6

Kurz bevor Klawdi den Platz des Siegreichen Sturms er­reichte, blinkte das rote Licht in seinem Auto auf. Der Not­ruf. Klaw hatte es allen untersagt, ihn während einer Fahrt zu benachrichtigen, falls die Sache warten konnte. Manchmal träumte er nachts von diesem roten Lämpchen, wie es sein perfides, stechendes Alarmsignal aussandte.

»Nieder mit dem Abschaum«, erklang die vor Aufregung schrille Stimme des Kollegen aus der Zentrale. »Ein Signal. Von der Gräfin. Ein rotes Signal.«

»Stellen Sie durch«, verlangte Klaw sachlich. »Woher kommt der Anruf?«

»Aus der Oper.«

»Schickt eine bewaffnete Einheit hin. Ich bin in zehn Minuten da.«

Er legte den Hörer nicht auf, sondern warf ihn auf den Beifahrersitz. Mit geschlossenen Augen rief er sich die Karte des Stadtzentrums ins Gedächtnis. Er riss das Steuer herum. Auf dem Rücksitz stöhnte Ywha leise.

Die Gräfin war Helena Torka. Eine Informantin konnte sie per definitionem nicht sein. Klawdi hatte denn auch nie einen Tipp von ihr erwartet. Den Decknamen hatte er ihr bloß so gegeben, der Ordnung halber. Ein rotes Signal von ihr bedeutete, dass sie einen Panikanfall erlitten hatte.

Die junge Frau auf dem Rücksitz sagte kein Wort. Klugerweise enthielt sie sich obendrein jeder Frage.

»Wir fahren in die Oper«, brummte Klawdi.

Die Räder holperten über Kopfsteinpflaster. Kurz darauf folgte wieder Asphalt. Klawdi überholte geschickt erst eine nilpferdgroße Limousine, anschließend einen Laster, dann …

»Ich habe immer gedacht, Sie seien ein schlechter Autofahrer«, flüsterte Ywha.

Klawdi verringerte die Geschwindigkeit, damit die Ampel vor ihm von Rot auf Grün umspringen konnte. Anschließend gab er Gas und huschte zweimal bei Gelb rüber. Schon sahen sie das massive, elfenbeinfarbene Opernhaus im pseudoklassizistischen Stil, dessen Fassade ein kupfernes Stadtwappen schmückte, in voller Größe vor sich. Vorm Haupteingang ballte sich eine Menschentraube. Bis zum Beginn der Abendvorstellung war es noch eine Stunde.

Klawdi widerstand der Versuchung, den Graf unmittelbar vor dem Theater auf dem Gehsteig zu parken, denn das Auftauchen eines vierrädrigen Gefährts hätte hier wie ein Blitz aus heiterem Himmel gewirkt; es wäre jedoch unklug, vorzeitig für Schlagzeilen zu sorgen — denen sie am Ende sowieso nicht entkommen dürften.

Klawdi hielt am Straßenrand, direkt unter einem Halteverbotsschild, und stellte den Motor ab. Sein Auto war bereits bemerkt worden. Allerdings wäre der grüne Graf wohl auch dann gesehen worden, wenn er auf den Parkplatz vor dem Bühneneingang gefahren wäre. Immerhin hatte er den Vorteil der Überraschung auf seiner Seite.

Er biss die Zähne aufeinander. Wie viele Hexen es in diesem Haus gab! Initiierte. Aktive. Er wollte einfach nicht glauben, dass so viele Hexen in Freiheit waren, noch dazu an ein und demselben Ort.

»Ich habe Angst«, gestand Ywha hinter ihm.

Sie spürt es ebenfalls, schoss es ihm durch den Kopf, auch wenn sie ihre Gefühle noch nicht zu deuten vermag.

»Warte hier im Auto«, sagte er sachlich. »Oder nein. Komm mit mir mit. Aber bleib an meiner Seite …«

Synchron hielten rechts, links und etwas abseits, auf dem Parkplatz vorm Bühneneingang, drei völlig unauffällige Autos. Klawdi nickte kaum merklich. So sah eine Sondereinheit aus: entweder wie ein Autobus voller Touristen oder wie ein Lieferwagen, der Pralinen fürs Büfett brachte.

Ob er mit seinem Erscheinen vor Ort der alten internen Diskussion, ob ein Großinquisitor persönlich an Einsätzen teilnehmen solle, neue Nahrung gab?

Aber was blieb ihm anderes übrig — wenn dieser Einsatz durch ein rotes Signal von Helena Torka ausgelöst wurde?

Zum Opernensemble gehörte ein halbes Dutzend tauber, also nicht initiierter Hexen. In der Ballettschule waren es zehn. Keine von ihnen war aktiv, zumindest laut Bericht nicht. Woher kamen all die Hexen jetzt also?

Es war wie immer. Die Theaterbesucher warteten bereits eine Stunde vor Vorstellungsbeginn darauf, dass die hohen Türen geöffnet wurden. Alles war wie immer — nur dass sich die Türen nicht öffneten. Im Grunde war selbst das keine Sensation, so etwas kam vor, das nahmen die Besucher hin. Sogar wenn sich eine halbe Stunde vor Beginn nichts tat, murrten sie noch nicht.

»Gehen wir.«

Sie nahmen den Bühneneingang.

»Ihre Papiere, meine Herrschaften?!«, verlangte eine Alte mit faltigem, herrischem Gesicht am Drehkreuz.

»Die Inquisition der Stadt Wyshna.« Klawdi schlug die Manschette zurück und zeigte die funkelnde Dienstmarke. »Rühren Sie sich nicht von der Stelle.«

Ein Opernhaus ist ein besonderer Ort. Die Alte wusste nur allzu gut, was es mit dem Wort »Inquisition« auf sich hatte, weshalb sie sich sogleich auch schweigend in den Schatten zurückzog.

Ywha rannte neben Klawdi her, der nach jemandem Ausschau hielt, dem er sie überantworten konnte. Der Chef der Sondereinheit war bereits vor Ort, in seinen Augen stand eine unausgesprochene Frage. Ihn interessierte, wer diesen Einsatz leitete.

»Sie«, sagte Klawdi. »Sie können auch über mich verfügen. Das Mädchen … bleibt bei mir. Ich muss sie im Auge behalten.«

Der Leiter nickte. »Dann würde ich Sie bitten, sich der Torka anzunehmen … Patron.«

»Gehen wir.« Klawdi zog Ywha in einen Seitengang. Jetzt kam ihm zupass, dass er sich in weiser Voraussicht mit der Architektur hinter den Kulissen der Wyshnaer Oper vertraut gemacht hatte.

Ywha entriss ihm ihre Hand nicht. Sie ertrug seinen eisernen Griff — und zitterte. Nervös. Das hier war kein Ort für sie. Er hatte sie nicht ohne Aufsicht lassen wollen, aber es wäre auf jeden Fall vernünftiger gewesen, als sie hier mit herzuschleppen, wo es — das witterte er — Unmengen von starken und aktiven Hexen gab. Bislang ging von ihnen jedoch noch keine akute Gefahr aus.

Sie kamen an einer Schar Frauen in Uniform vorbei, an einem dicken Mann, der in einer nicht minder dicken Tasche kramte, an zwei sehr großen Männern in Trikots, die nebeneinander auf dem Fensterbrett saßen. Und an einer Tafel mit Inseraten, einer Treppe, die zum Büfett führte und schließlich an einer Halle mit Teppichen und Ficusbäumen. Eine halb offen stehende Tür, die zum Saal mit den Spiegelwänden wies, in dem Ballettschuhe aufs Parkett klatschten, ignorierte er. Ebenso wie das Dutzend Türen, hinter denen man sich mit gedämpfter Stimme unterhielt, wo man umherlief, lachte und sich beschimpfte. Es folgte ein weiterer Saal, dann blieb Klawdi endlich vor einer polierten Tür mit einer gestrengen Tafel stehen. Er klopfte an, betrat den Raum jedoch sofort, ohne eine Antwort abzuwarten. Ywha stolperte über die Schwelle. Aus unerfindlichen Gründen war sie sich sicher gewesen, dass die Tür verschlossen war.

»Frau Torka!«

Das Vorzimmer war leer. Auf dem Schreibtisch der Sekretärin stand eine Tasse mit Tee, lag eine zerknitterte Quittung mit einem Firmenlogo in der rechten oberen Ecke; zwei Türen gingen von dem Zimmer ab, eine nach rechts, eine nach links. Das Telefon war ausgestöpselt. Ywha roch etwas. Auch Klawdi entging der Geruch von Herztropfen nicht. Ein flüchtiger, bereits verwehter Geruch.

Die Tür rechts. Leer. Hier war die Torka nicht, was Klawdi aber nicht weiter erstaunte; seltsam schien bloß, dass sie die Tür nicht abgeschlossen hatte.

Die Tür links.

Ein Damenjackett, über die Lehne eines Schreibtischstuhls geworfen. Durchwühlte Schubfächer des Schreibtischs. Spuren einer brutalen Durchsuchung oder einer sorgfältigen Verwüstung. Ob Helena die Liste mit den Namen der verhafteten Hexen aufgesetzt hatte? Und wenn ja, wo bewahrte sie sie auf?

Das Kabel des Telefons war akkurat abgeschnitten. Daneben lag ein Schlüsselbund mit einem Anhänger in Form einer Hühnerkralle. Er wog schwer in der Hand.

Klawdi überlegte kaum. »Komm her, Ywha.«

Die junge Frau betrat das Büro. Klawdi schubste sie in Richtung Tisch. »Bleib hier. Ich hole dich nachher wieder ab.«

Ihre Augen weiteten sich entsetzt. »N-nein … ich …«

»Es dauert nicht lange.«

Er drehte den Schlüssel zweimal im Schloss um. Entgegen seiner Befürchtung fing die Frau weder zu weinen noch zu brüllen an. Kein Wort, kein Seufzer kam über ihre Lippen. Mit einem Mal fühlte er sich unwohl. Als sähe man ihn mit tadelndem Blick an und er wäre nicht imstande, sich wegzudrehen.

»Ich bin gleich wieder da«, teilte er der verschlossenen Tür mit.

Der gewohnte Ablauf im Theater war bereits gestört, durcheinander geraten, überstürzt zu Ende gebracht worden und hatte sich jetzt Gott weiß wohin verzogen. Die Türen zu den Garderoben standen sperrangelweit offen, in allen Ecken ließ sich eine sachliche und betont gelassene Lautsprecherstimme vernehmen: »An alle Angehörigen des Theaters ergeht die Bitte, in den Garderoben zu bleiben. Bleiben Sie bitte in Ihren Garderoben. Die Vorbereitungen für die Vorstellung sind eingestellt. An alle Angehörigen des Theaters ergeht die Bitte, in den Garderoben zu bleiben. Kommen Sie nicht in die Gänge hinaus, bleiben Sie in Ihren Garderoben.«

Der Sprecher war mit der Befehlstechnik offenbar gut vertraut. Zumindest vorläufig gehorchte man ihm. In den Gängen herrschte gähnende Leere, Klawdi lief sie, begleitet von verängstigen Blicken, hinunter. Aus einer Tür blickte eine ältere Dame, die mit beiden Armen purpurrote Mäntel umklammerte, wie sie Schurken trugen. »Junger Mann …«

Als sich Klawdi der Frau zuwandte, prallte diese zurück. Der Inquisitor wusste, dass er, wenn er sich auf einen Kampf vorbereitete, extrem widerwärtig aussah. Dafür brauchte er nicht einmal einen purpurroten Mantel!

Den Chef der Sondereinheit fand er in einem mit Ankündigungen gespickten Büro. Zwei in einer Ecke kauernde Frauen und ein Mann im Frack beäugten scheu das Funkgerät in den Händen des ungebetenen Gastes.

»Wir haben sie abgefangen, Patron. Die Mädchen. Neun insgesamt. Aus der Abschlussklasse.«

»Sind sie aktiv?«

»Nein, Patron. Sie sind durch die Bank taub. Genau wie im Dossier vermerkt. Die Vorstellung ist abgesetzt. Die Zuschauer werden nicht eingelassen. Wir durchkämmen gerade sämtliche Etagen.«

»Die Torka ist nicht in ihrem Büro. Sind Sie sicher, dass sie sich noch im Theater befindet?«

»Alle haben sie kommen sehen. Aber niemand hat gesehen, dass sie das Theater verlassen hätte. Ihr Auto steht auch noch auf dem Parkplatz.«

»Wie viele sind es Ihrem Gefühl nach, Kosta?«

Der Chef der Sondereinheit verengte die Augen zu Schlitzen. Einige der Fähigkeiten eines Inquisitors im Außendienst — und die Witterung gehörte dazu! — überstiegen sogar die des Großinquisitors: Kosta verhörte die Hexen nicht, er fing sie ein.

»Viele, Patron. Hier in diesem Gebäude halten sich viele auf … fünf oder sechs. Und bisher haben wir keine Einzige von ihnen gefunden.«

»Ist das Gebäude umstellt?«

Der Leiter verdrehte die Augen, im Grunde eine Unbotmäßigkeit, dafür jedoch eine Geste, die jeden Zweifel an der Professionalität seiner Einheit ausräumte.

»Gut, Kosta. Machen Sie sich an die Arbeit. Ich werde die Torka suchen.«


Er witterte die Hexe schon, als er die marmorne Zuschauertreppe in den dritten Rang hochstieg. Er witterte sie klar und deutlich. Offenbar eine Kampfhexe. Wie nah sie sich doch hatte unbemerkt an ihn heranschleichen können!

Er biss die Zähne aufeinander, um der Gegnerin einen mentalen Befehl zu senden. Die Reaktion erfolgte in Form eines kurzen Aufschreis. Klawdi folgte dem Geräusch, riss den Vorhang zurück, stürmte zur nächsten Treppe, die für den Notfall gedacht war. Unten klackerten sich rasch entfernende Absätze.

»Stehen geblieben!«

Die Türen, die zum zweiten Rang führten. Zum ersten. Zur Parkettloge. Ein rotes Kleid, das zwei Treppenabsätze weiter unten aufschimmerte.

Ein verzweifelter Schrei im Saal. Auf der Bühne. Fast unmittelbar darauf roch es nach Rauch.

Die verfolgte Hexe blieb stehen. Klawdi witterte das, witterte, wie sie stehen blieb, dort unten, ein Stockwerk tiefer, als wolle sie sehen, wie der Großinquisitor auf das Feuer reagierte. Für wen hielten die sich eigentlich!

»Feuer!«

Er hatte die Tür zur Loge fast erreicht. Der riesige, prachtvolle Saal verschwamm im Halbdunkel. Der Vorhang war hochgezogen, sodass er sich an der üppigen, leicht pompösen Kulisse für die Ballettpremiere ergötzen konnte. Ein Palast aus Brokat, ein Kerker aus Samt, ein Sonnenunter- oder -aufgang aus rosafarbenem Tüll.

Und schwarzer Rauch. Obwohl die Dekoration mit einem Brandschutzmittel behandelt worden war, brannte sie wie Zunder.

»Feuer!«

Die Sirenen heulten los. Ein Mann mit einem schaumspuckenden Handfeuerlöscher sprang auf die Bühne. Ihm folgte ein zweiter, schließlich ein dritter …

Der Rauch stieg auf. Die Gipsgesichter an der Decke büßten ihre Blässe ein, in die zuvor ausdruckslosen Augen trat eine fast menschliche Müdigkeit. Oder kam das Klawdi nur so vor?

Die Hexe. Sie war jetzt ganz in der Nähe. Sie würde den Schmerz, den sein Schlag ausgelöst hatte, überwinden und …

Erstaunt blickte Klawdi sich um. Etwas Neues hatte sich ins Bild geschoben.

Auf seine Brust war der Lauf eines großen schwarzen Revolvers gerichtet.

»Inquisitor! Henker!«

Die junge Närrin hatte sich vorgenommen, ihm vor seinem Tod noch tüchtig die Meinung zu geigen. Hätte sie gleich geschossen, hätte sie eine Chance gehabt.

»Du hast einen Fehler gemacht, Mädchen.«

Sein mentaler Schlag schleuderte sie gegen die Wand. Nahezu lautlos fiel der Revolver auf den weichen Läufer. Er trat an sie heran, blickte ihr in die vor Schmerz ganz schwarz gewordenen Augen und maß ihren Brunnen aus. Achtzig. Außerdem war die Initiation erst kürzlich erfolgt.

Er packte sie heim Arm, der ungewöhnlich dünn, fast schon dürr war. Der feinknochige Arm einer Ballerina. Er fühlte ihren Puls.

»Wer hat dich initiiert? Wo? Warum hast du das getan? Du hättest einfach nur deine Störche tanzen sollen. Also, warum denn?«

»Ich bin eine Hexe«, krächzte sie ihm ins Gesicht.

»Du bist ein Mensch.«

»Ich bin eine Hexe! Eine Hexe! Sie werden schon noch sehen …«

Sie verdrehte die Augen und rettete sich in die Bewusstlosigkeit.

»Wo?!«

Der Kopf auf dem dünnen Hals fiel nach hinten. Weiße Augäpfel starrten Klawdi an. Die Brokatkulisse loderte grell. Im Orchestergraben wuselten Menschen herum. Verbranntes Plastik verströmte einen beißenden Geruch.

Er warf sich das Mädchen über die Schulter und schleppte es in den Gang. Ein Ballettmädchen wiegt nicht so viel — aber selbst in ohnmächtigem Zustand beeinträchtigte es seine Witterung. Die Nähe einer Hexe ließ ihn die anderen nicht mehr wahrnehmen.

Feuersirenen heulten. Überall zog es. Menschen rannten zu den Notausgängen. Hier hatte jemand Tränen in den Augen, dort zeigte ein anderer fröhliche Neugier.

»Patron?!«

»Haben Sie das Gebäude durchkämmt?«

»Das Feuer breitet sich zu schnell aus, Patron.«

»Haben Sie die Hexen geschnappt?«

Die Adern an Kostas Schläfen traten hervor. Er wusste, dass die Operation fehlgeschlagen war, aber er verstand nicht, warum.

»Bringen Sie das Mädchen hier ins Auto! … Scheiße!« Die Schlüssel in seiner Tasche! Mit dem Anhänger in Form einer Hühnerkralle. »Ywha! Scheiße, Scheiße, Scheiße!« Er stieß einen Fluch aus, der den Chef der Sondereinheit zurückprallen ließ.


Kaum hatte Ywha den Brandgeruch wahrgenommen, war sie aufs Fensterbrett geklettert.

Das Büro der Direktorin ging zum Platz vor dem Haupteingang hinaus, wo sich Schaulustige zusammendrängten. Viele, weitaus mehr als Theaterbesucher, und mit jeder Sekunde wurden es noch mehr, denn kein Bühnenspektakel konnte sich mit dem Szenario messen, das sich zu diesem Zeitpunkt in der Wyshnaer Oper abspielte.

Das Fenster war fest verschlossen, die Scheibe aus Panzerglas. Vor wem hatte Helena Torka Angst? Vor Dieben? Oder etwa vor Scharfschützen?!

Ywha schlug mit einem massiven Briefbeschwerer zu. Anschließend wuchtete sie einen Stuhl hoch und schleuderte ihn ins Fenster. Der Geruch nach Rauch kroch unter der Tür durch und waberte aus den Ritzen der Klimaanlage. Ywha hätte nicht mal ihr feines Näschen haben müssen, um zu begreifen, dass es sich um den erstickenden Geruch eines Feuers handelte.

Auf den Platz fuhren, die Menge auseinandertreibend, nacheinander drei Feuerwehrwagen. Ihnen folgten zwei weitere. Das Theater brannte rasch nieder.

Ywha stürzte zur Tür. Sie rüttelte an der Klinke. Die Türflügel waren solide, offenbar bestanden sie aus Mahagoni. Mit einem anständigen Schloss versehen. Helena Torka musste unter Verfolgungswahn leiden, anders ließ sich all das nicht erklären.

Ywha spähte durchs Schlüsselloch. Tränen schossen ihr ins Auge. Das Vorzimmer war voller Rauch.

Erst da packte sie die Angst.

Die letzten Tage über war Angst auch schon ihre ständige Begleiterin gewesen. Aber nicht eine solche Angst. Eine Angst wie diese zwang dem menschlichen Körper nämlich jede Reaktion ab, selbst die unwürdigste und erniedrigendste. Ywha krümmte sich in einem Schmerz, der unterhalb ihres Bauchs brannte.

Das war er also, der Scheiterhaufen. Ein riesiger, Effekt heischender Scheiterhaufen in Gestalt eines brennenden Theaters. Zweihundert Jahre lang hatte auf dem Platz das solide Gebäude gestanden. Jetzt sollte Schluss damit sein. Und Ywha würde in ihrem neunzehnten Lebensjahr ihr Ende finden.

Aber derart idiotisch! Um sie herum wimmelte es von Menschen — und sie war hier eingesperrt! Wie eine Ratte! Bei lebendigem Leibe würde sie …

Sie warf sich gegen die Tür. Wieder und wieder. »Vollenden wir das Ritual, wie es unsere ungeborene Mutter befiehlt.«

Halluzinierte sie?

Ywha betrachtete ihre Handflächen. Die linke blutete, was jedoch nur von einem eingerissenen Nagel herrührte. Was sollte das? »Vollenden wir das Ritual, wie es unsere …«

»Das Pack herrscht nicht ewig. Nehmt die Kerzen …«

Ein riesiger dunkler Saal. Eine Wendeltreppe, ein heißes Feuer, offenbar gab es keine Mauern … nur eine endlose Ebene mit roten Bergen am Horizont … Unmengen roter Berge, die zwar greller waren als der dunkelgraue Himmel, aber ebenfalls im Rauch versanken … die Berge waren aufgemalt …

»Hilfe! Nasar! Nasar, rette mich, ich …«

»Das Pack flieht. Besser ein Brandherd als ein Scheiterhaufen. Schwestern, reichen wir uns die Hände …«

Ein Gelächter, das dir die Ohren verstopfte.

»Nasar! Rettet mich doch … Irgendjemand …«

Die Flügeltür krachte, flog auf. Rauchwolken wogten in den Raum. Und wie eine Erscheinung, wie ein immaterielles Gespenst Nasars kam …

Sofort schoss der Schmerz in sie hinein. So fühlte sich die Nähe eines wütenden Inquisitors an.

»Ywha?« Kräftige Hände packten sie unter den Achseln. Ihr wurde schwindlig. »Folge mir! Schnell!«

»Sie sind hinter der Bühne.« Sie erkannte ihre eigene Stimme nicht.

»Was?!«

»Hinter der Bühne … da ist … ein großer Übungsraum … der zweite … sie initiieren … jetzt gerade …«

Klawdi stieß einen Fluch aus. Und noch einen, einen stärkeren und schlimmeren. Hustend versuchte Ywha, den Rauch aus den Lungen zu treiben.

Ein Mann mit einem flachen gelben Gesicht trat zu ihm, auch er ein Inquisitor und ebenfalls böse, außerdem Menschen mit Atemschutzmasken …

»Wo sind sie? Wo sind sie jetzt, Ywha?«

»Ich weiß es nicht.«

»Wir finden sie auch ohne ihre Hilfe, Patron«, meinte der Gelbgesichtige.

»Ist Ihnen noch nicht aufgefallen, dass die Oper brennt?!«

»Die Operation leite ich … Patron! Nehmen Sie das Mädchen und verschwinden Sie!«

Eine sekundenkurze Pause. Zwei Inquisitoren sahen einander an, schließlich gab der Ranghöhere nach. »Ywha … lass uns gehen. Fall mir bloß nicht in Ohnmacht, du bist keine Elevin, dann könnte ich dich tragen …«

Gänge voller Rauch. Husten zerriss ihr die Brust. Als sie über einen zusammengeschobenen Teppich stolperte, nahm der Inquisitor sie auf die Arme und trug sie. Treppen, immer neue Treppen, die nach unten führten; sie brachten all diese Treppen hinter sich, erreichten eine Tür.

Wie angewurzelt stand der Inquisitor da. Ywha spürte, wie sich ihr seine Hände in die Rippen bohrten.

»Stell dich hinter mich, Ywha. Zwischen meine Schulterblätter.«

Die Tür flog weit auf.


Die Tür flog weit auf.

Nicht fünf, nicht sechs, nein, acht Hexen, zwei davon in der Tat ganz frisch. Das Initiationsritual war gerade beendet, die Hexen noch erschüttert. Fanatisch. Ungeschickt, aber durchaus kampffähig.

»Sei gegrüßt, Inquisitor. Wir wollen hier durch.«

Sie machten nicht einmal Anstalten, über ihn herzufallen. Die Selbstgewissheit, die sie an den Tag legten, ließ sie in dem Glauben, sich mit dem Angriff ruhig Zeit lassen zu können. Eine Schildhexe, vier Kampf hexen, drei Arbeitshexen …

»Guten Tag, Mädchen. Ihr seid verhaftet.«

Ein viel zu langer Satz. Das bedeutete einen unverzeihlichen Fehler. Denn während er sprach, war er verwundbar. Nie durfte man sich in ein Gespräch verwickeln lassen!

»Deine Zeit ist vorbei, Inquisitor. Wenn du das einsiehst, bleibst du am Leben. Ansonsten solltest du wissen, dass auch Inquisitoren brennen können.«

Bemerkenswerterweise führte nicht die Schildhexe, sondern die stärkste Kampfhexe das Wort. Eine ungewöhnliche Rollenverteilung.

»Aus dem Weg, Inquisitor!«

Er stieß einen Fluch aus, einen so gemeinen und bösen wie nie zuvor in seinem Leben.


Ywha prallte zurück.

Fünf der vor dem Inquisitor stehenden Frauen marschierten gleichzeitig vorwärts, und Ywha sah — aber nicht mit den Augen! –, wie sich fünf weiße Nadeln gleichzeitig in Klawdi Starshs Kopf bohrten. Ywha krümmte sich. Auch sie spürte den Schmerz, schien von einem strammen Strick, gewunden aus Hass, Sehnsucht und Scham, gepeitscht zu werden. Die Hexen rückten schon wieder vor. Starsh fiel zu Boden.

Ywhas Bewusstsein spaltete sich.

Sie sah, wie die Hexen über den Inquisitor herfielen, zu einem dunklen, schweren Etwas verschmolzen, ihn quetschten und würgten — und gleichzeitig rührten sich diese fünf angreifenden Hexen nicht vom Fleck, blieben stehen und schickten nur ihren Willen vor. Ywha wich nach hinten zurück, kroch weg. Die Wucht der angreifenden Hexen streifte am Rand auch sie. Das waren doch ihre Gefährtinnen, möglicherweise sogar ihre Schwestern.

Die Kräfte waren zu ungleich. Nun würde Ywhas Schwanken ein Ende finden. Gemeinschaftlich würden die Hexen den Inquisitor erledigen und sie mit sich nehmen.

Aus der dunklen Wolke, die sich über dem am Boden liegenden Inquisitor geballt hatte, schoss eine gekrümmte Hand heraus. Blindlings fuchtelte sie in der Luft — blind jedoch nur auf den ersten Blick. Der Druck, den die Hexen ausübten, verdoppelte sich, die Hand geriet ins Stocken, vollendete dann jedoch ihr Tun, indem sie erneut durch die Luft fuchtelte. Ywha sah — wieder nicht mit den Augen! –, wie die Konturen eines komplizierten Zeichens aufloderten. Kaum erblickte sie es, schleuderte es sie nach hinten, als hätte sie einen Kinnhaken verpasst bekommen.

Auch die Hexen prallten zurück. Die schwarze Wolke löste sich auf.

»Ach, Ywha, deine Sorgen möchte ich haben.«

Klawdi Starsh erhob sich.

»Gestern habe ich den ganzen Tag nichts anderes getan, als Frauen zu foltern, Ywha.«

Immer höher und höher erhob er sich, überwand die sich neu formierende Kraft der Hexen und erhob sich wie ein Toter aus dem Grab.

»Warum malt man auf ein Päckchen Schinken ein lachendes Schwein?«

Starsh drückte den Rücken durch.

Ywha sah — und auch diesmal nicht mit den Augen! –, wie seine Ellbogen eine Art Gummiring seitlich wegdrückten. Eine neue Fünferserie aus Nadeln bohrte sich in den rauchenden Verteidigungsgürtel — nur um dann zurückzufliegen: als Fächer aus grellgelb flammenden Funken.

Eine der schrecklichen Frauen plumpste schweigend zu Boden. Eine hieb auf ihr Gesicht ein, als wolle sie sich die Augen auskratzen. Die drei anderen erstarrten und rissen die Arme in einer Verteidigungsgeste hoch. Schließlich zog eine der drei, die sich bisher nicht in den Kampf gestürzt hatte …

»Pass auf, Starsh!«, rief es plötzlich.

Der Inquisitor schaffte es gerade noch, sich zu ducken. Der Schuss war beleidigend leise. Eine Frau, die über die am Boden liegende Ywha sprang, stand plötzlich zwischen den Fronten. Schwarze, grau gesträhnte Haare fielen ihr wirr über die Schultern.

»Verräterin«, fauchte eine der Hexen.

»Die Verräterinnen seid doch ihr!« Die Frau mit dem wirren Haar hob die Arme. »Alle, die meinem Theater schaden … verfluche ich. Lebt auf ewig — mit diesem Fluch der Helena Torka!«

Diejenige mit der Pistole feuerte drei Schuss ab. Die Torka ging nicht zu Boden.

»Rina, du bist wie eine Tochter für mich. Sanija, du warst immer eine talentlose Tänzerin, daran wird auch die Initiation nichts ändern. Dona, dich habe ich aus dem Kinderheim rausgeholt. Klyza …«

Zwei weitere Schüsse krachten; damit war das Magazin leer. Aufschluchzend schleuderte die Schützin ihre Pistole gegen die Torka, die selbst jetzt nicht zu Boden ging.

»Ihr hab euern Weg gewählt, meine lieben Kinderchen. Jetzt lebt mit dem Fluch eurer Mutter.«

»Unsere Mutter ist noch gar nicht geboren!«, schrie die jüngste der Hexen mit zarter Stimme. Sie konnte höchstens vierzehn Jahre alt sein.

Ein Schlag folgte. Als hätte ihr jemand einen Knüppel über den Kopf gezogen, sackte Ywha nach Luft schnappend zu Boden. Das Mädchen, das von der noch ungeborenen Mutter gesprochen hatte, fiel lautlos hin. Diejenige, die die Torka des Verrats bezichtigt hatte, zischte wie eine verletzte Schlange. Starsh stand da, an die Wand gedrückt, und überzog mit seinem Willen ausnahmslos alle anwesenden Hexen, die jungen wie die alten, die aktiven wie die tauben. Sogar Helena Torka geriet ins Straucheln.

»Keine rührt sich vom Fleck! Hier spricht die Inquisition!«

Wurde auch höchste Zeit, dachte Ywha, die spürte, wie ihr Bewusstsein wegwaberte.

Ein Schrei zerriss den Raum, dem Kopfschmerz folgte. Die Pistolenschützin wurde an den Haaren fortgezogen. Ein Dutzend grobschlächtiger Kerle stürmte herein. Und dann auch ein zweiter Inquisitor, der mit dem gelben Gesicht. Die Hexen … Ein zarter Gesang erklang in Ywhas Ohren, ähnlich dem Surren einer Mücke.

Helena Torka hielt sich noch immer auf den Beinen. Ihr dunkles Kleid färbte sich plötzlich schwarz, auf der Brust wirkte es sogar wie lackiert.

»… einer alten Frau … Pflicht … Nie hätte ich gedacht, dass mein Scheiterhaufen einmal …«

»Helena.«

»Klawdi, bitte, ich würde so gern … es ist mein letzter Wille … wenn Sie so wollen …«

Dann verlor Ywha das Bewusstsein. Endgültig.


»Jede Kreatur hat ihre Bestimmung. Sinnlos ist nur der Mensch. Auf der Suche nach einem inneren Gleichgewicht erdenkt sich der Mensch einen Sinn, der ihn von der Hexe unterscheidet. Die Hexe ihrerseits ist die Verkörperung der Sinnlosigkeit, sie ist frei bis zum Absurden, spontan und ungestüm, ihr Tun ist nicht vorhersagbar. […] Eine Hexe kennt weder Liebe noch Zuneigung, weshalb man sie nicht für sich einnehmen, sondern sie nur töten kann. […] Eine Menschheit ohne Hexen gliche freilich einem Kind, das alle kindlichen Launen vermissen lässt und nur der Rationalität und dem Zynismus das Wort redet. Eine Menschheit, die den Hexen ihren freien Willen ließe, gliche hingegen einem geistig zurückgebliebenen Kind, das sich keine Sekunde zu konzentrieren vermag und einzig seinen Albereien nachgeht.

Sie werden fragen, ob die Hexen nach der Weltmacht verlangen? Da kann ich Ihnen nur ins Gesicht lachen: Hexen wissen nicht einmal, was Macht ist. Die Macht nämlich unterdrückt nicht nur die Untertanen, sondern auch die Herrscher. Hexen, die aufgrund einer Laune der Natur in den Körpern von Menschen leben, werden bereits durch das Vorhandensein von Menschen unterdrückt. Hexen werden gequält und eingeschränkt allein durch die Tatsache, dass sie inmitten von Menschen zu leben haben. Unsere Welt ist nicht für sie gemacht. Eine Hexe, die den alten Bräuchen anhängt, versucht demzufolge, ihre Umwelt zu schädigen. Eine leere Welt für eine einzelne Hexe, das wäre die Bedingung, unter der sie angemessen leben könnte.

[…] Die Erde wäre eine Ödnis, begraben unter Ruinen, wenn sich alle Hexen dasselbe Ziel steckten. Da jedoch glücklicherweise jede Gemeinschaft Zwang bedeutet …

[…] Sie werden mich fragen, ob der namenlose Verfasser der viel zitierten Entdeckung der Wespen recht hat? Trifft es zu, dass eine Schar vereinzelter Hexen zu einer eisernen Armee wird, sobald die Mutterhexe geboren wird?

Vernachlässigen wir an dieser Stelle ruhig die Geschichte. Nehmen wir stattdessen den Deckel vom Bienenstock und fragen uns, wozu die Bienenkönigin existiert und wie häufig sie vorkommt. Und fragen wir uns auch: Ist eine Art noch lebensfähig, wenn die Mutter nur alle fünfhundert Jahre einmal geboren wird?«

Lautlos öffnete sich die Tür. Ywha hob den Kopf. Die abrupte Bewegung ließ sie wieder schwindeln, alles verschwamm ihr vor den Augen. Aus dem Büro trat der gelbgesichtige Inquisitor, derjenige, der den Einsatz in dem brennenden Theater geleitet hatte. Der Inquisitor war nicht böse. Seine anderen Gefühle versuchte Ywha gar nicht erst einzuordnen. Er war nicht böse, das reichte ihr.

Wie sehr das Herz dieser Schrecken gebietenden Inquisition doch einem gewöhnlichen Polizeirevier glich. Diszipliniert und ordentlich ausgestattet, letztlich aber doch bloß ein Revier. Und sie hatte sich bisher immer gefürchtet, das Gebäude zu betreten. Jetzt saß sie auf einem Sofa und hielt ein dickes Buch auf den Knien.

Eine Zeit lang war es still im Vorzimmer. Irgendwann kam der Arzt aus dem Büro. Der Referent, dessen Gesicht das hellblaue Licht eines eingeschalteten Computerbildschirms verschattete, sah ihn fragend an. Der Arzt nickte.

»Kann ich vielleicht …«, Ywha rutschte auf dem Stuhl hin und her, »… reingehen?«

»Man hat Sie nicht aufgerufen«, erklärte der Referent kalt. Dann dachte er kurz nach. »Sie sollten da nicht hineingehen«, fügte er sanfter hinzu. »Dort gibt es Geständniszeichen, das gefällt Hexen nicht sonderlich gut.«

»Männer denken höchst selten darüber nach, was Hexen gefällt«, konterte Ywha unerschrocken, »weshalb es ausgesprochen angenehm, wenn auch höchst selten ist, ihre Sorge zu genießen.«

Sie holte Luft und genoss den Anblick des entgeisterten Referenten.

»Männer denken überhaupt selten«, sagte eine männliche Stimme aus der Gegensprechanlage. »Sei so gut, Ywha, und gedulde dich noch eine Viertelstunde.«

Jetzt war es an ihr, bestürzt dreinzuschauen. Sie hatte nicht daran gedacht, dass jedes Wort, das im Vorzimmer geäußert wurde, im Büro zu hören war. Der Referent, nunmehr gerächt, bedachte sie mit einem amüsierten Blick. Seufzend wandte sich Ywha wieder dem aufgeschlagenen Buch zu.

»Es ließe sich völlig zu Recht einwenden: Hexen haben keine Nachkommen. Selbstverständlich können Hexen Kinder in die Welt setzen, zumeist Mädchen. Doch entfällt auf geschlechtsreife Hexen der gleiche Anteil junger Hexen wie auf alle sonstigen Frauen. […] Warum blieb der Hexenbestand dann in all den Jahrhunderten nahezu konstant? Oder, um es präziser zu formulieren: Warum folgt auf einen sprunghaften Anstieg ihrer Zahl ein Tief, bei dem es nur wenig Hexen gibt und die Initiation zu einem Relikt mutiert? Warum folgen auf stürmische und schwere Zeiten, auf Kriege und Katastrophen Phasen der Stagnation, in denen sogar die Kunst und das Handwerk in sanften Schlummer fallen? Das zu verstehen kommt der Schwierigkeit gleich, einem Erstklässler zu erklären, warum selbst dem strengsten Winter immer ein Tauwetter folgt.«

»Aus allen Büchern, die dir zur Verfügung stehen, hast du dir ausgerechnet das langweiligste ausgesucht. Liebst du etwa die langen, schönen Sätze so sehr?«

Der Inquisitor kam quer durch das Vorzimmer. Er bewegte sich irgendwie anders als sonst. Schon im nächsten Moment war Ywha klar, warum. Er passte auf seinen linken Arm auf, war vorsichtig. Selbst das helle, legere Jackett konnte nicht über seinen achtsamen Gang hinwegtäuschen.

Außerdem hatte er heute Morgen doch noch eine Jacke getragen. Eine elegante Sommerjacke, an die sich Ywha gut erinnerte, schließlich hatte sie das Gesicht in diese Jacke vergraben.

Also waren seinen Sachen verhunzt. Vermutlich hatte die Jacke ein Loch. Ein Blutfleck war mit Sicherheit zurückgeblieben — und den bekam man nicht so leicht raus.

»Myran«, wandte sich der Inquisitor an den Referenten. »Rufen Sie in der Werkstatt an. Falls mein Wagen repariert ist, sollen sie ihn zu mir nach Hause bringen. Wir nehmen den Hinterausgang, Ywha. Wozu Aufsehen erregen?«

Sie traten durch eine völlig versteckt gelegene Seitentür des Inquisitionspalasts hinaus. Vorm Haupteingang standen Menschen. Ywha fuhr zusammen; sie meinte, in der Luft liege Brandgeruch. Nein, sie hatte sich getäuscht.

Sie selbst war es, die immer noch nach Rauch roch. Und wie sie aussah! Aber vor allem dieser Geruch!

Es ging auf elf zu. Gelbe Scheinwerfer beleuchteten effektvoll den spitzen Giebel des Palasts. Ywha schwindelte. Sowohl die Nacht als auch der beleuchtete Giebel hörten kurz auf zu existieren, und es gab nur noch Kreise, bunte Kreise, und ein fernes Gebrabbel, das Klackern von Ballettschuhen auf dem Parkett.

Irgendwann wurde ihr klar, dass sie wie angewurzelt dastand, verkrallt in den linken Arm des Inquisitors. Und dieser Arm war aufs Äußerste angespannt.

»Oh!« Sie löste die Finger, trat zur Seite und wusste nicht, wie sie sich entschuldigen sollte. »Ich bin aber auch eine Idiotin. Tut mir leid.«

Lautlos fuhr der Dienstwagen vor. Die Tür öffnete sich.

»Verzeihen Sie mir … es tut mir wirklich leid. Ich weiß auch nicht … Hat es wehgetan?«

»Ja«, erklärte der Inquisitor nach kurzem Schweigen. »Aber es kommt immer darauf an, womit du es vergleichst. Steig ein!«

Der Fahrer schielte erstaunt zu ihr hinüber. Oder kam ihr das nur so vor?!

Die nächtliche Stadt. Ein Lichterkarussell. Sie blinzelte und erlitt einen neuerlichen Schwindelanfall. Was war bloß mit ihr los? Und wo war das Buch? Hatte sie es etwa auf dem Sofa im Vorzimmer liegen lassen? Wie dumm!

»Wir wissen, dass jede Frau eine Hexe zur Welt bringen kann. Immer noch hält sich die Legende, die entsprechende Empfängnis sei nur während eines Hexensabbats möglich respektive der Hexensabbat sei allein dafür gedacht, in einen noch leeren Leib den Samen einer zukünftigen Hexe zu pflanzen.«

Ywha seufzte mehrmals.

»Ist dir nicht gut?«, fragte der Inquisitor, ohne ihr den Kopf zuzuwenden.

Auch sie sah ihn nicht an, als sie nickte.

»Nach allen Regeln der Kunst müsstest du eigentlich ein paar Stunden bewusstlos sein … Zumindest sind deine Freundinnen, die aus dem Opernhaus eine ausgebrannte Ruine gemacht haben, bisher noch nicht wieder zu sich gekommen.«

Ywha schluckte. Daran wollte sie lieber nicht zurückdenken.

Im Hof des Hauses am Platz des Siegreichen Sturms führte die Dame ihren Hund spazieren. In der Wohnung im ersten Stock beendete die fröhliche Haushälterin gerade ihre Arbeit. Der Blick, den sie für Ywha übrig hatte, ließ keine Zweifel aufkommen.

Als Ywha sie bemerkte, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um den Inquisitor bittend anzusehen. »Klären Sie sie auf … Sonst macht sich die arme Frau noch Sorgen, weil sie glaubt, Sie hätten eine heruntergekommene und hässliche Freundin. Sie hat ja keine Ahnung, weshalb sie mich hergebracht haben.«

Eine Weile sah ihr der Inquisitor abwägend in die Augen. Dann verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln. »Wäre dir das peinlich? Wenn sie glaubt, du seist meine Freundin?«

»In Ihrer Position sollten Sie lieber eine gepflegtere Freundin haben«, erwiderte Ywha. »Oder nicht?«


(Djunka. April)

Der alte Lum sprach mit einer Frau. Aus der Ferne glaubte Klaw, es handle sich um Djunkas Mutter. Erst nach einem gewaltigen Schweißausbruch erkannte er seinen Fehler. Djunkas Mutter war jünger und kantiger, diese Frau wirkte hingegen so müde und aufgeschwemmt wie eine niedergebrannte Kerze. Der Lum redete in einem fort. Die Frau antwortete zögernd, nickte kaum mit dem schweren Kopf und schien die hängenden Schultern leicht durchzudrücken. Vielleicht täuschte sich Klaw jedoch auch.

Dann gab die Frau dem Alten kraftlos die Hand, hievte sich mühevoll von der Bank hoch und ging davon, wobei die Reisetasche in ihrer herabhängenden Hand fast den Boden berührte. Der Lum schaute ihr noch ein Weilchen nach, bevor er sich umdrehte. Neben ihm stand reglos ein verschlossener, nervös schweigender Junge.

Drei Minuten lang beobachteten beide ein großes Eichhörnchen, das den dunklen Stamm einer Eiche in Spiralen erklomm.

»Ich brauche Trost«, sagte der Junge tonlos.

»Ich bin hier, um zu trösten«, erwiderte der Lum achselzuckend. »Aber dir werde ich wohl kaum helfen können … Klawdi.«

»Versuchen Sie es doch wenigstens«, bat der Junge leise. »Wohin sollte ich denn sonst gehen?«

Der Lum schwieg und ließ sich gegen die Lehne der Bank sinken. »Ich habe dich gewarnt«, sagte er schließlich, wobei er dem weghuschenden Eichhörnchen nachsah. »Aber du wolltest nicht auf mich hören.«

»Stimmt«, gab Klaw zu. »Ich konnte nicht auf Sie hören … Wenn das alles noch einmal geschähe …« Er erschauderte. »… wenn das alles noch einmal geschähe, würde ich wieder nicht auf Sie hören.«

»Schade«, bemerkte der Alte beiläufig. »Du bist stärker als viele andere … und du bist gleichzeitig unverzeihlich schwach.«

»Worin besteht eigentlich meine Schuld?«, ereiferte sich Klaw. »Darin, dass ich sie geliebt habe? Sie immer noch liebe?«

Der Lum hob den Blick. Als Klaw diesen auffing, fröstelte ihn — und er erkannte seinen Fehler. Wenn der Alte auch nur entfernt etwas mit dem Tschugeister-Dienst zu tun hatte …

Sein Gegenüber verstand nur allzu gut. Die nächsten Minuten maßen sich der Alte und der Junge mit Blicken.

»Ich bin nur ein Lum«, brachte der Alte zögernd heraus. »Ich tu, was ich kann … Mehr nicht. Unterstell mir also nichts … Ich bin nur ein Lum.«

»Sie haben gesagt …«, Klaw holte Luft, »… ich würde etwas Verbotenes tun. Ich würde sie wecken und festhalten, und ich wäre … stark genug, um … und …«

Die Frage traute sich nicht über seine Lippen.

»Genaues weiß ich nicht«, erklärte der Alte, den Blick nach vorn gerichtet, dorthin, wo unzählige kleine Vögel durch die grünenden Zweige schossen. »Vielleicht hast du sie erst hergeholt … Vielleicht auch nicht. Das weiß niemand.«

»Weshalb kommen sie zu uns?«, fragte Klaw mit Flüsterstimme. »Kommen … sie wegen uns? Sind … sind das wirklich sie

Nachdem er seine vagen, ihn beschämenden Ängste in Worte gekleidet hatte, fühlte er sich erleichtert. Immerhin hatte er das geschafft. Die entscheidende Frage war gestellt.

»Ich kann dir nicht mehr sagen, als ich weiß«, erklärte der Alte bedauernd. »Ich kann dir nicht mal alles sagen, was ich weiß. Das wäre … zu persönlich …«

»Wollen sie unseren Tod?«, fragte Klaw rasch. »Kann das wirklich sein? Die Tschugeister sagen …«

Er verstummte. Dieses Wort hätte er sich verkneifen sollen, an die wollte er gar nicht denken.

»Schon möglich«, erwiderte der Alte, der den Blick nur mit Mühe von dem Spiel der Vögel losriss. »Das ist … zu individuell … Aber ich will nicht, dass du hier weiter herkommst. Das klingt vermutlich brutal, aber du hast es selbst so gewollt. Komm nicht mehr auf den Friedhof. Oder ich rufe … sie. Selbst wenn ich auch nicht gerade viel für sie übrig habe.«

»Aber nur Sie können mir … helfen … mir sagen …« Klaw redete nur, um nicht zu schweigen. Er hatte bereits verstanden, wie sinnlos seine Worte waren.

»Pass auf dich auf«, mahnte der Lum. »Das ist alles, was ich dir sagen kann.«

Damit stand er auf, schlagartig gealtert, und ging fort und bot seinen gekrümmten Rücken den Meisen als Landefläche an.


Klawdi wusste, dass kaum Hoffnung auf Schmerzlinderung bestand. Seit seiner Zeit als Inquisitor im Außendienst schlugen Schlaftabletten oder Schmerzmittel bei ihm nicht mehr an. Schmerzen musste er mit Willenskraft überwinden — nur konnte er sich momentan auf Teufel komm raus nicht konzentrieren.

Der Schmerz rührte nicht von der verletzten Hand her. Nein, er saß irgendwo tief in seinem Innern, ein niedergehaltener, immer wieder zusammengestauchter Schmerz. Klaw durfte nicht an ihn denken.

Die Augen der jungen Frau funkelten im Halbdunkel der Diele; die Haare, die über die Schultern fielen, erinnerten an Kupferdraht. Sie verfügte über eine ausgezeichnete Abwehr. Bislang hatte er noch nie eine Hexe getroffen, die derartige Ereignisse so gelassen hinnahm. Gut, vor dem Inquisitionspalast wäre sie beinahe in Ohnmacht gefallen. Weshalb sie seinen verletzten Arm ja auch so gequetscht hatte. Nebenbei bemerkt: War der eigentlich wirklich verletzt?

Was für ein Verfall der Moral! Eine Hexe, die mit einer Schusswaffe auf einen Inquisitor losgeht. Noch vor zehn Jahren wäre ihnen das barbarisch vorgekommen; aber jetzt schreckten sie vor nichts zurück. Wo die eigenen Kräfte nicht reichten, griffen sie zur Pistole.

Vermutlich trug Ywha keine gute Wäsche. Folglich mussten die Formen, die sich unter dem blutdurchtränkten Pullover abzeichneten, ihre eigenen sein.

Nachdem sie seinen Blick auffing, schaute sie zu Boden. Ihm war ebenfalls unbehaglich zumute. Nicht weil er sie gemustert hatte — er hatte schon gepflegte Frauen gesehen und schlampige, Frauen in Brokatkleidern und in Lumpen und auch so, wie Mutter Natur sie geschaffen hatte.

»Herr Klawdi!«, rief die Haushälterin aus der Küche. »Ich verarbeite den Quark, der wird Ihnen sonst schlecht. Ich mache Ihnen daraus Küchlein. Reicht Ihnen eine Portion? Oder wollen Sie mehr?«

»Zwei«, antworte Klawdi, ohne sich umzudrehen.

Ywha seufzte mehrmals.

Julian ist doch ein Idiot, dachte Klawdi mit überraschender Härte. Ein echter Idiot! Sein Junge wird nie ein Mann werden. Aber natürlich hat das auch seine Vorteile — so ein gehorsamer Sohn.

Welche Zukunft Nasar und Ywha wohl bevorgestanden hätte? Vermutlich eine rosige. Das Mädchen war klug genug — damit sowohl der Vater wie auch der Sohn einem ruhigen und angenehmen Leben mit ihr hätten entgegensehen dürfen. Woher kam diese überbordende Liebe? Nasar schien sie nicht zu lieben, sondern lediglich von ihrer exotischen Erscheinung fasziniert zu sein. Ywha dagegen war ihm ein Rätsel. Sie mochte den Dummkopf offenbar wirklich gern, sogar so sehr, dass sie bereit war, seinetwegen einiges zu ertragen.

Hätte sich Nasar doch nur einmal vor Augen gehalten, was genau seine ehemalige Freundin zu erleiden hatte! Vielleicht wäre er dann ja nebenbei sogar erwachsen geworden!

»In Ihrer Position sollten Sie lieber eine gepflegtere Freundin haben. Oder nicht?«

»In meiner Position …« Beinahe hätte er gegrinst. »… sollte ich nur die Freundinnen haben, die ich haben möchte. Darin liegt der Vorteil, wenn man weit oben auf der Karriereleiter steht.«

»Wenn das so ist!« Das Mädchen reckte das Kinn vor. »Dann weiß ich, warum ich in Ihrem Riesenbett nicht schlafen konnte. Da treiben sich noch die Gespenster Ihrer abgelegten Schönheiten rum!«


Nach dem Essen bemerkte sie, dass die Courage, die ihr Kraft gegeben hatte, verschwunden war.

Dort, am Straßenrand, hatte weißer Löwenzahn gestanden. Die Frau, die unbedingt in dem brennenden Gebäude hatte bleiben wollen, hieß Helena Torka. »Wenn sich eine Hexe nicht der Initiation unterzieht, hebt sie sich kaum von anderen ab, wohingegen eine initiierte Hexe kaum noch als Mensch betrachtet werden kann. Niemand wird sie je verstehen. So wie ein Fisch, der in der Tiefe lebt, die Gesetze des Feuers nicht begreifen kann.«

»Hast du mich verstanden, Ywha?«

Sie presste die Lippen aufeinander. Diese Helena Torka tat ihr unendlich leid. Und noch jemand. Das Mitleid ließ sich kaum ertragen.

»Du schaffst das, Ywha. Mich bedrückt das auch.«

»Hat sie … sich umgebracht?«

Eine Pause.

»Sie hatte einfach nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte. Ihr Theater, ihre Schülerinnen …«

»Warum?!«

»Es sind Hexen, Ywha. Niemand versteht, warum glückliche und zufriedene Mädchen, die ihr Leben vollständig der Kunst widmen … warum geliebte und liebende Mädchen mit einem Mal gegen alles rebellieren, was ihnen bislang heilig gewesen ist. Sie ermorden ihre Lehrerin, brennen die Oper nieder … Das Haus ist vollständig ausgebrannt, Ywha. Während es wieder aufgebaut wird …«

»Aber die Torka war doch auch …«

»… eine Hexe. Ja. Ich kann dir nicht erklären, warum die Torka ihr ganzes Leben … warum die Torka es vorgezogen hat zu sterben, statt zu einer aktiven Hexe zu werden. Natürlich würde ich das gern verstehen … aber ich kann es nicht, Ywha.«

»›So wie ein Fisch, der in der Tiefe lebt, die Gesetze des Feuers nicht begreifen kann.‹«

»Ja. Bist du gut in der Schule gewesen? Bei deinem Gedächtnis?«

»Nein … Ich habe kaum die siebte Klasse geschafft. Mir ist schlecht.«

»Ich weiß. Das geht aber vorbei.«

»Bringen Sie mich nicht … dahin. Allein habe ich Angst.«

»Fürchtest du dich vor den Heerscharen von Gespenstern? Meinen Freundinnen?«

Ywha rang sich ein Lächeln ab.

Ob er verstehen würde, was genau ihr Angst einflößte? Dass es nicht nur um die diffusen Ängste einer nervlich angeschlagenen jungen Frau ging? Sondern dass sie sich vor sich selbst fürchtete? Vor derjenigen, die sich heute in den unergründlichen, absolut unmenschlichen Augen der angreifenden Hexen gespiegelt hatte … »Niemand wird sie je verstehen.«

Der Fernseher erlosch. Ywha saß beinahe liegend im Sessel, den Kopf gegen die weiche, hohe Lehne gebettet. Sie glaubte, in einem Autobus zu sitzen. Sie fuhren durch einen morgendlichen Wald, wobei die Stämme halb im Nebel verschwanden. Hinter jedem Baum lugte, sich im Nebel auflösend, eine weibliche Figur hervor …

Ywha ächzte.

Jetzt sah sie vor sich eine hohe Steinmauer — und einen bodenlosen Abgrund. Am gezackten Rand dieses Abgrunds schlurften Menschen entlang, schlichen, ohne einander wahrzunehmen. Irgendwann brachen sie aus, stürmten vom Abgrund weg oder stürzten sich in die Tiefe, weil sie den tristen Weg nicht länger ertrugen.

Doch niemand erreichte den Boden. Und von dort unten, aus der Tiefe, blickten sie die wissenden, durch nichts zu überraschenden und zugleich unendlich bösen Augen des Mädchens mit den heißen Sandwiches an.

Die tote Helena Torka lag da, ihre Hände baumelten über den steinernen Rand.

Zitternd schlug Ywha die Augen auf. Im Zimmer war es dunkel. Der Fernseher blinkte mit der roten Stand-by-Lampe, die Bäume, von den Straßenlaternen beleuchtet, warfen Schatten auf die Gardinen.

»Bild dir nicht ein, dass du eine Wahl hast, du Idiotin. Es wird nur schlimmer, wenn man dich unschuldig verbrennt.«

Wer hatte das gesagt?!


Ein anständiger Mensch hätte noch heute den Hut genommen.

Er jedoch saß da, starrte in die Tasse mit dem kalt gewordenen Tee und quälte mit seiner gesunden Hand eine ohnehin zerquetschte Zigarette. Er versuchte die letzten Worte Helena Torkas zu vergessen: »Danke, Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«

Und wenn er nicht gut gewesen wäre? Wenn er nämlich nicht so verdammt gut gewesen wäre, dann wäre Helena noch am Leben! Und das Theater wäre eventuell auch nicht niedergebrannt. Hätte sich einer seiner Untergebenen einen solchen Patzer erlaubt, hätte Klawdi ihn mit größtem Vergnügen an die Wand geklatscht. Umgekehrt würden seine Untergebenen jetzt schweigend abwarten. Morgen früh würde der Herzog anrufen und ihm mit Trauerstimme zum Ende der Opernsaison gratulieren, während er, Klawdi, ihm kühl mitteilen konnte, er werde sämtliche Befugnisse niederlegen und den Dienst quittieren.

Kurzfristig hob sich seine Laune. Er stellte sich das Schweigen im Telefonhörer vor … und den Gesichtsausdruck des Herzogs. Wie eisig die Antwort ausfallen würde. Das Okay. Denn natürlich würde der Herzog seinem Ersuchen zustimmen.

»Danke, Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«

Er presste die Handteller vors Gesicht. Helena, Helena … »Sie sind ein guter Mensch.«

Aus. Jetzt war Schluss mit seiner Güte. Er konnte noch so sehr über das Ende seiner Dienstzeit phantasieren, über das Meer und das warme Odnyza. Wenn jemand davon begeistert sein würde, dann Fedora. »Bleib bei uns, ja, Klaw? Was brauchst du denn sonst noch?«

Er konnte noch so sehr phantasieren. Eine mit dem Füller hingekrakelte Unterschrift — und schon bist du frei, die Verantwortung lastet nicht mehr auf dir, dein Dasein als machtgeiler Emporkömmling, den man in allen Fernsehkanälen mit Schimpf und Schande bedeckt, endet. Dann bist du unversehens ein ganz anständiger Mann, und nicht alles, was du getan hast, war schlecht.

Jetzt war Schluss mit seiner Güte! Und auch mit seinen Träumen. Selbst wenn die öffentliche Meinung beschloss, er höchstpersönlich hätte das Opernhaus niedergebrannt, so würde er sein Amt behalten — bis man ihm den Stuhl vor die Tür setzte.

Und auch Letzteres würde er nicht ohne Weiteres zulassen.

Diese Hexen! Diese Luder! Und gleich fünf auf einmal. Natürlich aus der Boheme. Ein Kollektiv. Dieser Kopfschmerz! Dieser entsetzliche Kopfschmerz.

Nein, vermutlich kam das von der Seele. Falls das, was Klawdi gerade peinigte, überhaupt einen Namen trug.


(Djunka. Mai)

In dem kleinen Zimmer wurde es allmählich dunkel. Über die weiße Decke krochen Lichtstreifen, ein trüb gespiegelter Abglanz des nächtlichen Lebens in dieser belebten Straße mit all den funkelnden Lichtern. Weit, weit unten lärmten zahllose Autos, was hier oben jedoch nur als tiefes, ununterbrochenes Gebrumm ankam.

»Klaw?«

In ihrer Stimme lag eindeutig Unruhe. Klaw umfasste seine Schultern noch fester und versuchte, tiefer in den knarzenden, durchgesessenen Sessel zu sinken.

»Warum sagst du denn nichts, Klaw?«

»Djunka«, brachte er mühevoll heraus. »Du … also …«

Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte sie ohne Umschweife gefragt: Wer bist du überhaupt? Bist du ein Gespenst, das in der Hülle meiner Freundin umherwandelt? Oder bist du das Mädchen, das ich seit zwölf Jahren kenne?

»Djunka!« Er beleckte die Lippen. »Erinnerst du dich noch, wie wir zu den Blinden Tänzern gegangen sind? Ohne Eintrittskarten und …«

Er stockte. Die Erinnerung war unerwartet lebendig, sie rührte ihn. Prompt wusste er nicht mehr, ob er Djunka dieser Prüfung unterziehen oder vor dem kalten Heute in das süße Gestern fliehen wollte.

»Ich erinnere mich.« Er spürte, wie Djunka lächelte. »Stanko Solen hat uns ein Fenster aufgemacht und wir sind … durch den Bühneneingang … zu viert …«

Klaw schloss die Augen. Es war ein Sommerabend gewesen, ein stickiger, brütender Abend. Einer von jenen, an denen man am liebsten in Unterwäsche zum Tanzen gehen würde. Das würde die Mädchen schockieren, und man würde den weichen Abendwind auf der Haut spüren; sobald die Mücken auftauchen, heißt es natürlich: die Beine in die Hand nehmen.

Dann war da aber auch die Diesellok, mit der turmhohen dunkelroten Visage und den beiden phosphoreszierenden orangefarbenen Streifen. Und mit dem Gitter, das wie ein Eisenbart vorragte. Klaw schauderte.

»Hat wirklich Solen das Fenster geöffnet?«, fragte er tonlos. »Wirklich er?«

»Aber sicher.« Djunka schien erstaunt. »Er hat doch im Westclub sauber gemacht … die hätten ihn rauswerfen können … wenn rausgekommen wäre, dass er uns reingelassen hat …«

Klaw schwieg. Vier Teenager, die ein nervöses Lachen unterdrückten und sich bei einer Skandalvorstellung einschmuggelten. Ein fünfter, der ihnen das Fenster öffnete. Zu viele wussten da Bescheid!

»Djunka!« Er sprach schnell, um weder ihr noch sich selbst Zeit zum Überlegen zu geben. »Was haben wir unter dem Fliederbusch neben dem Spielplatz vergraben? Nur wir beide? In der ersten Klasse?«

»Eine Vogelpfeife«, meinte Djunka verwundert, jedoch ohne zu zögern. »Eine Meise aus Ton, mit einem Loch im Schwanz. Wie dumm wir damals waren …«

Klaw ballte die Hände zu Fäusten. Was hatte er denn hören wollen? Welche Fragen, welche Erinnerungen konnten ihm denn beweisen, dass Djunka nicht Djunka war? Nach allem, was er … nach allem … War er denn blind? Schaffte er es ohne dieses dämliche Verhör nicht, zu erkennen, dass er seine Djunka vor sich hatte?

»Stimmt«, flüsterte er. »Wir waren damals dumm … Djun … Und woran … erinnerst du dich am besten?«

Djunka schwieg lange, und Klaw dachte schon, er habe seine Frage nicht klar formuliert, habe sie vielleicht zu nebulös gehalten.

»Meine stärkste Erinnerung ist«, antwortete Djunka schließlich mit leicht zitternder Stimme, »wie wir auf den Berg gestiegen sind. Damals, du weißt schon. An dieses Gefühl, wenn du nach und nach das riechen kannst, worauf es ankommt. An den Wind und …«

Ein eisiger Schauder rieselte über Klaws Haut. Auch er sah den Tag klar vor sich. Die Rücken der Berge, einer grün, einer blau, einer grau. Er empfand den Schwindel, spürte den Wind. Djunkas Hand hatte in der seinen gelegen, so klar und natürlich wie der Geruch des über den Stamm rinnenden Harzes.

»Wenn du nach und nach das riechen kannst, worauf es ankommt.«

Niemand außer Djunka hätte das so formuliert.

Niemand außer der echten Djunka.

»Djun, lass uns …«, er seufzte mehrmals, »… ein wenig auf den Balkon gehen. Wie … damals …«

»Lass uns aufs Dach klettern«, bat sie flüsternd. »Ja, Klaw … Bitte!«


In der Küche brannte Licht. Ywha tastete sich durch den dunklen Flur. Der Inquisitor saß in sich zusammengefallen am Tisch. Ywha machte den breiten Rücken mit der Kette hervortretender Wirbel aus, die halbrunde Narbe an der rechten Achselhöhle und den weißen Verband oberhalb des Ellbogens am linken Arm. Der Großinquisitor der Stadt Wyshna saß lediglich in Hosen da.

»Was ist, Ywha?«

Er hatte sich nicht umgedreht, sie hatte sich lautlos bewegt. Ob sie sich im Teekessel gespiegelt hatte? Oder hatte er sie gewittert? Wie ein Hund?

»Ich hab dir eine Decke aufs Sofa gelegt … Geh schlafen. Es ist drei Uhr nachts …«

Sie schluchzte auf. Er drehte sich um. An seiner rechten Brust prangte eine weitere Narbe, die der ersten genau gegenüberlag. Sie war etwas größer und ebenfalls halbrund.

»Allein halte ich es nicht aus«, flüsterte sie, wobei sie verzweifelt darauf bedacht war, dass sich ihre zitternde Stimme nicht überschlug. »Ich brauche jemanden … egal wen … in meiner Nähe. Vielleicht sollte ich rausgehen … Da sind Menschen … Ich kann einfach nicht allein bleiben, das ist eine Macke von mir, in meinem Kopf … da ist was ausgerastet … aber das geht wieder vorbei … falls ich nicht vorher völlig durchdrehe.«

»Das wirst du nicht.« Er legte sich den Bademantel über, den er vorher über die Stuhllehne geworfen hatte. »Lass mich nur was anziehen. Die erotische Vorstellung endet für heute.«

Im ersten Moment wirkte die Berührung erneut wie ein leichter Stromschlag.

»Wenn dir völlig egal ist, wer bei dir ist … Wenn dir das wirklich einerlei ist … dann kann auch ich diese Masse bilden. Ich kann sowieso nicht schlafen.«


Sie hatte heiße, trockene und kräftige Hände. Damals, in der Kunstschule, musste sie vor allem beim Töpfern Geschick bewiesen haben. Und bei der Bemalung der fertigen Kannen mit roter Farbe.

»Und dann hat sie gesagt, ich hätte sowieso keine andere Wahl. Ich würde sowieso verbrannt …«

»Die Jagd auf die nicht initiierten Hexen geht los. Auf die tauben. Sie hat gelogen, um dich mit dieser Lüge zu kaufen.«

»Dann hat sie gesagt … sie werde mir erzählen, wie die Registrierung abläuft. Ich würde nackt ausgezogen, erst der Körper, dann … die Seele. Der Inquisitor …«

»Jetzt atme erst mal tief durch.«

»Der würde mit seinen ungewaschenen Händen in mir rumwühlen … in meiner Seele … eine Papierfabrik und väterliche Aufsicht … durch die Inquisition … würden auf mich warten … Aufsicht, das halte ich nicht aus! Seit ich klein war, quält mich der Albtraum, ich sei im Gefängnis!«

Sie lag eingerollt auf dem Sofa, während er neben ihr saß, die Hand auf ihren roten Hinterkopf gelegt. Ob dies das Füchslein aus seiner Kindheit war? Ob es vielleicht eine kleine Füchsin sein mochte? Die jetzt wiedergeboren war — in der Hülle einer rothaarigen jungen Frau? Mit dem Nachnamen Lys, Fuchs. Ywha Lys.

»Niemand wird dir zu nahe treten.«

»Wirklich nicht?«

Sollte er jetzt seine kindliche Hilflosigkeit wettmachen? Wie oft hatte er in Gedanken den Käfig aufgebrochen, den Roten in den Wald gebracht, ihn freigelassen? Aber das hier war kein Füchslein. Sondern ein Mensch. Und wirklich kein schlechter.

Er beugte sich über sie, um sie zu umarmen. Behutsam drückte er sie an sich, konzentrierte sich und versuchte, sie mit seiner Ruhe einzuhüllen. Die Spannung in ihr zu lösen.

»Aber man wird mich doch nicht … mit Gewalt initiieren?«

»Nein. Niemals.«

»Wovor habe ich dann eigentlich Angst?«, fragte sie mit einem nervösen und gleichzeitig erleichterten Lachen.

»Alles wird gut werden.«

»Und Nasar …« Der Name war ihr offenbar gegen ihren Willen entschlüpft. Plötzlich hörte sie auf zu zittern. Reglos schaute sie Klaw so tief in die Augen, wie sie konnte. »Nasar … wird mich … doch nicht verlassen?«

Kurz spielte er mit dem Gedanken, sie anzulügen. Doch da legte sie ihm rasch und entschlossen die Hand vor den Mund. »Sie brauchen nicht zu antworten.« Verlegen zog sie die Hand weg und blickte nach unten.

»Erzähl mir doch mal«, sagte er, um sie von den quälenden Gedanken abzulenken, »woher du eigentlich kommst. Wo hast du früher gelebt?«

Lange brachte sie kein Wort heraus. Klawdi rückte leicht von ihr ab, ließ die Hand jedoch auf ihrem Kopf ruhen.

»Aus einem Dorf. Tischka. Im Kreis Rydna.«


Es waren drei Jungen und vier Mädchen. Ein fünftes kniete da, weil sein dicker roter Zopf fest in der verschrammten Hand eines der Jungen lag.

»Das ist ein Muttermal.«

»Idiotin! Das ist ein Hexenzeichen! In einem Muttermal muss ein Haar wachsen, aber hier ist keins!«

»Lass mich mal sehen! Mach schon!«

»Ihr Schakale«, presste das Mädchen weinend hervor. »Ihr dreckigen Schweine! Fettwänste! Hundescheißer!«

Der Junge, der sie bei den Haaren gepackt hielt, bleckte die Zähne und riss an ihrem Zopf. Das Mädchen atmete scharf ein, gab aber keinen Ton von sich.

Das Kleid war auf dem Rücken vom Hals bis zur Taille aufgeknöpft. Ohne viel Federlesens hatten ihre Peiniger das kurze Unterhemd hochgeschoben.

»Wenn man Feuer an das Hexenzeichen hält, tut es nicht weh«, erklärte der kleinste Junge, ein pausbäckiger Brillenträger.

»Verkackte Schweinehunde!«

»Halt die Schnauze, Hexe! Ist das das Zeichen?«

»Das ist ein blauer Fleck. Das hier ist das Zeichen, neben dem Schulterblatt.«

»Na dann mal los.«

Ein Streichholz knisterte. Wimmernd trat das Mädchen nach seinen Peinigern.


Ywha zitterte.

»Diese Tiere«, kommentierte der Inquisitor.

Ywha versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Sie hatte vergessen, all das vergessen, sie hatte längst verlernt, diese Geschichte zu erzählen, sich daran zu erinnern — und jetzt stand das Bild so deutlich vor ihr. Sie sah die zerbrochene Kiste auf dem Hinterhof der Schule. Mit dem Nagel, der daraus hervorragte. Das von ihren Füßen zertrampelte Gras. Die kalte, harte Erde unter ihrer Wange.

»Es sind Tiere, etwas anderes …«

»Stimmt das denn?«, fragte Ywha kläglich. »Ist das das Zeichen?«

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Viele Mädchen kommen mit einem Kennzeichen am Körper auf die Welt. Manche behalten es ihr ganzes Leben, dann ist es ein Muttermal. Wenn es jedoch während der Pubertät verschwindet … und es ist doch verschwunden, oder?«

»Ja.«

»Dann ist es ein Zeichen. Ein sekundäres Merkmal der Hexenschaft. So was kommt vor.«

Ywha hüllte sich in Schweigen. Die Hand, die auf ihrem Kopf lag, tat ihr überraschend wohl. Sie hatte Angst, sich zu bewegen und damit die Hand zu vertreiben.

»Es ist nämlich so, ich …« Sie verstummte. Bisher war es ihr gelungen, sich nicht direkt an den Inquisitor zu wenden. Jetzt wusste sie nicht, wie sie ihn ansprechen sollte. »Also … Sie müssen wissen, ich habe Angst … Angst vor mir selbst. Vor dem, was in mir sitzt. Verstehen Sie das?«

Die kräftige Hand rutschte von ihrem Hinterkopf. Und legte sich ihr auf die Stirn.

»Niemand sitzt in dir, Ywha. Dein potenzielles Schicksal, das ist auch ein Teil von dir, das bist du selbst … Wenn du keine aktive Hexe werden willst, passiert das aber auch nicht. Glaub mir.«

»Stimmt das wirklich?«

Ihr Gegenüber nickte.

»Ich verstehe … die Hexen«, sagte sie, nachdem sie laut durchgeatmet hatte. »Ich verstehe, woher dieser … warum alle sie hassen. Die Hexen … uns. Ich verstehe jetzt auch, wozu das …«

»Solange ich bei dir bin, wird dir niemand etwas tun.«

»D … danke.«

Ihre tiefe und heiße Dankbarkeit währte eine Minute, dann fühlte sich Ywha unwohl. Sie rückte von dem Inquisitor ab. »Ich … Habe ich etwas Dummes gesagt?«

»Nein. Ich verstehe dich. Was ist weiter passiert?«


Die Klassenlehrerin hatte ein schmales, nervöses Gesicht und einen starken, weißen Hals, der aus einem runden Blusenausschnitt herausragte.

»Du musst das einsehen, Ywha Lys. Niemand von uns will diese Herren in der Schule haben. Von der Inquisitionsabteilung für Minderjährige. Warum sollen wir die Angelegenheit auf die Spitze treiben? Man hat dir doch schon zweimal eine Vorladung geschickt, oder?«

»Ich bin keine Hexe. Sie lügen durch die Bank.«

»Gerade deshalb musst du zu ihnen gehen. Außerdem möchte ich mir vom Direktor nichts sagen lassen müssen. Der ist doch auch nicht auf Kritik von Seiten der Schulbehörde erpicht.«

»Ich bin keine Hexe! Was wollt ihr bloß alle von mir!«

»Werd nicht frech!«

»Ich geh da nicht hin. Ich habe mir nichts zuschulden kommen lassen!«

»Es klagt dich ja auch niemand an. Aber nimm doch mal jemanden mit einer ansteckenden Krankheit … der wird auch bei der Gesundheitsfürsorge registriert. Es macht dir wirklich niemand einen Vorwurf.«

»Ich bin nicht ansteckend!«

Eine Fliege brummte durch den leeren Klassenraum. In Spiralen, Schlaufen und Kreisen. Sie knallte gegen das Fenster, nahm dann ihre Bahnen wieder auf. An der Tafel hing ein Schema des menschlichen Körpers, und die Fliege fing nun an, völlig orientierungslos über die eingezeichneten Gedärme des Menschen zu kriechen.


»Und dann?«

»An dem Abend bin ich abgehauen. Zu meiner Tante. Nach Rydna.«


In dem halbdunklen Café war die Luft graublau vom Tabakqualm. Ein Mädchen weinte, in die Ecke gekauert, in der zitternden Hand eine Mappe, die nicht zugebunden war, deren Schnüre vielmehr lose herabhingen. An die mit grauem Leinen bespannte Tafel kam aufgrund der vielen durchgedrückten Rücken niemand heran. Es roch nach Schweiß und Parfüm, vor allem aber nach Rauch.

»Hast du’s geschafft?«, fragte der junge Mann mit dem braun gebrannten Gesicht, den hohen Backenknochen und dem Dreitagebart. »Hey, Rothaarige … haben sie dich genommen?«

Das rothaarige Mädchen fuhr zusammen. Seit einiger Zeit erschrak sie ständig, wenn sie jemand ansprach. »Ich bin … ich bin nicht zur Tafel durchgekommen.«

»Bist du so schwach?«, wunderte sich der Mann. »Wenn du willst, seh ich mal für dich nach.«

Die Rothaarige nickte.

»Wie war dein Familienname? Lys?«

Am Eingang keifte jemand. Oben stand, ganz in der Nähe der Wendeltreppe, ein ordentlicher junger Mann in einem blendend weißen Hemd. Er fand ein großes Vergnügen daran, zwei Stufen über den anderen zu stehen und mit weisem und müdem Blick auf sie, diejenigen, die gerade erst die Schule hinter sich hatten, herabzusehen.

»Hey, Lys! Stell den Schampus kalt und schwing das Tanzbein!«

Die junge Frau blickte verblüfft drein. Offenbar konnte sie es nicht glauben.

Irgendwo weiter oben, in einer selbst für den ordentlichen Jüngling unerreichbaren Höhe, öffnete sich eine Glastür. Ein fülliger Mann mit einer flachen Ledertasche winkte mit einem weißen Blatt Papier wie mit einem Taschentuch. Eilfertig nahm der Ordentliche das Papier aus den weichen Händen entgegen und las es mit ge­runzelter Stirn durch. »Achtung, eine wichtige Durchsage!«, verkündete er. »Die Studenten des ersten Semesters wenden sich wegen des Wohnheims an … Die wehrpflichtigen Studenten melden sich in Zimmer fünf … Alle immatrikulierten Hexen …«, hier senkte der Student unwillkürlich die Stimme, während sich ein seltsamer Ausdruck in sein Gesicht schlich, »… haben persönlich beim Direktor zu erscheinen und das Dokument ihrer Registrierung bei der Kreisinquisition vorzulegen.«

»Die nehmen Hexen«, keifte die verweinte junge Frau mit der offenen Mappe. »Die nehmen Hexen … Ist denn das die Möglichkeit?«

Man sah sie mit mitleidsvollem Argwohn an.

Denn bei Lichte betrachtet nahm man Hexen doch nirgendwo an.


»Bleib bei der Wahrheit. Hexen sind zwar verschiedene Bürgerrechte entzogen, nicht aber das Recht auf einen Beruf.«

Ywha brachte es gerade noch fertig, keine Grimasse zu schneiden. Es war schon erstaunlich, wie wenig diese bedeutenden Herren über das Leben wussten, das sich zu Füßen ihrer hohen Stühle abspielte.

Einem Sprichwort zufolge wurde man alt, sobald man in seinen Erinnerungen lebte. Sie, Ywha, hatte sich damit heute den Titel einer ehrwürdigen Greisin verdient; diese Erinnerungen waren wie alte Kleider, die, mit Naphthalin behandelt, in einer verschlossenen Truhe ruhten. Und es war dumm, sie ans Tageslicht zu zerren.

Noch dümmer war es allerdings, daran ein Vergnügen zu finden.

Kein Spiel hatte Ywha mehr gehasst als das, bei dem man ehrlich antworten musste. Da hatte sie die ganze Zeit über geschwiegen — und wurde deshalb scheel angesehen.

Später hatte sie gelernt zu lügen. Absolut offen zu lügen, wenn man ihr offene Fragen stellte. Und alle hatten sie geliebt. Ihr geglaubt.

»Ich hatte keine Ahnung, dass es ein solches Spiel gibt.«

»Doch. Vor allem gegen Abend. Wenn die Mädchen zu fünft in den Schlafsälen liegen und vor dem Einschlafen noch etwas schwatzen. Oder wenn alle ein wenig getrunken haben.«

Der Inquisitor legte den Kopf schräg. Er saß ihr halb zugewandt da, und im Licht der Wandlampe sah Ywha nur seine eine Gesichtshälfte. Mit dem herabgezogenen Mundwinkel.

Warum erzählte sie ihm das eigentlich alles? Und warum interessierte es ihn?

Aus professioneller Neugier? Wie viele solcher Beichten er sich wohl an jedem Arbeitstag anhörte?

Plötzlich fiel ihr das große Bett in der anderen Wohnung wieder ein, ein Schlachtfeld, überzogen mit dem Schnee der weißen Bettwäsche.

»Und wie sieht Ihr Leben aus?«

Die Frage war ihr ganz von selbst entschlüpft. Noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte, wurde Ywha voller Entsetzen klar, dass sie die Worte nicht mehr zurücknehmen konnte. Worte sind keine Spaghetti, die man sich in den Mund stopfen kann.

Die Pause dehnte sich. Ywha schluckte ihre Spucke hinunter.

»Was meinst du? Wie wird mein Leben schon aussehen?«

»Wollen Sie denn immer so weitermachen?« Ywha seufzte verzweifelt. »Ich habe gehört, ein Inquisitor darf nicht heiraten.«

Sie stellte sich auf jede Reaktion ein. Gelächter, Desinteresse, eine bissige Bemerkung, arrogante Abkehr. Der Inquisitor drehte langsam den Kopf.

»Das geht mich ja nichts an«, murmelte Ywha. »Entschuldigen Sie bitte.«

Er lächelte. Ihre Angst schien ihn zu amüsieren. »Schon gut, deine Frage ist ganz normal.«


(Djunka. Mai.)

Die Luke, die zum Dachboden führte, war nie abgeschlossen.

In tiefem Schweigen liefen sie an dem Betonkasten vorbei, in dem sich etwas drehte und die Motoren der beiden schwachen Fahrstühle brummten. Sie liefen an der niedrigen Tür vorbei, deren Klinke ein großes Vorhängeschloss sicherte. Sie kletterten die akkurat gestrichene Eisenleiter hoch und kamen hinaus in den feuchten Frühlingsabend. Vierundzwanzig Stockwerke brachten sie den Sternen nicht näher, von denen es ohnehin nur zwei oder drei gab. Über den dunklen Himmel zogen, ständig die Form wechselnd, graue Wolken dahin.

Früher hatte es hier einmal ein Café gegeben. Jetzt war von ihm nur noch das Eisenskelett eines Sonnenschirms übrig, den man hier seinem Schicksal überlassen hatte und der langsam vor sich hin rostete. Das alte Geländer rostete ebenfalls, weshalb sich Klaw auch nicht dagegenlehnte.

Hier brauchte man kein Licht. Die Fassade des Hauses gegenüber war vollständig in bunte, flackernde Reklamelichter getaucht. Djunkas Gesicht, in dem jede Wimper klar erkennbar war, leuchtete mal apfelsinengelb, mal fliederfarben oder grasgrün. Klaw wusste, dass er selbst nicht besser aussah.

»Wie im Zirkus.« Djunkas Mundwinkel umspielte ein Lächeln.

Klaw fröstelte. Er hatte keine Höhenangst, aber der Wind stellte sich als überraschend kalt heraus.

»Klaw … ich … liebe … dich.«

Aus unerfindlichen Gründen fuhr er zusammen. Er legte ihr die kalten Hände auf die Schultern. »Djunotschka …«

»Klaw …«

»Djun.« Er befeuchtete sich die Lippen. »Und was wäre … wenn ich sterben würde? Was würdest du dann tun? Wenn ich plötzlich …«

Der Ausdruck in ihren Augen änderte sich. Er glaubte, Angst darin zu erkennen.

»Tut mir leid«, sagte er hastig. »Ich …«

»Du brauchst keine Angst zu haben, Klaw«, flüsterte sie, während eine neue Explosion der Reklamelichter ihr Gesicht kupferrot schimmern ließ. Verbrannt sah das aus, wie bei einem Indianer. »Du … wirst … nicht sterben. Hab keine Angst …«

Die Neonlichter flackerten. Dunkelblaues Licht überflutete jetzt das Dach. Djunkas Gesicht mit den bittenden, halb geschlossenen Lippen wurde matt wie …

… wie das Flachrelief auf dem dunklen Grabstein. Klaw wich zurück, aber ihre Hände legten sich um seinen Hals, wollten ihn halten. »Klaw … verlass … mich … nicht!«

Die Hände lösten sich. Djunka trat zurück, und in einem weiteren lautlosen Ausbruch der bunten Lichter sah Klaw, wie feucht ihre Wimpern waren.

Mitleid schnitt ihm ins Herz.

»Ich verlasse dich doch nicht … niemals … wie kommst du denn darauf.«

Djunka wich weiter zurück. Fast gleichzeitig sickerten zwei große Tränen aus ihren Augen. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wolle sie sagen: Nein.

»Glaubst du mir nicht?!«

Immer noch wich Djunka zurück.

Was bin ich nur für ein Schwein, dachte Klaw wütend. All die Ängste und das Zögern! Das entgeht ihr doch nicht. Wie sie sich da vorkommen muss?! Immer wartet sie auf mich, ständig hat sie Angst, dass ich nie wieder komme, Schluss mache, weil ich mich vor ihr fürchte.

»Djunotschka, ich schwöre dir, bei allem, was ich habe, ich schwöre es dir bei meinem Leben …«

Er glaubte, sie würde ihm entwischen — wie ein Traum. Dass seine ausgestreckten Hände sie nie berühren und ins Leere greifen mochten.

Erleichtert seufzte er, als er endlich die zitternden, hängenden Schultern umfasste. Er zog sie an sich, kam ihr entgegen, konnte es nicht abwarten, sie in die Arme zu schließen. »Niemals …«, versicherte er.

Sie lehnte sich leicht zurück. Rutschte ein wenig zur Seite. Kaum merklich.

Unmittelbar unter den Sohlen seiner Schuhe erstreckte sich die nächtliche Straße, da funkelten die Bürgersteige, blinkten Lichter und hupte es. Ein Heer von Autos kroch über sie, vor Schaufenstern standen menschliche Figuren, winzig wie Ameisen im Sand.

Die Luft verdichtete sich und weigerte sich, in seinen krampfhaft aufgesperrten Mund zu strömen.

Zwischen ihm und der Leere gab es nichts. Keinen Vermittler. Auge in Auge stand er ihr gegenüber.

Die Straße verschwamm vor seinen Augen zu einem einzigen, bunten Band. Das Dach neigte sich zögernd, als beuge es sich gegen seinen Willen. Als wollte es diesen Menschen viel lieber wegschleudern, so wie man eine Brezel, die am Backblech klebt, durch einen kurzen Schlag von diesem löst — damit sie gegessen werden kann.

Er bemerkte ein Netz von Leitungen, das ihm zuvor nicht aufgefallen war, samt einer akkuraten Reihe von Nichtleitern aus Porzellan, gespannte schwarze Linien, die sich zu einem Notenheft fügten.

Bonbonpapier sah er, das direkt neben dem Mülleimer in den Asphalt getreten war. Aus dieser Höhe konnte man kein Papier erkennen, selbst die Gesichter der Menschen und die bunten Karossen sah man von hier oben nicht scharf und deutlich. Doch Klaw erspähte es.

Das Dach neigte sich weiter. In der Luft konnte er sich nirgendwo abstützen. Die Leere saugte ihn an, bildete einen glitschigen Trichter. Der Fall war unvermeidlich.

Er stolperte vor. Tat noch einen halben Schritt. Unter seinen Füßen gab es nichts mehr. Jeder Halt fehlte — und in der Luft konnte er sich nirgendwo abstützen. Die Erde zog ihn an.

Hypnotisiert, gehorsam, unfähig, sich der Leere zu widersetzen, balancierte Klaw am Rand des Dachs entlang. Die Fassaden schlossen sich zu einem Brunnen zusammen, an dessen Boden die Straße lag. Ein Lichtermeer …

In diesem Augenblick schrie der Wächter in seinem Innern lautlos auf, er, der so unfassbar war, der unauslöschlich in seinem Gedächtnis hauste und ihm in der letzten Woche bereits zweimal das Leben gerettet hatte. Das Alarmzentrum, das den paralysierten Willen weckte. Ein brodelnder und unverfälschter Instinkt des Selbsterhalts.

Nein!

Der Rand des Daches, der zu jener Grenze geworden war, bebte unter ihm. Klaw schwankte.

Die Mauer des gegenüberliegenden, mit Werbetafeln gespickten Hauses verdrängte die Straße aus seinem Blick.

Er riss sich vom Rand weg, entkam dem Loch in dem verrosteten Zaun.

Und landete im Himmel. Drei trübe Sterne schoben sich durch die Wolken. Irgendwann glaubte er, er liege unten, auf dem Asphalt, und schaue mit gläsernen Augen in den Himmel, während um ihn herum, sein Blut verschmierend, Fußgänger wimmerten und wuselten.

Dabei lag er auf dem Dach. Es war den Sternen ganze vierundzwanzig Stockwerke näher. Und über ihn beugte sich nur ein einziges Gesicht, das im Licht der Neonreklame todgrün aussah.

In den feuchten Augen lag ein unverständlicher, aber klarer und Furcht erregender Ausdruck.


Warum um alles in der Welt grübelte er eigentlich darüber nach, wie sie ihn sah? Als einen alten, rational handelnden Junggesellen, der sein kaltes Beamten-Ich sorgsam von seinem Lustmolch-Ich fern hielt, diesem Tier, das in Bergen steriler Laken wütete? Natürlich fand sie ein solches Leben unnormal. Fedora dagegen — um nur ein Beispiel zu nennen — hatte daran absolut nichts auszusetzen: Er war frei, reich, ehrgeizig, da hatte er doch auch das Recht …

Mit einem Seufzer vertrieb er den drängenden Wunsch nach einer Zigarette. Es erstaunte ihn, dass die Füchsin Ywha das beschauliche Familienleben so aufrichtig schätzte. Eine solche Sicht ist für Hexen absolut untypisch. In der Regel.

Verflucht sei Juljok! Und verflucht sei Nasar!

Klawdi ließ ihre Hand los und stand auf. Er verzog das Gesicht, denn er hatte einen unangenehmen Geschmack im Mund, entstanden durch allzu große Anspannung. Ein Andenken an die fünf Elevinnen, diese Luder; nicht einmal das Verhör hatte er übernehmen wollen; sollte sich Hljur ruhig damit herumschlagen. Dabei fürchtete er sich nicht vor ihnen — obwohl Angst eine Rolle spielte. Er fürchtete nämlich, sich nicht beherrschen zu können und — wenn auch nur minimal — Rache üben zu wollen. Für diesen Horror, als der Schmerz aus seinen Ohren kroch und diese fünf Furien auf ihn losgingen, ihn zerquetschten, drohten, ihn in Stücke zu reißen.

Dabei hatte er von Anfang an gewusst, dass nicht Edelmut die drei Arbeitshexen antrieb. Im Grunde war es seltsam, dass nur eine von ihnen eine Pistole besaß. Womit wohl die beiden anderen ausgerüstet waren?

Die Torka. Vermutlich hatte sie ihm das Leben gerettet.

»Fünf gegen einen, Ywha! Auf so viele hatte ich es wahrlich nicht angelegt.«

»Wie bitte?« Die junge Frau horchte auf.

»Nichts.« Er trat ans Fenster und zog die Gardinen zurück, um das erste Morgenlicht hereinzulassen. »Hexen schließen sich sehr selten zusammen, Ywha. Jede Hexe steht für sich allein. Aber wenn sie plötzlich Allianzen eingehen, kann das zum Beispiel zur Epidemie von Rjanka führen. Und es ist die Aufgabe eines klugen Inquisitors zu verstehen, wann und weshalb es diesen Miststücken, verzeih, Ywha, diesen Hexen in den Sinn kommt, gemeinsam zuzuschlagen.«

Ywha stieß einen unterdrückten Seufzer aus.

»Sie hassen die Unfreiheit so sehr, dass sie niemanden außer sich selbst gelten lassen können. […] Genau wie zwei große Vögel sich nicht am Himmel treffen können, ohne einander mit ihren Flügeln ins Gehege zu kommen. Genau wie zwei Windhosen über dem Meer fürchten, sich einander zu nähern […], so können auch Hexen nicht in einer Gemeinschaft leben, können sich nicht verbinden. Hexen sind dem Chaos verpflichtet, wohingegen jede gemeinschaftliche Existenzform eine wenn auch nur geringfügige Einschränkung der Freiheit verlangt. […] Aus der Geschichte sind jedoch Phasen bekannt, in denen die Hexen, dabei höchst eigenen Gesetzmäßigkeiten folgend, entgegen ihrer eigenen Natur handeln und Allianzen eingehen. In schlechten Zeiten. In schweren Zeiten, in denen es gilt, ihnen so tapfer wie möglich entgegenzutreten; mehr aber noch gilt, nicht in jenen Chor von Narren einzustimmen, der in fortgesetzter Häresie von der Ankunft der Mutterhexe singt!«

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