NEBELSCHLEIER WOGTEN TRÄGE in der frostigen Morgenluft, als Rupert im Burghof sein Einhorn sattelte. Die Sonne, die eben erst am Horizont erschien, tauchte den Himmel in ein blutiges Rot. Nicht das beste Omen für die Reise, die vor ihnen lag. Rupert grinste müde und musste dann so heftig gähnen, dass er sich für einen Moment gegen das geduldig wartende Einhorn lehnte. Nach seiner Wasseruhr hatte er fast sechs Stunden geschlafen, aber ihm kam es so vor, als sei er kaum in die Kissen gesunken, ehe ihn ein Diener bereits wieder wach rüttelte.
Ein lauwarmes Bad und ein kaltes Frühstück hatten seine Laune nicht gebessert. Der Gipfel aber war, dass ihn sein eigener Geleittrupp beflissen übersah. Rupert fluchte leise vor sich hin, weil seine klammen Finger verdammte Mühe mit dem Reitgeschirr hatten. Eine Schnalle entglitt ihm, und obwohl er den Gardesoldaten den Rücken zukehrte, merkte er, dass einige lachten. Er lief rot an, während er den Sattelgurt festzog, in dem sicheren Wissen, dass er das Ziel ihres Gespötts war. Eine blöde Bemerkung, dachte er wütend, eine einzige blöde Bemerkung, und ich lasse den Witzbold seinen Kettenpanzer f ressen, Glied f ür Glied! Rupert lächelte bitter und schüttelte den Kopf. Noch nicht jenseits des Burgtors, aber schon im Begriff, einen seiner Begleiter anzugreifen! Er schloss die Augen und atmete tief durch, um sich einigerma
ßen zu beruhigen. Vor ihm lag eine lange Reise, die ihm und seinen Leute jede Menge Zeit gab, um eine Hackordnung aufzustellen.
Falls sie lange genug am Leben blieben.
Rupert verdrängte den Gedanken und befestigte rasch die letzten Riemen, ehe er sich umdrehte und einen lässigen Blick in die Runde warf. Ein halbes Hundert Gardesoldaten hatte sich mit den Pferden im Hof versammelt; Diener und Rossknechte hasteten umher; bunt gekleidete Händler standen an lodernden Kohlebecken und hielten Krüge mit Met und billige Süßwaren feil; und hier und da unterhielten sich ein paar Männer leise mit Priestern, die ihre Kapuzen tief ins Gesicht gezogen hatten. Ein Dutzend Gardisten übte sich unter dem scharfen Blick des Champions im Zweikampf.
Stahl klirrte auf Stahl, und der Gefechtslärm hallte von den hohen Mauern wider. Andere Gardisten schauten zu, polierten ihre Klingen mit ölgetränkten Lumpen und bemühten sich, möglichst kriegerisch dreinzuschauen. Rupert fand ihre Tüchtigkeit zugleich beängstigend und beruhigend. Er zog den Umhang enger um sich und stampfte mit den Füßen, um die Zehen aufzutauen. Sein Atem dampfte in der stillen Morgenluft. Rupert runzelte die Stirn. Eigentlich war es viel zu kalt für diesen Frühherbsttag. Der Dunkelwald musste näher sein, als alle annahmen… Unwillkürlich tastete er nach seinem Schwert. Je eher er aufbrach, desto besser.
Und dennoch zögerte er. Er beobachtete die Hiebe und Paraden der Gardisten, das helle Blitzen ihrer Schwerter im düsteren Burghof. Schweiß glänzte auf den Gesichtern, und ihr Atem rasselte, während sie sich immer heftiger ins Zeug legten, um den entscheidenden Stoß anzubringen, der die Haut des Gegners ritzte und Blut hervorquellen ließ. Rupert entsann sich nur zu deutlich, wie er selbst hier draußen gekämpft hatte, in der Kälte des frühen Morgens. Bittere Erinnerungen stiegen auf. Die verächtlichen Blicke, mit denen der Fechtmeister den ungeschickten Jungen bedacht hatte, der geschützt war durch einen schlecht sitzenden Kettenpanzer und gerüstet mit einem Schwert, das viel zu schwer schien für die dünnen Arme. Sein Duellpartner war ein drahtiger, muskulöser Gardeoffizier gewesen, fast zwanzig Jahre älter und um Welten besser als er. Gemeinsam hatten der Fechtmeister und der Gardist den jungen Prinzen allmählich zu einem Schwertkämpfer erzogen. Eine teuer erkaufte Fertigkeit, bezahlt mit Blut und Demütigungen. Rupert zog nachdenklich die Stirn kraus. Er würde wohl nie so elegant mit der Waffe umgehen können wie sein Bruder, aber er hatte in dieser harten Schule Tricks erlernt, die bei Haralds Standardlektionen vernachlässigt worden waren.
Rupert hatte nie der Versuchung nachgegeben, sein Geschick mit dem Schwert unter Beweis zu stellen. Hin und wieder trugen die Brüder unter den kritischen Blicken des Champions ein Duell aus. Rupert verlor immer. Das war sicherer für ihn. Als durchschnittlicher Kämpfer bedeutete er keine Gefahr für Haralds Position – und so ertrug er schweigend die Wunden und den Spott. Aber er vergaß sie nie.
Ruperts Gedanken kehrten in die Gegenwart zurück, und er musterte erneut die Gardesoldaten, die stöhnend und keuchend mit Schwert und Schild übten. Zu seiner Überraschung beeindruckten sie ihn längst nicht mehr so wie beim ersten Hinschauen. Sie waren kräftig und trickreich, aber Taktik und Stehvermögen ließen doch sehr zu wünschen übrig. Sie waren gut, aber er war vermutlich besser. Eine Woge der Erregung durchlief ihn, als er dies erkannte.
Ruperts Miene verdüsterte sich plötzlich, als er einen der Gardisten erkannte, einen drahtigen großen Mann mit finsteren Gesichtszügen. Rob Hawke war ein Meister im Schwertkampf und derart geübt und reaktionsschnell, dass er mit der Klinge in der Hand als unschlagbar galt. Er war außerdem störrisch, verschlagen und aufsässig und wäre ohne sein seltenes Talent im Umgang mit dem Schwert längst aus der königlichen Garde entlassen worden. Rupert beäugte ihn argwöhnisch und überlegte, ob ihm der König noch mehr solche faulen Eier untergeschoben hatte.
Eine scharfe Stimme zerschnitt plötzlich seine Gedanken.
Er drehte sich um und sah Harald neben dem Champion stehen. Rupert fiel auf, dass sein Bruder einen Kettenpanzer und einen großen, mit Nieten beschlagenen Schild trug. Außerdem lächelte er.
»Rupert, ich dachte, ein kleiner Schwertkampf vor der Abreise könnte dir nicht schaden – nur so zum Aufwärmen. Was hältst du davon, mein Bester?«
Klare Schiebung, dachte Rupert. Er ist gut gerüstet und ausgeruht. Ich habe nicht mal einen Schild.
Er sah sich um. Das emsige Treiben im Burghof war plötzlich zum Erliegen gekommen. Die Männer hatten ihre Duelle unterbrochen und beobachteten ihn gespannt. Alle schienen damit zu rechnen, dass er sich mit einer Ausrede vor dem Kampf drückte. Es wäre das einzig Vernünftige gewesen.
Harald war in der Absicht gekommen, sich für die Schmach zu rächen, die er vor versammeltem Hofe erlitten hatte, und ganz nebenbei den ohnehin nicht allzu großen Respekt der königlichen Garde vor ihrem neuen Führer zu unterhöhlen.
Eine gut geplante Intrige, die wohl zu jedem anderen Zeitpunkt gelungen wäre. Aber diesmal nicht. Zum ersten Mal in seinem Leben brannte Rupert darauf, seinen Gegner zu besiegen. Er musste plötzlich über seinen eigenen Eifer lachen.
Harald sah ihn verunsichert an. Die Miene des Champions blieb ausdruckslos.
»Danke, Bruderherz.« Ruperts Stimme hallte vernehmlich von den massiven Steinmauern wider. »Die Übung tut mir sicher gut.«
Er kehrte Harald den Rücken zu, streifte den Umhang ab und warf ihn über den Sattel des Einhorns.
»Hältst du das wirklich für einen guten Einfall?«, murmelte das Einhorn.
»Nein«, sagte Rupert gut gelaunt. »Aber das spielt jetzt keine Rolle.«
»Manchmal verstehe ich dich einfach nicht.«
»Dann sind wir schon zu zweit.«
Das Einhorn schnaubte hörbar. »Sieh dich vor, Rupert!«
Rupert nickte und schlenderte lässig zu Harald hinüber, der mit dem Schwert in der Hand auf ihn wartete. Während Rupert locker die Waffe zog, kamen die Gardesoldaten näher und bildeten einen Kreis um die beiden Prinzen.
»Ich scheine dich ohne deinen Schild angetroffen zu haben«, sagte Harald scheinheilig.
»Passt schon«, entgegnete Rupert. »Ich brauche keinen.«
Harald entging weder die entspannte Haltung noch die gefasste Miene des Bruders. Er warf dem Champion einen raschen Blick zu. Der alte Haudegen schüttelte kaum merklich den Kopf.
»Mir wäre es lieber, wenn du einen Schild hättest«, beharrte Harald. »Es soll schließlich ein Kampf mit fairen Bedingungen sein.«
»Lass das nur meine Sorge sein«, sagte Rupert. »Was ist nun – willst du reden oder kämpfen?«
Ein belustigtes Murmeln lief durch die Zuschauergruppe, und Harald lief rot an. Er ging mit der natürlichen Anmut langer Praxis in einen Ausfallschritt und beobachtete Rupert über den Rand des Schildes hinweg, während er vorsichtig näher kam. Rupert trat ihm entgegen. Mit geübtem Auge musterte er die Haltung seines Bruders, suchte nach möglichen Schwächen, die er ausnutzen konnte. Es war nicht zu übersehen, dass Harald die Techniken des höfischen Duells besser beherrschte als die Hiebe des echten Zweikampfs, bei dem es um Leben und Tod ging. Er wirkte verweichlicht, während Rupert sich draußen im Dunkelwald den letzten Schliff geholt hatte. Noch einmal wallte die ganze Bitterkeit in Rupert auf, die er empfunden hatte, wenn er freiwillig gegen den älteren Bruder verlor. Ein Wolfsgrinsen glitt über seine Züge. Diesmal hatte sich Harald auf einen Kampf eingelassen, an den er bis an sein Lebensende denken sollte.
Mit leichten Hieben und Stößen prüfte er Haralds Verteidigung.
Eine Zeit lang hörte man im Burghof nur das Stampfen und Scharren von Stiefeln auf dem Kopfsteinpflaster und ein gelegentliches Klirren, wenn sich die Klingen trafen. Die Brüder umkreisten einander lauernd, ihr Atem dampfte in der kalten Luft – und plötzlich schnellte Harald vor. Sein Schwert fuhr in einem blitzenden Bogen nach unten und zielte auf Ruperts ungeschützte Rippen. Rupert parierte den Hieb mit Leichtigkeit, bog die Klinge zur Seite und trat Harald gegen das Knie. Einen Moment lang verlor Harald das Gleichgewicht, und Rupert rammte ihm ein Knie voll in den Magen.
Harald krümmte sich vor Schmerzen, sein Atem ging rasselnd, und er kippte nach vorn, als wolle er sich vor seinem Bruder verneigen. Rupert tänzelte zurück und ließ Harald Zeit, sich zu erholen. Er hatte lange genug auf diesen Sieg gewartet und sah jetzt keinen Grund, die Sache zu überstürzen. Die Gardesoldaten hatten den kurzen Austausch von Unfreundlichkeiten mit Gemurmel kommentiert, und Rupert sah aus dem Augenwinkel, dass Wetten abgeschlossen wurden. Er grinste, doch in diesem Moment begann sein Bruder mit dem zweiten Angriff. Harald hielt Schwert und Schild ruhig, aber er schonte das linke Bein. Rupert unterdrückte ein grimmiges Lachen. Harald war bereits geschlagen, auch wenn er es noch nicht wusste.
Kaltblütig machte sich Rupert daran, den Beweis dafür zu erbringen.
Sein Schwert sang, als er es doppelhändig durch die Luft sausen ließ. Er trieb Harald vor sich her, Hieb um Hieb, Stich um Stich, immer im Kreis. Splitter flogen aus dem Schild, als die Klinge gegen den Rand schlug und die Deckung des Gegners durchbrach. Harald, der bereits aus einem Dutzend kleiner Schnitte blutete, wich tänzelnd aus und zielte wutentbrannt auf Ruperts ungeschützten Kopf und Körper, aber der Jüngere wandte sein ganzes Geschick und jeden schmutzigen Trick an und fügte ihm einen Treffer nach dem anderen zu.
Rupert war der bessere Kämpfer. Jeder sah, dass er Harald eine Lektion erteilte. Die Gardesoldaten klatschten Beifall und feuerten ihn an. Rupert lachte laut. In einer plötzlichen Aufwallung von Ungeduld drückte er Haralds Schild zur Seite, schlug ihm das Schwert aus der Hand und brachte ihn mit einem Tritt zu Fall. Dann setzte er dem hilflos am Boden Liegenden die Schwertspitze an die Kehle.
»Ergib dich!«, murmelte er heiser.
»Ich ergebe mich«, entgegnete Harald ruhig, aber mit einem hasserfüllten Unterton.
Rupert starrte lange auf ihn hinab, ehe er das Schwert hob und einen Schritt zurücktrat. Ein Kindheitstraum war in Erfüllung gegangen. Er hatte seinen Bruder besiegt, auch wenn er das Geschehen irgendwie noch nicht richtig fassen konnte.
Die jubelnden Männer verstummten, als Harald sich mühsam hochrappelte. Sein Schildarm hing schlaff herunter, das sonst so makellose Kettenhemd wies Risse und Blutflecken auf, und das Schwert war so verbogen, dass er es achtlos am Boden liegen ließ. Ohne auf das Blut zu achten, das ihm über das Gesicht lief, wandte er sich an Rupert und bedachte ihn mit einem kühlen Lächeln.
»Ich hätte schon vor Jahren dafür sorgen sollen, dass du für immer aus dem Waldkönigreich verschwindest, Rupert.
Falls du durch ein Wunder die Reise zum Schwarzen Turm überlebst, dann sieh dich vor! Ich werde kein zweites Mal den Fehler begehen, nach den Regeln eines Ehrenmannes zu kämpfen!«
Er wandte sich ab, stieß die hilfreich ausgestreckten Arme der Gardisten beiseite und humpelte allein davon. Ruperts Blicke folgten ihm. Nach all den Jahren, all den Kränkungen, all den Schmerzen hatte er endlich seinen Bruder besiegt. Er fühlte sich längst nicht so befreit, wie er es sich vorgestellt hatte. Achselzuckend drehte er sich um und grinste die Männer an. Sie wirkten seltsam gedämpft, fast als warteten sie auf etwas… Plötzlich kam Rupert ein Verdacht, und er wollte eben herumfahren, als ihm eine gepanzerte Faust mit voller Wucht ins Kreuz hämmerte und ihn zu Boden schleuderte. Er kam mühsam hoch, aber noch ehe er halbwegs wieder auf den Beinen war, grub sich ein eisenverstärkter Stiefel in seinen Magen. Er krümmte sich auf dem kalten Pflaster und japste nach Luft.
»Nehmen Sie nie die Deckung herunter, Rupert«, sagte der Champion ruhig. »Dieser Grundsatz sollte Ihnen eigentlich bekannt sein.«
Wieder schoss sein Stiefel vor, traf Rupert an der Hüfte und kickte ihn in die Füße der schweigend dastehenden Soldaten. Er kam auf die Knie und griff nach seinem Schwert.
Der Champion holte zum nächsten Tritt aus, aber diesmal war Rupert vorbereitet. Anstatt auszuweichen, umklammerte er den Knöchel des Angreifers mit beiden Händen und riss den Champion zu Boden. Bis der Mann wieder auf die Beine kam, erwartete ihn Rupert mit gezogenem Schwert.
»Schon besser«, meinte der Hüne anerkennend. Sein Schwert fuhr wie der Blitz aus der Scheide und ritzte Rupert die linke Wange, doch dann musste sich der Champion mit einem Satz nach hinten in Sicherheit bringen, als Ruperts Klinge ihm das Kettenhemd über dem Brustkorb aufriss. Ein Blick nach unten verriet ihm, dass Blut durch die Metallringe quoll.
»Sie werden alt, Sir Champion«, sagte Rupert undeutlich.
»Es gab eine Zeit, da hätten Sie mir keine Chance gelassen.«
Der Champion lächelte. »Für Sie reicht es immer noch, mein Junge. Los, zeigen Sie, was Sie können!«
Rupert ging vorsichtig in Stellung. Das Schwert schien vor seinen Augen hin und her zu schwanken. Die beiden Kämpfer umkreisten einander angespannt und schlugen dann so unvermittelt los, dass das Auge den Bewegungen kaum zu folgen vermochte. Ihre eisenbeschlagenen Stiefel schlugen Funken aus dem Pflaster. Sie trennten sich und belauerten sich von Neuem. Blut quoll aus einem breiten Schnitt auf Ruperts Stirn und nahm ihm die Sicht. Im Kettenhemd des Champions klaffte ein zweiter dunkel verfärbter Riss. Rupert wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus den Augen und konnte die Attacke des Champions nicht rechtzeitig parieren. Frisches Blut rann ihm über den Arm und machte den Schwertgriff glitschig. Und so ging der Kampf weiter. Rupert wandte jeden Trick an, den er kannte, vereinte seine ganze Kraft und sein ganzes Talent zu einer Schwertkampf-Demonstration, die Begeisterungsstürme bei den Zuschauern hervorrief. Immer wieder warf er sich gegen den Champion, ließ sein Schwert durch die kalte Morgenluft sausen, auf und ab, auf und ab.
Rupert gab alles, aber es war nicht genug.
Er hatte nie auch nur den Hauch einer Chance.
Der Champion parierte jeden Hieb, ließ Rupert heran, bis er müde war, und drang dann mit einem Wirbel harter Stöße auf ihn ein, bis Rupert übel zugerichtet und hilflos mit dem Gesicht nach unten auf dem blutverschmierten Kopfsteinpflaster lag. Er nahm verschwommen wahr, dass der Champion sich über ihn beugte. Tränen traten ihm in die Augen, als eine kräftige Hand seinen Haarschopf packte und ihn umdrehte.
»Tut mir Leid, Sire«, sagte der Champion ruhig. »Aber es war ein Fehler, Harald in aller Öffentlichkeit zu demütigen.
Hüten Sie sich davor, ihn zu wiederholen.« Die Hand ließ los, und das Kopfsteinpflaster raste auf Ruperts Gesicht zu. Die Stimme des Champions schien aus weiter Ferne zu kommen.
»Wir reiten in einer halben Stunde, Sire. Ich erwarte, dass Sie bis dahin reisefertig im Sattel sitzen. Wenn nicht, lasse ich Sie auf dem Einhorn festschnallen.«
Er entfernte sich ohne Eile, und die Wachsoldaten folgten ihm einer nach dem anderen, bis Rupert allein zurückblieb, zusammengekrümmt vor Schmerzen. Nach einer Weile wurde das lärmende Treiben im Burghof wieder aufgenommen.
Lange Zeit lag Rupert einfach da, bis er Schritte in der Nähe hörte und zwei Hände ihn an den Schultern hochzuziehen versuchten. Er wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor, und wich vor den Händen zurück, aus Angst vor neuen Schmerzen.
»Rupert, Liebster, was haben sie mit dir angestellt?«, fragte Julia.
Ruperts Gedanken ordneten sich langsam. Ihm kam zu Bewusstsein, dass Julia neben ihm kniete.
»Was ist geschehen, Rupert?«
»Ich wollte Sieger bleiben«, murmelte er und spuckte Blut auf die Pflastersteine. »Nur ein einziges Mal wollte ich Sieger bleiben. Kannst du mir auf die Beine helfen?«
Schwer auf Julias Arm gestützt, richtete er sich langsam auf. Sie führte ihn zur Mauer, damit er sich anlehnen konnte.
Um ihn drehte sich alles, aber er hielt still, während Julia ihm mit einem seidenen Taschentuch das Gesicht von den schlimmsten Kampfspuren reinigte.
»Schade um die schöne Seide.« Sein Lächeln misslang.
»Wer war das?«, fragte Julia. Ihre Stimme zitterte vor Wut.
»Der Champion«, entgegnete Rupert. »Ich hätte ihm niemals den Rücken zukehren dürfen.«
»Ich bringe ihn um!«, fauchte Julia, und Rupert packte rasch ihr Handgelenk.
»Nein! Allein der Gedanke daran ist gefährlich, Julia! Er würde dich nicht töten, aber er hätte überhaupt keine Bedenken, dir ein paar hässliche Narben zu verpassen, um dir eine Lektion zu erteilen. Du bist gut mit dem Schwert, Mädchen, aber ich bin besser – und er hat mich fertig gemacht, ohne auch nur ins Schwitzen zu geraten.« Er merkte, dass er immer noch ihre Hand umklammert hielt, und ließ sie hastig los.
»Außer meinem Stolz ist nichts verletzt, Julia. Er hat sorgsam vermieden, irgendwelche bleibenden Schäden anzurichten.
Ich hätte wissen müssen, dass ich Harald nicht ungestraft besiegen durfte.«
»Du hast Harald besiegt?«
»Ja.« Rupert grinste und zuckte zusammen, als ihm aus einem Riss in der Lippe frisches Blut in den Mund floss. »Der Ärmste sieht ziemlich ramponiert aus! Und er kann von Glück reden, dass ich ihm nicht meine Initialen in die Haut geritzt habe!«
Julia klatschte begeistert in die Hände. »Ach, das hätte ich zu gern gesehen!«
»Blutrünstiges Weib!«, tadelte Rupert und musste lachen, als sie zerknirscht nickte.
»Weshalb hat dich der Champion angegriffen?«
»Zum Teil, um mich in meine Schranken zu weisen. Zum Teil, um meine Autorität beim Garderegiment zu untergraben.
Und zum Teil, um zu beweisen, dass er immer noch der beste Kämpfer ist, selbst nach all den Jahren als anerkannter Champion des Hofes. Je älter er wird, desto häufiger muss er es beweisen.«
Julia zog nachdenklich die Stirn kraus. »Ich denke, ich werde mich mal mit dem Drachen darüber unterhalten.«
»Bitte nicht! Ich möchte ihn selbst schlagen.«
Rupert entfernte sich von der Mauer und atmete tief durch, bis der Schwindel nachließ. Wenn er sich zu schnell bewegte, spürte er jeden Muskel, aber der Schmerz war erträglich. Im Dunkelwald hatte er Schlimmeres durchgemacht. Er hielt nach seinem Schwert Ausschau, und Julia brachte es ihm, bevor er sie darum bitten konnte. Mit einem dankbaren Lächeln schob er es in die Scheide. Erst dann sah er Julia zum ersten Mal richtig an.
Offenbar hatte der Hof beschlossen, eine richtige Prinzessin aus ihr zu machen. Julia trug ein fließendes langes Gewand in Mitternachtblau mit goldenen und silbernen Biesen.
Brillanten blitzten von Ringen, Armbändern und Halsketten, und man hatte ihr das Schwert weggenommen. Ihr langes blondes Haar war nach der neuesten Hofmode aufgesteckt.
Geschickt aufgetragene Schminke machte ihre Gesichtszüge weicher. Alles in allem fand Rupert sie schöner als je zuvor.
Auch wenn die neue Pracht völlig ungeeignet für einen Morgenspaziergang im schmutzigen Burghof war.
»Das Kleid gefällt mir«, sagte er bewundernd.
»Ich sehe bescheuert aus«, knurrte sie. »Fehlt nur noch eine Narrenkappe mit Schellen. Das Kleid ist viel zu eng, die Schuhe drücken, und diese verdammte Frisur macht mir Kopfschmerzen. Aber am schlimmsten ist die eklige Wollunterwäsche, die man mir auf gezwungen hat.« Sie begann sich heftig zu kratzen und merkte dann erst, dass sie immer noch das blutige Taschentuch in der Hand hielt, mit dem sie Rupert das Gesicht abgewischt hatte. Unbekümmert schob sie es in den weiten Ärmel. Dann warf sie dem Prinzen einen anklagenden Blick zu. »Du hättest dich glatt davongeschlichen, ohne Lebewohl zu sagen, was?«
Rupert zuckte hilflos die Achseln. »Ich hasse es, Abschied zu nehmen. Das hat so etwas Endgültiges an sich.«
»Rupert«, sagte Julia langsam, »wie gefährlich ist dieser Große Zauberer wirklich?«
»Hm. Der letzte Bote, den wir zu ihm sandten, kam…
verwandelt zurück.«
»Verwandelt? In was?«
»Das weiß niemand genau. Wir sprachen gestern über die Krokodile, die früher im Burggraben lebten…«
»Du meinst, wer oder was immer sie fraß…«
»Wir vermuten es.«
Julia runzelte die Stirn. »Und der Große Zauberer ist unsere einzige Hoffnung gegen den Dunkelwald?«
»Sieht so aus.«
»Dann sitzen wir echt in der Kacke.«
Rupert nickte feierlich, und dann mussten sie beide lachen.
»Nun, Julia, wie kommst du mit der feinen Hofgesellschaft zurecht?«
»Ich gewöhne mich daran. Langsam.«
»In letzter Zeit jemanden verprügelt?«
»Niemanden von Rang und Namen.«
Rupert lachte. »Dann ist ja alles in Ordnung.«
Sie standen nebeneinander, ohne recht zu wissen, wie sie ihre Gefühle in Worte kleiden sollten. Dann beugte sich Julia plötzlich vor und küsste ihn. Rupert zog sie in die Arme und hielt sie fest. Er spürte ihren Herzschlag. Nach einer Weile gab er sie sanft frei.
»Wir brechen gleich auf, Julia.«
»Ja.«
»Ich nähme dich mit, wenn ich könnte.«
»Ich weiß.«
»Wartest du auf mich?«
»Natürlich. Hast du noch meinen Gunstbeweis?«
Rupert schob die Hand in sein Lederwams und zog ein sehr zerfranstes und blutbeflecktes Taschentuch hervor. »Das Unterpfand meiner Liebsten! Es ist mir mehr wert als das ganze Waldkönigreich.« Als er aufschaute, sah er, dass auch in Julias Augen Tränen standen. Er wandte sich rasch ab und beobachtete das geschäftige Treiben auf dem Burghof, während er das Taschentuch wieder an der Brust verstaute. Er merkte, dass Julia dicht an ihn herantrat, und spürte ihren warmen Atem im Nacken.
»Kein Abschied, Rupert. Nur… komm heil zurück, sonst bin ich dir ernsthaft böse!«
Es entstand eine Pause. Dann drehte sie sich um und schritt rasch davon. Er dachte krampfhaft nach, was er noch hätte sagen können, aber ihm fiel nichts ein. Deshalb legte er die Hand auf sein Herz und spürte den sanften Druck des Seidentüchleins unter dem Lederwams. Allem Anschein nach hatten die Barden manchmal doch Recht. Pfeifend schlenderte er über den Hof auf das Einhorn zu.
»Alles in Ordnung, Rupert? Du bist ganz rot im Gesicht.«
»Alles in Ordnung. Ehrlich.«
»Julia ist fort?«
»Ja.«
»Ich mag sie«, bekannte das Einhorn.
»Ich auch«, sagte Rupert.
»Das ist mir nicht entgangen«, meinte das Einhorn tro
cken.
Rupert lachte und wickelte sich wieder in seinen Umhang.
»Bist du reisefertig?«
»Mehr oder weniger. Eher weniger. Warum kommt der Drache eigentlich nicht mit? Ich hatte mich eben an ihn gewöhnt.«
»Er schläft. Ich glaube, die Wunden, die ihm die Dämonen zufügten, sind schlimmer, als er uns eingesteht. Der Regenbogen hätte sie heilen sollen, aber ich nehme an, er ist einfach
… nicht mehr so jung wie früher. Letzten Abend schaffte er es gerade noch bis in den Stall. Er wird mir fehlen, aber ich will ihm weder die lange Reise noch den Kampf gegen die Dämonen zumuten.«
»Dämonen?«, fragte das Einhorn scharf. »Welche Dämonen?«
»Nun, wenn wir in den Dunkelwald zurückkehren…«
»In den Dunkelwald? Kein Mensch hat mir gesagt, dass wir noch einmal in den Dunkelwald müssen! Ohne mich!
Nimm mir sofort den Sattel ab! Ich rühre mich nicht von der Stelle.«
»Wir dringen nur ein ganz kleines Stück ein…«
»… und werden nur ein ganz kleines bisschen umgebracht!
Vergiss es!«
»Schau, Einhorn, entweder wir reiten los und holen den Großen Zauberer, oder der Dunkelwald kommt und holt uns!
So einfach ist das.«
»Es muss eine andere Möglichkeit geben.«
»Welche?«
»Flucht?«
Rupert tätschelte lachend den Hals seines Reittiers. »Sind alle Einhörner so feige wie du?«
»Zumindest alle, die mit einem Funken von Verstand gesegnet sind. Weißt du, warum Einhörner so selten sind? Weil die meisten zu dämlich sind, sich bei Regen unterzustellen.
Oder sich von Menschen fern zu halten.«
Rupert betrachtete das Einhorn nachdenklich. »Du bist doch mein Freund, oder?«
Das Einhorn scharrte mit den Hufen. »Ja, irgendwie schon.
Ich habe mich an dich gewöhnt.«
»Mir bleibt ganz einfach keine andere Wahl, als in den Dunkelwald zurückzukehren. Es ist meine Pflicht.«
»Ich weiß«, seufzte das Einhorn ergeben. »Und mir bleibt keine andere Wahl, als dich zu begleiten.«
Rupert tätschelte noch einmal den Hals des Einhorns.
»Danke. Ich bräche nur ungern ohne dich auf.« Er runzelte plötzlich die Stirn. »Einhorn…«
»Ja?«
»Mir ist eben etwas eingefallen. Wir sind nun schon so lange zusammen, und ich kenne nicht mal deinen Namen.«
Das Einhorn drehte langsam den Kopf nach hinten und starrte Rupert mit einem blutroten Auge an.
»Meinen Namen? Ich bin ein Sklave, Prinz. Sklaven haben keine Namen.«
Durch den Burghof schien plötzlich ein eiskalter Wind zu wehen. Rupert schaute weg. Er konnte den ruhigen Blick des Einhorns nicht länger ertragen.
»Du bist kein Sklave…«
»Nein? Du glaubst, dass ich diesen Sattel und dieses Zaumzeug freiwillig trage? Die Menschen trieben mich von meiner Herde weg und fingen mich mit Peitschen und Stricken ein. Sie schlugen mich, bis mein Mut gebrochen war, und verkauften mich dann an dich. Das ist keine Sklaverei?«
Das Einhorn lachte bitter. »Du warst gut zu mir, Rupert. Ich mag dich, auf meine Weise. Aber das ändert nichts daran, dass ich ein Sklave bin. Und Sklaven sind namenlos. Früher hatte ich einen Namen. Als ich frei war, hatte ich einen Namen.« Die Stimme des Einhorns senkte sich zu einem Flüstern. »Eines Tages werde ich wieder einen Namen haben.«
»Das… tut mir Leid«, sagte Rupert hilflos. »Ich habe…
mir bisher nie Gedanken darüber gemacht.« Er schaute auf, und ihre Blicke trafen sich. »Ich habe dich in den Dunkelwald geführt, wo du nur um Haaresbreite dem Tod entronnen bist.
Du hättest jederzeit fliehen und mich im Stich lassen können, aber du hast es nicht getan, weil ich dich brauchte. Du bist mein Freund, Einhorn. Wenn du mich nicht begleiten willst, ist das in Ordnung. Ich werde dich nicht dazu zwingen. Aber ich würde mich freuen, wenn du freiwillig mitkämst.«
Mensch und Einhorn starrten einander an.
»Steig auf«, sagte das Einhorn schließlich. »Wir haben einen langen Ritt vor uns.«
Rupert nickte, setzte einen Fuß in den Steigbügel und schwang sich in den Sattel. Noch keine vierundzwanzig Stunden zurück und schon wieder unterwegs. Julia hat Recht, dachte er plötzlich. Wir hätten nie in die Burg zurückkehren dürf en. Wir beide waren glücklich da draußen im Wald. Wir wussten nichts über Haralds Heiratskontrakt und hatten keine Ahnung über den Vormarsch der Finsternis. Ich hätte dir meine Liebe beweisen sollen, Julia. Noch ehe mir mein Bruder dazwischen kam.
Er schüttelte seufzend den Kopf und schaute auf, als er Hufschläge hörte. Der Champion ritt heran und nahm neben ihm Aufstellung, aufrecht im Sattel eines Streitrosses, das an die zehn Handbreit höher war als das Einhorn. Das Tier schien die schwere Rüstung nicht als Bürde zu empfinden.
Imposant, dachte Rupert. Bestens geeignet für Turnierkampfe.
Aber nicht f ür ein Dämonenrudel.
»Rechnen Sie mit Verdruss, Sir Champion?«, fragte er gelassen.
»Immer, Sire. Können wir aufbrechen?«
»Natürlich. Sie haben Ihre Sache gut gemacht, Sir Champion. Ich bin verletzt, aber einsatzfähig.«
»Ich versuche, professionell zu arbeiten.«
»Eines Tages…«
»… werden Sie was tun, Sire? Mir heimlich Gift in den Becher tun oder mich von hinten erdolchen? Das bezweifle ich; es widerspräche Ihrer Natur. Sie wollen mich im Zweikampf schlagen – so wie vorhin Ihren Bruder Harald. Aber Sie sind nicht gut genug, um mich auf diese Weise zu bezwingen.«
»Darauf würde ich an Ihrer Stelle nicht unbedingt wetten«, sagte Rupert ruhig. »Es gab eine Zeit, da dachte Harald genau wie Sie.«
Der Champion musterte ihn scharf, schwieg aber. Der Prinz hielt seinem Blick stand. Beide spürten, dass sich etwas in ihrer Beziehung verändert hatte, und zum ersten Mal wurde Rupert klar, dass er keine Angst mehr vor dem Champion hatte. So lange Rupert zurückdenken konnte, war der Champion für ihn die Verkörperung des Todes gewesen – ein Mörder mit kalten Augen und einem blutigen Schwert, der eines Tages kommen und ihn holen würde, wie er so viele andere geholt hatte. Vorbei. Rupert hatte mit dem Schwert gegen ihn gekämpft und ihm zwei Treffer zugefügt, trotz denkbar ungünstiger Bedingungen. Auch wenn er letztlich unterlegen war, hatte in den letzten zwanzig Jahren niemand den Champion zum Bluten gebracht. Der Mann war gut, sehr gut sogar, aber er war nicht unschlagbar. Und eines Tages, dachte Rupert, werde ich den Beweis daf ür antreten. Er grinste den Champion spöttisch an, der ihn noch einmal gründlich studierte und dann sein Pferd wendete.
»Einen Augenblick, Sir Champion!«
»Ich bin beschäftigt, Sire.«
»Es ist mir verdammt egal, wie sehr Sie beschäftigt sind, Sir Champion. Wenn Sie mir noch ein einziges Mal den Rücken zukehren, lasse ich Sie enthaupten.«
Der Champion wendete sein Pferd noch einmal und ließ die Zügel los, um die Schwerthand frei zu haben. Ein schwaches Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. »Ich denke, Sie überschätzen Ihren Rang, Prinz Rupert.«
»Tatsächlich? Gestern Abend gaben Sie meinem Vater das Versprechen, sich während der Reise zum Schwarzen Turm meinem Befehl unterzuordnen. Wollen Sie etwa Ihrem König gegenüber wortbrüchig werden?«
Der Champion saß wie erstarrt im Sattel, und Rupert spürte, wie das Räderwerk hinter seiner Stirn arbeitete. Dann nahm der Recke mit ausdrucksloser Miene die Zügel wieder auf. Rupert wusste, dass er gewonnen hatte.
»Mein Wort bindet mir die Hände, Sire«, sagte der Champion langsam. »Auf dieser Reise haben Sie das Kommando.«
»Gut.« Rupert bemühte sich, die Erleichterung in seiner Stimme zu unterdrücken. »Denn wenn Sie noch einmal versuchen sollten, meine Autorität bei den Gardesoldaten zu untergraben, werde ich Ihnen die Kehle durchschneiden.«
»Sie müssen mir nicht drohen, Sire. Mein Wort gilt.«
Rupert nickte von oben herab. »Haben Sie den Männern mitgeteilt, dass wir den Dunkelwald betreten müssen, um zum Turm des Zauberers zu gelangen?«
»Aye«, entgegnete der Champion. »Ich selbst bin noch nie durch die lange Nacht geritten, Sire. Was erwartet uns?«
Rupert ließ seine Gedanken zurückwandern. Er spürte die Angst und die Schmerzen, die seine Seele immer noch wie Ketten einschnürten. »Es ist dunkel«, sagte er schließlich.
»Dunkel genug, um den stärksten Willen zu brechen.«
Der Champion wartete eine Weile und merkte dann, dass Rupert seine Worte nicht näher erläutern würde.
»Ich werde die Männer versammeln, Sire. Sie möchten vor dem Aufbruch sicher eine Ansprache halten.«
»Muss das sein?«
Der Champion zog eine Augenbraue hoch. »Es ist üblich, die Soldaten vor dem Kampf auf die Gefahren hinzuweisen, die ihnen drohen werden.«
»Ja? Also schön, lassen Sie die Leute antreten, Sir Champion!«
Der Champion ritt davon, und Rupert beobachtete, wie er mit ein paar lauten Befehlen Ordnung in das Gewühl der Gardisten brachte. Dann versuchte er mühsam, seine Gedanken zu sammeln. Wie zum Henker sollte er die Gefahren des Dunkelwalds Männern begreiflich machen, die ihn noch nie gesehen hatten? Die wenigsten Bewohner des Waldkönigreichs setzten je einen Fuß in die lange Nacht; dafür sorgte der Schlingpflanzenwald. Rupert runzelte nachdenklich die Stirn. Nach Auskunft des Champions hatte die Finsternis den Schlingpflanzenwald verschlungen, und Dämonen durchstreiften ungehindert das Waldkönigreich. Rupert zuckte mit den Schultern, und seine Hand tastete nach dem Griff des Regenbogenschwerts. Wenn alles andere versagte, musste er eben erneut einen Regenbogen beschwören.
Es dauerte eine Weile, bis sich die Soldaten vor ihm versammelt hatten. Pferde stampften und wieherten ungeduldig, Atemwolken standen in der kühlen Morgenluft, und die ersten Sonnenstrahlen reflektierten golden von schimmernden Kettenhemden. Das Garderegiment wirkte tüchtig und verwegen, und dem Prinzen sank ein wenig der Mut, als ihm klar wurde, dass die Männer das wahre Grauen des Dunkelwaldes nie begreifen würden, solange sie es nicht selbst erlebt hatten. Es war ein Grauen, das zu tief in seiner Seele saß, als dass er es schildern konnte. Und doch musste er es versuchen.
»Der Dunkelwald«, sagte er schließlich, »ist gefährlich.
Immer. Selbst wenn ihr die Dämonen nicht sehen könnt – sie sind da und beobachten euch. Es gibt kein Licht außer den Fackeln, die wir mitnehmen. Es gibt kein Trinkwasser und nichts Essbares außer den Vorräten in unserem Gepäck. Ich habe den Dunkelwald zweimal durchquert und bin beide Male nur knapp mit dem Leben davongekommen. Ich hatte auf der zweiten Reise einen Drachen an meiner Seite – aber das bedeutete so gut wie keinen Unterschied.«
Er machte eine Pause und sah sich um, während das Echo seiner Stimme auf dem Burghof verklang. Die Männer begegneten seinen Blicken unbewegt und aufmerksam, aber auch mit einer Spur von Respekt. Kein Mensch in der langen Geschichte des Waldkönigreichs hatte den Dunkelwald zweimal bezwungen und war lebend zurückgekehrt. Und ich stehe im Begrif f , es ein drittes Mal zu versuchen, dachte Rupert verdrossen. Ich muss verrückt sein. Er bedachte die Soldaten mit einem grimmigen Lächeln.
»Es ist eine mörderische Reise zum Schwarzen Turm, meine Freunde, und die Aussichten, unversehrt zurückzukehren, stehen schlechter als je in eurem Soldatenleben. Die meisten von euch werden den Tod finden. Dennoch müssen wir es wagen; das Schicksal des Waldkönigreichs hängt davon ab, dass wir den Großen Zauberer finden und in die Residenz bringen. Wenn wir versagen, wird sich die Finsternis über das gesamte Land ausbreiten und unsere Heimat verschlingen. Wenn wir es schaffen, wird man unsere Taten bis in alle Ewigkeit in Heldenliedern verherrlichen.
Ich stelle es jedem von euch frei, hier zu bleiben. Der Dunkelwald ist kein Ort für unfreiwillige Helden. Andererseits habt ihr einmal im Leben die Aussicht, etwas wahrhaft Großes zu vollbringen. Das Waldkönigreich braucht euch.
Und ich brauche euch.«
Er sah in die Runde und wartete auf eine Antwort. Seine Kehle war wie zusammengeschnürt. Und einer nach dem anderen zogen die Männer ihre Schwerter und reckten sie hoch in die Luft zum alten Treueschwur der Krieger. Rupert nickte langsam, ohne zu verbergen, wie viel ihm diese Geste bedeutete, und ein halbes Hundert Schwerter rasselte zurück in die Scheiden.
»Sir Champion?«
»Aye, Sire?«
»Wir brechen auf.«
Rupert lenkte das Einhorn auf das innere Burgtor zu. Der Champion ritt an seine Seite, und die Soldaten folgten ihnen in enger Formation. Die mächtigen Eichenflügel schwangen langsam auf, und Hufschlag hallte laut von den dicken Steinmauern wider, als der Prinz die Männer durch den Bergfried führte. Und dann hob sich das Fallgatter, die Zugbrücke fiel mit Gepolter über den Graben, und Rupert führte seine Schar in den Frühnebel hinaus.
Rupert zog fröstelnd den Umhang enger um die Schultern. Er war den ganzen Vormittag geritten, doch obwohl der Nebel sich schließlich aufgelöst hatte, wollte es nicht wärmer werden. Eine trübe, blutrote Sonne kämpfte gegen den bedeckten Himmel an, dessen dunkle Wolken von Sturm und Gewittern kündeten. Früher Frost hatte das Gras am Wegrand gebleicht, und der Boden unter den Hufen des Einhorns war hart und holprig. Düster und kahl ragten Bäume zu beiden Seiten des Pfades auf, und silbrige Spinnennetze hüllten die spärlichen Sträucher ein. Keine Tiere raschelten im Unterholz, und keine Vögel sangen. Ein trostloser Nachmittag war angebrochen.
Der Wald lag lautlos da, und die gedämpften Hufschläge von Ruperts kleiner Reiterschar klangen in der unnatürlichen Stille wie eine lästige Störung.
Rupert schlug die Fäuste gegeneinander, um den Blutkreislauf in Schwung zu bringen, aber trotz der dicken Lederhandschuhe, die er trug, nagte die Kälte an seinen Fingern. In den Zehen hatte er längst kein Gefühl mehr. Es ist doch erst Anf ang Herbst, dachte er verwirrt. So kalt war es um diese Jahreszeit noch nie… Der Wind peitschte ihm so eisig ins Gesicht, dass ihm die Wangen brannten. Rupert spürte, wie sich die Starre in seinen Gliedern ausbreitete, und wusste, dass der Wind seinen Ursprung in der endlosen Nacht hatte. Der böse Hauch, den der Dunkelwald vor sich hertrieb, legte sich wie Raureif über das Land, das die Finsternis in Bälde verschlingen würde. Rupert begann zu zittern und kam lange Zeit nicht dagegen an.
Der Champion hob plötzlich die Hand, und die Kolonne hielt ungeordnet an. Rupert zügelte sein Einhorn. Die Hand am Schwertgriff, spähte er rasch umher.
»Weshalb bleiben wir stehen, Sir Champion?«
»Wir werden beobachtet, Sire.«
Rupert runzelte die Stirn. »Ich sehe niemanden.«
»Sie sind in der Nähe«, sagte der Champion leise. »Sie belauern uns.«
Eine Weile rührte sich niemand. Die Gardesoldaten saßen steif auf ihren Pferden, spähten in die Schatten des Waldes und horchten auf die leisesten Geräusche. Die dürren Gespensterbäume umstanden sie dicht gedrängt und hüteten uralte Geheimnisse in der undurchdringlichen Dämmerung.
Die einzigen Laute waren das Wiehern und Schnauben der unruhigen Pferde sowie das Raunen des Windes im kahlen Astwerk. Doch dann nahm Rupert in den Schatten weiter vorn schleichende Bewegungen wahr und spürte ein Kribbeln im Nacken.
Stahl scharrte gegen Leder, als die Männer ihre Waffen zogen. Dämonen. Das Wort ging im Flüsterton durch die Reihen. Dämonen in den Schatten. Rupert zog ebenfalls sein Schwert und fluchte leise, als er merkte, dass sein Schild fest im Gepäck verzurrt war. Er versuchte die Schnallen zu lösen, während er angestrengt in das Halbdunkel starrte. Ein halbes Dutzend Ulanen kam nach vorn, um ihn und den Champion zu flankieren. Licht reflektierte von den Schäften ihrer langen, tödlichen Lanzen. Rupert hielt den Schild vor sich, warf dem Champion einen Blick zu und trieb das Einhorn vorwärts. Die Soldaten setzten sich ebenfalls in Bewegung.
Dämonen im Waldkönigreich. Dämonen mitten am Tage.
Der Dunkelwald muss näher sein, als wir dachten.
Rupert schüttelte den Kopf, um seine Gedanken zu ordnen.
Er rückte den Schild in eine etwas bequemere Stellung und versuchte den Schwertgriff mit den steif gefrorenen Fingern richtig zu fassen. Und dann schoss eine winzige Gestalt mit erhobenen Händen aus dem Unterholz und blieb mitten auf dem Weg vor ihnen stehen.
»Wir geben auf!«, rief das Kerlchen kläglich. »Ehrenwort!«
Rupert zügelte sein Einhorn so unvermittelt, dass die Pferde weiter hinten ins Stolpern gerieten. Ein Verdacht stieg in ihm auf, und langsam huschte ein breites Grinsen über seine Züge, als eine ganze Schar von Kobolden aus dem Unterholz hervortrippelte. Ihr Anführer warf einen Blick auf Rupert und zuckte sichtlich zusammen.
»O nein! Nicht schon wieder du!«
Die anderen Kobolde blinzelten Rupert kurzsichtig an und drängten sich dann schlotternd zusammen. Waffen fielen zu Boden, und einige der kleineren Krieger brachen in Tränen aus.
»Freunde von Ihnen?«, fragte der Champion.
»Nicht unbedingt«, sagte Rupert. Er winkte den Oberkobold zu sich heran. Zögernd kam das Kerlchen näher.
»Das darf doch nicht wahr sein!« Er warf Rupert einen bitterbösen Blick zu. »Ich habe Wochen damit zugebracht, diesen Haufen x-beiniger Idioten in eine Supertruppe zu verwandeln. Ich habe Bauern und Hirten und Kräutersammler zu stahlharten Kriegern gemacht. Erst vor zwei Tagen gelang es uns, ein Dämonenrudel abzuwehren. Die Kampfmoral war nie besser. Und was passiert? Du tauchst auf, und noch bevor du dein Schwert ziehst, sind alle demoralisiert. So was ist einfach nicht fair.«
»Nun beruhige dich wieder!«, sagte Rupert.
»Ich und mich beruhigen? Es reicht nicht, dass du zur Legende unter uns geworden bist – der einzige Mensch, dem es je gelang, ein ganzes Rudel von Koboldkriegern zu besiegen!
Es reicht nicht, dass einige aus diesem Rudel deinetwegen immer noch Albträume haben! Es reicht nicht, dass Koboldmütter seit neuestem ihren Kindern drohen, dass der böse Mensch sie holen wird, wenn sie ungezogen sind! Nein, nun verfolgst du uns auch noch mit einem ganzen Heer von Bewaffneten! Was hast du als Nächstes vor? Den Wald in Brand stecken, oder was?«
Rupert grinste. Allem Anschein nach hatten ihn die Kobolde zum mächtigen Helden aufgebaut, um ihre Niederlage gegen ihn zu rechtfertigen. So viel zum Sinn und Zweck mancher Legenden.
»Was treibt ihr denn so weit entfernt von daheim?«, fragte er.
Der Anführer der Kobolde sah ihn finster an. »Der Schlingpflanzenwald ist verschwunden«, sagte er missgelaunt. »Die Finsternis kam, und plötzlich wimmelte es auf den schmalen Pfaden von Dämonen. Sie zerstörten unsere Häuser und metzelten unsere Familien nieder. Wir nahmen von unserer Habe mit, was wir tragen konnten, und ergriffen die Flucht. Kobolde sind nicht tapfer. Wir mussten nie tapfer sein. Das liegt nicht in unserer Natur.
Aber nach allem, was wir gesehen haben, können einige von uns hassen.
Wir sind ein altes Volk, edler Held, die Letzten eines längst entschwundenen Zeitalters. Damals war das Leben einfacher. Es gab keine Menschen, die uns Angst einjagten, und keinen Dunkelwald, der unseren Wald verschlang. Magie beherrschte die Welt. Das kalte Eisen ruhte sicher im Schoß der Erde und war noch keine Gefahr für das Kleine Volk.
Dann kam der Mensch, setzte seinen Stahl gegen unsere Bronze ein und vertrieb uns aus unserem Reich. Mit der letzten Zauberkraft, die uns geblieben war, schufen wir den Schlingpflanzenwald und machten ihn zu unserer neuen Heimat. Nur wenige überstanden den Umzug. Wir leben lange und vermehren uns langsam. Und wir hassen Veränderungen.
Wir sind keine Kämpfer, edler Held. Das liegt nicht in unserer Natur. Wir sind nicht einmal gute Wegelagerer, wie Sie sicher noch wissen. Wir bestellen unsere Felder und hüten unsere Herden und kümmern uns nicht weiter darum, was in der Welt geschieht. Wir wollen nichts – nur dass man uns in Ruhe lässt. Aber nun breitet sich die Nacht aus, und unsere Tage sind gezählt. Einst gab es so viele von uns, dass niemand sie zählen konnte. Dann lebten wir zu tausenden im Schlingpflanzenwald. Nun sind wir nur noch ein paar hundert und besitzen keine Heimat mehr. Deshalb haben wir den Entschluss gefasst, zur Waldburg zu ziehen. Auch wenn wir nicht sehr stark und tapfer sind, auch wenn wir keine Waffen aus Stahl haben, edler Held, so können wir doch kämpfen.
Und falls die Burg unseren Familien Schutz bietet, werden wir sie mit unserem Leben verteidigen.«
Der Oberkobold schaute trotzig zu Rupert auf, als erwarte er Spott oder einen Schwerthieb für die Behauptung, seine Schar sei bereit, für die Burg zu kämpfen. Ruperts Blicke schweiften über das Kleine Volk hinweg, und er sah, dass die Kobolde bei den Worten ihres Anführers neuen Mut geschöpft hatten. Gefasst standen sie mitten auf dem Weg und warteten auf Ruperts Antwort. Sie waren vielleicht nicht tapfer, aber sie besaßen Stolz und Würde.
»Geht zur Burg!« Ruperts Stimme klang rau, und er musste sich räuspern. »Begehrt in meinem Namen Einlass. Ich bin Prinz Rupert vom Waldkönigreich. Eure Familien werden dort sicher sein, und der König kann Krieger wie euch immer gut gebrauchen.«
Der Oberkobold musterte ihn scharf und nickte kurz. »Und wohin seid ihr unterwegs, edler Held?«
»Wir reiten zum Schwarzen Turm«, sagte Rupert. »Wir sollen den Großen Zauberer holen.«
Die Mundwinkel des Oberkobolds zuckten. »Ich weiß nicht, wer mir mehr Leid tut – du oder er.«
Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte zurück zu seinen wartenden Kriegern. Immer mehr Kobolde kamen aus den Schatten des Waldes; Frauen und Kinder, beladen mit den wenigen Habseligkeiten, die ihnen geblieben waren. Der Anführer ordnete seine Gruppe unter gutem Zureden und Geschimpfe zu einer mehr oder weniger gut ausgerichteten Kolonne. Langsam und erschöpft setzten sich die kleinen Geschöpfe in Bewegung und zogen an den Gardesoldaten vorbei, die sie stumm und verwirrt anstarrten.
»Ich nehme an, dass Sie diesen… Leuten schon mal begegnet sind«, sagte der Champion.
»Einige von ihnen versuchten mich im Schlingpflanzenwald umzubringen«, erklärte Rupert. »Ich musste ihnen dieses Vorhaben ausreden.« Er merkte, dass er immer noch sein Schwert in der Hand hielt, und steckte es in die Scheide.
»Ich verstehe«, sagte der Champion. Sein Tonfall verriet, dass das eine Lüge war.
Rupert verkniff sich ein Grinsen und schaute nach unten, als jemand ungeduldig an seinem Steigbügel zerrte. Der kleinste Kobold sah ihn strahlend an.
»Guten Tag, edler Held! Erinnerst du dich noch an mich?
Ich wollte mich noch mal bei dir bedanken. Unser ruhmreicher Führer ist zwar ein verdammt guter Kämpfer, aber von Manieren hält er nicht sehr viel. Wohl gemerkt, das ist seine einzige Schwäche. Ansonsten lasse ich nichts auf ihn kommen, edler Held! Er hat uns sogar beigebracht, Dämonen zu besiegen. Erst vor kurzem konnten wir ein ganzes Rudel dieser Kreaturen in die Flucht schlagen.«
»Moment«, unterbrach ihn Rupert. »Dein Volk hat gegen ein Dämonenrudel gekämpft? Wo war das?«
»Bei der Kupfermine«, berichtete der kleinste Kobold.
»Wir haben Ketschup aus ihnen gemacht, ehrlich! Schmecken übrigens scheußlich, die Typen – nur Knochen und Knorpel.
Und nun mach dir keine Sorgen um deine Burg, edler Held, wir werden sie für dich bewachen. Wir kennen eine Menge hässlicher Tricks mit kochendem Öl…«
»Kann ich mir gut vorstellen«, sagte Rupert. »Um noch einmal auf die Kupfermine zu kommen…«
»Nette kleine Bergwerksiedlung. Ich denke an so manche Nacht, als ich und meine Kumpel dort Hühner und Kälber gestohlen haben. Das ist vorbei, leider.«
»Warum?«
»Dämonen«, meinte der kleinste Kobold. »Haben alles in Fetzen gerissen. Keine Menschen mehr da. Spurlos verschwunden. Aber jetzt muss ich weiter, edler Held, sonst hole ich die Kameraden nicht mehr ein. Eine gute Reise wünsche ich.«
»Danke, tapferer Kobold. Und benehmt euch anständig!
Wenn ich höre, dass ihr auch nur einen rechtschaffenen Reisenden zwischen hier und der Residenz belästigt habt, sorge ich persönlich dafür, dass man euch dem Burggraben-Ungeheuer zum Fraß vorwirft! Hast du das verstanden?«
»Aber klar doch«, versicherte der kleinste Kobold eilig.
»Wir Waldbewohner müssen zusammenhalten. Nicht einen Einzigen, hast du gesagt?«
»Nicht einen Einzigen!«
»Spaßverderber«, maulte der kleinste Kobold. Dann grinste er, verbeugte sich rasch und hetzte hinter seinen Freunden her. Die Soldaten schauten den Kobolden nach, bis sie verschwunden waren, und wandten sich dann Rupert mit neuem Respekt zu. Jemand, der es schaffte, eine Schar bewaffneter Kobolde einzuschüchtern, ohne auch nur die Stimme zu erheben, war ein Führer, den man ernst nehmen musste.
»Die Kupfermine«, sagte der Champion langsam. »Wir könnten gegen Abend dort sein.«
»Sie kennen den Ort?«, erkundigte sich Rupert.
»Ein Bergwerk, in dessen Nachbarschaft eine Kleinstadt entstanden ist. Achthundert Menschen leben dort – einschließlich einer halben Kompanie Soldaten. Es kann nicht sein, dass sie der Finsternis zum Opfer gefallen sind…«
»Der Dunkelwald muss näher sein, als wir dachten«, sagte Rupert. »Achthundert Menschen… ich denke, wir sollten uns den Ort ansehen.«
Der Champion nickte grimmig und führte den Trupp tiefer in den Wald hinein.
Die Sonne sank rasch hinter den Horizont, als Rupert und der Champion in die Kupferstadt einritten. In den Häusern der Bergarbeiter brannte kein Licht, und die schmalen Gassen waren angefüllt mit Schatten. Die Männer spähten argwöhnisch die stummen Fassaden entlang und rückten ihre Schwerter zurecht. Dumpf brachen sich die Hufschläge an den dicken Steinmauern und hallten unnatürlich laut durch die Stille. Die Pferde warfen die Köpfe hoch und wieherten ängstlich. Rupert starrte umher, während er seine Leute durch die kleine Stadt führte, und die vielen unverschlossenen Fenster starrten zurück wie leere schwarze Augenhöhlen. Man sah keine Spuren von Gewalt oder Verwüstung, aber die Häuser wirkten verlassen. Irgendwo in der wachsenden Dämmerung schlug der Wind eine Tür auf und zu. Niemand kam, um sie zu schließen. Rupert gab das Zeichen zum Anhalten und zügelte sein Einhorn.
»Sir Champion?«
»Aye, Sire?«
»Halten Sie mein Einhorn! Ich möchte mir einige dieser Häuser näher ansehen.«
»Ich wäre vermutlich von mehr Nutzen für Sie, wenn ich Ihnen Rückendeckung gebe.«
Rupert sah den Champion von der Seite an. Dann nickte er kurz und schwang sich aus dem Sattel. Kettenhemden rasselten, als die Gardesoldaten ihre Waffen zogen und die Gasse an beiden Enden absperrten. Rupert nahm die Laterne vom Sattelknauf und versuchte die Kerze mit Feuerstein zu entfachen.
»Rupert…«, begann das Einhorn.
»Oh! Du wirst doch nicht zu schmollen aufhören und wieder mit mir reden?«
»Ich habe nicht geschmollt. Ich habe nachgedacht.«
»Worüber?«
»Hauptsächlich über dich. Du hast dich verändert, Rupert.«
»Ja? Inwiefern?«
»Nun, zum einen warst du früher vernünftiger. In diesen Häusern könnten sich jede Menge Dämonen verstecken.«
»Ich weiß.« Rupert grinste breit, als der Docht endlich zu glimmen begann. »Deshalb sehe ich ja nach.« Er schloss die Laterne und hielt sie in die Höhe, während er vorsichtig auf das nächstgelegene Haus zuging. Das Einhorn machte Anstalten, ihm zu folgen, blieb aber stehen, als der Champion vor der weit offenen Eingangstür zu Rupert aufschloss.
»Bereit, Sire?«
»Bereit, Sir Champion.«
Rupert trat leise über die Schwelle und stieß gleich darauf die Tür hart gegen die Wand – für den Fall, dass sich etwas dahinter verbarg. Nichts bremste den Schwung. Ein lautes Dröhnen hallte durch das Haus und entlockte der Holzdecke einen ächzenden Laut. Rupert ging weiter, dicht gefolgt vom Champion, und schaute sich um. Schmutzige Strohmatten bedeckten den Lehmboden. Auf den nackten Steinwänden breiteten sich Feuchtigkeitsränder und dunkle Schimmelflecken aus. Die rußgeschwärzte Feuerstelle enthielt nichts außer Asche und einem Kohlehäufchen. Ein roh gezimmerter Tisch und vier Stühle, die nicht zusammenpassten, einer davon ein Kinderhochsitz. Holzteller, für eine Mahlzeit hergerichtet. Der ganze Raum maß bestenfalls drei mal drei Meter, und die Decke war so niedrig, dass Rupert unwillkürlich den Kopf einzog. Ein furchtbarer Gestank quoll ihnen entgegen.
Rupert rümpfte angewidert die Nase. »Wie können Menschen in einem solchen Elend hausen?«
»Bergleute sind und bleiben bettelarm«, sagte der Champion. »Wenn sie die vom Aufseher festgesetzten Förderquoten nicht erfüllen, bekommen sie keinen Lohn. Wenn sie die Quoten zu leicht erfüllen, werden die Forderungen nach oben geschraubt, bis sie ihr Pensum nicht mehr schaffen. Die Löhne sind niedrig, die Preise hoch. Die wenigen Läden hier befinden sich im Besitz der Aufseher. Mit dem Kupfer, das ein Bergmann an einem Tag fördert, könnte er seine Familie ein Jahr lang ernähren – aber auf den Diebstahl von Erz steht die Todesstrafe.«
»Das wusste ich nicht«, sagte Rupert leise. »Ich… habe nie darüber nachgedacht…«
»Warum sollten Sie auch?«, entgegnete der Champion.
»Sie haben Ihre Pflichten, die Armen haben andere. So ist das nun mal auf der Welt.«
»Kein Mensch sollte so vegetieren müssen«, erklärte der Prinz kategorisch.
»Wir können nicht alle in Schlössern leben, Sire. Jemand muss das Kupfer fördern.«
Rupert warf dem Champion einen wütenden Blick zu, und dann erstarrten sie beide, als irgendwo über ihnen ein Poltern zu hören war. Der Champion erreichte mit wenigen Schritten die einzige Tür an der rückwärtigen Wand des Raumes und riss sie auf. Dahinter kam eine schmale, wacklige Stiege zum Vorschein. Er spähte in das Dunkel und stieg langsam die knarrenden Stufen hinauf. Rupert sah sich noch einmal um, ehe er dem Champion mit gezücktem Schwert folgte.
Die Stiege führte ins Obergeschoss; der gleiche winzige Raum, diesmal durch einen Vorhang geteilt und mit zwei einfachen Betten möbliert. Der Champion schob den Vorhang zurück und entdeckte ein Fenster. Einer der schief in den Angeln hängenden Läden schlug im Wind hin und her. Mit einem Kopf schütteln steckte er die Waffe weg und schloss den Laden. Rupert musterte mit gerunzelter Stirn die beiden Betten. Sie waren für die Nacht aufgeschlagen, aber niemand hatte darin geschlafen. Einen Moment lang überlegte er, ob er einen Blick unter die Bettgestelle werfen sollte, aber sie waren zu niedrig, um irgendetwas außer einem Nachttopf zu verbergen. Er hielt die Laterne hoch und spähte umher. Auf einem der Betten lag eine zerlumpte Stoffpuppe mit aufgemaltem Gesicht. Rupert schob sein Schwert in die Scheide und hob die Puppe auf.
»Was sagen Sie dazu, Sir Champion!«
Der Champion sah das Spielzeug nachdenklich an. »Kinder liegen um diese Zeit längst im Bett.«
»Eben. Wo könnte das kleine Mädchen sein, dem diese Puppe gehört?«
Der Champion zuckte die Achseln. »Da, wo sich auch der Rest der Familie befindet. Allem Anschein nach verließen die Leute das Haus aus freien Stücken. Ich entdecke nirgends Spuren eines Kampfes.«
Rupert zögerte. »Der Kobold behauptete, die Kupferstadt sei von Dämonen heimgesucht worden.«
»Kobolde lügen, sobald sie den Mund öffnen«, sagte der Champion.
Rupert schob die Puppe aus einem Impuls heraus unter sein Wams und wandte sich dann der Stiege zu. »Ich möchte, dass alle Häuser der Siedlung durchsucht werden, Sir Champion! Schicken Sie die Männer los, bevor es ganz dunkel wird!«
»Sie werden nichts finden.«
»Erteilen Sie dennoch den Befehl!«
»Jawohl, Sire!«
Der Champion folgte dem Prinzen nach unten. Sein Schweigen war deutlicher Ausdruck seiner Missbilligung, aber das scherte Rupert wenig. Nun gut, vielleicht hatte der Kobold gelogen; wenn die Dämonen hier gewesen wären, hätte man wohl mehr Spuren von ihnen entdecken müssen.
Aber es musste einen Grund dafür geben, dass achthundert Menschen einfach aus ihren Häusern verschwunden waren.
Irgendwo in der Stadt gab es eine Antwort auf das Rätsel –
und Rupert war fest entschlossen, sie zu finden.
Er wanderte noch einmal durch das Haus und trat dann ins Freie. Dunkelheit breitete sich über den Abendhimmel; nur am Horizont kündete ein roter Streifen davon, dass die Sonne eben erst untergegangen war. Der Champion scheuchte die wartende Garde mit lauten Befehlen umher, und schon bald eilten die Männer mit schnellen Schritten die Gassen entlang.
Türen schlugen in der Stille, und Laternen tanzten wie Gespenster durch die leeren Häuser. Einer nach dem anderen kehrten die Soldaten zurück, um Meldung zu machen. Sie hatten nichts und niemanden gefunden. Die Kupferstadt lag schweigend und verlassen unter dem Ebenholzhimmel.
»Dies ist eine Bergwerksiedlung«, erklärte Rupert schließlich. »Wo befindet sich das Bergwerk selbst?«
»Ein Stück weiter unten, am Ende der Straße, Sire«, erklärte der Champion.
Rupert schüttelte entmutigt den Kopf. »Sehen wir uns dort um! Auf einen kleinen Umweg mehr oder weniger soll es uns nicht ankommen.«
»Aye, Sir. Es ist nicht weit – höchstens eine halbe Meile.«
Rupert warf ihm einen nachdenklichen Blick zu. »Wie kommt es, dass Sie sich hier so gut auskennen?«
»Ich bin hier geboren«, erwiderte der Champion.
Eine blasse Mondsichel schien in der sternlosen Nacht, als der Champion die Männer einen Steilhang hinabführte. Laternen hingen von jedem Sattel. Sie hoben sich golden gegen die Schwärze ab, vermochten aber kaum den Pfad zu erhellen, dem der Champion folgte. Hohe, verkrümmte Silhouetten ragten drohend aus dem Dunkel, als sich die Gruppe ihren Weg an den spärlichen Bäumen vorbei nach unten bahnte.
Der Wind hatte sich endlich gelegt, aber die Nachtluft war bitterkalt. Unvermittelt ging der Hang in flaches Gelände über, und der Champion zügelte sein Pferd.
»Hier ist es, Sire. Das Bergwerk.«
Rupert hielt seine Laterne hoch, aber das flackernde Licht warf mehr Schatten, als es enthüllte. Die Grube wirkte alt, Jahrhunderte alt. Ein paar verwitterte Holzbauten umgaben den Haupteingang, der kaum breit genug für drei Männer nebeneinander war. Der Champion schwang sich aus dem Sattel und blieb reglos stehen, die kalten, dunklen Augen starr auf den Eingang geheftet. Nach einer Weile stieg Rupert ebenfalls ab und trat neben ihn.
»Ich war zehn, als mich mein Vater das erste Mal mit nach unten nahm«, sagte der Champion leise. »Die Hauptader gab nicht mehr viel her, und die Barone hatten die Löhne gekürzt, um die Gesamtkosten zu senken. Meine Familie brauchte das Geld, und unter Tage gab es immer Arbeit für Kinder. Der Stollen, der zum Abbaustoß führte, war so niedrig, dass mein Vater auf Händen und Knien durchkriechen musste. Ich dagegen brauchte nur den Kopf einzuziehen. Das einzige Licht kam von den Kerzen in unseren Helmen, und der Staub, der überall umherwirbelte, machte das Atmen schwer. An jenem ersten Tag dauerte meine Schicht nur sechs Stunden, aber sie schien sich endlos hinzuziehen.
In der Nacht darauf lief ich fort. Ich hatte mich für stark und mutig gehalten, aber noch einen Tag in diesem Bergwerk konnte ich nicht ertragen. Das ist jetzt über dreißig Jahre her, und ich bin seither nicht mehr hier gewesen. Aber diese Mine flößt mir immer noch Angst ein. Merkwürdig, nicht wahr?«
Er schwieg, und Rupert streifte ihn mit einem raschen Blick. Obwohl die Züge des Champions im Halbdunkel schwer zu erkennen waren, wirkte er ruhig und unbewegt wie immer. Der Prinz wusste nicht, warum der Champion ihm diese Dinge erzählte; sie hatten wahrhaftig kein enges oder gar freundschaftliches Verhältnis. Rupert wandte sich ab und studierte eingehend den Bergwerkseingang. Er konnte sich nicht vorstellen, dass der Champion je ein kleiner Junge gewesen war; ein Junge, der lachte und weinte und vor einer Finsternis floh, die ihm Angst einjagte.
»Sir Champion…«
»Wir werden zuerst die Gebäude untersuchen«, sagte der Champion ausdruckslos und erteilte seine Befehle.
Bald darauf loderte ein Dutzend Fackeln im Halbkreis um den Haupteingang. Männer bewegten sich lautlos durch das Dunkel und suchten nach einem Lebenszeichen der verschwundenen Bergleute. Die Gebäude erwiesen sich als leer, aber in dem Stollen, der vom Eingang in die Tiefe führte, entdeckte man seltsame Scharrspuren. Rupert betrat den Tunnel, kniete neben den Vertiefungen nieder und untersuchte sie im schwachen Schein seiner Laterne, so gut er konnte.
Es schien, als habe etwas unvorstellbar Schweres für kurze Zeit auf dem Boden gelegen und die Erde fest zusammengepresst. Rupert runzelte die Stirn. Was immer diese Spuren verursacht hatte – von Dämonen stammten sie nicht. Der Champion kehrte aus der gähnenden Schwärze des Stollens zurück, und Rupert richtete sich rasch auf.
»Haben Sie etwas gefunden?«
»Bis jetzt nicht, Sire. Aber sie sind irgendwo im Bergwerk.«
»Das ist nicht sicher, Sir Champion.«
»Für mich schon«, entgegnete der Champion ruhig. »Etwas rief sie nach unten. Etwas rief die Bewohner der Stadt hierher. Sie verließen ihre Häuser und strömten zur Mine. Männer, Frauen und Kinder – so viele, dass sie sich am Haupteingang anstellen mussten, bis sie an der Reihe waren. Nun warten sie irgendwo da unten im Dunkeln auf uns.«
Rupert sah ihn von der Seite an. Wäre es nicht ausgerechnet der Champion gewesen, hätte er geschworen, dass der Mann am Rand eines Zusammenbruchs stand. Ein wenig unsicher hatte er von Anfang an gewirkt, aber… Weiter unten im Stollen schrie einer der Gardisten entsetzt auf. Rupert rannte los, dicht gefolgt vom Champion. Der Soldat kam ihnen kreidebleich entgegen. Er hatte sein Schwert und die Laterne verloren, hielt aber etwas in der Hand.
»Was ist los?«, fauchte ihn der Champion an. Der Mann blieb wankend stehen. Sein Mund zuckte, doch er brachte keinen Ton heraus.
»Was haben Sie gefunden?«, fragte Rupert ruhig. Der Gardist schüttelte stumm den Kopf und überreichte Rupert einen roten Schuh. Der Prinz runzelte die Stirn. Er war klein, ein Kinderschuh, aber er lag seltsam schwer in seiner Hand.
Rupert betrachtete das Innere und musste plötzlich würgen.
Der Fuß steckte noch im Schuh, glatt abgetrennt am Knöchel.
Das Leder war rot von getrocknetem Blut. Rupert reichte den Fund an den Champion weiter, der ihn ruhig untersuchte.
»Haben Sie sonst etwas entdeckt?«, fragte Rupert den Soldaten.
Der zuckte mit den Schultern. »Ich konnte… konnte nicht viel erkennen. Es war zu dunkel. Aber der Gestank… der Gestank ist entsetzlich.« Er schluckte trocken und stürzte an ihnen vorbei nach oben.
»Er ist noch jung«, sagte der Champion geistesabwesend.
»Sein erster Einsatz. Hat vermutlich noch nie aus Zorn oder Hass das Schwert gezogen. Er wird darüber hinwegkommen.«
»Ja, sicher«, murmelte Rupert. Sein Magen verkrampfte sich, als der Champion den blutdurchtränkten Schuh achtlos beiseite warf, und er wandte rasch den Blick ab. »Die meisten Männer meiner Garde scheinen sehr jung zu sein, Sir Champion. Ich nehme an, dass sie alle ziemlich unerfahren sind.«
»Ziemlich, Sire.«
»Kein Wunder, dass der König sie mir so großmütig über ließ.«
»Sie lernen«, stellte der Champion fest.
Rupert lächelte müde, und einen Moment lang standen sie Seite an Seite und starrten in den schwarzen Tunnel.
»Nun gut«, meinte Rupert schließlich. »Hier können wir nichts mehr tun. Ich schlage vor, dass wir zurückkehren.«
Der Champion runzelte die Stirn. »In die Kupferstadt?«
»Immerhin besser, als im Freien überrascht zu werden«, erklärte Rupert. »Wenn es hier Dämonen gibt, sind wir hinter Mauern aus Stein sicherer.«
»Den Bewohnern haben sie wenig genützt«, meinte der Champion. »Wollen Sie nicht in Erfahrung bringen, was sich da unten im Bergwerk abgespielt hat?«
»Nicht unbedingt.«
»Es könnte Überlebende geben.«
»Das halte ich für unwahrscheinlich.«
»Ich auch, Sire. Aber es lässt sich nicht völlig ausschließen.«
»Das nicht, Sir Champion.« Rupert seufzte tief. »Und was schlagen Sie vor?«
»Wir müssen in den Stollen vordringen«, erklärte der Champion ruhig. »Und die Bergleute entweder retten oder rächen.«
Rupert begriff plötzlich, was in der Seele des Champions vorging. Auf seine Weise empfand der Champion die gleiche Panik vor der Mine, wie sie Rupert vor dem Dunkelwald empfunden hatte. Und wie Rupert wollte er sich nicht von seiner Angst abhalten lassen, das zu tun, was er für richtig hielt.
»Also gut«, sagte Rupert. »Erklären Sie den Männern die Lage. Ich möchte, dass uns vier Freiwillige in die Tiefe begleiten. Die Übrigen sollen einen Halbkreis um den Eingang bilden und ihn mit Fackeln erhellen. Wenn draußen Dämonen umherstreifen, wird das Licht sie abschrecken.«
»Vier Freiwillige, Sire?«
»Wir brauchen einen Erkundungstrupp und keine Streitmacht. Für Letzteres ist immer noch Zeit, wenn wir wissen, womit wir es zu tun haben. Und wohlgemerkt – ich lege Wert auf echte Freiwillige.«
»Natürlich, Sire.« Der Champion bedachte ihn mit einem flüchtigen Lächeln und eilte zum Eingang zurück, um mit den Soldaten zu sprechen.
Rupert starrte in die Schwärze des Tunnels. Das Dunkel starrte zurück, ohne sein Geheimnis preiszugeben. Der Prinz zog sein Schwert und wog es in der Hand. Der Regenbogen-Lauf schien eine Ewigkeit zurückzuliegen. Ich muss das nicht auf mich nehmen, dachte er langsam. Es ist dumm, wenn ich mein Leben f ür ein paar hundert verschollene Bergarbeiter auf s Spiel setze. Die Mission, den Großen Zauberer zu finden, hat eindeutig Vorrang. Ein Seufzer des Bedauerns drang ihm über die Lippen. Er wusste, dass er in Wahrheit keine Wahl hatte. Nein, ich muss das nicht auf mich nehmen. Aber ich werde es auf mich nehmen. Solange auch nur die geringste Aussicht besteht, Überlebende zu f inden, kann ich nicht einf ach f ortreiten und sie ihrem Schicksal überlassen. Er betrachtete nachdenklich sein Schwert. Wenn drunten in den Bergwerksstollen Dämonen lauerten, konnte er immer noch den Regenbogen beschwören.
Der Champion kehrte mit vier Männern zurück. Jeder trug ein Schwert in einer und eine Laterne in der anderen Hand.
Das zusätzliche Licht unterstrich nur die Enge des Tunnels.
Rupert fiel auf, dass der Champion seine Laterne zurückgelassen hatte, um mit beiden Hände die schwere Streitaxt schwingen zu können.
»Bereit, Sire?«
»Bereit, Sir Champion. Sie kennen dieses Bergwerk, also übernehmen Sie am besten die Führung.«
»Natürlich, Sire.« Der Champion drang mit weit ausgreifenden Schritten in den schräg nach unten führenden Tunnel vor. Rupert folgte ihm dicht auf den Fersen, die Laterne hoch über den Kopf erhoben. Den Schluss bildeten die vier Gardisten. Ruperts Blicke waren besorgt auf den Rücken des großen Kämpfers geheftet. Der Mann schien grimmig entschlossen, seine einstige Furcht vor der Mine zu verdrängen. Diese Haltung konnte ihn zu einer Verwegenheit verleiten, die sie alle in den Tod stürzen würde.
Der Tunnel fiel gleichmäßig ab. Rupert musste ein wenig gebückt gehen, um nicht mit dem Kopf gegen die niedrige Decke zu stoßen. Die von Löchern und Rissen zerfressenen Wände wurden hier und da von modrigen, moosbewachsenen Holzpfosten gestützt. Dicke Klumpen fahler Schwämme quollen aus den Fugen zwischen Wand und Boden, und in der Luft lag ein schwach süßlicher Geruch. Rupert runzelte die Stirn. Der Geruch beunruhigte ihn; er kam ihm sonderbar vertraut vor. Schon bald wurde der forsche Schritt des Champions langsamer. Der starke Mann des Königs spähte zögernd umher, als quälten ihn unangenehme Erinnerungen. Rupert hörte, dass sich die Gardesoldaten hinter ihm im Flüsterton unterhielten. Hin und wieder stieß jemand einen unterdrückten Fluch aus, wenn er ins Stolpern geriet oder vergaß, den Kopf einzuziehen. Rupert starrte angestrengt in das Dunkel, aber der Lichttümpel der Laterne reichte kaum über die Gestalt des Champions hinaus.
Unvermittelt weitete sich der Tunnel zu einer Höhle von gut dreißig Metern Durchmesser. Etwa in ihrer Mitte fiel ein breiter Schacht in die Tiefe ab. Über seiner Öffnung war eine massive Förderhaspel errichtet, von der ein dickes, robustes Tau nach unten hing. Der Champion befahl den Gardisten mit einer Handbewegung, die Kurbel zu betätigen, und Rupert erkannte das Prinzip eines primitiven Lasten- und Personenaufzugs. Er beugte sich vorsichtig über den Rand des Schachts und spähte in die Schwärze. Der süßliche Geruch wurde sofort stärker.
»Das stinkt, als läge da unten ein Kadaver«, murmelte einer der Männer angewidert, während er sein Schwert in die Scheide schob und seinen Kameraden half, die schwere Kurbel zu drehen. Das Tau wurde straff und wickelte sich langsam um die Haspel. Widerstrebend kam der Aufzug nach oben. Rupert trat vom Rand des Schachts zurück und verzog das Gesicht zu einer Grimasse, als er endlich erkannte, warum ihm der süßliche Geruch so vertraut vorkam: Es war der gleiche Fäulnisgestank, der im Dunkelwald geherrscht hatte.
Er beobachtete ein paar Minuten, wie die schwere Eisenhaspel das Seil aufrollte, und versuchte auszurechnen, wie tief der Schacht ins Erdinnere führte. Nach einer Weile gab er auf, weil ihn das Ergebnis beunruhigte, und schlenderte zum Champion hinüber.
»Ist das der einzige Weg in die Tiefe?«, fragte er leise.
»Aye, Sire«, entgegnete der Champion. »Einer der Gardisten wird als Erster nach unten fahren und die Lage erkunden.
Sobald er das Zeichen gibt, dass alles in Ordnung ist, schicke ich nach weiteren Leuten, die sich um die Winde kümmern, und wir folgen ihm.«
Eine steile Falte stand auf Ruperts Stirn. »Ich überlasse einen Mann nicht gern allein seinem Schicksal.«
»Sie sind ein Prinz«, sagte der Champion. »Sie dürfen Ihr Leben nicht unnötig aufs Spiel setzen.«
Rupert zog spöttisch eine Augenbraue hoch und wandte den Blick ab, weil in diesem Moment der Aufzug schlingernd aus dem Dunkel auftauchte. Einer der Männer fluchte leise, und der andere machte das Zeichen der Abwehr. Die aus dicken Eichenbohlen gezimmerte Plattform wirkte verschrammt und wie von Säure zerfressen, und die letzten Meter des Seils waren schwarz angesengt. Die Soldaten ließen hastig die Kurbel einrasten, und dann erstarrten alle, als aus dem Schacht ein Laut heraufdrang – ein lang gezogenes, glitschiges Saugen, das sich zu einem dumpfen Stöhnen steigerte, so tief und grollend, dass es die Felsen der Höhle zum Erzittern brachte.
Rupert trat vor und starrte grimmig die übel zugerichtete Holzplattform an. »Halten Sie sich bereit, Sir Champion! Ich begebe mich nach unten.«
»Nein, Sire!«, widersprach der Champion mit fester Stimme. »Das ist zu gefährlich.«
»Genau deshalb muss ich hinunter! Wer immer diesen Schacht anlegte, drang zu tief in die Eingeweide der Erde vor und weckte etwas, das besser ungestört geblieben wäre. Kalter Stahl allein nützt wenig gegen die Geschöpfe der Finsternis, Sir Champion! Man braucht ein Zauberschwert – wie meines.«
Die beiden Männer sahen sich an. Keiner senkte den Blick.
»Sie haben gelobt, sich meinem Befehl zu beugen«, erinnerte Rupert den Champion leise, und der verneigte sich leicht.
»Besteigen Sie den Aufzug, Sire! Wir werden das Seil immer nur ein paar Meter abrollen. Rufen Sie laut, wenn Sie in Gefahr geraten, und wir ziehen Sie sofort wieder hoch!
Falls Sie bereits so weit unten sind, dass wir Sie nicht mehr hören können, schlagen Sie zweimal mit der Flachseite Ihres Schwertes gegen das Seil!«
Rupert nickte und trat vorsichtig auf die Plattform. Das Tau knarrte, aber die verschrammten Bohlen unter seinen Füßen gaben nicht nach. »Es kann losgehen, Sir Champion!«
»Aye, Sire.« Der Champion trat zu den Männern an der Kurbel, und der Aufzug setzte sich mit einem Ruck in Bewegung.
Rupert stellte die Laterne vorsichtig auf den Rand der Plattform, um eine Hand frei zu haben. Die Schachtwände glitten langsam an ihm vorbei, angestrahlt von dem blassgoldenen Licht. Rupert sog die dumpfe Luft ein und schnitt eine Grimasse. Der Verwesungsgestank wurde stärker. Er dachte an den roten Schuh und umklammerte den Griff des Regenbogenschwertes fester. Die Plattform sank gleichmäßig tiefer, und die von Laternen erhellte Höhle schrumpfte zu einem kleinen Lichtkreis. Rupert trat unruhig von einem Fuß auf den anderen und versuchte, nicht darüber nachzudenken, wie weit er noch bis zur Sohle des Schachtes hatte. Er spähte in eine düstere Nische, die sich im Gestein zu seiner Linken befand, und schrie den Männern an der Winde zu, den Aufzug anzuhalten. Die Plattform sank noch einen Meter und kam dann abrupt zum Stillstand. Rupert hielt sich am Seil fest, um nicht zu stürzen, und suchte nach der Nische, aber sie befand sich jetzt dicht über seinem Kopf.
»Alles in Ordnung, Sire?« Die Stimme des Champions schien aus weiter Ferne zu kommen.
»Alles in Ordnung!«, schrie Rupert, so laut er konnte.
»Hebt die Plattform ein wenig an! Ich habe etwas gefunden.«
Es entstand eine Pause, ehe der Aufzug sich nach oben in Bewegung setzte. Rupert nahm die Laterne in die Hand und wartete ungeduldig, bis er auf gleicher Höhe mit der Höhle war.
»Halt!« Der Aufzug hielt mit einem Ruck. Rupert trat an den Rand der Plattform und spähte in die Höhle. Ein zerbrochener Menschenschädel glänzte gelb im Schein der Laterne.
Rupert konnte nicht sagen, ob er erst seit kurzem oder bereits seit Jahrhunderten da lag. So oder so – es war ein böses Omen. Er wog das Schwert in der Hand und rief dem Champion zu, die Plattform wieder abzusenken.
Der Aufzug schien Stunden unterwegs zu sein. Rupert hielt das Schwert so fest umklammert, dass die Finger schmerzten.
Er zwang sich, den Griff ein wenig zu lockern. Die Luft wurde schwer und feucht, und der widerlich süße Gestank drehte ihm den Magen um. Immer wieder sagte sich Rupert vor, dass aus der Bergwerksiedlung niemand mehr am Leben sein könne. Aber er musste sich Gewissheit verschaffen. Er schaute kurz nach oben, doch die Höhle war nur als schwacher Lichtpunkt zu erkennen, als winziger Stern in einer mondlosen Nacht. Und dann prallte die Plattform gegen hartes Gestein, und Rupert fiel auf die Knie. Der Aufzug hatte die Schachtsohle erreicht.
Rupert rief dem Champion zu, dass er heil in der Tiefe angelangt sei, aber es kam keine Antwort. Mit einem Achselzucken verließ er die Plattform und schaute sich um. Mehrere Stollen zweigten von der Schachtsohle ab, die Öffnungen kaum höher als einen Meter. Rupert wählte den größten Eingang und kroch auf allen vieren in den Tunnel, die Laterne in einer Hand. Ihr blassgoldenes Licht spiegelte sich in der Feuchtigkeit, die von den dunklen Felswänden perlte. Ungeschickt robbte der Prinz weiter; er verdrängte den Gedanken an die tonnenschweren Gesteinsbrocken, die über seinem Kopf hingen. Der Rücken schmerzte ihm von der ungewohnten Haltung, und das Schwert in seiner Hand schien immer schwerer und sperriger zu werden. Der Tunnelboden fühlte sich auf einmal glitschig unter seinen Händen an. Rupert hielt inne, wie gelähmt von einem furchtbaren Gedanken. Sein Magen rebellierte, als er nach unten blickte. Er war überzeugt davon, dass er Blut zu sehen bekäme, aber der zähe Schleim, der den Boden bedeckte, enthielt keine Spur davon. Rupert runzelte die Stirn, stellte die Laterne ab und verrieb ein wenig von dem Zeug zwischen den Fingern; der Schleim besaß die Klarheit von Wasser und die Konsistenz von Brei. Er hielt die Finger an die Nase, roch vorsichtig und schüttelte sich vor Ekel. Der Schleim stank nach Tod und Verwesung.
Der Stollen schien plötzlich erfüllt von dem Gestank, und Rupert rieb die Finger gegen sein Wams, bis keine Spur von der ekligen Substanz mehr daran klebte. Er atmete in kurzen Zügen und umklammerte Laterne und Schwert so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. Der Geruch und die Finsternis, die von allen Seiten auf ihn eindrang, erinnerten ihn an den Dunkelwald, und wieder vernebelte die Angst sein Denken, bis er sich allein und verloren in der Schwärze glaubte.
Panik erfasste ihn; er begann wild um sich zu schlagen und stieß mit den Armen gegen die Stollenwände. Der harte, unnachgiebige Fels war seltsam tröstlich, und er schöpfte neue Kraft aus dessen unverrückbarer Realität. Sein Atem beruhigte sich wieder, und er konnte sogar darüber lächeln, dass ihn das Dunkel erneut bis zum Rand des Wahnsinns getrieben hatte. Doch obwohl er Angst vor der Finsternis hatte – zerbrechen konnte sie ihn nicht. Noch nicht jedenfalls.
Er hielt die Laterne hoch und spähte in den engen Stollen.
Der Boden war mit feucht glänzendem Schleim bedeckt, so weit er sehen konnte. Rupert nagte unschlüssig an der Unterlippe. Er wollte weiter vordringen, und sei es nur, um sich zu beweisen, dass er kein Feigling war. Genau betrachtet, befand er sich jedoch auf einer Erkundungstour und hätte längst umkehren müssen, um dem Champion zu berichten, was er entdeckt hatte. Der Schleim beunruhigte ihn. Dämonen hinterließen keine Schleimspuren. Rupert kroch rückwärts – und erstarrte mitten in der Bewegung. Weit vorn im Dunkel hatte jemand zu singen begonnen.
Die Stimme war männlich und weiblich, beides und keines davon, und sie zog Rupert magisch an. Sie verhieß Licht und Liebe, Freundschaft und Schutz, alles, was er sich sein Leben lang gewünscht hatte, und mehr. Die Stimme war sanft, weich und verführerisch. Rupert vertraute ihr. Die Stimme rief, und Rupert kroch vorwärts. Seine Hände rutschten ab, er kippte nach vorn und schlug so hart gegen das Gestein, dass ihm die Luft pfeifend aus den Lungen entwich. Er rang nach Atem.
Süßlicher Fäulnisgestank drang ihm in die Nase und riss ihn aus seiner Benommenheit.
Rupert wurde starr vor Entsetzen, als ihm zu Bewusstsein kam, was er hier tat. Die Stimme sang immer noch, schmeichelnd und verlockend, aber Rupert kämpfte gegen sie an, weigerte sich, ihren Lügen zu glauben, selbst als sie ihm die Erfüllung seiner geheimsten Träume versprach. Und am Ende siegte er, wahrscheinlich deshalb, weil man ihn schon so oft im Leben belogen hatte und er ohnehin an nichts mehr glaubte, nicht einmal an seine eigenen Träume. Rupert lag ausgestreckt auf dem Tunnelboden, bedeckt von stinkendem Schleim und begriff endlich, warum die Bewohner der Kupferstadt ihre Häuser verlassen und in die Tiefe des Bergwerks hinabgestiegen waren.
Die Stimme hob und senkte sich, brüllend und wimmernd, als sie ihr Scheitern erkannte. Rupert hielt sein Schwert umklammert und lag vollkommen still da. Er wusste, dass es sicherer gewesen wäre, die Laterne auszublasen und im Dunkeln auszuharren, aber dazu konnte er sich nicht durchringen.
Die Stimme kreischte und gurgelte und erstarb dann mit dem grauenvollen Saugen und Stöhnen, das Rupert schon einmal gehört hatte. Die plötzliche Stille schien ihm in den Ohren zu dröhnen. Er horchte angestrengt. Weit weg begann ein kleines Mädchen zu weinen.
Rupert fluchte leise und atmete tief durch. Es war ein Trick, ein verdammt durchsichtiger Trick. Andererseits waren auch Kinder verschwunden, und wenn eines durch Zufall überlebt hatte und nun suchend durch die Stollen irrte…
Rupert schüttelte hilflos den Kopf, gefangen in einer Unschlüssigkeit, die ihm das Herz zerriss. Er dachte mit einem Schaudern an den roten Schuh, und dann fiel ihm die Puppe ein, die er immer noch unter dem Wams trug. Er spürte, wie sie vom Tunnelboden gegen seine Brust gepresst wurde, und seufzte hilflos. Nein, er hatte keine Wahl. Selbst wenn die Aussichten verschwindend gering waren, die Kleine hier drunten lebend zu finden, musste er es versuchen. Er würde sich nie verzeihen, sie im Stich gelassen zu haben. Langsam drang er weiter in den Tunnel vor und verzog angewidert das Gesicht, als ihm der kalte Schlamm durch die Finger quoll.
Im Schein der Laterne erkannte Rupert, dass auch die Wände und die Decke des Stollens mit dem grässlichen Zeug bedeckt waren. Er kämpfte sich weiter, schlitternd und rutschend, und hielt krampfhaft das Schwert hoch, damit die Klinge nicht mit dem Schleim in Berührung kam. Das Weinen des kleinen Mädchens war immer noch zu hören, einsam und verloren. Rupert wartete eine Weile, bis sein Atem sich beruhigt hatte. Das Kriechen erschöpfte ihn, und der Rücken tat ihm mörderisch weh. Es schien ihm, als sei er seit einer Ewigkeit vorwärts gekrochen, aber das Weinen war nicht näher gekommen. Er spähte über die Schulter nach hinten.
Der Tunneleingang war nicht mehr zu erkennen. Er schaute nach vorn und runzelte die Stirn. Die eigentliche Abbaugrube konnte nicht mehr weit entfernt sein. Plötzlich kam ihm zu Bewusstsein, dass das Weinen verstummt war. Er wartete und horchte, aber alles blieb still. Sie könnte überall sein, dachte Rupert. Ich muss sie f inden, ehe diese Stimme sie einf ängt.
»Hallo?«, rief er leise. »Wo bist du? Du musst nicht weinen, Kleines! Ich helfe dir…«
Die Stimme kreischte triumphierend, und Ruperts Blut erstarrte, als der Tunnelboden unter ihm ins Schwanken geriet.
Etwas kam auf ihn zu, etwas Großes und unbeschreiblich Schweres. Ein seltsamer Druck baute sich im Stollen auf; Wind streifte sein Gesicht. Rupert erkannte, dass es kein Kind gab, dass es nie ein Kind gegeben hatte. Aber tief in seiner Seele hatte er das von Anfang an gewusst; er hatte es nur nicht glauben wollen. Er ergriff die Flucht, ohne darauf zu achten, dass er sich bei seinem hastigen Rückzug die Ellbogen an den Stollenwänden wund schlug. Das Wesen, dem die Stimme gehörte, hatte seine Laterne nicht sehen können und ihm deshalb eine Falle gestellt, damit er sich verriet. Nun wusste es, wo er war.
Er kämpfte sich zurück zum Tunneleingang, hin und her geworfen von dem schwankenden Boden. Ein tiefes Pochen und Grollen drang aus dem Dunkel, beängstigend nahe, und dann stolperte Rupert aus dem Tunnel in die Aufzug-Höhle.
Die Laterne flog ihm aus der Hand und rollte bedrohlich flackernd über den Boden, ehe sie dicht neben der Plattform liegen blieb. Rupert kletterte auf das Gerüst, zog die Laterne an sich und schrie dem Champion zu, man solle ihn nach oben holen. Schmatzende, schlürfende Geräusche drangen aus dem Tunneleingang. Rupert schlug zweimal mit der Flachseite des Schwerts gegen das Seil, stellte die Laterne ab und machte sich bereit zum Kampf gegen das Ding, das ihn verfolgte. Das dumpfe, entsetzlich gierige Grollen kam näher.
Plötzlich ruckte die Plattform unter ihm und setzte sich langsam in Bewegung.
Rupert schrie den Männern zu, schneller zu kurbeln, und umklammerte verzweifelt sein Schwert. Was immer ihn in die Tiefe des Bergwerks hatte ziehen wollen, gehörte den Mächten der Finsternis an, und die einzige Antwort auf die Finsternis war Licht. Er musste den Regenbogen beschwören. Er nahm das Schwert in beide Hände und schwang es hoch über den Kopf. Furcht, Hass und Verzweiflung strömten in ihm zusammen, als er der Finsternis seine Herausforderung entgegenschrie, aber kein Regenbogen erhellte die Schwärze. Das Schwert war kalt und tot, und Rupert wusste ohne den Schatten eines Zweifels, dass er diesmal völlig auf sich selbst gestellt war. Kein Regenbogen würde ihm helfen. Rupert senkte langsam das Schwert und starrte es wie betäubt an.
Niemand hatte ihm je die Zusicherung gegeben, dass der Zauber mehr als einmal wirken würde; er hatte es einfach vermutet. Und er hatte falsch vermutet. Ruperts Hände zitterten plötzlich. Panik stieg in ihm auf, und er rang keuchend nach Luft. Bis jetzt war ihm nicht bewusst gewesen, wie sehr er sich auf das Regenbogenschwert verlassen hatte. Das Gefühl, einen Trumpf im Ärmel zu haben, hatte ihm Selbstvertrauen und eine nie gekannte Sicherheit verliehen. Rupert schüttelte heftig den Kopf, um die wachsende Panik zu verdrängen. Nun gut, dann war das Schwert eben keine Zauberwaffe. Er würde die Finsternis in der gewohnten Weise bekämpfen müssen. Das hatte er schon einmal getan; er konnte es ein zweites Mal tun. Und dann ertönte unmittelbar unter ihm ein Sabbern und Stöhnen. Etwas rammte die Unterseite der Plattform, sodass er das Gleichgewicht verlor.
»Schneller!«, schrie Rupert den Männern zu. »Zieht mich hoch! Zieht mich hoch!« Die Plattform schwankte und drohte nach einer Seite zu kippen, pendelte sich aber wieder aus, als sie an Fahrt gewann und das Geschöpf der Finsternis zurückblieb. Rupert starrte ängstlich in den Schacht hinauf. Der Lichtkreis der Öffnung kam immer näher. Es würde knapp werden. Er riss die Laterne an sich und machte sich bereit, von der Plattform zu springen, sobald sie auf gleicher Höhe mit dem Boden der Höhle war. Tief im Schacht geiferte das Geschöpf, stöhnte vor Hunger und Gier.
Es f olgt mir im Schacht nach oben, dachte Rupert wie betäubt. Was ist es? Was zum Henker ist es?
Die Plattform ratterte aus dem Schacht und in die Höhle.
Rupert warf sich zur Seite und rollte auf dem harten Boden ab. Irgendwie gelang es ihm, Schwert und Laterne festzuhalten. Er rappelte sich hoch, schrie den verdutzten Gardisten an der Haspel eine Warnung zu – und dann krachte etwas von unten gegen die Plattform. Die robusten Eichenbohlen zersplitterten, als das Geschöpf der Finsternis aus dem Schacht hervorbrach. Silbergrau und von einem unheimlichen Lichtschein umgeben, stürzte es sich auf die Männer, die nicht einmal Zeit zum Schreien fanden. Zuerst dachte Rupert, es sei so etwas wie ein ungeheuerlicher Wurm, aber nachdem es sich aus der Enge des Schachtes gezwängt hatte, sah er, wie das schimmernde Fleisch nach allen Seiten auseinander floss.
Die Kreatur besaß keine feste Gestalt, sondern nahm die Form an, die ihm gerade am meisten nützte. Plötzlich war der Champion an seiner Seite, packte ihn an der Schulter und schob ihn mit aller Kraft in den Tunnel, der an die Oberfläche führte. Rupert erwachte aus seiner Erstarrung und rannte los, dicht gefolgt vom Champion des Königs. Einmal schaute der Prinz zurück; das perlmuttglänzende Fleisch füllte die ganze Höhle aus und quoll bereits in ihren Fluchttunnel. Rupert stieß einen rauen Fluch aus und lief schneller. Der Champion hob die Laterne, um die Entfernung bis zum Ausgang abzuschätzen.
»Wir schaffen es nicht, Sire. Wir müssen anhalten und kämpfen.«
»Es wird uns umbringen!«
»Wenn Sie einen besseren Vorschlag haben – bitte.«
Das Schlabbern und Stöhnen hinter ihnen brach sich an den Felswänden; das Ding grunzte wie ein Schwein am Futtertrog. Rupert warf verzweifelte Blicke nach allen Seiten, während er weiterrannte.
»Die Tunnelstützen!«, rief er plötzlich. »Das Holz ist ohnehin halb verfault. Wenn wir einen Teil der Stempen einrei
ßen, kracht die Decke herunter. Das müsste die Bestie aufhalten.«
Er kam schlitternd zum Stehen und hieb mit dem Schwert auf den nächstbesten Pfosten ein. Die Klinge sank tief in das schwammige Holz und steckte fest. Fluchend zerrte er sie heraus. Der Champion hatte die gegenüberliegende Stütze mit einem einzigen Schlag seiner Streitaxt gefällt. Rupert hieb weiter auf den störrischen Pfosten ein, bis er das Holz endlich durchtrennt hatte. Die Decke knackte, und Staub rieselte in den Tunnel. Der Champion zertrümmerte die nächste Stütze.
Rupert drehte sich kurz um und erstarrte. Das Ding wogte heran wie eine Springflut. Schäumend und wirbelnd, eingehüllt in unheimliches graues Licht, wälzte es sich durch den Tunnel. Umschlossen von seinem halb durchsichtigen Fleisch taumelten und rollten die schlaffen Körper der beiden Soldaten hin und her, und Rupert wusste endlich, was den Bewohnern der Kupferstadt widerfahren war.
Hinter ihm hieb der Champion wieder eine dicke Stütze um, und die Decke knirschte bedrohlich. Das Geräusch riss Rupert aus seiner Erstarrung, und er hetzte den Tunnel entlang, um den nächsten Stempen zu kappen. Das modrige Holz zersplitterte beim ersten Streich, und die Decke sackte ein.
Staub und Felsbrocken prasselten nieder, als das Gestein über ihnen ins Rutschen geriet. Rupert und der Champion rannten los. Hinter ihnen stürzte krachend die Tunneldecke ein. Eine dichte Staubwolke umgab sie, als sie den Ausgang erreichten, und das Poltern der Felstrümmer war noch lange zu hören.
Rupert wankte in die frische Nachtluft hinaus und sank völlig erschöpft zu Boden. Der Champion blieb kurz neben ihm stehen und begab sich dann zu den wartenden Männern, um ihnen zu berichten, was geschehen. Der Prinz lehnte sich gegen die Holzwand des Haupteingangs und horchte auf das gedämpfte Rumpeln der Steine im Tunnel. Er hätte keine Körperstelle zu benennen gewusst, die nicht schmerzte, aber er lebte und war unversehrt. Ein breites Grinsen überflog seine Züge. Er atmete tief durch und genoss die reine Luft nach dem grässlichen Fäulnisgestank in der Grube. Nach einer Weile bemerkte er, dass er immer noch sein Schwert und die Laterne umklammert hielt. Er stellte die Laterne neben sich und betrachtete nachdenklich die Waffe. Offenbar war der Zauber aus dem Regenbogenschwert gewichen – und in gewisser Weise erleichterte ihn das. Als er das letzte Mal gegen die Mächte der Finsternis gekämpft hatte, war ihm ein Regenbogen zu Hilfe gekommen. Diesmal hatte er sich selbst gerettet. Und das Wissen, dass er dazu imstande war, bedeutete ihm viel. Er überlegte einen Moment lang, ob er das Regenbogenschwert durch eine Klinge ersetzen sollte, die besser zum Nahkampf geeignet war, entschied sich aber dagegen. Das Schwert hatte einen scharfen Schliff und lag gut in der Hand. Außerdem war er es gewohnt. Rupert schob es in die Scheide und streckte sich ausgiebig. Er fand es großartig, noch am Leben zu sein.
Das Rumpeln im Innern des Bergwerks schien kein Ende zu nehmen, und Rupert wurde gegen seinen Willen unruhig.
Unzählige Tonnen herabgestürzten Gesteins lagen zwischen ihm und dem Geschöpf der Nacht. Es war unmöglich, diese Barriere zu überwinden… Rupert packte die Laterne, richtete sich mühsam auf und spähte in das Dunkel des Tunnels. Tief in seiner Seele wuchs die furchtbare Ahnung, dass der Kampf noch nicht vorbei war. Er dachte nach, was er von diesem Wesen wusste, und seine Miene verdüsterte sich. Es besaß keine feste Form, sondern konnte sein Äußeres der Umgebung anpassen. Es bewegte sich schlängelnd und wogend fort, als sei sein unnatürliches Fleisch fest und flüssig zugleich – oder etwas ganz anderes. Im Geiste sah Rupert noch einmal, wie es die Eichenbohlen zersplitterte und die Aufzug-Plattform durchdrang, ohne eine Sekunde langsamer zu werden.
Rupert stieß einen leisen Fluch aus. Er wusste, dass dieses Ding tot war, zerquetscht unter Tonnen von herabgestürztem Gestein. Er wusste es, aber er musste es mit eigenen Augen sehen, um ganz sicher zu sein. Er zog sein Schwert, hielt die Laterne hoch und betrat den Tunnel. Blinzelnd starrte er durch den Staub, der sich langsam senkte. Plötzlich stand der Champion neben ihm.
»Was haben Sie vor, Sire?«
»Ich gehe nur ein Stück den Tunnel entlang.«
»Das ist nicht sicher.«
»Solange dieser Tunnel nicht vollständig versiegelt ist, dürfte keiner von uns sicher sein. Ich will mich nur kurz umsehen…«
Der Champion musterte ihn und verbeugte sich knapp. »In Ordnung, Sire. Aber warten Sie, bis ich ein paar Männer ausgewählt habe, die uns begleiten.«
»Nein!« Rupert war über die Heftigkeit seiner Reaktion selbst erschrocken, und als er weitersprach, klang seine Stimme ruhig und beherrscht. »Wir haben bei unserer ersten Erkundung des Bergwerks vier Leute mitgenommen, Sir Champion. Sie sind tot – noch ehe ich dazukam, sie nach ihrem Namen zu fragen. Der Rest der Tunneldecke könnte jeden Moment in die Tiefe stürzen, und ich möchte nicht noch mehr Menschenleben unnötig aufs Spiel setzen. Ich selbst kehre nur um, weil ich mir Gewissheit verschaffen muss.«
»Dann komme ich mit«, erklärte der Champion ruhig.
»Auch ich muss mir Gewissheit verschaffen.«
Rupert nickte und drang in den schräg abfallenden Tunnel vor, Seite an Seite mit dem Champion. Die Luft im Tunnel war immer noch voller Staub. Decke und Wände knirschten bedrohlich. Rupert und der Champion hatten die Einsturzstelle bald erreicht – einen unregelmäßigen Wall aus Gesteinsbrocken, Erde und geknickten Holzbalken. Der Champion schaute sich misstrauisch um, während sich Rupert vorsichtig der unüberwindlichen Barriere näherte. Er stach hier und dort mit dem Schwert in den Trümmerhaufen, aber nichts gab auch nur einen Zentimeter nach. Stille herrschte in dem engen Tunnel, nur gelegentlich von einem leisen Wispern unterbrochen, wenn Erdreich durch Risse in der eingesackten Decke rieselte.
»Kommen Sie zurück, Sire!«, sagte der Champion ruhig.
»Es ist aus und vorbei.«
»Nein«, entgegnete Rupert, »das glaube ich nicht. Ich höre etwas… da unten bewegt sich etwas…«
Er wich zurück, den Blick immer noch auf den Schutt gerichtet, als ein einzelner Felsblock am oberen Rand der Barriere ganz langsam nach vorn kippte und in den Tunnel krachte. Und durch die Lücke, die er hinterließ, quoll ein Strang silbrig glänzenden Fleisches. Von jenseits der Barriere kam ein ohrenbetäubendes Geheul, erfüllt von Triumph und Blutgier, das sich zu einem sonoren Brüllen steigerte. Der Champion hob die Streitaxt, senkte sie mit einem Achselzucken und sah Rupert unschlüssig an.
»Was sollen wir gegen dieses Wesen ausrichten, wenn ihm der Deckeneinsturz nichts anhaben konnte, Sire? Verschwinden wir von hier! Falls es uns gelingt, die Pferde zu erreichen, können wir uns vielleicht den nötigen Vorsprung verschaffen.«
»Nein!«, knurrte Rupert. »Wir müssen die Entscheidung hier herbeiführen. Im Tunnel besitzt das Ding wenigstens eine überschaubare Größe. Wenn es hingegen ins Freie gelangt…«
Der Champion nickte. Plötzlich überflog ein hartes Grinsen sein Gesicht. »Ich habe mich noch selten vor einem guten Kampf gedrückt. Wie lauten Ihre Befehle, Sire?«
Die Barriere löste sich auf, als silbrig graues Fleisch die kleineren Felsbrocken umhüllte und verschlang. Immer näher floss das gestaltlose Wesen, während Rupert verzweifelt überlegte, was sie tun sollten. Es war ein Geschöpf der Finsternis, und die Finsternis wich dem Licht. Das Regenbogenschwert hatte ihn im Stich gelassen, aber die Laterne vielleicht… Mit einem Sprung war er an der Barriere und schob die Laterne vorsichtig in den Weg eines tastenden Silbertentakels. Ohne sich um das Licht zu kümmern, schnellte das Tentakel in Ruperts Richtung. Er schwang das Schwert mit beiden Händen, und die Klinge durchschnitt das fahle Fleisch ohne nennenswerten Widerstand. Der Prinz lächelte grimmig, als das abgetrennte Ende zu Boden klatschte, doch im gleichen Moment stieß der Champion einen Warnschrei aus, und Rupert fuhr herum. Breite Risse taten sich in der Barriere auf, und das Geschöpf brach an einem Dutzend Stellen gleichzeitig durch. Rupert und der Champion wichen zurück, und das Ding floss hinter ihnen her. Ein Silbertentakel glitt über die Laterne und hüllte sie ein. Ruperts Mut sank. Und dann brüllte das Geschöpf auf und schleuderte das Tentakel von sich, als das silbrige Fleisch plötzlich in Flammen stand. Das abgelöste Glied zuckte schwach, während das Feuer es rasch verzehrte und nichts außer einem widerwärtigen Gestank zurückließ. Natürlich, dachte Rupert und unterdrückte ein wildes Lachen. Feuer – der älteste Verbündete des Menschen gegen die Nacht!
»Öllampen!«, schrie er dem Champion zu. »Holen Sie ein paar Öllampen!«
Der Champion nickte kurz und rannte zurück zum Eingang. Rupert hob sein Schwert. Voller Argwohn studierte er die Kreatur in dem grauen Licht, das von ihr selbst ausging.
In der Barriere, die den Tunnel blockierte, klaffte ein Dutzend Spalten, und das silbrige Fleisch quoll unaufhaltsam durch die Öffnungen. Felsbrocken, Erde und Holz knirschten bedrohlich, als das Ding sein enormes Gewicht gegen das Hindernis presste, und Rupert wusste, dass es nur noch kurze Zeit dauern konnte, ehe der Wall einstürzte und der Feind sich wie eine Springflut durch den Tunnel wälzte. Falls der Champion bis dahin nicht zurück war, hatte er selbst nicht die geringste Hoffnung, nach draußen zu fliehen. Rupert trat vorsichtig den Rückzug an, doch schon nach wenigen Schritten kam ihm der Champion mit einem Dutzend Männern entgegen. Alle trugen Öllampen.
»Sehr gut«, sagte Rupert knapp. »Schüttet das Öl auf dem Boden aus und lauft dann zurück, um neue Lampen zu holen!
Rasch – wir haben nicht viel Zeit!«
Die Soldaten warfen sich besorgte Blicke zu, aber sie gehorchten, und schon bald breitete sich auf dem Tunnelboden eine riesige Ölpfütze aus. Jenseits der Barriere stöhnte das Geschöpf der Finsternis, begleitet vom Knirschen und Poltern der Gesteinsbrocken. Rupert schickte die Männer nach oben und musterte den Ölteppich, der zwischen ihm und dem Ding lag.
»Glauben Sie, das reicht, Sir Champion?«
»Wenn nicht, werden wir es bald merken, Sire.«
Rupert wandte sich lachend dem alten Kämpfer zu. »Geben Sie mir Ihre Laterne und gehen Sie dann zu den anderen!«
»Öl in Brand zu stecken ist mein Job«, erklärte der Champion ruhig.
»Diesmal nicht.«
Die beiden Männer sahen einander an, und der Champion verbeugte sich knapp.
»Ich warte am Eingang, Sire. Bleiben Sie nicht zu lange!«
Rupert nickte ihm dankbar zu. Der Champion drehte sich um und stapfte wortlos zum Ausgang. Rupert schob seine Waffe ein, kniete neben der Ölpfütze nieder und beobachtete, wie die Barriere langsam zerbröckelte. Er wusste selbst nicht genau, warum er den Champion weggeschickt hatte; er wusste nur, dass er diese Mission selbst erfüllen musste. Und sei es nur, um sich zu beweisen, dass er kein Zauberschwert brauchte, um tapfer zu sein. Die Steine und Erdbrocken der Barriere verrutschten. Rupert öffnete die Laterne und holte den brennenden Kerzenstummel heraus, aber dann zögerte er.
Wenn er sich bückte, um die Ölpfütze mit der Kerze zu entfachen, loderte vielleicht eine Stichflamme auf, die ihn erfasste; wenn er dagegen die Kerze aus einiger Entfernung in das Öl warf, würde der Luftzug sie vermutlich auslöschen. Und dann durchbrach das Geschöpf mit lautem Triumphgeheul den Schutt und wälzte sich den Tunnel entlang auf ihn zu.
Rupert sah der Flut angstvoll entgegen. In der silbrig glänzenden Masse trieben dunkle Schemen, die einst Menschen gewesen waren, manche nicht größer als Kinder… Und plötzlich fiel ihm die Lösung ein. Mit zitternden Fingern griff er in sein Lederwams und zerrte die Stoffpuppe hervor, die er in dem verlassenen Haus gefunden hatte. Er tauchte ihren Kopf in das Öl, stand auf und hielt die Kerze an die Lumpenhaare, bis sie in hellen Flammen standen. Rupert schaute auf.
Das Geschöpf hatte ihn fast erreicht. Es füllte den Tunnel vom Boden bis zur Decke und von Wand zu Wand. Das dumpfe Stöhnen hatte einen aufgeregten Rhythmus angenommen, der ihm durch Mark und Bein ging. Rupert warf die brennende Puppe in das Öl, wandte sich um und rannte zum Ausgang.
Eine Hitzewoge versengte ihm den Rücken, als die Pfütze Feuer fing. Der Stollen war plötzlich taghell erleuchtet. Und dann begann das Ding so schrill und laut zu kreischen, dass Rupert entsetzt stehen blieb und beide Hände gegen die Ohren presste. Er schaute zurück und sah das Geschöpf der Finsternis brennen, heller als die hellste Lampe. Es wand sich und bäumte sich auf, während die Flammen es von innen her zerfraßen. Es versuchte in den Tunnel zurückzuweichen, aber das Feuer folgte ihm, und die Flammen loderten noch heller, bis Rupert in dem gleißenden Licht kaum noch etwas sehen konnte. Er rannte weiter, getrieben von der sengenden Hitze.
Plötzlich erfasste ihn die Druckwelle einer gewaltigen Explosion, schleuderte ihn ein Stück durch den Tunnel – und dann war alles dunkel.
Eine Weile lag er auf der gestampften Erde des Tunnelbodens, ohne sich zu rühren, nur erleichtert, dass er noch am Leben war. Der Kopf schmerzte ihn, und die Ohren dröhnten ihm vom Explosionsknall, aber ansonsten schien er unversehrt zu sein. Er rappelte sich mühsam hoch, halb erstickt von dem dichten, beißenden Rauch, der den engen Tunnel füllte, und tastete sich durch das Dunkel zurück zum Ausgang. Die wartenden Soldaten jubelten ihm zu, als er ins Freie taumelte, und Rupert hob matt die Hand, ehe ihm die Knie nachgaben und er sich niederkauerte, um nicht nach vorn zu kippen.
Rupert lehnte mit dem Rücken an einer Mauer und schloss erschöpft die Augen. Er fand, dass er eine kleine Ruhepause verdient hatte. Der Champion trat neben ihn und legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Ich gehe davon aus, dass dieses Ding verbrannte, Sire.«
»Sagen wir so – es brannte.«
»Glauben Sie, dass es tot ist?«
»Man sagt, dass Feuer läutert… Nein, Sir Champion, es ist nicht tot. Wir haben es verwundet und zurückgetrieben, zurück in die Tiefe, in die Finsternis, in die geheimen Schlupfwinkel der Erde, aus denen es hervorkroch.«
Rupert erhob sich mühsam, spähte kurz in den Eingang des Bergwerks und wandte sich ab. Der kühle, frische Wind, der hier draußen blies, trug den Gestank von Fäulnis und Verwesung fort wie eine flüchtige Erinnerung.
»Dass Sie freiwillig und allein zurückblieben, um das Öl in Brand zu stecken, war sehr mutig, Sire«, sagte der Champion.
Rupert zuckte verlegen die Achseln. »Wir wollen Ihre Tapferkeit nicht vergessen, Sir Champion.«
»Ich habe nur meine Pflicht getan.«
Rupert dachte an die Angst, die das Bergwerk dem Champion eingeflößt hatte, aber er schwieg.
»Schade, dass wir niemanden aus der Bergwerksiedlung retten konnten«, meinte der Champion.
»Es war schon zu spät, als wir hier eintrafen«, erklärte Rupert. »Keine schöne Heimkehr für Sie, nicht wahr?«
Der Champion ließ die Blicke über die Männer schweifen, die eifrig hin und her liefen. Seine Miene war undurchdringlich wie immer. »Meine Heimat war und ist die Residenz des Waldkönigreichs. Welche Order haben Sie für die Kupfermine, Sire?«
»Die Männer sollen auch den Rest des Tunnels niederrei
ßen und den Eingang vollständig verbarrikadieren, Sir Champion! Ich bezweifle zwar, dass wir diese Kreatur damit für immer einsperren können, aber wir verhindern zumindest, dass es weitere Opfer in die Tiefe lockt.«
Der Champion nickte und entfernte sich, um den Gardisten die entsprechenden Befehle zu erteilen. Rupert sah ihm nach.
Seine Rechte ruhte auf dem Griff des Regenbogenschwerts.
Nun, da sich die Wunderklinge als nutzlose Waffe gegenüber der Finsternis erwiesen hatte, war es wichtiger denn je, den Großen Zauberer zur Rückkehr ins Waldkönigreich zu bewegen.
Rupert hob fröstelnd den Kopf und betrachtete die Sichel des zunehmenden Mondes. Sie wies bereits schwache bläuliche Schatten auf, wie die ersten Anzeichen von Aussatz.