Vater wünscht, dass Sie ihm Ihre Aufwartung machen.«

Rupert zuckte zusammen. »Hat das nicht Zeit?«

»Leider nein.« Die Stimme des Champions war höflich, aber sein kalter, starrer Blick ließ keinen Raum für Diskussionen. »Wie Ihnen vermutlich nicht entgangen ist, Sire, befinden wir uns derzeit in einer schwierigen Lage.«

Rupert nickte schwach. »Sie erwähnten den Dunkelwald…«

»Ja, Sire. Er breitet sich aus.«

Rupert starrte den Champion ungläubig an. Die Grenzen des Dunkelwalds hatten sich seit Jahrhunderten um keinen Millimeter verschoben. »Wie schnell rückt er vor?«

»Eine halbe Meile täglich. Der Schlingpflanzenwald ist der langen Nacht bereits zum Opfer gefallen. Dämonen durchstreifen das Waldkönigreich. Wenn wir keine Mittel und Wege finden, um dem Dunkelwald Einhalt zu gebieten, hat er uns in wenigen Monaten erreicht.«

»Einhalt gebieten? Man kann ihn nicht einmal verlangsamen!« Rupert wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

Er kämpfte gegen den Impuls an, den Champion zu packen und so lange zu schütteln, bis er zur Vernunft kam. Es kostete ihn Mühe, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken.

»Wir haben uns durch die Finsternis zurückgekämpft, Sir Champion. Im Dunkelwald wimmelt es von Dämonen. Wir hatten Glück, dass wir mit dem Leben davonkamen – und wir wurden von einem Drachen unterstützt!«

»Wir haben fähige Soldaten«, bemerkte der Champion sanft.

»Ach ja?«, entgegnete Rupert. »Wo denn?« Er ließ seine Blicke betont über die verlassenen Wehrgänge schweifen, aber damit konnte er den Champion nicht aus der Ruhe bringen.

»Dämonen überfallen die abgelegenen Höfe und Dörfer, Sire. Wir mussten jeden Mann, den wir entbehren konnten, zu ihrem Schutz entsenden. Die Siedlungen der Grenzbezirke werden evakuiert, aber da nachts niemand zu reisen wagt, geht das nur langsam vor sich. Zu langsam. Jede Nacht verlieren wir mehr Leute. Die Dämonen entwickeln… Schlauheit.«

»Ja.« Rupert nickte ernst. »Sie jagen jetzt in Rudeln.«

»Unmöglich!«, stellte der Champion kategorisch fest.

»Was soll der Quatsch?«, fuhr ihn Julia an. »Wir haben es mit eigenen Augen gesehen.«

»Dämonen arbeiten nie zusammen«, beharrte der Champion, ohne Julias Einwurf zu beachten.

»Inzwischen tun sie es«, erklärte Rupert. »Weshalb haben Sie die Burg so hermetisch abgeriegelt?«

»Wegen der Dämonen«, sagte der Champion. »Sobald die Nacht hereinbricht, tauchen sie am Waldrand auf und beobachten uns mit glühenden Augen aus den Schatten. Bis jetzt haben sie keinen Angriff auf die Burg gewagt, aber ihre Anzahl nimmt täglich zu. Es ist, als… warteten sie auf etwas.«

Rupert zupfte sich nachdenklich an der Unterlippe. Wenn der Dunkelwald noch Monate entfernt war, was taten dann die Dämonen so weit vor der anrückenden Front? Und wo versteckten sie sich tagsüber? Er schüttelte sorgenvoll den Kopf.

»Da mich meine jüngsten Erfahrungen zu einem Experten für den Dunkelwald machen, bleibt mir wohl keine andere Wahl, als meinen Vater so rasch wie möglich aufzusuchen.«

»Ganz recht, Sire. Der Hofstaat erwartet Sie. Aber mit Verlaub, Sire, erwarten Sie nicht zu viel. Jede Partei scheint ihren eigenen Plan zur Bekämpfung des Dunkelwalds zu haben – und keiner ist einen Pfifferling wert. Ihr Vater hört sich alle Vorschläge an, handelt aber nicht. Versuchen Sie ihm klar zu machen, Sire, dass Entscheidungen getroffen werden müssen. Er kann sie nicht länger aufschieben.«

Rupert starrte den Champion nachdenklich an. Er sollte wieder einmal als Schachfigur in einer Intrige benutzt werden; das spürte er. Die letzte Geschichte, bei der ihn alle Welt plötzlich mit Sire betitelt hatte, war darauf hinausgelaufen, dass er auf der Suche nach einem Drachen durch den Dunkelwald ritt.

»Wo ist eigentlich Harald?«, fragte er misstrauisch. »Er galt doch immer als der Macher in unserer Familie.«

Der Champion zuckte die Achseln. »Ich habe das Gefühl, dass Ihr Bruder den Dunkelwald nicht wirklich ernst nimmt.«

Rupert rümpfte die Nase. »Dann muss ich ihm seinen verdammten Kopf zurechtsetzen. Aber halt, zuerst zu Ihnen!

Dieser Posten am Torhaus…«

»Wurde umgehend abgelöst«, sagte der Champion. »Nun, Sire, ich denke, wir haben hier genug Zeit verschwendet. Der Hof wartet.«

»Soll er«, mischte sich der Drache ein. »Auf ein Wort, Sir Champion…«

Sein mächtiger Schädel pendelte nach unten, bis er dem Ritter mit seinen großen goldenen Augen mitten ins Gesicht starrte. Die bewaffnete Eskorte trat den ungeordneten Rückzug an, doch der Champion wich nicht von der Stelle.

»Rupert ist mein Freund«, sagte der Drache. »Sie haben gedroht, ihn zu töten.« Helle Funken stoben plötzlich aus den Nüstern des Drachen, und zwei dünne Rauchfahnen stiegen in die stille Abendluft. Der Champion zuckte mit keinem Muskel.

»Ich habe meine Pflichten«, erklärte er.

»Zum Teufel mit Ihren Pflichten!«, fauchte der Drache.

Der Champion warf einen Blick auf Rupert, der die Szene mit unverhüllter Schadenfreude verfolgte. Sein Leben lang hatte er im Schatten des Champions gestanden, immer in dem Wissen, dem Mann auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein. Jetzt waren die Vorzeichen plötzlich vertauscht, und er beschloss, die veränderte Situation zu genießen, so lange sie währte. Der Champion registrierte Ruperts Grinsen und wandte sich zögernd wieder dem Drachen zu.

»Wenn Rupert auch nur das Geringste zustößt«, fuhr der Drache fort, »mache ich diese Burg platt. Ist das klar?«

»Absolut klar«, bestätigte der Champion. »Hat dir schon mal jemand gesagt, dass dein Atem nach Schwefel stinkt?«

»Drache!«, rief Rupert erschrocken, als sein Gefährte bedrohlich die Klauen ausfuhr. »Mir gefällt dein Gedanke, aber wir brauchen ihn noch, so ungern ich das eingestehe.«

»Danke«, bemerkte der Champion trocken.

Der Drache starrte den Champion noch ein paar Sekunden lang drohend an, ehe er sich wieder aufrichtete. Rauch quoll aus seinen Nasenlöchern, während er demonstrativ die Krallen an einem Mauervorsprung schärfte. Der Champion wandte sich an Rupert.

»Es wird höchste Zeit, dass Sie Ihrem Haustier Manieren beibringen, Sire.«

Rupert zuckte mit den Schultern. »Wer zehn Meter lang ist und Feuer speit, braucht keine Manieren. Und noch etwas, Sir Champion! Bezeichnen Sie meinen Freund nie wieder als Haustier! Das könnte ihm missfallen.«

Der Drache grinste breit. Nachdem der Champion eingehend seine spitzen Zahnreihen betrachtet hatte, kehrte er dem Drachen betont lässig den Rücken zu.

»Wenn ich bitten dürfte, Sire! Ihr Vater…«

»Ich weiß«, unterbrach ihn Rupert. »Mein Vater wartet nicht gern. Kommst du, Julia? Julia?«

»Dort drüben«, murmelte das Einhorn.

Rupert drehte sich um und sah gerade noch, wie Julia einem Gardeoffizier das Knie in die Weichteile rammte und gleich darauf eine Hofdame zu Boden streckte.

Gelangweilt, weil niemand sie beachtete, war Julia auf eigene Faust losgezogen, um sich das Schloss näher anzusehen.

Allerdings kam sie nicht weit. Ein schon etwas angejahrtes Püppchen von einer Hofdame und ein gelangweilt dreinblickender junger Gardesoldat versperrten ihr den Weg.

»Eine Prinzessin?«, meinte Lady Cecelia nach einem geringschätzigen Blick auf Julias abgewetzte Lederkluft. »Und

… woher genau, wenn die Frage gestattet ist?«

»Aus dem Hügelland«, entgegnete Julia knapp, während sie mit wachsender Beklommenheit Lady Cecelias Prunkgewand betrachtete. Das reich bestickte, mit hunderten von Halbedelsteinen besetzte und an den richtigen Stellen gepolsterte Gewand hüllte die Lady vom Ausschnitt bis zu den Knöcheln ein. Es war so schwer, dass sie sich nur mit trippelnden Schritten bewegen konnte. In den weiten Rüschen­

ärmeln hätte sich ein mittelgroßer Hund verkriechen können, und ein Korsett, das zumindest teilweise für die zarte Taille verantwortlich war, presste den Busen der Hofdame aus dem Ausschnitt heraus. Lady Cecelia wirkte reich und aristokratisch – einfach umwerfend. Und sie wusste es.

Na und?, dachte Julia. Ich hasse es nun mal, mich in ein Korsett zu zwängen!

»Hügelland.« Lady Cecelia schien nachzudenken. »Kann sein, dass ich mich täusche, meine Liebe, aber ich dachte immer, das Hügelland sei nur ein Herzogtum. Und streng genommen sollte man die Töchter eines Herzogs nicht als Prinzessinnen bezeichnen. Außerdem hat der Landadel ohnehin kein so großes Gewicht – in der feinen Gesellschaft, wenn Sie verstehen, was ich meine.« Sie bedachte Julia mit einem anmutigen Lächeln, das sehr deutlich machte, wer hier zur feinen Gesellschaft gehörte und wer nicht.

Ich darf ihr keine scheuern, dachte Julia. Rupert hat schon genug am Hals.

Sie beugte sich vor und musterte Lady Cecelias Kleid genauer. Fischbeinstangen hielten nicht nur die Wespentaille, sondern auch die Hüften in Form.

»Wie können Sie in diesem Panzer atmen?«, erkundigte sich Julia.

»Mit vornehmer Zurückhaltung«, erwiderte Lady Cecelia kühl.

»Sind hier alle so aufgemotzt?«

»Alle, die zum engeren Kreis des Hofes gehören. Ich stelle mit Befriedigung fest, dass der Landadel die Haute Couture zumindest als solche erkennt.«

Ich werde ihr keine scheuern, nahm sich Julia vor.

»Sie sind in Begleitung des jungen Rupert angekommen?«, fragte Lady Cecelia.

»Ja«, bestätigte Julia. »Kennen Sie ihn?«

»Oh, wer kennt Rupert nicht!« Lady Cecelia hatte ein boshaftes Lächeln aufgesetzt. Der Gardeoffizier an ihrer Seite grinste unverschämt.

Julia runzelte die Stirn. »Habe ich etwas Komisches gesagt?«

Lady Cecelia kicherte wie ein albernes kleines Mädchen.

»Rupert, meine Liebe, ist nur dem Namen nach ein Prinz.

Den Thron wird er niemals besteigen. Der fällt eines Tages seinem älteren Bruder Harald zu. Ach ja, Harald! Das ist ein Prinz, wie er im Buche steht! Stattlich, charmant und ein Tänzer von Gottes Gnaden! Alle Damen schwärmen von ihm

… Ich könnte Ihnen Dinge von ihm erzählen, meine Liebe…«

»Harald geht mich nichts an«, fiel ihr Julia ins Wort. »Erzählen Sie mir mehr von Rupert!«

»Prinz Rupert«, sagte Lady Cecelia gereizt, »ist zu gar nichts zu gebrauchen. Er kann weder tanzen noch singen, geschweige denn dichten. Und er hat absolut keine Ahnung, wie man sich bei den Damen beliebt macht.«

»Genau«, feixte der Offizier. »Deshalb reitet er auch noch sein Einhorn.«

»Er ist kein richtiger Mann«, schnurrte Lady Cecelia.

»Ganz im Gegensatz zu meinem Gregory.«

Der Gardeoffizier ließ geschmeichelt seine Muskeln spielen.

»Rupert«, fuhr Lady Cecelia fort, »ist ein fader, langweiliger…«

»… rückgratloser Blödmann!«, ergänzte der Offizier. Und beide lachten höhnisch.

Also blieb Julia keine andere Wahl, als den Gardisten mit dem Knie und die Lady mit der Faust außer Gefecht zu setzen.

Am anderen Ende des Hofes beobachtete Rupert verblüfft, wie der Offizier nach vorn kippte und die Hofdame der Länge nach zu Boden ging. Ein Mann aus der Eskorte des Champions zog sein Schwert und trat einen Schritt vor. Rupert brachte ihn mit einem Tritt zu Fall und setzte ihm die Schwertspitze an die Kehle.

»Gute Reflexe«, lobte der Champion. »Sie haben Fortschritte gemacht, Sire.«

»Danke«, entgegnete Rupert knapp. »Behalten Sie diesen Clown da im Auge, während ich mich um Julia kümmere!« Er schob das Schwert in die Scheide, hastete quer über den Hof und konnte Julia gerade noch davon abbringen, Lady Cecelia mit der Stiefelspitze zu bearbeiten.

»Julia, nicht hier und jetzt! Ich möchte dich erst mal mit meinem Vater bekannt machen. Wenn du willst, zeige ich dir später jede Menge Leute, die du verprügeln kannst – lohnendere Opfer als dieser traurige Wicht! Die wahren Scheißkerle treiben sich nicht auf dem Hof, sondern in der Nähe des Throns herum.«

Julia fiel es sichtlich schwer, ihr Werk zu unterbrechen, aber sie ließ es zu, dass er sie wegführte.

»Ich nehme an, sie haben dich beleidigt«, sagte Rupert.

»In der Richtung«, bestätigte Julia.

»Vergiss es!«, meinte Rupert besänftigend. »Ich denke, sie werden ihre Worte in Zukunft besser abwägen.«

»Ganz bestimmt«, versprach eine schwache männliche Stimme hinter ihnen.

Rupert schüttelte grinsend den Kopf. Schon jetzt war abzusehen, dass es Julia Mühe bereiten würde, sich wieder wie eine Dame zu benehmen.

Der Champion verbeugte sich tief, als Julia und Rupert zurückkamen. »Wenn Sie mir folgen wollen, Prinzessin Julia –

hier entlang, bitte!«

Julia nickte huldvoll, nahm den Arm, den ihr der Champion anbot, und ließ sich die Treppe nach oben führen. Die Eskorte folgte in diskretem Abstand. Rupert wandte sich dem Drachen und dem Einhorn zu.

»Ich dachte, die Eskorte sei für dich bestimmt«, sagte der Drache.

»Irrtum«, entgegnete Rupert. »Los, nun steht hier nicht so rum! Ich möchte, dass ihr mit zum König kommt!«

»Alle beide?«, fragte das Einhorn schüchtern.

»Aber sicher!«, erklärte der Prinz mit einem Lächeln. »Ich bin froh um jede Unterstützung. Und beeilt euch, sonst bringt Julia noch jemanden um!«


Rupert tigerte ungeduldig durch das enge Vorzimmer und warf wütende Blicke auf das fest verschlossene Portal, das in den Großen Thronsaal führte. Der Champion war vorausgeeilt, um dem König zu melden, dass sein Sohn nun eingetroffen sei, worauf die schweren alten Flügeltüren wie so oft zuvor dröhnend vor Ruperts Nase zugefallen waren. Wieder einmal redete man sich da drinnen über seine Zukunft die Köpfe heiß.

Was immer sie vorschlagen, meine Antwort lautet nein! dachte Rupert entschlossen. Ich habe den Dunkelwald doch nicht besiegt, um mich von meiner intriganten Verwandtschaf t erneut in den Tod schicken zu lassen!

Er blieb stehen und horchte an der Tür. Anhaltendes Stimmengewirr drang durch das massive Holz. Das ließ darauf schließen, dass sich trotz der späten Stunde fast der gesamte Hofstaat versammelt hatte. Rupert grinste. Die Höflinge hassten es, um diese Zeit zu arbeiten, weil dabei die wichtigen Dingen des Lebens zu kurz kamen – die Jagd, das Saufen und die Weiber. Rupert streckte sich und dachte sehnsüchtig an das Bett mit der dicken Matratze, das in seinen Gemächern auf ihn wartete. Aber so müde er auch war, er wusste, dass er keinen Schlaf fände, bis er herausgefunden hätte, welche neue Teufelei dem König und seinem Hofstaat eingefallen war. Er warf sich in einen der höchst unbequemen Besuchersessel und beobachtete seine Freunde.

Julia hatte ihren Dolch aus dem Stiefel geholt und benutzte die Familienporträts für Zielübungen. Ihre Trefferquote konnte sich sehen lassen. Der Drache, der halb im Korridor und halb im Vorzimmer lag, versuchte Rauchringe aus den Nüstern zu blasen und kaute geistesabwesend an einem Jahrhunderte alten Gobelin, den Rupert noch nie sonderlich schön gefunden hatte. Das Einhorn… Rupert zuckte zusammen.

»Einhorn, hättest du das nicht vorher erledigen können?«

»Tut mir Leid«, sagte das Einhorn kläglich. »Du weißt doch, dass ich in fremden Gebäuden immer Beklemmung bekomme! Ich werde das Gefühl nicht los, das Dach könnte einstürzen und…«

Rupert schüttelte den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem verschlossenen Portal zu. Wie oft hatte er vor dieser Flügeltür gestanden und darauf gewartet, den eigenen Vater sprechen zu dürfen? Seine Gedanken wanderten durch die Vergangenheit und fanden wenig Erfreuliches.

Als er sieben Jahre nach seinem Bruder das Licht der Welt erblickt hatte, waren alle überrascht und fast alle unangenehm überrascht gewesen. Sicher, ein König brauchte einen zweiten Sohn, falls dem ersten etwas zustieß. Aber zwei gesunde erwachsene Söhne brachten nichts als Ärger. Rupert hatte diese Erkenntnis früh gewonnen; jeder war bemüht gewesen, ihn in diesem Punkt schonungslos aufzuklären. Er runzelte die Stirn, während die Erinnerungen aus den Schatten gekrochen kamen. Die Lehrer, die ihn schlugen, weil er schneller begriff als der ältere Bruder. Die Fechtmeister, die ihn schlugen, weil er nicht so stark war wie der ältere Bruder. Die Höflinge, die ihn je nach Lage der Dinge umschmeichelten oder beleidigten. Die Barone, die in seinem Namen Intrigen spannen. Und der Champion, in dessen kalten dunklen Augen immer der Tod stand.

Fuchsfeuer-Moos glomm in mehreren Ampeln, die von der niedrigen Decke hingen, aber die Schatten im Vorzimmer ließen sich nicht vertreiben. Es war, als habe er die Finsternis in die Burg eingeschleppt. Rupert lehnte sich zurück und seufzte müde. Draußen im Wald war alles so einfach und logisch gewesen. Er musste zurück, weil das Waldkönigreich ihn brauchte. Ein bitteres Lächeln umspielte seine Lippen.

Das Waldkönigreich brauchte ihn nicht. Es hatte ihn nie gebraucht. Die einzigen Geschöpfe, die ihn je gebraucht hatten, waren Julia, der Drache und das Einhorn. Seine Freunde. Ruperts Lächeln wurde sanfter, als er dies dachte, und er ließ sich die Worte genießerisch durch den Kopf gehen. Er hatte nie Freunde besessen. Dem Prinzen war nie gestattet worden, mit Kindern einfacher Herkunft zu spielen, und die Familie…

Er war erst fünf Jahre alt gewesen, als seine Mutter starb.

Sein Bruder hatte ihn verspottet und gequält. Und sein Vater hatte ihn auf Abenteuerfahrt geschickt, um sich ein Problem vom Hals zu schaffen.

Rupert schüttelte den Kopf, um die düsteren Gedanken zu vertreiben. Er hatte zweimal den Dunkelwald bezwungen, Dämonen besiegt und den Regenbogen beschworen. Zum Henker mit seinem Vater, zum Henker mit dem Hofstaat und zum Henker mit dem verdammten Champion! Sie hatten versucht, ihn loszuwerden. Vergeblich. Er war wieder da – ob es ihnen passte oder nicht.

»Dauert das noch lange?«, fragte Julia und zog ihren Dolch aus dem Auge eines Urahns.

Rupert zuckte die Achseln. »Es macht ihnen Spaß, mich warten zu lassen. Damit weisen sie mich in meine Schranken.«

»Und das hast du so einfach hingenommen?«

Rupert schaute erst Julia, dann das Einhorn und den Drachen an.

»Bis jetzt schon«, sagte er nachdenklich. »Aber inzwischen hat sich einiges geändert. Drache…«

Der Drache, der sich gerade die Krallen an einer nutzlos herumstehenden Rüstung schärfte, schaute auf. »Ja, Rupert?«

»Siehst du diese Flügeltür?«

»Ja, Rupert.«

»Die Frage ist, in wie viele Streichhölzer sich so ein Ding wohl zerlegen lässt…«

Der Drache grinste breit, nachdem er das Portal fachmännisch gemustert hatte. Er richtete sich auf und tippte die Bohlen mit einer krallenbewehrten Pfote an. Sie erbebten unter seiner Berührung. Mit einem feierlichen Nicken zog er sich aus dem engen Vorzimmer zurück und drehte sich drau­

ßen im Korridor um. Rupert, Julia und das Einhorn pressten sich in die entfernteste Ecke, als der Drache sein Hinterteil behutsam in den Raum schob. Er vergewisserte sich mit einem kurzen Blick über die Schulter, dass seine Freunde außer Reichweite waren, und ließ den Schwanz schwungvoll auf-und niederpeitschen. Die Flügeltüren explodierten in einem Schauer von Holzsplittern, die wie Kartätschen durch den Thronsaal schossen. Rupert nickte befriedigt, als er die Schreie und Flüche des versammelten Hofstaats vernahm.

Das wird euch lehren, mir die Tür zum Thronsaal nicht mehr zu versperren! Mit einem Grinsen schob er sich am zuckenden Schweif des Drachen vorbei, um sich persönlich ein Bild vom Ausmaß des Schadens zu machen. Ein Türflügel hing schief in einer halb geborstenen Angel, während der andere seinen Geist ganz aufgegeben hatte und zerbröselt am Boden lag. Rupert atmete tief durch und schritt erhobenen Hauptes über die Schwelle. Das Geschrei der Höflinge verstummte.

Betretenes Schweigen breitete sich aus.

Rupert warf einen Blick in die Runde. Die noblen Herrschaften, die sich im Großen Saal eingefunden hatten, starrten ihn mit einem Gemisch aus Furcht, Empörung und Neugier an. Ein halbes Hundert mit Fuchsfeuer-Moos gefüllter Ampeln warf silbriges Licht über die Höflinge, während am anderen Ende des geräumigen Saals die letzten Strahlen der Abendsonne durch die herrlichen Buntglasfenster sickerten und auf ein Podest mit einem geschnitzten Eichenthron fielen.

Auf diesem Thron saß unbewegt und unerschütterlich König Johann IV., sein Vater. Der große Löwenkopf erschien fast zu schwer für den gebrechlichen Körper, und weder die reich bestickte Robe noch die prunkvolle goldene Krone konnten darüber hinwegtäuschen, dass seine graue Mähne struppig nach allen Seiten abstand und der Bart ungepflegt wirkte.

Selbst in besseren Tagen hatte Ruperts Vater ein wenig abgerissen ausgesehen – fast so, als habe man ihn rückwärts durch eine Hecke gezerrt. Aber trotz seiner Jahre und der Müdigkeit, die ihn einzuhüllen schien wie ein vertrauter alter Mantel, strahlte König Johann Würde aus, und seine tief liegenden Augen verrieten eine große innere Ruhe.

An seiner Seite stand Thomas Grey, der Hofastrologe, hoch gewachsen, breitschultrig und auf seine düstere Art durchaus anziehend. Der schwarz gekleidete Magier besaß alles, was einen Mann von Rang auszeichnete – nur keine edle Herkunft. Den Sohn eines Hufschmieds hatte von Kindheit an eine enge Freundschaft mit dem König verbunden, und nach Johanns Thronbesteigung war es für ihn selbstverständlich gewesen, seine vielversprechende Karriere an der Zauberer-Akademie abzubrechen und dem Jugendgespielen als Ratgeber an den Hof zu folgen.

Rupert hegte eine tiefe Abneigung gegen ihn. Der Mann lächelte einfach zu viel.

Die Höflinge musterten den Prinzen mit feindseligen Blicken, als er den Thronsaal betrat. Seine Schritte hallten laut in der Stille wider.

»Nun?«, wandte er sich an den Zeremonienmeister, der immer noch fassungslos das zersplitterte Portal angaffte.

»Willst du uns nicht dem König melden?«

»Ich glaube, er weiß, dass wir hier sind, Rupert«, sagte eine belustigte Stimme hinter ihm. Rupert unterdrückte ein Grinsen.

»Es geht darum, die Form zu wahren, Julia.«

»Ich lasse mir von Ihnen keine Befehle erteilen«, erklärte der Zeremonienmeister hochmütig. »Da könnte schließlich jeder…« Seine Stimme erstarb, als hinter Ruperts Schulter der Kopf des Drachen auftauchte. Aschfahl sah er zu, wie sich der Koloss durch den Türrahmen zwängte und wie dabei erneut ein paar Balken zu Bruch gingen. Er schluckte schwer.

»Sofort, Sire!«

Hastig trat er vor, warf sich in Pose und verkündete:

»Prinz Rupert vom Waldkönigreich, zweiter Thronanwärter, Verteidiger der Schwachen, Krieger des Reiches, Grundherr und Steuereinnehmer…« Er warf einen ängstlichen Blick nach hinten und fügte mit schwankender Stimme an: »Mit Freunden…«

Julia vollführte einen anmutigen Hofknicks und merkte dann erst, dass sie immer noch den Dolch in der Faust hielt.

Achselzuckend schob sie das Hosenbein hoch und verstaute die Waffe im Stiefelschaft. Der Drache ließ sich zu einem Lächeln herab, das seine spitzen Zahnreihen entblößte. Einige der näher stehenden Höflinge zogen sich in ungewohnter Bescheidenheit in die hinteren Reihen zurück. Das Einhorn warf unruhig den Kopf hin und her und pinkelte an den Türpfosten.

»Du mit deiner schwachen Blase!«, zischte ihm Rupert zu.

»Rupert, mein Bester, wie schön, dich unversehrt wiederzusehen!«, dröhnte eine Stimme aus dem Hintergrund, und Rupert sah, wie die Höflinge eine Gasse bildeten, um Harald durchzulassen. Sein Bruder war jeder Zoll der Held, den die Barden besangen – groß, stattlich und gut aussehend, zumindest nach dem Volksgeschmack. Er klopfte Rupert auf den Rücken und zerquetschte ihm zur Begrüßung fast die Hand.

»Geiler Drache«, fuhr er heiter fort. »Allerdings ist es üblich, die Dinger zu töten, ehe man sie anderen Leuten ins Haus schleppt!«

»Du kannst es ja versuchen«, feixte Rupert, während er unauffällig seine tauben Finger massierte. Harald musterte den Drachen, der sich mit gespaltener Zunge die Lefzen leckte und den älteren Prinzen hungrig ansah.

»Später vielleicht«, versprach Harald und wandte sich rasch ab, um Julia mit einem strahlenden Lächeln zu beglücken. »Wie ich sehe, Rupert, hat sich dein Geschmack in puncto Frauen gebessert. Willst du uns nicht bekannt machen?«

»Ich habe das Gefühl, dass einer von uns beiden das bereuen wird«, murmelte Rupert. »Prinzessin Julia vom Hügelland, darf ich Ihnen meinen Bruder vorstellen – Prinz Harald vom Waldkönigreich.«

Obwohl Rupert an heftige Reaktionen gewöhnt war, wenn es um seine Freunde ging, erstaunte es ihn doch, dass der gesamte Hofstaat vor Entsetzen zu erstarren schien. Julia warf einen Blick auf Haralds ausgestreckte Hand und stieß ein lautes Zorngebrüll aus. Haralds Kinnlade klappte nach unten, nachdem er ebenfalls einen Blick auf Julias Hand geworfen hatte. Er trat einen Schritt zurück und suchte vergeblich nach ein paar besänftigenden Worten. Julia stand im Begriff, sich auf Harald zu stürzen, aber Rupert erkannte die Zeichen des Sturms und umklammerte die Prinzessin von hinten.

»Was ist denn nun schon wieder los?«, fragte er müde.

»Musst du wirklich mit jedem Streit anfangen?«

»Das ist er!«, kreischte die Prinzessin und versuchte sich von ihm loszureißen.

»Klar, das ist er – mein Bruder!« Rupert hielt sie eisern fest. »Ich kann es leider auch nicht ändern.«

Julia hörte unvermittelt zu strampeln auf, und Rupert gab sie erschöpft frei.

»Du hast ja keine Ahnung!«, murmelte sie dumpf. »Das ist der Prinz, den ich heiraten sollte – der Typ, vor dem ich in die Berge geflohen bin!«

Rupert schloss einen Moment lang die Augen. Immer wenn er glaubte, alles im Griff zu haben…

»Julia, konntest du das nicht früher sagen?«

»Ich wusste doch nicht einmal, wie er hieß, Rupert. Man verlobte uns, als wir noch Kinder waren. Die Hochzeit hätte am Tag meiner Volljährigkeit stattfinden sollen, und als Ehepfand tauschten unsere Väter gravierte Weißgoldringe.

Ich trage den meinen seit dem vierten Lebensjahr. Es ist genau der gleiche, den ich soeben bei Harald entdeckt habe.«

Rupert starrte seinen Bruder an, der mühsam um Fassung rang.

»Stimmt das? Du bist mit ihr verlobt?«

»Nun ja, ich war es zumindest, aber…«

»Aber was?«

»Aber dann lief sie weg«, sagte Harald missmutig. »Vater blieb nichts anderes übrig, als mir eine neue Braut zu besorgen. Ganz nettes Ding – die Tochter eines Barons. Anständige Mitgift und beste politische Verbindungen. Und jetzt kommst du…«

»Und jetzt kommst du, Rupert, und machst alles kaputt!«

Die trockene, kühle Stimme des Königs übertönte Haralds Worte mühelos. »Da dieser Ehevertrag mit dem Hügelland nie aufgelöst wurde, wird uns wohl keine andere Wahl bleiben, als ihn zu erfüllen. Sonst noch eine Katastrophe, die du uns zu melden hast?«

»Lass mich nachdenken«, entgegnete Rupert. »Mir fällt sicher noch was ein.«

Harald schlenderte von dannen und unterhielt sich im Flüsterton mit dem König, während Rupert sein Bestes tat, um die tobende Julia zu besänftigen.

»Ich denke nicht daran, ihn zu heiraten!«, fauchte sie. »Eher gehe ich ins Kloster.«

Rupert erschrak bei dem Gedanken, was Julia in einem Kloster anrichten könnte, bemühte sich aber, ruhig zu bleiben.

»Du musst ihn nicht heiraten«, beschwichtigte er sie. »Ich finde eine andere Lösung, Ehrenwort.«

Julia zog misstrauisch die Nase kraus und musterte Harald.

»Wie ist er so, dein Bruder?«

»Reich, charmant, umschwärmt. Drei gute Gründe, jeden zu hassen. Aber Harald ist außerdem noch ein aufgeblasener, pedantischer Blödmann, der gelegentlich hart arbeitet und deshalb die Meinung vertritt, Spaß sollte für jeden streng verboten werden, der nicht dem hohen Adel angehört. Als ich klein war, hat er mir das Leben zur Hölle gemacht. Einige der Narben sind mir bis heute geblieben. Im Grunde ist er ein brutaler Ellenbogentyp und wird deshalb einen prächtigen König abgeben.«

»Der Durchschnittsprinz eben«, seufzte Julia, und Rupert musste lachen.

Der Hofstaat hatte mittlerweile einigermaßen die Fassung wiedergewonnen. Ruperts Heimkehr allein hätte den Damen und Herren genug Klatsch für den Rest des Jahres geliefert, aber sein dramatischer Auftritt durch einen gesprengten Türrahmen sorgte für eine unerwartete Bereicherung des Gesprächsstoffs. Die Anwesenheit von Julia und dem Drachen heizte die Spekulationen an.

Allerdings wagte es bislang niemand, sich der Etikette gemäß mit der Prinzessin oder ihrem Schuppenbegleiter bekannt zu machen. Tatsächlich hatte sich eine lebhafte Diskussion entsponnen, in welcher Weise man sich dem Paar gefahrlos nähern könne, und die Tapfersten schlenderten gerade betont zwanglos heran, als die Anwesenden plötzlich entdecken mussten, was geschieht, wenn einem zehn Meter langen Drachen ein Wind entfährt. Die Höflinge traten den ungeordneten Rückzug an, fächelten verzweifelt mit parfümierten Taschentüchern und rissen die Fenster auf. Rupert und Julia sahen sich schicksalsergeben an. Offenbar einer dieser Tage, an denen alles daneben geht.

Der König war aufgesprungen, zornrot im Gesicht. »Bringt diesen Drachen aus dem Thronsaal! Bringt ihn weg, bevor er sich noch einmal vergisst!«

Der Drache vergaß sich noch einmal. Rupert sah ihn wütend an.

»Muss das wirklich sein?«

»Ja«, entgegnete der Drache fest.

»Und bist du jetzt fertig?«

»Vermutlich nicht.«

»Dann geh nach draußen und such dir ein Plätzchen, wo du niemanden störst! Die Burg ist groß genug.«

Der Drache zuckte gleichgültig mit den Schultern. »Viel zu umständlich. Ich lege mich hier hin und versuche ein wenig zu schlafen.« Er spreizte die mächtigen Schwingen, sodass ein paar Höflinge entsetzt beiseite schlitterten, rollte sich dann mitten im Thronsaal ein und legte das Kinn bequem auf den Schweif. Die großen goldenen Augen fielen zu, und bald darauf schnarchte er gleichmäßig, eine Donnerwolke mit Blähungen.

»Ist dein Freund jetzt fertig?«, fragte der König eisig und lehnte sich auf seinem Thronsessel zurück.

»Ich hoffe es«, erwiderte Rupert. »Aber sprechen wir etwas leiser! Man soll schlafende Drachen nicht wecken.«

Der König seufzte und schüttelte langsam den Kopf. »Tritt näher, mein Sohn!«

Rupert trat näher, gefolgt von Julia. Der Astrologe stand zur Linken, Harald zur Rechten des Thronsessels. Der König starrte Rupert eine Zeit lang schweigend an.

»Rupert, kannst du denn gar nichts zu meiner Zufriedenheit erledigen?«

»Nicht sehr viel, wie es scheint«, entgegnete Rupert. »Entschuldige, dass ich einigermaßen heil von der Abenteuerreise zurückkehre – aber ich stelle mir das Totsein verdammt langweilig vor.«

»Ich meinte die Sache mit dem Drachen«, wandte der König ein.

»Aber sicher«, meinte Rupert kühl. Der König wich seinem Blick nicht aus.

»Ich tat, was ich für das Beste hielt«, sagte der König leise.

»Du meinst, du tatest, was der Astrologe für das Beste hielt.«

Thomas Grey verneigte sich steif, aber seine hellblauen Augen glitzerten gefährlich. »Ich berate den König, so gut ich es mit meinem bescheidenen Wissen vermag«, sagte er aalglatt. »Und wir fanden beide, dass die eine oder andere Heldentat Ihrem Ansehen bei Hofe dienlich sein könnte. Ein Prinz, der einen Drachen getötet hat, lässt sich zumindest leichter vermählen.«

Rupert lachte spöttisch. »Ah – ist der Markt immer noch mit nachgeborenen Söhnen überschwemmt?«

Der Astrologe wollte etwas erwidern, wurde aber durch eine Geste des Königs unterbrochen, der mit gefurchter Stirn das Einhorn betrachtete.

»Rupert, was ist mit dem Horn des Einhorns passiert?«

»Es verlor seine Waffe im Kampf.«

»Wie unachtsam von ihm!«, meinte Harald. Alle starrten ihn an, um zu sehen, ob er scherzte. Er wirkte völlig ernst.

»Harald«, sagte der König, »du solltest dir lieber Gedanken darüber machen, was du zu deiner Hochzeit anziehen willst. Du weißt, dass Diskutieren nicht deine Stärke ist.«

»Das Denken auch nicht«, murmelte Rupert.

»Jedenfalls hätte er mehr Verstand bewiesen, als einen lebenden Drachen mitzubringen!«, fauchte König Johann.

»Oder eine Prinzessin, die wir schon so gut wie los waren.

Jetzt müssen wir diese verdammte Ehe vollziehen, sonst bricht der Herrscher vom Hügelland die diplomatischen Beziehungen zum Waldkönigreich ab.«

»Ich heirate Harald aber nicht!«, begehrte Julia trotzig auf.

»Sie tun, was ich sage!«, erklärte König Johann. »Oder ich lasse Sie bis zur Hochzeit in das tiefste, schmutzigste Verlies werfen, das sich finden lässt!«

Ihre Blicke kreuzten sich, und Julia schaute zuerst weg.

Verunsichert wandte sie sich an Rupert. »Lässt du zu, dass er so mit mir umspringt?«

»Er ist mein Vater«, sagte Rupert.

Es folgte ein peinliches Schweigen.

»Eine solche Heirat ist doch kein Weltuntergang, Hoheit!«, meinte der Astrologe schließlich. »Wir müssen auch nichts überstürzen. Wenn Sie Harald erst einmal besser kennen lernen, werden Sie merken, dass er ein netter, umgänglicher Prinz ist, der sicher einen guten Ehemann abgibt. Und immerhin wird er eines Tages König sein.«

»Wenn wir bis dahin noch ein Reich haben«, warf der Champion ein.

Alle fuhren zusammen. Der Champion war unbemerkt näher getreten und blieb nun rechts von Rupert stehen. Er hatte die Streitaxt weggelegt und statt dessen sein Schwert umgeschnallt.

»Wie ich sehe, verstehen Sie sich immer noch darauf, von hinten anzuschleichen und die Leute zu erschrecken«, bemerkte Rupert.

»Eines meiner nützlichsten Talente.« Er verneigte sich leicht vor König Johann. »Majestät, wir müssen ein ernsthaftes Problem erörtern. Der Dunkelwald…«

»… kann eine Minute warten«, unterbrach ihn der König missmutig. »Ich bin mit Rupert noch nicht fertig. Mein Sohn, du solltest die wertvolleren Teile eines toten Drachen und zumindest einen Teil seiner Reichtümer heimbringen. Hast du denn überhaupt kein Gold erbeutet?«

»Nein«, sagte Rupert. »Es war keins da.«

»Jeder Drache sammelt Schätze.«

»Meiner sammelt Schmetterlinge.«

Alle starrten den schlafenden Drachen an. »Das sieht Ihnen ähnlich, Rupert«, sagte der Champion ruhig. »Nur Sie…«

»Hast du keinen Gegenstand von Wert vorzuweisen?«, beharrte der König.

»Nur das hier.« Rupert zog sein Schwert. Die anderen musterten argwöhnisch die blitzende Klinge.

»Es besitzt eine starke magische Aura«, meinte der Astrologe. Er sah Rupert zweifelnd an. »Welche Eigenschaften besitzt es?«

»Es zaubert Regenbogen herbei«, entgegnete Rupert ein wenig lahm.

Es entstand eine lange Pause.

»Sprechen wir über den Dunkelwald«, seufzte König Johann. »Das Thema scheint mehr herzugeben.«

»Mir soll's recht sein.« Rupert schob das Schwert in die Scheide.

»Die Zeit läuft uns davon, Majestät«, sagte der Champion beschwörend. »Wir haben bereits drei entlegene Dörfer an die Dämonen verloren, und der Schatten der langen Nacht rückt unerbittlich vor. Die Bäume sterben, und Blut verunreinigt die Flüsse. Kinder werden tot geboren, und das Getreide verfault, ehe man es ernten kann. Dämonen rennen vor dem Dunkelwald her und metzeln alles nieder, was ihnen in den Weg kommt. Meine Leute sterben da draußen, um uns eine kleine Atempause zu verschaffen. Ich ersuche Sie deshalb dringend um die Erlaubnis, bei den Baronen Männer auszuheben und ein Heer zusammenzustellen. Wir müssen uns der Dunkelheit entgegenstemmen, solange wir dazu noch in der Lage sind.«

»Sie wiederholen sich«, sagte der König gereizt. »Dabei wissen Sie so gut wie ich, dass die Barone mir ihre Männer verweigern werden – aus Angst, ich könnte gegen sie selbst kämpfen. Und vielleicht tue ich das sogar, denn ihr Verhalten grenzt allmählich an Rebellion. Nein, Sir Champion, schlagen Sie sich den Gedanken an ein Heer aus dem Kopf!«

Der Champion blieb hartnäckig. »Ich muss mehr Leute bekommen, Majestät!«

»Die königliche Garde…«

»… reicht nicht aus für unseren Kampf gegen die Finsternis.«

»Sie muss ausreichen«, erklärte der König kategorisch.

»Alle sonstigen Wachen und Soldaten sind bereits im Reich verteilt, um die Straßen offen zu halten und mein Volk zu beschützen. Soll ich sie zurückholen, damit Sie ein Heer aufbauen können, und die Dörfer und Städte der vorrückenden Dunkelheit überlassen?«

»Nötigenfalls ja«, erklärte der Champion ruhig. »Man kann eine Krankheit nicht heilen, wenn man nur die Symptome bekämpft. Die Dämonen sind Kinder der Finsternis. Der einzige Weg, dem Ausbreiten der langen Nacht Einhalt zu gebieten, besteht darin, ein Heer in den Dunkelwald zu führen und sein Herz zu vernichten.«

Ruperts Magen verkrampfte sich plötzlich, als er begriff, was der Champion forderte. Wenn die Wachen zurückgeholt wurden, blieben die Dörfer wehrlos zurück, und die Dämonen würden in Scharen darüber herfallen. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er sich an die Klauen und Fänge der Kreaturen erinnerte, gegen die er und Julia Rücken an Rücken auf der Lichtung gekämpft hatten. Er erinnerte sich, dass er Todesängste ausgestanden und gebetet hatte, das Ende möge schnell kommen. Die Dämonen waren Teil der Finsternis.

Begriffe wie Ehre oder Gnade waren ihnen fremd. Mit Sensen und Mistgabeln bewaffnete Bauern waren hoffnungslos unterlegen gegen die Horden, die als Vorhut des Dunkelwaldes ausschwärmten. Blut würde die Nacht erfüllen und Schreie, die erst im Morgengrauen verstummten…

»Es muss einen anderen Weg geben«, stieß er hervor und musterte verzweifelt die ungerührten Züge des Champions.

»Es gibt einen anderen Weg«, warf Thomas Grey ein. »Wo Waffen nicht ausreichen, bleibt immer noch die Magie.«

Der Champion lächelte verächtlich. »Immer das alte Lied, Astrologe. Aber mit Prophezeiungen und Blendwerk richten Sie gegen den Dunkelwald wenig aus. Früher oder später müssen wir doch zum kalten Stahl greifen.«

»Sie reden, als sei die Finsternis ein wildes Tier, das man mit Schwert und Lanze aus dem Weg räumen könne«, fauchte der Astrologe. »Das Dunkel lässt sich nur mit Licht bekämpfen. Weiße gegen Schwarze Magie, Aufklärung gegen Unwissenheit. Schicken Sie ein Heer in den Dunkelwald, und Sie sehen es nie wieder!«

Sie starrten einander über den Thron hinweg an, der Champion hoch aufgerichtet und stolz in seinem schimmernden Kettenpanzer und dennoch irgendwie verloren im düsteren, imposanten Schatten des schwarz gekleideten Astrologen, in dessen eisblauen Augen sich geheimes Wissen spiegelte und den eine Aura aus Macht und bösen Ahnungen umhüllte wie ein Leichentuch. Rupert musterte ihn verwundert. In den wenigen Monaten, die er dem Hof fern gewesen war, schien Thomas Grey an Format und Einfluss gewonnen zu haben. Und an Mut, denn es gab nur wenige, die es wagten, dem Champion offen zu widersprechen. Rupert runzelte die Stirn. Der Astrologe trat für seinen Geschmack eine Spur zu siegessicher auf. Vielleicht war Magie die einzige Antwort auf das Dunkel, aber nur ein mächtiger Zauberer konnte es wagen, den Kampf gegen den Dunkelwald aufzunehmen. Und Thomas Grey war kein Zauberer.

»Majestät!«, dröhnte eine volle, gebieterische Stimme aus dem Kreis der Höflinge. Ruperts Blicke fielen auf einen kleinen, fetten Mann in prunkvollen, allerdings von Soßeflecken verunzierten Gewändern, der sich einen Weg zum Thron bahnte. Scharfe Schweinsäuglein blinzelten unter sorgfältig gezupften Brauen hervor, und der geschminkte Mund wirkte ärgerlich verkniffen. Er blieb gegenüber dem Champion stehen und verneigte sich knapp vor dem König. »Majestät, als Ihr Kriegsminister protestierte ich schärfstens gegen…«

»Also schön«, unterbrach ihn der Champion gelassen, »wir nehmen Ihren Protest zur Kenntnis. Und jetzt machen Sie die Fliege, wir haben ernsthafte Dinge zu besprechen.«

Der Minister wurde zornrot, aber seine Stimme blieb kalt und hart. »Ob es Ihnen passt oder nicht, Sir Champion, ich bin der Kriegsminister dieses Reiches. Noch eine solche Unverschämtheit von Ihrer Seite, und ich lasse Sie auspeitschen!«

Die Hand des Champions legte sich auf den Schwertgriff.

Der Minister erbleichte und wich zurück.

»Sir Champion!«, warnte der König. »Wenn Sie die Waffe gegen einen meiner Minister erheben, sind Sie einen Kopf kürzer!«

Einen Moment lang schien es, als wolle sich der Champion über die Worte des Königs hinwegsetzen, aber der Moment verging, und er löste die Hand vom Schwertgriff. Der Minister begann wieder zu atmen.

»Er hat mich beleidigt«, sagte der Champion.

»Sie haben meinen Minister beleidigt«, entgegnete der König eisig. »Eine Ausfälligkeit gegen ihn ist eine Ausfälligkeit gegen mich. Habe ich mich klar genug ausgedrückt?«

»Natürlich, Majestät.« Der Champion verneigte sich leicht.

»Ich lebe nur, um Ihnen zu dienen.«

Der König wandte seine Aufmerksamkeit dem Minister zu.

»Falls Sie etwas zu dieser Diskussion beizutragen haben, Lord Darius, dann sprechen Sie!«

»Majestät sind zu gütig«, sagte Lord Darius nach einem giftigen Seitenblick auf den Champion. »Mir scheint, dass sowohl der Champion als auch der Astrologe die einzig logische Antwort auf unsere gegenwärtigen Schwierigkeiten übersehen. Da meiner Ansicht nach weder Waffengewalt noch Magie gegen den Dunkelwald etwas auszurichten vermögen, müssen wir uns auf die letzte Möglichkeit besinnen, die uns noch bleibt – die Diplomatie.«

Einen Moment lang herrschte Schweigen. Rupert wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

»Der Mann ist wahnsinnig«, bemerkte der Champion. »Mit Dämonen verhandeln? Ebenso gut können wir uns mit Blitz und Donner unterhalten. Dämonen morden, um zu leben, und leben, um zu morden.«

»Ausnahmsweise bin ich Ihrer Meinung, Sir Champion«, erklärte der Astrologe und bedachte Lord Darius mit einem eisigen Blick. »Der Dunkelwald ist die Inkarnation der Finsternis auf Erden. Alles, was unter seinem Schutz gedeiht, ist abgrundtief böse. Dämonen sind keine Lebewesen wie wir.

Sie existieren einzig und allein, um dem Dunkelwald zu dienen.«

»Sie dienen nicht nur dem Dunkelwald«, sagte Darius leise. Plötzlich verstummten alle Anwesenden. Rupert starrte den Minister mit wachsendem Entsetzen an, als ihm klar wurde, was der Mann andeutete.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, rief der Astrologe.

»Warum nicht?«, entgegnete Darius. »Wie sonst erklären Sie sich die plötzliche Ausbreitung des Dunkelwalds? Es gibt nur eine Erklärung. Der Dämonenfürst ist zurückgekehrt.«

»Eine Legende«, warf der Champion eine Spur zu hastig ein. »Ein Märchen, das kleine Kinder erschrecken soll.«

»Manche Legenden erweisen sich als wahr«, meinte Rupert leise, aber nur Julia hörte ihn. Sie nahm seine Hand und drückte sie kurz.

»Die Menschen haben sich schon früher auf Handelschaften mit dem Dämonenfürsten eingelassen«, fuhr Darius eindringlich fort. »Warum sonst sollten Dämonen das Burggelände Nacht für Nacht durchstreifen – so weit vom Dunkelwald entfernt? Sie warten darauf, dass wir zu ihnen kommen und einen Pakt mit ihnen schließen.«

»Ich denke nicht daran, einen Pakt mit den Mächten der Finsternis zu schließen«, erklärte König Johann.

»Aber wenn wir dem Dämonenfürsten geben, was er begehrt…« Der Minister verstummte unter dem eisigen Blick des Königs.

»Was schlagen Sie vor, Minister? Soll ich ihm etwa die Dörfer ausliefern, damit er meine Residenz verschont?«

»Warum nicht?«, entgegnete Darius. »Wie Sir Champion bereits andeutete – was ist das Leben von ein paar Bauern gegen die Sicherheit des Waldkönigreichs?«

»Das ist doch Wahnsinn!«, fuhr ihn der Champion an. »Ich sagte nicht, dass wir uns der Finsternis ergeben sollten, sondern dass wir sie bekämpfen müssen! Ein Blutopfer für den Dämonenfürsten – und wir werden ihn nie mehr los!«

»Ein solcher Plan würde uns alle vernichten!«, stieß der Astrologe hervor. »Entweder wir wehren uns gegen das Dunkel, oder es verschlingt uns!«

»Majestät, als Ihr Kriegsminister protestiere ich entschieden dagegen, dass…«

»RUHE!«, brüllte Rupert. Entsetztes Schweigen folgte seinem Ausbruch, und alle Blicke richteten sich auf ihn. Der Hofstaat hatte in der Hitze des Gefechts seine Anwesenheit völlig vergessen.

»Danke, Rupert«, sagte König Johann. »Der Lärm wurde in der Tat ein wenig unangenehm. Wenn ich den Champion richtig verstanden habe, hast du auf deiner Reise den Dunkelwald durchquert.«

»Zweimal«, erwiderte Rupert knapp.

Eine Welle mühsam unterdrückter Heiterkeit ging durch die versammelten Höflinge. Der Kriegsminister kicherte ganz offen, und seine dunklen Schweinsäuglein blitzten boshaft.

»Nun hören Sie aber auf, Rupert!«, spottete Lord Darius und legte seine fette Hand auf Ruperts Arm. »Gleich zweimal? Sie erwarten doch nicht im Ernst, dass wir Ihnen diese Geschichte abnehmen! Selbst mit einem Drachen im Gefolge hätten die Dämonen Sie in Stücke gerissen.«

»Sie versuchten es«, entgegnete Rupert ruhig. »Wir hatten gehöriges Glück, dass wir ihnen entkamen. Und nun nehmen Sie Ihre Finger von meinem Arm, sonst stopfe ich Ihnen die eigene Hand ins Maul!«

Der Minister kam seinem Befehl übertrieben geziert nach und verbeugte sich sarkastisch.

»Und wie viele Dämonen trafen Sie im Dunkelwald an?

Zehn? Zwanzig?«

»Zu viele«, sagte Rupert wütend. »Sie jagen inzwischen in Rudeln.«

»Unsinn!«, widersprach der Astrologe scharf. »Jeder weiß, dass Dämonen nicht schlau genug sind, um sich gegenseitig zu unterstützen. Sie fallen sogar über ihre Artgenossen her, wenn das Nahrungsangebot knapp wird.«

»Ich war dort.« Rupert bemühte sich, ruhig zu bleiben.

»Und ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie hunderte dieser blutgierigen Bestien Seite an Seite kämpften.«

»Hunderte?«, wiederholte Darius, und sein Blick verriet deutliche Verachtung. »Verschwenden Sie unsere Zeit nicht mit solchen himmelschreienden Lügen! Ich bezweifle nicht, dass Prinzessin Julia von Ihren Heldengeschichten beeindruckt war, aber uns können Sie nicht so leicht täuschen.

Jeder weiß, dass Sie ein Feigling und Versager sind. Und nun gehen Sie endlich und erzählen den Küchenmägden von Ihren Abenteuern! Hier haben Sie nichts verloren.«

Rupert rammte dem Minister die Faust in das spöttisch feixende Gesicht. Ein entsetztes Raunen war zu hören, als Darius nach hinten in die Menge kippte und sich nicht mehr rührte. Ein Gardesoldat traf Anstalten, Rupert in seine Schranken zu weisen. Julia trat ihn zwischen Wind und Wasser und setzte mit einem Genickschlag nach, als er nach vorn kippte.

Weitere Gardisten stürmten vor, und der Champion zog sein Schwert. Rupert und Julia stellten sich Rücken an Rücken und zogen ebenfalls die Schwerter. Einen Moment lang rührte sich niemand.

»Glauben Sie, dass Sie es gegen mich aufnehmen können, mein Lieber?«, fragte der Champion leise.

»Vielleicht«, entgegnete Rupert. »Sie sagten selbst, dass meine Reflexe besser seien als früher. Und Julia kann großartig mit dem Schwert umgehen. Mit ein wenig Glück – wer weiß…«

»Mit ein wenig Glück ist Ihnen nicht geholfen.« Der Champion kam lächelnd auf ihn zu. Seine Augen waren kalt und hart. Tödlich.

»Schluss jetzt!«, rief der König mit lauter Stimme und sprang auf. »Sir Champion, stecken Sie Ihr Schwert ein! Das ist ein Befehl. Wachen, zurück an eure Plätze! Mir droht keinerlei Gefahr.«

Der Champion sah den König kurz an, ehe er das Schwert in die Scheide schob. Seine Miene war ruhig und ausdruckslos. Die Wachen begaben sich zögernd an ihre Plätze, und der König ließ sich wieder in die Kissen seines Thronsessels sinken.

»Rupert, Julia – senkt bitte eure Waffen!«, fuhr König Johann ruhig fort. Seine Blicke wanderten von seinem Sohn zur Prinzessin und wieder zurück. »Ihr steht hier unter meinem Schutz, und ich gebe euch mein Wort, dass euch an diesem Hof nichts zustoßen wird.«

Julia sah Rupert an, und der nickte langsam. Nachdem sie die Schwerter weggesteckt hatten, entspannte sich alles ein wenig.

Ein paar Höflinge scharten sich um den schwach stöhnenden Lord Darius.

»Bringt den Kriegsminister in seine Gemächer!«, befahl der König. Zwei Männer fassten Darius unter und schleppten ihn nach draußen. Der König verbarg hinter vorgehaltener Hand ein Lächeln und lehnte sich zurück. »Nun zu dir, Rupert…«

»Nein, nein und nochmals nein!«, rief Rupert mit großer Entschiedenheit. »Nein, ich werde kein Heer gegen die Dämonen in den Dunkelwald führen. Nein, ich werde nicht an der Spitze einer diplomatischen Abordnung mit den Dämonen verhandeln. Und nein, ich besitze weder Pflicht- noch Ehrgefühl. Damit ist, glaube ich, alles Notwendige gesagt.«

Julia nickte feierlich.

»Rupert, ich versichere dir…«, begann König Johann, aber Rupert unterbrach ihn, wohl wissend, dass er verloren war, wenn er sich jetzt auf Diskussionen einließ.

»Vergiss es! Was immer du mir vorschlagen willst – die Antwort lautet nein! Ich habe meinen Beitrag geleistet. Nun kann zur Abwechslung ein anderer seinen Kopf auf den Block legen.«

»Rupert, wenn es einen anderen gäbe…«

»Es gibt einen. Harald.«

Harald, der sich gelangweilt die Nägel poliert hatte, schaute auf und schüttelte den Kopf. »Tut mir Leid, Bruder«, sagte er liebenswürdig. »Ich werde hier gebraucht.«

»Echt, Mann?«

Es entstand eine kleine Pause. Die Höflinge taten, als hätten sie nichts gehört.

»Rupert«, sagte König Johann bestimmt, »ich finde zwar auch, dass du eine Erholung verdient hast. Leider ist die Mission, die ich dir zugedacht habe, aber so dringend und wichtig, dass sie keinen Aufschub duldet. Morgen früh…«

»Morgen f rüh!«, begehrte Rupert auf. »Ich bin eben erst angekommen. Das glaube ich nicht. Nein, das glaube ich einfach nicht. Ich bin noch keine Stunde daheim, und schon versuchst du mich wieder loszuwerden. Weshalb die verdammte Eile?«

»Uns läuft die Zeit davon«, meldete sich Thomas Grey zu Wort. »Der Blaue Mond geht auf.«

Ein dumpfes Gemurmel lief durch die Reihen der Höflinge, während der junge Prinz den Astrologen verständnislos anstarrte.

»Wir hatten seit Jahrhunderten keinen Blauen Mond mehr«, sagte Rupert langsam. Dann erinnerte er sich verschwommen, und sein Blick wurde starr. »Moment mal –

einigen Legenden nach entstand der Dunkelwald, als sich der Blaue Mond das erste Mal am Himmel zeigte…«

Der Astrologe nickte düster. »Einmal während der Phase des Blauen Mondes herrscht die Magie über die Welt, die Wilde Magie, die erschaffen und zerstören kann und stark genug ist, um die Realität selbst zu verändern. Sie wird in der Nacht des Blauen Vollmonds entfesselt. Uns bleiben noch sieben Monate bis zu dieser Nacht. Sieben Monate, in denen wir eine Antwort auf die Finsternis finden müssen. Gelingt das nicht, dann wird der Dunkelwald alles verschlingen.

Unsere Kultur wird untergehen. Der langen Nacht wird kein Ende mehr sein. Die Welt wird den Dämonen gehören.«

Stille folgte der düsteren Vision des Astrologen. Die Höflinge waren wie erstarrt.

»Aber dagegen muss doch etwas unternommen werden«, meinte Rupert schließlich unsicher.

»Ganz recht«, sagte der Astrologe. »Und deshalb bitten wir Sie, Prinz Rupert, zum Schwarzen Turm zu reisen und den Großen Zauberer zu holen.«

Rupert starrte den Astrologen an.

»Ich hätte mich freiwillig als Heerführer gegen den Dämonenfürsten melden sollen«, sagte er schließlich. »Das wäre sicherer gewesen.«

»Aber du wirst es tun«, sagte König Johann.

»Natürlich«, entgegnete Rupert bitter. »Das war dir klar, noch bevor ich in den Thronsaal kam.«

»Einen Augenblick!« Julia trat mit ein paar schnellen Schritten zwischen Rupert und den König. »Was geht hier vor, Rupert? Wer ist dieser Große Zauberer?«

»Ein Magier«, erklärte Rupert knapp. »Schon seit Jahren von hier verbannt. Sehr mächtig und sehr gefährlich. Er fasst Besucher nicht gerade mit Samthandschuhen an.«

»Du musst diese Aufgabe nicht übernehmen.« Julia legte ihm sanft eine Hand auf den Arm. »Du hast bereits genug geleistet.«

»Nein«, wehrte Rupert müde ab. »Vater hat Recht. Es ist sonst niemand da, den sie… entbehren können.«

»Dann komme ich mit.«

»Oh – da muss ich leider Einspruch erheben«, meldete sich Harald zu Wort.

»Schnauze, Blödmann!«, rief Julia. Harald starrte sie mit offenem Mund an, während die Höflinge diskret hüstelten.

Julia beachtete sie nicht. Ihre Augen waren flehentlich auf Rupert gerichtet, doch der schüttelte entschieden den Kopf.

»Ich kann dich nicht mitnehmen, Julia. Nicht zum Schwarzen Turm. Ich weiß, dass mir niemand den Rücken besser freihalten könnte als du, aber ich lasse nicht zu, dass du schon wieder dein Leben für mich riskierst. Ich habe kein Recht dazu. Du bist hier sicher… solange du Harald einigermaßen auf Abstand hältst.«

»Aber…«

»Nein, Julia.« Rupert hielt ihrem Blick unbeugsam stand, bis sie schließlich wegschaute.

»Das ist nicht nett von dir«, sagte sie leise.

»In diesem Punkt sind wir uns einig.« Rupert wandte sich dem König zu, der ihn eingehend musterte.

»Nun, Rupert, mir scheint, dass sich zwischen dir und Prinzessin Julia so etwas wie zarte Bande entwickelt haben.«

Rupert nickte wortlos.

»Sie ist Harald versprochen«, erklärte König Johann. »Der Vertrag wurde vor langer Zeit besiegelt.«

»Ich kenne meine Pflicht«, sagte Rupert. »Ich habe meine Pflicht immer gekannt. Das ist auch der einzige Grund, weshalb ich diese Mission nicht ablehne. Und noch etwas! Wenn ich mich schon auf die Suche nach dem Großen Zauberer mache, verlange ich ein volles Garderegiment, das mir Rückendeckung gibt.«

»Es wird morgen früh bereitstehen«, versprach der König.

»Und ich verlange ferner, dass der Champion die Männer führt…«

»Es wäre mir eine Ehre, an Ihrer Seite zu reiten, Sire«, sagte der Champion.

»… unter meinem Befehl!«, ergänzte Rupert.

Der König zögerte und nickte dann. »Es ist deine Unternehmung, Rupert. Aber ich empfehle dir nachdrücklich, den Ratschlägen des Champions Gehör zu schenken.«

»Solange er es bei Ratschlägen belässt…«

»Selbstverständlich, Sire.« Der Champion verneigte sich.

Er nennt mich wieder Sire, dachte Rupert verdrossen. Das deutet auf eine verzweif elte Lage hin.

»Also schön«, sagte er schließlich mit einem Seufzer.

»Wir brechen morgen auf, sobald es hell wird, Sir Champion. Allerdings habe ich noch keine Ahnung, wie wir den Großen Zauberer dazu bewegen können, uns auf die Burg zu begleiten.«

»Er ist unsere letzte Hoffnung«, erklärte der Astrologe.

»Dann fangt am besten damit an, weiße Flaggen zu nähen«, fauchte Rupert.

»Ich erkläre die Debatte hiermit für beendet«, fiel der König hastig ein, »und gestatte dem Hofstaat, sich zurückzuziehen.«

Die Höflinge steuerten unter angeregtem Geplauder auf die breite Lücke zu, an deren Stelle sich noch vor kurzem ein massives Portal befunden hatte. Rupert trat auf Julia zu, die ihm den Rücken zukehrte.

»Julia…«

»Wir hätten nie in deine Residenz zurückkehren dürfen, Rupert.«

»Ich tat, was ich für das Beste hielt.«

»Ich weiß«, sagte Julia müde. »Es ist nicht deine Schuld.«

Rupert nahm sie sanft am Arm und drehte sie so herum, dass sie ihn anschauen musste. »Julia, ich habe dich nicht vor den Dämonen gerettet, um dich an meinen Bruder zu verlieren. Komm jetzt! Ich bin müde und muss morgen in aller Frühe aufstehen.«

Julia sah ihn einen Moment lang forschend an und lächelte dann zögernd. »Es war ein langer Tag, nicht wahr? Gehen wir!«

»Entschuldige«, sagte Harald und schnitt seinem Bruder elegant den Weg ab. »Aber findest du nicht auch, dass ich Prinzessin Julia zu ihren Gemächern geleiten sollte? Verdammt noch mal, immerhin ist sie meine Verlobte.«

»Harald«, entgegnete Rupert ruhig, »ich bin jetzt wirklich nicht in der Stimmung für diese Art von Blödsinn. Ich bin selten in der Stimmung – und heute weniger denn je. Also geh mir aus dem Weg, sonst kriegst du eine gescheuert! Oder noch schlimmer, ich lasse Julia den Vortritt.«

Harald betrachtete Julia nachdenklich. Sie schenkte ihm ein aufreizendes Lächeln und legte die Rechte lässig auf den Schwertgriff. Harald verbeugte sich vor ihr und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Rupert zu.

»Wie tapfer du geworden bist, Rupert, seit du einen Drachen an deiner Seite weißt«, sagte er liebenswürdig. »Falls du deine Reise zum Schwarzen Turm überlebst, solltest du auf schnellstem Wege heimkehren. Ich habe dich nämlich zu meinem Brautführer auserkoren.« Er grinste, als Rupert die Zornröte in die Wangen stieg. »Ich dachte mir schon, dass dir das Spaß machen würde, Bruderherz. Und wir beide sehen uns morgen, Julia. Wir haben eine Menge zu… besprechen.«

Er trat einen Schritt zurück, verbeugte sich noch einmal vor beiden und rauschte majestätisch aus dem Thronsaal.

Rupert und Julia sahen ihm nach.

»Ein netter Kerl«, sagte Julia. »Versteht sich gut darauf, Salz in eine Wunde zu streuen.«

»Ja«, bestätigte Rupert. »Aber wir sollten ihn mit Nachsicht behandeln. Schließlich hat er nicht mehr lange zu leben.«

»Warum das?«

»Weil ich ihn in nicht allzu ferner Zeit umbringen werde!«

Julia schien der Gedanke Freude zu bereiten. »Kann ich dir dabei behilflich sein?«

Sie lachten beide und begaben sich zu dem schlafenden Drachen. Rupert rüttelte ihn, schrie ihm ins Ohr und boxte ihm sogar gegen die knochige Stirn, aber die beiden dünnen Rauchfahnen, die von seinen Nüstern aufstiegen, zitterten nicht einmal. Mit einem Seufzer schritt Rupert um den Koloss herum, nahm sorgfältig Maß, holte schwungvoll aus und trat ihm ins Hinterteil. Der Drache öffnete langsam die Augen, während Rupert eine Weile auf einem Bein umhertanzte und mit beiden Händen den Fuß des anderen massierte. Mürrisch wuchtete sich der Drache hoch und blickte verschlafen in die Runde.

»Julia – wo sind die anderen alle?«

»Schon gegangen.«

»Schade. Mein Magen fängt allmählich zu knurren an. Warum hüpft Rupert dauernd auf und ab und flucht leise vor sich hin?«

»Ich glaube, das ist eine Art Volkstanz«, erklärte Julia ernst.

»Ach so.« Der Drache sah Rupert zweifelnd an und fragte:

»Wo ist eigentlich das Einhorn?«

»Hier«, drang eine melancholische Stimme hinter einem Wandbehang hervor. »Immer wenn sich Rupert mit seiner Familie unterhält, kriegt er schlechte Laune und lässt sie dann an mir aus.«

»Komm sofort hierher«, fauchte Rupert und humpelte ein paar Schritte, um sich auf Julia zu stützen.

»Was habe ich gesagt?« Das Einhorn kam vorsichtig aus seinem Versteck. »Ich schlage vor, dass wir gehen, nachdem keine Leute mehr da sind, die ihr erschrecken könnt. Vielleicht ist es eurer Aufmerksamkeit entgangen, aber unsere letzte Mahlzeit liegt geraume Zeit zurück, und mein Magen glaubt allmählich, jemand habe mir die Kehle durchgeschnitten.«

»Natürlich«, sagte Rupert. »Ich besorge dir so viel Gras, wie du nur fressen kannst.«

»Pfui Mahlzeit!«

Sie näherten sich dem zerschmetterten Portal, Rupert immer noch humpelnd und auf Julia gestützt.

»Das ist wieder mal typisch!«, murmelte das Einhorn.

»Was?«, wollte Rupert wissen.

»Da übe ich stundenlang, richtig zu humpeln, und niemand findet das auch nur erwähnenswert, während du…«

Rupert und Julia schauten einander an und prusteten los.

Dann führten sie den Drachen und das nicht mehr humpelnde Einhorn aus dem Thronsaal.

König Johann wartete, bis die Schwanzspitze des Drachen verschwunden war, ehe er sich mit einem müden Seufzer in die Kissen sinken ließ. Thomas Grey nahm langsam auf den Stufen Platz, die zum Thron hinaufführten. Seine Knie knirschten, als er sich hinsetzte. König wie Astrologe sahen plötzlich sehr viel älter aus.

»Wirkt der Thronsaal ohne Ruperts Freunde nicht viel grö­

ßer?«, fragte der König.

Grey lachte. »Und stiller…«

»Mir gefällt diese Julia«, sagte der König. »Sie hat Mumm. Und Ruperts Rechte scheint kräftiger als früher zu sein.«

»Wenigstens hat er uns diesen Deppen Darius eine Weile vom Hals geschafft.«

»Genau«, knurrte der König. »Das kommt davon, wenn man erbliche Ministerämter einführt!«

»Keiner meiner besseren Einfalle«, gab Grey zu. Er gähnte plötzlich.

»Lass das!«, sagte der König. »Sonst steckst du mich an, und ich habe noch eine Menge Arbeit zu erledigen – glaube ich zumindest.«

»Allerdings«, pflichtete ihm Grey bei. »Zuerst einmal müssen wir sämtliche Arrangements für Haralds Hochzeit ändern.«

König Johann schloss die Augen und stöhnte laut. »Als ob sie mich nicht schon genug gekostet hätten!«

»Und dann müssen wir uns eine Absage für die Baronesse vom Eichengrund einfallen lassen, die sie möglichst wenig kränkt.«

»So ein Mist!«, sagte der König. »Nun werden die Barone noch mehr Schwierigkeiten machen. Haben sie denn in letzter Zeit überhaupt noch Steuern entrichtet?«

»Keinen Heller«, berichtete der Astrologe. »Sie zahlen nicht, weil sie glauben, ungestraft damit durchzukommen, und wir können unseren Forderungen nicht mit der königlichen Garde Nachdruck verleihen, solange die Dämonen da draußen frei herumlaufen.«

»Und der Champion glaubt, sie würden mir ein Heer zur Verfügung stellen!«, seufzte der König.

»Politik war noch nie seine starke Seite.«

»Immerhin ist er dem Thron treu ergeben«, wandte der König ein. »Deshalb habe ich ihn auch zum Champion gemacht. Aber ich muss gestehen, Thomas, dass er mich nach all den Jahren immer noch nervös macht. Seine bedingungslose Loyalität ist fast unmenschlich. Er hat auf meinen Befehl hin über hundert Menschen getötet und kein einziges Mal nach dem Grund gefragt.«

»Wenn ein Champion anfängt, Fragen zu stellen, wird es höchste Zeit, ihn durch einen neuen Champion zu ersetzen«, erklärte Grey trocken.

Der König lachte freudlos. »Das Leben war nicht immer so kompliziert. Erinnerst du dich noch an meine Thronbesteigung, Thomas?«

»Und ob, Johann! Muss gut fünfunddreißig Jahre her sein, seit dir der Große Zauberer die Krone aufsetzte. Damals befand sich noch genug Gold in den Truhen, die Barone kannten ihre Grenzen, und der Dunkelwald war nicht mehr als eine Legende – ein Tuscheklecks auf den Landkarten.«

»Das liegt eine Ewigkeit zurück, Thomas.« Der König zupfte sich nachdenklich am struppigen grauen Bart. »Wann sind mir die Zügel entglitten? Ich habe mir all die Jahre hindurch redliche Mühe gegeben, aber für jedes gelöste Problem tauchten zwei neue auf. Als ich die Regierung übernahm, war das Waldkönigreich ein blühendes, wohlhabendes Land –

eine Macht, mit der man rechnen musste. Wir hatten so große Pläne, du und ich… Alles vorbei. Geblieben sind zwei alte Männer, die gegen die eigenen Barone kämpfen müssen, um das Reich notdürftig zusammenzuhalten.

Wir sind die letzten Vertreter der alten Ordnung. Am Tag meiner Krönung beugten einhundertfünfzig Ritter vor mir das Knie und leisteten den Lehenseid. Wo sind sie jetzt? Allesamt tot und verschollen, ihr Leben verschwendet in dummen kleinen Kriegen. Alle meine tapferen Kämpfer… Heute ist das Rittertum aus der Mode und Ehre ein Begriff der Vergangenheit. Die Zeiten ändern sich, und ich kann und mag mich nicht mehr mit ihnen ändern.

Es ist so lange her, seit ich abends in aller Ruhe die Augen schließen konnte, Thomas. So lange, seit ich ohne Angstträume schlafen konnte. So lange, seit meine arme Eleanor starb…«

Grey lehnte den Kopf gegen das Knie des Königs und eine Weile saßen sie stumm da, zwei alte Freunde, die an glücklichere Tage dachten.

Schatten erfüllten die Burg, als die Nacht hereinbrach. König Johanns Blicke wanderten durch den weiten, leeren Saal mit seinen holzvertäfelten Wänden und hoch aufragenden Pfeilern, und Geister zogen an ihm vorbei, Geister in schimmernden Rüstungen mit feierlich erhobenen Schwertern, die ihrem König Treue gelobten. Alle Helden seines Reiches, die Vollbringer großer Taten, die Rächer des Bösen… tot und verschwunden im Nebel der Jahre. König Johann starrte in die Leere, und die Geister verließen ihn einer nach dem anderen, bis nur noch sein Thron übrig blieb, sein Thron und sein Reich.

»Weißt du«, sagte König Johann schließlich, »es sind nicht die falschen Entscheidungen an sich, die mich quälen. Weit mehr quält mich die Tatsache, dass ich tagelang die Für und Wider abwäge und dennoch oft die falsche Entscheidung treffe.«

Der Astrologe lachte leise. »Für solche Fälle hast du mich, Johann. Ich bin zwar nicht der Große Zauberer, aber meine kleinen Tricks sind hin und wieder auch ganz nützlich.«

»Allerdings, Thomas.« Der König fuhr dem Astrologen liebevoll durch die Haare. »Was täte ich ohne dich?«

Sie versanken wieder in Schweigen, und die Augen des Königs waren grüblerisch auf das Gestern gerichtet.

»Fünfundfünfzig ist nicht alt«, sagte er unvermittelt. »Ich bin vielleicht nicht mehr so jung wie früher, aber alt fühle ich mich auch nicht.«

»Irgendwann holt uns die Zeit alle ein«, meinte der Astrologe.

»Du scheinst ihr zu entwischen«, stellte der König mit einer Spur von Neid fest. »Sieh dich an – dein Rücken ist gerade, und deine Haare sind so dunkel wie vor vierzig Jahren!«

»Die Haare färbe ich.«

»Und du trägst ein Korsett.«

»Nur manchmal.«

»Wenn du mal wieder hinter einem Weiberrock her bist.«

Der König kicherte boshaft. »Ein Mann in deinem Alter sollte mehr auf seine Würde achten.«

»Jeder Mensch braucht ein Steckenpferd«, entgegnete der Astrologe selbstzufrieden.

Der König grinste, aber bald darauf kehrten die gewohnten Sorgenfalten auf seine Stirn zurück. »Was ist eigentlich mit den Baronen los? So rebellisch waren sie noch nie.«

»Das macht der Dunkelwald, Johann. Die Quelle unseres Wohlstands sind die Bergwerke, die unter der Aufsicht der Barone stehen. Sie liefern das Gold, Silber und Kupfer, das unsere Wirtschaft in Schwung hält. Aber seit die Finsternis unaufhaltsam vorrückt, schluckt der Dunkelwald eine Mine nach der anderen. Die Bergleute wagen sich nicht mehr unter die Erde. Einige Stollen mussten bereits geschlossen werden, aus Furcht vor den Wesen, die aus der Tiefe hervorbrechen könnten.«

Der König runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich hatte keine Ahnung, dass die Lage derart außer Kontrolle ist.«

»Du kannst dich nicht um alles kümmern, Johann.«

»Vielleicht müssen wir den Baronen mehr Wachen zur Verfügung stellen…«

»Nein, Johann. Unsere Leute sind ohnehin spärlich genug verteilt. Selbst das Garderegiment, das wir dem jungen Rupert und dem Champion mit auf die Reise geben, können wir eigentlich nicht entbehren.«

»Ich weiß«, sagte der König. »Aber ohne dieses Zugeständnis hätte mir Rupert diesmal den Gehorsam verweigert.«

Der Astrologe nickte lächelnd. »Er wird allmählich erwachsen…«

Ihre Blicke trafen sich einen Moment, ehe sich der König abwandte und sorgenvoll zu Boden starrte.

»Ich bete darum, dass sie den Großen Zauberer zur Rückkehr bewegen können«, sagte er leise. »Er ist unsere einzige Hoffnung, nachdem wir hier alles verbockt haben.«

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