5

»Geh rein!«

Ywha blinzelte im Licht, das sie jäh überflutete. Aus irgendeinem Grund hatte sie erwartet, hier Schmutz und ausgebleichte Tapeten vorzufinden. Vermutlich lag das an dem Eindruck, den der dunkle, verdreckte Hauseingang auf sie gemacht hatte. Doch schon der Flur der Wohnung war sauber und ordentlich, sogar geschmackvoll. Das einzige Manko war seine enorme Enge.

Halt, nein, da gab es noch etwas, das negativ auffiel. Ywha zog die Nase kraus, als sie den kaum wahrnehmbaren Geruch einer leeren Wohnung roch.

»Nur zu, geh durch, sonst treten wir uns gegenseitig auf die Füße.«

Die massive Garderobe war leer. Als Ywha die Schlaufe ihrer Jacke über einen geschwungenen Kupferhaken schob, durchlief sie ein Zittern.

»Ist das … Wohnt hier niemand?«

»Manchmal wohne ich hier.« Aus dem Schuhschrank holte der Inquisitor ein Paar Hausschuhe für Frauen. »Manchmal auch niemand … Hier, probier die mal an.«

Die Hausschuhe waren fast neu. Ywha zögerte. Es kam nur selten vor, dass sie fremde Sachen anzog, und jedes Mal fühlte sie sich dabei nicht so recht wohl. Immer meinte sie, die bisherigen Träger hätten einen Teil von sich darin gelassen. Die Wärme ihres Körpers vielleicht oder ihren Schatten.

Der Inquisitor blickte zu ihr hinüber, schien etwas sagen zu wollen, zog sich dann aber schweigend ins Wohnzimmer zurück. Ohne noch länger darüber nachzugrübeln, schlüpfte Ywha schließlich in die Hausschuhe, die ihr nur ein wenig zu groß waren.

Das Zimmer passte zum Flur. Ein ordentlicher, gediegen eingerichteter Raum, der jedoch erstaunlich klein war. Zwei weiche Sessel und ein Bücherschrank füllten ihn fast ganz aus, nur die Decke und ein schmaler Gang für einen Läufer blieben noch frei. Auf den Büchern lag Staub, dessen Geruch Ywha nicht entging.

»Hier macht niemand sauber«, erklärte der Inquisitor unerschüttert. »Wenn es dir gefällt, bleib hier. Im Bettkasten ist frische Bettwäsche, im Bad gibt es Warmwasser. Du kannst alles benutzen. Leg danach aber alles wieder an seinen Platz zurück.«

»Gehört diese Wohnung … auch Ihnen?«

»Letztlich … schon«, gab der Inquisitor mit gerunzelter Stirn zu, als bekümmere ihn ihre Begriffsstutzigkeit. »Ja, in gewisser Weise gehört mir diese Wohnung auch … Lebensmittel sind in der Tasche da. In der Küche gibt es einen Kühlschrank, Geschirr und Konserven. Wenn du willst, mach dir etwas zu essen. Das Telefon steht im Schlafzimmer, du kannst es ruhig benutzen. Eine Bedingung gibt es allerdings, Ywha. Verlass die Wohnung nicht. Nicht einmal, wenn ein Feuer ausbricht.«

Sie rang sich ein Lächeln ab. »Also, falls es brennen sollte, würde ich es vermutlich schon tun.«

Er lächelte nicht zurück. »Nein«, sagte Klawdi entschieden. »Wenn ich könnte, würde ich dich ohne viel Federlesens einschließen. Aber da dieses Gebäude als Wohnung und nicht als Gefängnis geplant war, ist das einzige Schloss dein gesunder Menschenverstand. Also, Ywha …«

Seine Augen funkelten entschlossen. Ywha hatte den Eindruck, ein Eisenreifen ziehe sich enger und enger um ihren Kopf zusammen.

»Eins solltest du wissen.« Der Inquisitor wandte sich von ihr ab. »Indem ich meinem Freund Mytez diesen Gefallen erweise, tue ich etwas, das ich eigentlich nicht tun dürfte. Aber wenn dich eine Patrouille aufgreift — und ich hoffe sehr, dass genau das passiert, solltest du dir einfallen lassen, durch die Stadt zu streifen –, kämst du wie alle anderen ins Gefängnis. Damit geht die Welt noch nicht unter — aber genau das wolltest du ja wohl vermeiden, oder?«

»Ich … ja.« Ywha nickte heftig. »Danke, ich werde nicht …«

»Hätten wir das also geklärt.« Der Inquisitor war es offenbar leid, sich ihre wirren Dankesbekundungen anzuhören. »Hier kommt niemand her, du bist hier absolut sicher. Verhalte dich also bitte ruhig, Ywha. Bis später.«

»Auf Wiedersehen«, presste sie heraus.

An der Fensterscheibe, die seit Langem nicht geputzt worden war, rannen die letzten Tropfen des Regens herunter. Sie lehnte die heiße Stirn gegen das Glas und beobachtete, wie der Mann in dem langen dunklen Mantel das Haus verließ. Ohne jede Hast durchquerte er den kleinen, tristen Innenhof. Obwohl sein krokodilgrünes, extravagantes Auto wie ein Gast wirkte, der sich zufällig in diese Gegend verirrt hatte, lockte er die kleine Kinderschar nur kurz von ihrer Schaukel weg. Sobald die Kleinen ihre Neugier befriedigt hatten, kehrten sie zu ihrem Vergnügen zurück. Offenbar hatte Klawdi Starsh vor diesem bescheidenen Haus nicht zum ersten Mal seinen nicht ganz so bescheidenen Graf geparkt. »Ja, in gewisser Weise gehört mir diese Wohnung auch.«

Die Stille in den leeren Räumen legte sich schwer auf sie. Ywha stand am Fenster, sah dem abfahrenden Auto nach, seufzte, zog die verstaubte Gardine vor, umrundete auf Zehenspitzen den Sessel und spähte durch die schmale Tür ins Schlafzimmer.

Natürlich!

Was war sie doch für eine Idiotin! Eine Vollidiotin geradezu! Wie waren die Hausschuhe einer Frau denn wohl sonst zu erklären?!

Angewidert starrte Ywha auf die eigenen Füße. Anschließend richtete sie den Blick noch einmal auf das riesige Doppelbett, das zwei Drittel des engen Schlafzimmers einnahm.

Ein einsamer, alleinstehender Mann, ohne jede Beziehung. Auf dem Gipfelpunkt seiner Karriere, ganz oben auf der gesellschaftlichen Leiter angelangt, wird er seine — pardon! — Weiber nicht in seine offizielle Wohnung am Platz des Siegreichen Sturms mitschleppen. Natürlich verfügt er über ausreichende finanzielle Mittel, um für seine Rendezvous eine kleine Wohnung zu unterhalten, ein Mittelding aus Privatbordell und Hotel.

Ywha seufzte. Sie kehrte ins Wohnzimmer zurück, setzte sich und ließ den Hinterkopf gegen die weiche und staubige Lehne des Sessels fallen. Ihre Gedanken, in denen es bis eben nur für bittere Überlegungen bezüglich der Unmöglichkeit einer Flucht Raum gegeben hatte, nahmen unvermutet eine völlig neue, nicht ganz angemessene Richtung.

Vielleicht sollte sie auch mal in den Schrank schauen? Oder unters Bett? Dort fände sie ja womöglich einen Kamm, den eine der Damen vergessen hatte. Mit zwei langen, verknoteten Haaren zwischen den Zinken. Und auf dem Regal im Bad dürfte mit Sicherheit ein alter, vor Urzeiten verloren gegangener teurer Lippenstift liegen, an dessen perlmutternem Körper sich noch die Spuren eines fremden Mundes erkennen ließen. Ja, vielleicht fand sie sogar Wäsche, halbtransparent und achtlos in den Schrank gestopft.

Voller Verachtung presste sie die Lippen aufeinander. Wie pervers ein solches Leben doch war! Ein Mann, der Zufallsbekanntschaften aufgabelte! Ekelhaft! Allerdings: So zufällig dürften sie wohl nicht sein, diese Bekanntschaften. Schließlich würde der Großinquisitor ja wohl kaum seine Gesundheit oder seinen guten Ruf riskieren. Ob ihm sein Büro die Frauen besorgte?

Ywha verzog das Gesicht, als hätte sie auf etwas Verfaultes gebissen. Warum zerbrach sie sich eigentlich darüber den Kopf? Über all diese Schweinereien, die sie selbst im schlimmsten Fall nicht zu interessieren brauchten? Und im besten Fall existierten sie, diese Schweinereien, nur in ihrer Phantasie.

Womit allerdings auch ihre Phantasie einigermaßen versaut wäre. Aber schließlich handelte es sich bei ihr ja auch um eine junge, versaute Hexe! Wie weit ihre Phantasie wohl gehen würde?

Möglicherweise holte er sich in dieses Bett sogar ausschließlich junge, versaute und frisch geschnappte Hexen?

Kurz fühlte sich Ywha so unbehaglich, als säße sie auf Nägeln. Dann schob sich das undurchdringliche, an eine Panzertür erinnernde Gesicht des Inquisitors wieder vor ihr inneres Auge. »Indem ich meinem Freund Mytez diesen Gefallen erweise, tue ich etwas, das ich eigentlich nicht tun dürfte.«

Puh, gestelzter ging es ja wohl kaum! Im Klartext hieß das: Er machte sich überhaupt nichts aus ihr. Ihre Vorzüge — sowohl die der Hexe als auch die der Frau — ließen ihn völlig kalt. Vielleicht stand ihm ja ohnehin nur sehr selten der Sinn nach einer Frau. Womöglich hatte er von solchen wie Ywha aber auch an jedem Finger zehn!

Sie fühlte sich erleichtert — und prompt auch ein wenig beleidigt. Für wie großartig hielten sie sich eigentlich, diese Herren Inquisitoren?!

Plötzlich erschauderte sie. »Gestern habe ich den ganzen Tag nichts anderes gemacht, als Frauen zu foltern, Ywha. Und die öffentliche Meinung, momentan vertreten durch dich, billigt das offenbar.«

Alle Müdigkeit der letzten Tage, die Last der durchwachten Nächte, legte sich ihr auf die Schultern und presste sie in den weichen Sessel. Nein, daran sollte sie jetzt besser nicht denken. Das stieß sie weg, das musste sie wegstoßen.

Mit aller Kraft erhob sie sich und humpelte ins Bad. Auf dem Regal lag kein Lippenstift. Ywha grinste schief. Wie naiv moderne Kosmetik doch war! Vermutlich versteckte sie sich unterm Schrank und glaubte, da fände sie niemand.

Sie klatschte sich warmes Wasser in die Augen. Eine Weile lang blieb sie stehen, um ihr graues Gesicht in dem ovalen Spiegel zu mustern. Hopfen und Malz waren da verloren. Sie tapste ins Schlafzimmer, wo sie sich angezogen auf die Bettdecke legte.

Kurz vorm Einschlafen meinte sie einen Mann im offenen dunklen Mantel zu sehen, der neben dem Bett stand. Ywha schrie auf und setzte sich hoch, um auf die leere Türfüllung zu starren.

Bist du verrückt geworden?, schalt sie sich. Lässt du dich jetzt etwa im Traum vergewaltigen?!


Der Aschenbecher quoll über. Klawdi sackte gegen die Lehne des harten Drehstuhls zurück und schloss die Augen. Nur eine kurze Pause … Wie spät war es eigentlich?

Die grausame, flexible und zuverlässige Maschinerie der Inquisition war sein Verdienst. Genau wie es auch sein Verdienst war, dass ein unterschriebener Befehl nicht einfach ein Stück Papier blieb, sondern sich umgehend in Kontrollen und Überprüfungen verwandelte, in Verhaftungen, Treibjagden und Patrouillen. Nicht umsonst saß er seit fünf Jahren auf diesem Stuhl. Er konnte nur vermuten, welche Verwünschungen die aberhundert Hexen für ihn parat hatten, in den fernen Provinzen genauso wie in den Nachbarstraßen.

Er lächelte bitter. Die Alarmglocke, die seit dem Besuch bei seinem Freund Mytez in ihm schrillte, klang nun ein wenig leiser, war aber nicht verstummt. Immerhin hatten sie die Epidemie in Rjanka in den Griff bekommen und in Odnyza eine Tragödie verhindert. Dennoch verstand niemand, woher diese enorme Bosheit bei den Hexen, die zwar auch sonst nicht gerade als harmlos gelten konnten, plötzlich rührte. Und woher diese neue Unterart kam, diese ungehemmt aggressiven Hexen mit den noch nie da gewesenen tiefen Brunnen und ihren nicht nachvollziehbaren, ja, sogar wahnsinnigen Motiven. Sollten das etwa die grauen, nicht initiierten kleinen Hexen sein, die in jedem Städtchen registriert waren und einer strengen Kontrolle unterstanden? Was erwarteten sie von ihrem neuen Leben — das ihnen letztlich doch nur den Tod brachte?

Etwas musste sich an ihrem Selbsterhaltungsinstinkt verändert haben. Der oberflächliche Sieg — die Ruhe, die wieder im Land eingekehrt war — konnte sich nur allzu rasch als Gott weiß was herausstellen. Sie konnten tausend Hexen festsetzen — aber wer garantierte ihnen, dass daraufhin nicht dreitausend neue auftauchten? Quasi aus dem Nichts?

Er spielte mit dem Füller. Eine großartige Feder, die mit einer einzigen Unterschrift solche unversehens auftauchenden Wesen einen Kopf kürzer machen konnte. Nur gut, dass die Tinte nicht rot war …

Schmerzhaft verzog er das Gesicht. Selbst jener sture Bengel, der vor vielen Jahren zum ersten Mal die Schwelle der Inquisitionsschule übertreten hatte, hätte kaum angenommen, dass er einmal derart … in der Scheiße säße. Nieder mit dem Abschaum! In der Tat eine treffende Losung!

Unter seinen Lehrern war ein kluger und — wie es ihm schien — recht anständiger Mann gewesen, ein überzeugter Verfechter der »Null-Variante«. Offiziell hatte die Inquisition immer wieder erklärt, sie teile diese Idee nicht, hatte ihren Mitarbeitern andererseits jedoch nie verboten, die offenkundigen Vorteile dieser Variante zu diskutieren. Die Null-Variante erklärte klipp und klar: Hexen waren überflüssig. Ohne Wenn und Aber. Jede Einzelne von ihnen …

Verärgert wollte Klawdi schon den Füller von sich schleudern. Stattdessen atmete er jedoch tief durch und legte ihn akkurat auf dem Tisch ab.

An der Telefonanlage flackerte ein grünes Lämpchen auf.

»Ja.«

»Nieder mit dem Abschaum! Helena Torka, Registrierungsnummer 68, verlangt hartnäckig, vorgelassen zu werden, Patr …«

»Ich weiß, wer sie ist, Myta. Ist sie allein?«

»Die anderen … Es waren bereits zweiundsiebzig Menschen da, Patron, seit heute Morgen. Ich habe sie zu den Kollegen geschickt und … kurz und gut, sie wurden schon alle abgefertigt. Von Herrn Hljur und seinen Kollegen. Aber die Torka …«

»Schicken Sie sie rein.«

»Ja, Patron.« Die Sekretärin atmete erleichtert auf.

Unter den vielen Wyshnaer Hexen gab es nur ein knappes Dutzend, das das Privileg genoss, der Kontrolle des Großinquisitors persönlich zu unterstehen. Klawdi selbst hatte diese Bestimmung eingeführt, und im Laufe der letzten fünf Jahre hatte sie ihren innovativen Charakter eingebüßt und war zu einer gewohnten Erscheinung geworden. Die Zeit, die ihn das kostete, bedauerte Klawdi nicht, denn die privilegierten Hexen waren ausnahmslos interessante Gesprächspartnerinnen.

Helena Torka leitete die Wyshnaer Oper etwa so lange, wie auch Klawdi der Inquisition vorstand. Letztlich war es ihr sogar nur dank Starsh gelungen, sich auf ihrem Posten zu halten. »Unser neuer Großinquisitor ist ein toleranter Mann.«

Helena Torka war »taub«, also eine nicht initiierte Hexe, ungeachtet zahlreicher Verlockungen, ihres impulsiven Charakters und ihrer fast fünfzig Jahre. In der Regel kannte Helena Torka den Preis der Dinge. Wichtiger als das war jedoch: Helena Torka war ihrem Theater so treu ergeben wie ein Hund.

Lautlos wurde von außen die Tür geöffnet. Die Frau, deren Gesicht von einem Hutschleier verdeckt wurde, erzitterte schmerzgepeinigt. Nie zuvor hatte Klawdi sie hier empfangen. Für die regulären Kontrolltreffen mit dieser Vertreterin der Boheme eignete sich das kleine Zimmer einen Stock tiefer weitaus besser, erinnerte es mit seinem großen Spiegel und dem Sofa doch an eine Theatergarderobe. Sein Büro strahlte dagegen weder Ruhe noch Vertraulichkeit aus, eher im Gegenteil. Keine Hexe genoss den Anblick des Geständniszeichens, das direkt in die Holzverkleidung der Wand geschnitzt war. In dreifacher Ausführung.

»Guten Abend, Helena.« Klawdi erhob sich und versuchte gleichzeitig, den Schlag zu mildern, der auf die Hexe niederging. Die Direktorin der Oper hatte sich nie auch nur einer mittelstarken Abwehr rühmen können.

»Ich grüße Sie, mein Inquisitor.« Kaum merklich neigte die Frau den Kopf. »Wir leben in schweren … Zeiten …«

»Zumindest sind sie nicht leicht.« Klawdi wartete, bis die Frau im Besuchersessel Platz genommen hatte, bevor er nach den Zigaretten griff, diese dann jedoch wieder wegsteckte. »Ich bin vermutlich gerade keine besonders gute Gesellschaft. Ist mein Druck auf Sie zu stark?«

»Nein.« Die schmalen Lippen unter dem Schleier lächelten tapfer. »Das halte ich schon aus … Schließlich habe ich deswegen … wegen dieses unvergesslichen Eindrucks … bereits sechs Stunden im Vorzimmer gewartet.«

»Das tut mir leid, Helena«, antwortete Klawdi ungerührt. »Ich hoffe, Sie haben dafür Verständnis.«

Der Kopf mit dem schwarzen Hut nickte bedächtig. Krampfhaft versuchte die Frau, das Geständniszeichen an den Wänden zu ignorieren.

»Kommen wir zur Sache.« Klawdi setzte sich ebenfalls. »Heute ist keiner von den Tagen, an denen Sie sich melden müssten. Was hat Sie, eine viel beschäftigte Frau, also veranlasst, sich diese sechs Stunden stehlen zu lassen?«

»Ich würde Sie nicht behelligen …«, die dünnen Lippen lächelten erneut, »… wenn ich diese Angelegenheit nicht für außerordentlich bedeutsam hielte.«

»Die Oper?«

»Die Schule. Wie Sie wissen, mein Inquisitor, untersteht die Ballettschule vollständig dem Theater … Die Ausbildung der Eleven …«

»Das ist mir klar. Weiter.«

»Gestern … sind fünf Mädchen verhaftet worden. Heute Morgen zwei weitere.«

»Wie viele sind es insgesamt? Hexen, meine ich.«

»Es sind sehr begabte Kinder.« Wie in Zeitlupe lüftete die Direktorin den Schleier, um ihrem Gesprächspartner das schmale, bleiche Gesicht mit den beiden blauen Venenschnüren an den Schläfen zu enthüllen. »Alles Mädchen. Zwischen vierzehn und sechzehn.«

»Wie viele?«

»In der Schule zehn.«

»Das sind sehr viele, Helena.«

»Das liegt an der Kunst.« Die Frau reckte das Kinn gebieterisch vor. »Es ist schließlich nicht meine Schuld, dass … begabte Kinder sich so häufig als welche … von uns … herausstellen.«

Klawdi sackte gegen die harte Lehne zurück. Im Grunde war das keine Neuigkeit. Unter den Mädchen, die den schönen Künsten zugeneigt waren, gab es einen extrem hohen Anteil junger Hexen. Nicht initiierter selbstverständlich.

»Helena, haben Sie ihnen denn nicht gesagt, dass sie sich registrieren lassen müssen?«

Die Frau hüllte sich in Schweigen.

»Wie viele der zehn sind schon registriert?«

»Zwei.« Die schmalen Lippen bewegten sich kaum.

»Helena? Was erwarten Sie jetzt eigentlich von mir?«

Langsam erhob sich die Frau. Voller Mühe, aber dennoch graziös, ja, sogar stolz. »Klawdi …« Sie trat an den Tisch heran. Es war der Schritt eines Opfers, das freiwillig ins Messer läuft, denn die Verringerung des Abstands brachte ihr neue Schmerzen ein. »Gestatten Sie mir, Sie so zu nennen … Das sind besondere Kinder, Klawdi. Sie …« Helena warf den Kopf in den Nacken. »Im Theater gibt es anderthalb Dutzend Hexen. Sie alle sind registriert, darauf achte ich genau … Aber dies hier sind Jugendliche. Ihnen tut das besonders … weh. Einige von ihnen wissen noch nicht einmal selbst … dass sie Geächtete sind. Dass sie Monster sind. Dass ihr einziges Zuhause, in dem man sich nicht von ihnen abwendet, ihre Schule, ihr Theater, ihr Nest ist … Jetzt sind sieben von ihnen verhaftet worden … Das traumatisiert doch alle. Schließlich verstehen sie nicht einmal, warum man das mit ihnen macht. Eine hat man nicht mitgenommen. Sie wartet jetzt auf ihre Verhaftung. Seit vierundzwanzig Stunden hat sie nichts gegessen …« Als sie einen weiteren Schritt nach vorn machte, verzerrte Schmerz ihr Gesicht. »Ich flehe Sie an. Verbrennen Sie mich von mir aus acht Mal. Aber lassen Sie die Kinder frei, es trifft sie keine Schuld, sie leben nur fürs Ballett, ohne sie wird das Theater eingehen …«

»Zurück, Helena.« Klawdi schloss die Augen. »Das ist nicht nötig. Gehen Sie zurück.«

Die Frau wich zurück. Sie setzte sich wieder in den Sessel, fiel nicht hinein, sondern nahm Platz. Unter Beibehaltung ihrer Würde.

»Ich bin kein Henker«, erklärte Klawdi tonlos. »Oder haben Sie diesen Eindruck?«

Die Frau wollte etwas erwidern, unterließ es dann aber.

»Helena … jede unregistrierte Hexe stellt gegenwärtig eine Gefahr für unser Leben dar. Einzelheiten darf ich Ihnen nicht mitteilen, aber … die Zustände, die Sie mir für Ihre Schule schildern, sind illegal. Insofern trifft Sie selbst die Schuld an der Traumatisierung Ihrer Mädchen. Sie hätten sie … Aber das wissen Sie genau.«

»Ich weise meine Schuld gar nicht von mir.« Die geröteten Augen der Frau funkelten. »Ich bin auch bereit, dafür zu zahlen … aber nicht auf ihre Kosten.«

»Auf wessen dann? Auf meine? Auf Kosten völlig unschuldiger Menschen? Wie soll ich denn, bitte schön, für die Einhaltung der Gesetze sorgen, wenn ich diejenigen, die sie missachten, nicht bestrafe?«

Die Frau sagte kein Wort. Klawdi beobachtete, wie aus ihrem Gesicht nach und nach all die Röte wich, die es während ihres engagierten Auftritts überzogen hatte. Zusammen mit ihr wich auch jede Hoffnung.

»Der Ausnahmezustand wird …«, er bedeckte den Füller mit der Handfläche, »… vermutlich noch fünf Tage dauern. Falls sich die Lage in dieser Zeit stabilisiert, dann … Kurz und gut, ein Großteil der nicht initiierten Hexen wird sich so oder so bald wieder in Freiheit befinden. In fünf Tagen haben Sie Ihre Schülerinnen zurück. Und ich will hoffen, dass Ihnen dieser Fehler nicht noch einmal unterläuft. Haben wir uns verstanden?«

»Mein Inquisitor …« Die Frau blickte ihn traurig und streng an. »Ich … bin nicht initiiert. Aber meine Erfahrung … Vielleicht könnte ich Ihnen bestimmte Informationen zukommen lassen, die für Sie von Interesse sind. Im Gegenzug für … schlichtes Mitleid. Mit unseren Kindern.«

Eine ganze Weile schwieg Klawdi. Die Frau senkte den Kopf wieder.

»Wollen Sie mit mir handeln, Helena? Sie? Mit mir? Eine Frau, die ich so respektiere. Oder habe ich da etwas falsch verstanden?«

»Sie haben alles richtig verstanden.« Die Frau blickte an ihm vorbei. »Der Ausnahmezustand geht … auf unerklärliche Veränderungen zurück, zu denen es in der Hexengemeinschaft gekommen ist. Eine verstärkte Aktivität. Auf ihre Aggressivität und den Zuwachs an Initiationen. Neue Hexen von enormer Kraft … lassen eine seltsame, im Grunde sogar unnatürliche Solidarität erkennen. Ist es nicht so?«

Klawdis Gesicht blieb undurchdringlich, doch diese vermeintliche Gleichgültigkeit kostete ihn gewaltige Anstrengungen.

»Ich bin nicht initiiert. Trotzdem bin ich eine Hexe, mein Inquisitor. Und ich bin eine durchaus belesene Hexe. Ich habe eine Vermutung, von der ich glaube, dass sie der Wahrheit ziemlich nahe kommt. Sie können mir natürlich sagen: Kein Bedarf, das weiß ich selbst … Dann werde ich beschämt gehen. Aber falls … falls Ihnen meine Überlegungen von Nutzen wären, warum sollten Sie dann nicht davon profitieren? Vor allem, da … sie aus reinem Herzen kommen und … nur unserer … guten Beziehung geschuldet sind. Das schwöre ich.«

»Helena«, wiederholte Klawdi nachdrücklich und kratzte sich den Mundwinkel. »Die letzte Ballettpremiere soll bei den Zuschauern wahre Begeisterungsstürme ausgelöst haben. Stimmt das?«

»Die Störche«,flüsterte die Frau. »Die herrlichen Störche … Wie viele Karten brauchen Sie? Für wann?«

»Helena, wenn an meiner Stelle ein anderer Mann säße … und sei es nur mein Vorgänger … wissen Sie, was er mit Ihnen täte?«

»Ihm hätte ich nicht gesagt … was ich Ihnen sage.«

»Soll ich mich jetzt geschmeichelt fühlen?«

Ihre Mundwinkel hoben sich leicht. »Wahrscheinlich schon, mein Inquisitor.«

Einen Moment lang sahen sie sich unverwandt in die Augen.

»Sagen Sie es mir, Helena.«

Die Frau sog die Luft scharf ein, bis das schwere Goldmedaillon im Ausschnitt des schwarzen Seidenkleides zitterte. »Die Mutterhexe. Hexen sind von Natur aus Einzelgängerinnen … Das gibt ihnen … besser gesagt, den Menschen, die Möglichkeit einer Koexistenz mit ihnen … wobei Krieg und bewaffnete Neutralität einander ablösen. Hexen sind eine Wolke aus einzelnen Wespen. Aber sobald die Mutterhexe auftaucht, ändert sich das. Dann wird aus der Wolke eine Familie. Ein einziger starker Organismus mit einer Vielzahl von Stacheln. Ein Schwarm … dann lässt sich der Krieg nicht mehr vermeiden … der grausam werden wird. Aber wenn man die Mutterhexe tötet, kommt alles wieder ins Lot.«

Helena Torka holte tief Luft. Klawdi griff nach den Zigaretten, kämpfte einige Sekunden mit der Etikette, um sich, diese doch ignorierend, am Ende schweigend eine anzustecken.

Die Frau lächelte verkrampft, kramte ihrerseits eine glänzende Schachtel aus der Tasche, klickerte mit dem Feuerzeug und zündete sich ebenfalls eine an. Sofort beruhigte sie sich wieder. Ihr Gesicht entspannte sich ein wenig, nahm einen milderen Ausdruck an, und auf ihre Wangen kehrte eine zarte Röte zurück.

»Auch ich liebe … die alten Handschriften.« Klawdi beobachtete sein Gegenüber durch die sich langsam auflösenden Rauchschwaden. »Diese alten Manuskripte, die schaurigen Geschichten … Ihrer Ansicht nach handelt es sich bei der Entdeckung der Wespen, also nicht um eine Fälschung?«

»Da bin ich mir ganz sicher.« Die Frau schloss kurz die Augen. »Ich habe Ihnen alles gesagt, was ich weiß. Was Sie damit anfangen, müssen Sie selbst entscheiden.«

Klawdi erwiderte kein Wort. Er rieb sich das Kinn und tat einen tiefen Zug. »Ihre … Überlegungen haben nicht den Wert, den Sie mir angedeutet hatten. Ich fürchte, ich werde Sie enttäuschen müssen. Natürlich bin ich keine Hexe … aber ich weiß wesentlich mehr. Bedauerlicherweise.«

Die Frau hüllte sich in Schweigen. Klawdi glaubte, die Zigarette in ihren Fingern erzittern zu sehen.

»Trotzdem schätze ich Ihre Offenheit.« Er seufzte. Als er ihren Blick auffing, lächelte er schief. »Reichen Sie im Büro eine Liste ein. Mit den Namen Ihrer talentierten Hexen. Wir werden sehen, was wir tun können.«


Als Ywha aufwachte, war sie von kaltem Schweiß bedeckt.

Im Flur brannte das Licht. Als sie sich gestern Abend hingelegt hatte, hatte sie vergessen, es auszuschalten. Nun ja, ehrlich gesagt hatte sie es gar nicht ausmachen wollen. Jetzt lag sie da, eine fremde Decke bis ans Kinn gezogen, eingehüllt in den Geruch des Waschmittels, den die saubere Bettwäsche verströmte. Sie lauschte, wie sich ihr hämmerndes Herz allmählich beruhigte.

Draußen herrschte undurchdringliche Dunkelheit. Das Bett schien ein nicht enden wollendes weißes Feld zu sein, eine Ebene unter fest gefrorenem Schnee. Ywha fühlte sich wie eine zufällige Wanderin, die in einer Schneewehe erfroren war. Und tatsächlich fror sie — allerdings kam diese Kälte von innen.

Sie stand auf. Bibbernd zog sie sich den Pullover über den nackten Körper. Dann trat sie ans Fenster.

Im Nachbarhaus brannte ein einziges Licht. Wer war da in tiefer Nacht noch wach? Ein Dichter? Ein Kranker? Oder eine Babysitterin?

Als sie sich an ihren Traum erinnerte, zuckte sie zusammen. Obwohl er eigentlich nicht schrecklich gewesen war. Von einer Jugendlichen in einem kurzen Kleid und einer ausgelassenen Jacke hatte er gehandelt, die sich über einen Wagen mit heißen Sandwiches beugte und etwas aus einem bunt bemalten Metallkübel holte.

In diesem Augenblick war Ywha zitternd aufgewacht. Sie wollte gar nicht wissen, was genau das Mädchen für sie zubereitet hatte; das durfte ruhig ihr Geheimnis bleiben.

Sie schaltete das Licht an. Es war vier Uhr morgens, die mieseste Zeit des Tages. Schlimmer hätte es sie nicht erwischen können. Ein kleiner Fernseher, nur dazu da, um vom Bett aus etwas ansehen zu können, flackerte gehorsam auf. Die Nachrichten des Tages wurden wiederholt, Clips mit hüllenlosen Schönheiten wechselten sich mit Werbespots ab. Ywha setzte sich auf den Rand des Bettes und umfasste die nackten Knie. Was, wenn das Mädchen mit den Sandwiches sie selbst hier entdeckte?

Na, wenn schon, dachte sie trotzig. Warum bauschte sie das so auf? Früher oder später würde sie sich halt entscheiden müssen. Zwischen Nasar und …

Der Gedanke verweigerte ihr seine Fortsetzung. Warum kam sie ausgerechnet auf Nasar? Jedes Mal wenn sie an ihn dachte, landete sie in einer Sackgasse der Sehnsucht. Besser, sie vergaß ihn ganz. Glücklicherweise war der Kopf ja rund, so konnte sie immer in die Richtung denken, in die sie ihn drehte.

Mit aller Gewalt vertrieb Ywha das gequälte, gummiartige Grinsen von ihrem Gesicht, das ihre Lippen schmerzen ließ. Sie kroch wieder unter die Decke. Letzten Endes war dieses Bett doch prächtig. Riesig, gerade hart genug und solide wie eine Zitadelle. Ein Tummelplatz für die Phantasie …

Sie biss sich auf die Lippe. Seit gestern verfolgte sie das unangenehme Gefühl, die Dritte im Bett zu sein. Manchmal sah sie sogar fremde Kleidung, die achtlos auf den staubigen Flokati geworfen worden war. Ihre Vorstellung bereicherte ein Berg seidiger Unterwäsche, der für ein ganzes Dutzend üppiger Damen gereicht hätte. Auch der schwarze Hausmantel des Großinquisitors, der an ein mittelalterliches Gewand erinnerte, fehlte nicht. Dazu noch …

Genauer sah sie gar nicht hin, denn nun folgte eine Schwelle, vor der ihre Phantasie schaudernd zurückwich.

Ob sie es wirklich schaffte, sich jene Hexe in dem braunen Kleid als Schülerin an der Tafel vorzustellen, sobald sie, Ywha, panische Angst verspürte?

Und warum versuchte sie nicht, sich den Großinquisitor nackt vorzustellen? Schließlich sind doch unter der Kleidung alle nackt. Und die Falten eines Schrecken gebietenden Gewandes verbergen sowohl das Relief athletischer Muskeln als auch kraftloses, schlaffes Fleisch. Und auch …

Den nervösen Clip im Fernseher löste ein neues Bild ab, die Musik verstummte. Ywha fuhr zusammen.

»Eben! Hexen! Seit einer Woche höre ich nichts anderes mehr, alle reden nur noch von Hexen!«

Das Gesicht des Mannes war gepixelt. Er saß auf einer Parkbank, hinter ihm pickten Tauben im Gras etwas auf, während unmittelbar vor ihm ein rundes schwarzes Mikrofon in der Hand von jemandem aufragte. Die Stimme des Mannes klang affektiert und gleichzeitig herrisch. Der Halter des Mikros stellte ihm leise eine Frage.

»Die Herren Inquisitoren …«, jetzt nahm die Stimme einen sarkastischen Ton an, und Ywha vermutete, dass sich die Lippen hinter dem Sichtschutz boshaft verzogen, »… haben bereits vor vier Jahren unter meiner Federführung ein uneingeschränkt erfolgreiches Experiment durchgeführt. Ich kenne die Frau, ich weiß, wo sie wohnt … Nein, verehrte Journalisten, das werde ich Ihnen noch nicht mitteilen. Aber falls die Oberste Inquisition auch weiterhin jeden Anstand vermissen lässt, werde ich Ihnen eine Kopie des Befehls Nr. 240 — vom Großinquisitor selbst erteilt — präsentieren. Der liegt mir nämlich vor … Ja, meine Herren! Der Inquisition stehen bereits heute Mittel zur Verfügung, die es ihr erlauben, einer Hexe ihre, wenn man so will, Hexenschaft zu nehmen! Sie in gewisser Weise zu reinigen! Nachzubessern! Aber, meine Herren, natürlich würde sich die Inquisition damit ihr eigenes Grab schaufeln. Denn der Apparat der Inquisition braucht doch was zu fressen — genau wie ein durchtriebener Kater, der nicht alle Mäuse im Haus fängt, sondern nur die Hälfte. Sobald es nämlich keine Mäuse mehr gibt, bekommt er von seinem Frauchen keine Sahne mehr! Der ganze Bohei um die Hexen ist doch nichts anderes als ein billiger Vorwand, um mehr Geld zu fordern! Und das geht allein auf unsere Kosten! Auf deine Kosten, mein Junge, und auf meine!«

Der »Junge« war derjenige, der das Mikrofon hielt und gerade eine weitere Frage stellte. Entweder versagte dabei die Technik oder die Fragen des Reporters sollten mit einem ganz bestimmten Hintersinn unverständlich bleiben.

Der Mann auf der Bank antwortete mit einer derart temperamentvollen Geste, dass flüchtig ein spitzes, glatt rasiertes Kinn hinter dem gepixelten Bereich hervorragte. »Meine Herren, Sie alle haben in der Schule das Rechnen gelernt! Ein Programm zur Hexenbehandlung kommt uns wesentlich billiger zu stehen als der Unterhalt für diesen Klüngel ausgemachter Reaktionäre. Da brauchen Sie bloß zwei und zwei zusammenzuzählen!«

Das abgeblendete Gesicht verschwand. Den Bildschirm nahm nun ein junger Mann ein, dessen mützengleich drapiertes, kräftig mit Lack behandeltes blauschwarzes Haar einem Werbespot für das Friseurhandwerk alle Ehre gemacht hätte. Er war Reporter und sprach schnell und kundig, doch Ywha verstand einfach nicht, worum es ging. Eine flüssige, leichte Rede, genauso lackiert wie seine Mähne.

»Sie in gewisser Weise zu reinigen!«


»Denn die Gesellschaft verlangt nach Ordnung, aber sie symbolisieren das Chaos. Sie sind der Hagel, der die Saat vernichtet. Und wer wollte schon versuchen, den Hagel zu verstehen? Sie sind wie ein Wespenschwarm. Ihr Honig ist bitter, ihr Stachel tödlich. Wenn du eine nach der anderen tötest, bringst du sie nur in ihrer Gesamtheit auf. Tötest du dagegen die Mutterhexe, stiebt der Schwarm auseinander.«

Von der unübersehbaren Literatur, die in den letzten dreihundert Jahren über die Hexen vorgelegt wurde, hielten neunzig Prozent nicht ansatzweise der Kritik stand und stützten sich bestenfalls auf Legenden. Im schlimmsten Fall konnte man diese Werke nur als schamlose Lügen bezeichnen. Und die schmalen zehn Prozent der Bücher, die Vertrauen verdienten, hatte sich die Inquisition längst angeeignet.

In den Archiven der Inquisition — Räumen mit konstanter Temperatur und Luftfeuchtigkeit — lagen alte Bände, die bei der geringsten Berührung zu Staub zu zerfallen drohten. Fotokopien dieser Bücher standen Klawdi zum täglichen Gebrauch zur Verfügung. Leider wog die künstlerische Bedeutung dieser versponnenen Texte jedoch stärker als ihr Erkenntniswert. Moderne Untersuchungen in Form wortreicher philosophischer Abhandlungen und grausamer Chroniken voller Details, die einem das Blut in den Adern gefrieren ließen, gaben keine neuen Antworten. Zumindest nicht für Klawdi. Früher hatte er selbst einmal in diesem Bereich geforscht, damals, als er noch als Kurator in Egre, der Hauptstadt des Weins, gearbeitet hatte.

Das gelbe Telefon, dem eine Wählscheibe fehlte, schrillte los. Klawdi verzog das Gesicht, als beiße er auf etwas Saures.

»Zu so später Stunde noch auf Frontposten?« Die Stimme des Herzogs klang entgegen seiner Gewohnheit recht wohlgeneigt.

»Ich lese ein paar Bücher, Eure Hoheit. Um mich zum wiederholten Mal davon zu überzeugen, was für Narren wir doch sind.«

Der Herzog ging jedoch mit keinem Wort darauf ein, sondern ließ dem Inquisitor die Bemerkung als Scherz durchgehen. »Man darf Ihnen wohl gratulieren, Herr Großinquisitor?«, meinte er schließlich. »Offenbar sind selbst die schlimmsten Hexenhasser zufrieden gestellt.«

»Von mir abgesehen, Eure Hoheit. Aber ich war auch nie ein ausgesprochener Hexenhasser.«

»Ihnen dürfte bekannt sein, dass bereits Stimmen laut werden, die die Verletzung der Bürgerrechte beklagen.«

»Den Hexen sind die Bürgerrechte bereits mit der ersten entsprechenden Gesetzessammlung in unserer Geschichte entzogen worden.«

»Sie haben eine bissige Zunge, Klawdi.«

»Das stimmt, Eure Hoheit.«

»Achten Sie darauf, dass die Repressionen gegen die Hexen nicht … niemanden anders treffen. Ich will, dass im Land endlich wieder Ruhe einkehrt.«

»Das wollen wir alle.«

»Wie … wie heißt es doch gleich bei Ihnen? Nieder mit dem Abschaum?«

»Nieder mit dem Abschaum, Eure Hoheit.«

Ein kurzes Tuten. Klawdi legte den gelben Hörer auf die Gabel.


An beiden Ausgängen des Palasts drängten sich Menschen, hauptsächlich ältere Frauen. Keine Demonstranten, sondern Besucherinnen, die den einfachen Angestellten nicht trauten und deshalb den Großinquisitor persönlich zu sprechen wünschten. Klawdi biss die Zähne zusammen. Warum half er nicht auch diesen unglücklichen Müttern, deren Töchter das Pech gehabt hatten, als Hexen in eine ganz normale Familie geboren zu werden — wo er Helena Torka doch so entgegengekommen war?

Wer wohl Ywhas Eltern sind?, schoss es ihm plötzlich durch den Kopf. Oder besser, wer waren sie? Denn es wäre doch seltsam, wenn ihre Eltern sie so durch die Welt ziehen ließen, den schmalen Grad zwischen Initiation und Gefängnis entlang.

Er verließ den Palast durch eine dritte Tür, die unterirdisch und geheim war. Innerlich leistete er den geduldig wartenden Menschen Abbitte und stieg in seinen Dienstwagen; fünfzehn Minuten später traf er im Halbdunkel seines Hofes auf einen Mann.

Nur selten kamen Bittsteller hierher — es sei denn, sie waren sehr verzweifelt.

Die dunkle Figur trat auf ihn zu und versperrte ihm den Zugang zum Haus. Klawdi dachte an den Bodyguard im Auto und hob den Arm, um einen Schuss zu verhindern. Dem Mann, der dort vor dem Haus gewartet hatte, jagte die abrupte Geste eine Heidenangst ein. »Klawdi …« Er stolperte zurück.

Was denkt er sich eigentlich dabei?, knurrte Starsh innerlich. Versteckt sich hier im dunklen Hauseingang! Gut, nicht in böser Absicht, sondern einzig und allein aus Dummheit.

»Hallo, Nasan Gehen wir rein.«


Alle Fenster der winzigen Wohnung standen weit offen, im Hof kreischten Kinder und zwitscherten Vögel. Ein Junge auf einem Fahrrad rief wieder und wieder nach seiner Freundin Ljura.

»Was dann folgte? Dann habe ich ihm eine geschlagene Stunde einen Vortrag zum Thema ›Die nicht initiierte Hexe. Familie, Recht und Alltag‹ gehalten. So leid es mir tut, aber Nasar ist in dieser Angelegenheit erstaunlich inkompetent. Ich habe seine Wissenslücken, so gut es mir möglich war, gestopft.«

»Ljura-a!«, rief der Fahrradfahrer weiter stur. »Kommst du raus?«

Ywha beobachtete den Inquisitor, der Kaffee trank und rauchte. Der Luftzug trieb die graublauen Rauchfäden zum Fenster.

»Ljura-a!«

»Und … was hat er gesagt?«

»Er hat gesagt: Danke

Bedauernd machte sich Ywha klar, dass sich all ihre Gefühle auf ihrem Gesicht widerspiegelten. Selbst die, die sie verbergen wollte.

»Auch ich bin … erstaunlich inkompetent. In puncto nicht initiierter Hexen. Früher habe ich zum Beispiel angenommen … dass eine solche Hexe, wenn sie sich nur versteckt, nicht entdeckt werden kann. Von niemandem.« Sie sah ihr Gegenüber fast herausfordernd an.

»Das Unglück besteht darin«, erklärte Klawdi seufzend, »dass eine Hexe, selbst eine nicht initiierte, nun einmal eine Hexe bleibt. Sogar dann, wenn sie niemandem etwas zuleide tut. Sogar dann, wenn sie überhaupt nichts tut. Denn sie könnte etwas anrichten. Das ist der Punkt, an dem sich die Gesetzesväter schon seit Jahrhunderten die Zähne ausbeißen … und auch diejenigen, die die Gesetze in die Praxis umsetzen. Wenn sich ein Mensch nichts hat zuschulden kommen lassen — wofür wollte man ihn dann bestrafen? Allein für die Möglichkeit, dass er in Zukunft etwas Böses tun könnte

»Aber … diese Möglichkeit … wie hoch ist sie eigentlich?« Ywha spürte, wie ihre Kehle immer stärker austrocknete.

»Zweiundsechzig Prozent«, teilte ihr der Inquisitor mit gelangweilter Stimme mit. »Achtunddreißig Prozent werden nie initiiert. Die erliegen der Versuchung nie. Sie leben ein langes, glückliches Leben und haben viele Kinder. Normalerweise sind Hexen nämlich sehr fruchtbar. Und um ihre Gesundheit kann man sie nur beneiden. Häusliche Pflichten vernachlässigen sie völlig, dafür erzielen sie unglaubliche Erfolge in allen Künsten. Sie sind intelligent und ausgesprochen eigen … All das habe ich Nasar gesagt, das kannst du mir glauben. Ich habe sogar übertrieben.«

»Aber wie kriegt man raus …«, Ywha hob den Blick, »… wie kriegt man raus … in welche Kategorie eine Hexe fällt … ob sie zu den Zweiundsechzig oder zu den … Achtunddreißig Prozent gehört?«

»Ljura-a!« Der Junge ließ nicht locker. »Lju-ura! Du sollst rauskommen!«

Der Inquisitor erhob sich, doch da es in der winzigen Küche keine Fluchtmöglichkeit gab, setzte er sich wieder, wenn auch auf das breite Fensterbrett. Die noch nicht ausgetrunkene Tasse Kaffee stellte er neben sich. »Das hat mich Nasar auch gefragt. Fast mit denselben Worten: Im Grunde habe ich ihm das alles schon damals erzählt … äh … als du weggelaufen bist. Aber offensichtlich war er da zu erschüttert, als dass er etwas davon behalten hätte.«

»Ljura-a!«

Der Inquisitor lehnte sich zum Fenster hinaus. »Wenn du nicht gleich rauskommst, kriegst du Ärger, Ljura!«, drohte er mit der Stimme eines Bühnenschurken.

Der fliehende Fahrradfahrer schepperte über die Steine. Offenbar bekam es der junge Herr Verehrer mit der Angst zu tun.

»Das«, meinte der Inquisitor grinsend, »würde ich auch gern wissen, Ywha. Damit ich die Unschuldigen nicht ins Gefängnis stecke und den bösen Hexen nicht die Freiheit schenke. Aber es ist praktisch unmöglich, das zu bestimmen. Es hängt von verschiedenen Umständen ab, von den persönlichen Anlagen, die sich meist nicht vorher erkennen lassen. Ein ruhiges Familienleben mit einem geliebten Mann fördert das Gute in einer Hexe und verhindert meist, dass sie gegen das Gesetz verstößt. Es stellt jedoch keine Garantie dar. Verstehst du das?«

»Und das haben Sie auch Nasar gesagt«, flüsterte Ywha.

»Ist dir schon mal aufgefallen, dass ich versuche, ehrlich zu sein?«, fragte der Inquisitor. »Ihm … und auch dir gegenüber?«

»Vielen Dank.«

»Keine Ursache, Ywha … Was siehst du mich so an?«

»Sie …«, Ywha senkte den Blick, »… haben mein Leben zerstört.«

»Nun übertreib mal nicht.«

»Es wäre nur gerecht, wenn Sie mir jetzt auch … helfen würden.«

»Ich helfe dir, so gut ich kann. Worauf willst du hinaus?«

»Ich will keine Hexe sein.« Ywha verflocht unterm Tisch die Finger, bis es schmerzte.

Eine Pause. Vom Hof stieg fröhliches Getschilpe herauf. Vor dem Nebenhaus unterhielt sich jemand laut. Vermutlich war Ljura doch noch aufgetaucht.

»Wir werden nicht gefragt, was wir sein wollen, Ywha. Ich bin als kleiner Klawdi auf die Welt gekommen, du als die kleine Ywha …«

»Nein. Ich habe gehö … ich weiß, dass man einer Hexe … ihre Hexenschaft entziehen kann. Damit sie wie alle anderen ist.«

Der Inquisitor verzog das Gesicht. Angewidert blickte er in seine Tasse, als fürchte er, dort eine Kakerlake zu entdecken. »Ich kann mir sogar vorstellen, von wem du das gehört hast. Ich wollte sagen, woher du das weißt. Es ist ganz bemerkenswert, wen man heutzutage alles in ein Mikrofon sprechen lässt.«

»Wollen Sie mir etwa weismachen, diese Experimente … hätte es nie gegeben? Man hätte dergleichen niemals versucht? Sich nie damit beschäftigt? Können Sie mir das sagen und mir dabei in die Augen sehen?«

»Lass uns dieses Gespräch beenden«, verlangte der Inquisitor, der die Tasse nun verärgert aufs Fensterbrett knallte. »Du solltest nicht alles glauben, was die Leute im Fernsehen von sich geben.«

An Ywhas immer noch verschränkten Fingern traten die Knöchel weiß hervor. »Und wo bleibt Ihre berühmte … Ehrlichkeit jetzt?«

Ihre Blicke trafen sich. Ywha spürte, wie jäh Übelkeit in ihr aufstieg.


Irgendwann war sich Ywha sicher, der Inquisitor fahre sie direkt ins Gefängnis. Zu dem üblichen Unwohlsein, das seine Anwesenheit in ihr auslöste, gesellte sich nun auch noch das schmerzliche Gefühl hinzu, zum Tode verdammt zu sein, ein Gefühl, das Ywha, die im Fond Platz genommen hatte, natürlich während der ganzen, nicht sehr langen, aber auch nicht gerade kurzen Fahrt zu schaffen machte.

An einer Seite der Windschutzscheibe klebte eine Karte mit einer lustigen, beschwänzten Hexe, die auf einem Besen ritt. Das Bild schien Ywha ein weiteres Beispiel für einen seltsamen, verdrehten Sinn für Humor zu sein. Eine verrostete Feder in ihrem Innern presste sich immer enger zusammen, bis sie aufs Äußerste gespannt war.

Der Inquisitor fuhr betont langsam, aufmerksam und korrekt, fast wie ein Fahrschüler, der zum zweiten Mal hinterm Steuer sitzt. Schon bald ließen sie das Zentrum, in dem Ywha sich eher schlecht als recht auskannte, hinter sich und erreichten die Vorortbezirke, die alle gleich, staubig und fremd wirkten. Als sie an einem Schild vorbeikamen, das das Ende des Stadtgebiets anzeigte, bog der Inquisitor nach rechts ab. Das teure, leistungsstarke Auto zuckelte herrschaftlich über einen löchrigen Feldweg.

Hinter einem jungen Tannenwäldchen versteckte sich ein gelbes Haus, ein niedriges, einstöckiges Gebäude, das gleichermaßen an ein Gefängnis und an eine Cowboyranch erinnerte. Ywha umklammerte mit den Armen ihre Schultern.

»Es schmeckt mir zwar nicht, aber ich werde dir jetzt etwas zeigen«, teilte ihr der Inquisitor mit, ohne sich umzudrehen. »Genau das, was in deinem Fall nötig ist.«

Ywha starrte auf seinen Hinterkopf. Ein akkurater, penibler Haarschnitt. Nichts wollte sie jetzt lieber, als mit einem schweren Hammer auf diesen Hinterkopf einschlagen.

Dieser arrogante Lenker von Schicksalen. »Zweiundsechzig Prozent … achtunddreißig Prozent … genau das, was in deinem Fall nötig ist.« Woher nahm er nur das Recht, sich ihr gegenüber so zu verhalten, als sei sie ein Versuchskaninchen? Nein, eine Mikrobe. Als sei sie ein Krankheitserreger — und er der gute Onkel Doktor.

Die Wut packte sie plötzlich und grundlos. Die pralle Blase, jene Behausung all ihrer Verluste, Erniedrigungen und Ängste, platzte einfach.

Sie knirschte mit den Zähnen. Vor ihren Augen hing ein roter Schleier. Konnte in einem einzigen Menschen wirklich so viel Hass stecken? Wollte sie das alles tatsächlich stumm und widerstandslos ertragen, die Zähne immer aufeinandergepresst?

Auf einmal stürzte sie sich auf die Haare des Mannes, der am Steuer saß.

Und sie hätte sich in ihnen verkrallt — wenn er nicht im letzten Augenblick noch seitlich ausgewichen wäre, ihre Hand abgefangen und sie an sich gerissen hätte. Das Auto schlingerte. Die Hand des Inquisitors packte ihr Genick und presste ihr Gesicht an seine harte Schulter.

»Du Henker!«

Sie riss sich los. Das Auto geriet erneut ins Schlingern. Ywha sah sich schon nach vorn sausen, gegen das Steuer prallen und mit den Füßen die Windschutzscheibe einschlagen.

»Henker! Dreckskerl! Schwein! Arschloch! Lass mich …«

Der raue Bezug des Sitzes verschloss ihr den Mund. Ihre Hände, die ihn kratzen und an den Haaren ziehen wollten, erschlafften im Schmerz. Es fühlte sich an, als drehe ihr jemand den Kopf von den Schultern — so wie man eine Flasche entkorkte.

»Henker!«

Das Auto fuhr jetzt langsamer und blieb schließlich ganz stehen. Ywha wollte heraushechten. Die Strähnen ihres roten Haars verhakten sich jedoch so an einem Knopf von Klawdis Kragen, dass sie zurückgerissen wurde und sich beinah selbst skalpierte. Tränen schossen ihr in die Augen.

»Ihr alle«, zischte sie ungeachtet der Schmerzen, »ihr alle seid … Ich hasse euch. Wie Wanzen könnte ich euch zertreten … ihr Henker …«

Für kurze Zeit sah sie nichts mehr. Vielleicht lag das am Tränenschleier, vielleicht wurde ihr auch einfach schwarz vor Augen. Die Tür, gegen die sie geknallt war, als sie aus dem Auto springen wollte, gab plötzlich nach. Ywha fiel an den Straßenrand.

Der Nebel vor ihren Augen lichtete sich. Aus einem einzigen Grund: damit sie den Stein bemerkte, der in der Nähe lag. Schmerzverkrümmt hob sie ihn auf und schleuderte ihn gegen den teuren Wagen. Im Seitenfenster bildeten sich Hunderte von Rissen, es büßte seine gläserne Klarheit ein. Schlagartig erfasste Ywha hämische Freude. Da sie keinen weiteren Stein fand, klaubte sie eine Handvoll Kiesel auf.

»Habe ich … dir … etwas getan? Bin ich dir in die Quere gekommen? Bin ich eine Verbrecherin? Eine Diebin? Nie habe ich jemandem … Und du willst mir vorschreiben, wie ich zu leben habe? Willst du es Nasar auch … Bin ich vielleicht irgendjemandem was schuldig?!«

Auf dem schmalen Weg fuhr kein einziges Auto, nur über die weiter entfernte Chaussee rumpelte ein grauer Laster. In der Ferne tollte ein herrenloser Hund übers Feld. Der Inquisitor stand da, lehnte sich gegen die Motorhaube und musterte die auf dem Boden hockende Ywha von oben bis unten.

»Ich habe keine Angst vor dir!« Unerschrocken blickte sie ihm in die zu Schlitzen verengten Augen. »Ich habe vor niemandem Angst. Hast du verstanden, du Arsch?«

Der Inquisitor schwieg.

Mühevoll rappelte sie sich hoch. Vor ihm wollte sie nicht auf den Knien liegen.

»Du … feiger Hund! Von nichts hast du … Wir hätten einen Sohn bekommen! Nasar und ich! Jetzt ist alles aus, aus und vorbei … Und? Freust du dich? Dass wir nicht … dass wir nie … niemals einen … dass ich jetzt … niemals! Ja, du freust dich! Weil du … Hast du überhaupt jemals jemanden geliebt? Nein, dazu bist du gar nicht imstande, denn dir hat man ja die Seele abgesäbelt, die ist überhaupt nicht mehr vorhanden …«

Plötzlich sah sie klar und deutlich einen Morgen vor sich, Sonnenflecken lagen auf dem Boden, gedämpft klirrte Geschirr, eine Kaffeemaschine brummte, es roch nach Milch. Sie bleckte die Zähne und jagte das Bild fort. Hass zog ihr die Kiefer zusammen, als beiße sie auf eine unreife, harte Stachelbeere.

»Ich habe nie etwas verlangt! Jedenfalls nichts Besonderes! Ich wollte nur in Ruhe gelassen werden … wollte, dass man mich einfach mein Leben leben lässt … Millionen Menschen dürfen ein friedliches Leben führen! Aber irgendein Arsch hat beschlossen, dass ich anders bin, irgendein Wurm … Oder bin ich etwa schon als Monster auf die Welt gekommen? Na?!«

Sie glaubte, die Tränen in ihren Augen würden gleich anfangen zu kochen, derart heiß brannten sie.

»Aber nein! Du musstest mich ja verhaften … unterdrücken, quälen … dich durchsetzen … du gemeine Spinne … du mieser Henker … du Stinker … und Verräter!«

Wie sie auf den letzten Vorwurf kam, wusste sie selbst nicht; das Wort war ihr einfach entschlüpft, aufs Geratewohl. Nun glaubte sie jedoch zu sehen, wie das Gesicht des Inquisitors zitterte. Einen kurzen Moment nur. Von diesem Sieg inspiriert, verzog sie die Lippen zu einem Hohnlächeln. »Das hörst du nicht gern, oder? Die Wahrheit schmeckt bitter, nicht wahr? Die ist nicht süß wie Honig?«

Sie meinte, in einem dunklen, engen Labyrinth gegen etwas gestoßen zu sein — mit dem sie ihn tatsächlich verletzen konnte. Vielleicht sogar töten.

»Du Henker und Verräter. Dafür wirst du noch büßen! Dafür … dass du sie verraten hast!«

Sie hatte keine Ahnung, wovon sie da redete. Aber fraglos befand sie sich auf der Zielgeraden: Der Inquisitor erbleichte. Nie hätte Ywha vermutet, dass er so leichenblass werden konnte.

»Genau! O ja, man wird sich an dich erinnern, denn du bist ein verrückter Sadist, denn dir ist nur noch eine Freude im Leben geblieben, nämlich zu foltern … Sogar die Frauen …« Sie verschluckte sich, fuhr aber dennoch fort. »Diese Frauen, die du in dein Sexodrom schleppst … die quälst du doch auch, nicht wahr? Als ob sie Ratten wären! Anders kommst du nämlich nicht auf deine Kosten!«

Sie musste tatsächlich seine empfindliche Stelle getroffen haben. Jetzt wollte sie ihn ganz erledigen. Der Wunsch war so stark, dass sich plötzlich Worte auf ihre Zunge legten, die sie normalerweise nie im Leben gebraucht hätte.

»Du hast nichts, womit du lieben könntest! Denn man liebt nicht mit dem, was in der Hose steckt … sondern mit der Seele. Aber deine Seele, die ist nackt. Kastriert! Deshalb quälst du diese Frauen … Weil du dich daran erinnerst, wie du es genossen hast, als sie gestorben ist! Du weißt noch, wie süß das damals war, wie …«

Nicht einmal die Augenbraue zog er hoch. Nur seine Pupillen erweiterten sich — und sogleich traf sie sein Schlag. Ihr wurde schwarz vor Augen, ihr Geschrei erstarb, und aus ihrer Nase rann Blut auf den Pullover. Auch auf den Lippen spürte sie die warme Flüssigkeit, auf den Händen …

Sie hatte Angst vor Blut. Allein bei seinem Anblick fiel sie in Ohnmacht — was diesmal allerdings ihre Rettung bedeutete. Schon in der nächsten Minute kam sie wieder zu sich, mit dem Gesicht im Gras liegend. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Fußball, auf den ein Dutzend in Töpfen steckender Füße eingetreten hatte. In ihren Ohren dröhnten die Schreie von der Tribüne wider, der Zorn, der Beifall …

Sie fing an zu weinen. Nicht aus Mitleid mit sich selbst, sondern einfach weil sie den Schmerz nicht zu ertragen vermochte — der sowohl ihrem Körper wie auch ihrer Seele zusetzte.

Dann drang durch den Lärm des imaginierten Stadions das Brummen eines Motorrads. Es verstummte jedoch, um einer besorgten Stimme zu weichen. »Brauchen Sie Hilfe, mein Herr?«

Eine ruhige Stimme antwortete. Eine vollkommen gefühllose Stimme, die jedes Wort klar artikulierte. Trotzdem gelang es Ywha nicht zu verstehen, wovon sie sprachen.

»Sie sollte auf dem Rücken liegen … nicht mit dem Gesicht nach unten … das macht es nur noch schlimmer …«

Abermals eine gelassene Antwort, allerdings mit einem kaum wahrnehmbaren verärgerten Unterton. Oder kam ihr das nur so vor?

»Gut, mein Herr … Hauptsache, es geht ihr wieder besser …«

Das Geräusch des Motors entfernte sich. Das Gras unter ihrem Gesicht war warm und rot. Oder bildete sie sich auch das nur ein?

Ich bin eine Hexe. Hexen müssen böse sein.


Klawdi sah dem Motorrad nach, bis die grüne, vom Wind zu einer Blase geblähte Jacke hinter einer Kurve verschwand.

Dann wartete er, bis der Regen aufhörte. Idiotischerweise zitterten seine Hände. Gleich würde ihm die Zigarette entgleiten …

Er hegte eine zu hohe Meinung von sich. Hielt sich für einen Mann mit Nerven wie Drahtseilen und einer hundertprozentig zuverlässigen Abwehr. Doch es brauchte bloß das erstbeste Mädchen mit dem Finger auf ihn zu zeigen, und schon stand Klawdi Starsh am Straßenrand, neben seinem leicht lädierten Auto, zitterte und rauchte …

Nur dass es sich hier nicht um das »erstbeste Mädchen« handelte. Und ihren Beschuldigungen nichts Zufälliges anhaftete. Leichthin und ohne sich selbst darüber im Klaren zu sein, hatte sie in seiner Seele die schmerzlichste und schwerste Last ausgemacht — um sie in eine Waffe zu verwandeln. Von unglaublicher Stärke!

Nein, sie hatte nicht gewusst, was sie getan hatte. Sie hatte ihn bloß verletzen wollen, was ihr auch vorzüglich gelungen war.

Ihm waren schon reife Hexen untergekommen, initiierte und erfahrene, die in voller Kampfmontur das Gleiche versucht hatten. Damals hatte er nur gelacht und ihre Waffe gegen sie selbst gewandt. Aber jetzt …

Er konnte sich nun nicht länger beherrschen und spuckte aus. Seine Spucke schlug einem gemeinen Löwenzahn die Hälfte seiner weißen Federn ab; verdrossen spuckte er noch einmal, diesmal jedoch daneben, sodass der Löwenzahn mit einer Halbglatze davonkam.

Sicher, sie hatte seinen Schlag mit einer seltenen Tapferkeit eingesteckt. Hemmungslos hatte er auf sie eingedroschen, jede Kontrolle hatte er über sich verloren. Es war sehr lange her, seit er das letzte Mal jemandem mit einer derartigen Gewalt eins übergezogen hatte.

Plötzlich wollte er ins Auto steigen, zu dem gelben Haus fahren und die Wache rufen. Stattdessen ging er jedoch zu Ywha, die am Boden lag, und setzte sich neben sie.

Sie hatte wirklich eine gute Abwehr. Und eine unverwüstliche Konstitution. Das Blut zählte nicht. Das war bloß Nasenbluten und ließ ohnehin schon nach, trocknete an den roten Haaren ein.

Mit einem Mal erinnerte er sich, wie er in seiner Kindheit Stunde um Stunde vor einem Stahlgitter im Zoo gestanden hatte, vor dem Käfig für die Füchse. Der einzige Fuchs, der je in Unfreiheit geboren worden war, ein schmutziges, vergessenes Tier, das man mit allem Möglichen bewarf und neckte. Dieser Fuchs wartete auf ihn, versteckt hinter seinem Bretterhäuschen, und kroch, sobald Klawdi auftauchte, auf dem Bauch durch den ganzen Käfig zu ihm hin; jedes Mal griff die durch das Gitter gezwängte Hand einige Zentimeter vor der spitzen, leidenden Schnauze in die Luft. Wohin war dieses Füchslein verschwunden? Was hatte Klawdi von den kummervollen Zoobesuchen abgebracht?

Schluss jetzt mit der Gefühlsduselei. Er, der Großinquisitor, hätte eben beinahe eine junge, unregistrierte Hexe zu Tode geprügelt.


Das Wasser aus dem Kanister war überraschend kalt. Es brachte die Zähne zum Bersten, und das tat gut.

Ywha fing einen prasselnden, großzügigen Strahl mit der Hand auf. Die Spritzer nässten ihren Pullover, doch das war ihr egal, der Pullover war so oder so hinüber. Das ganze Blut … Was war das nur für ein erbärmlicher Sommer, wo sie einen Pullover brauchte? Letztes Jahr hatte um diese Zeit die Sonne geknallt …

Die einfachen, banalen Gedanken stellten eine Abwehrreaktion dar. Ywha widersetzte sich dem nicht, sie dachte an das Gras und an den Löwenzahn. An das Wetter, den Regen, der bald einsetzen würde, an die dämliche Stickerei in der einen Ecke ihres Taschentuchs, das sie vor zwei Monaten in einem Kurzwarenladen gekauft hatte.

»Was tut dir weh?«

Alles. Aber irgendwie komisch, stumpf. Und sobald sie den Kopf drehte, wurde ihr schwarz vor Augen.

»Warum kümmern Sie sich eigentlich um mich? Stecken Sie mich doch ins Gefängnis, dann sind Sie mich los!«

»Leg dich auf den Rücken. Mit dem Taschentuch auf dem Gesicht.«

Sie suchte sich eine Stelle, an der kein Löwenzahn wuchs. Sie wollte die weißen Sporen nicht in Aufruhr versetzen. Waren sie erst einmal ab, bekam man sie nicht wieder dran.

»Hat es sehr wehgetan?«

Unerträglich, dachte sie. »Halb so wild«, sagte sie aber, das Schwindelgefühl ignorierend. »Ein bisschen.«

Er hob ihren Kopf an und bettete ihr Hinterhaupt auf etwas Hartes und Warmes. Auf seine Knie — worauf sie im ersten Moment eine Art leichter Stromschlag durchzuckte.

»Verkrampf dich nicht. Das muss sein. Leben deine Eltern eigentlich noch?«

»Weshalb …«

»Nur so. Aus Neugier.«

»Meine Mutter. Aber ich habe ihr vor einem halben Jahr zum letzten Mal geschrieben.«

»Magst du sie nicht?«

»Doch. Deshalb habe ich … gedacht … ich wollte ihr schreiben … sobald ich mir mein Leben aufgebaut habe … darüber würde sie sich freuen …«

»Und wenn sie krank ist? Deine Hilfe braucht? Wenn du ihr nicht geschrieben hast, woher willst du dann wissen, ob es ihr gut geht?«

Ywha antwortete nicht. Mühevoll schlug sie die Augen auf. Der Himmel war leer, ohne Wolken, ohne Vögel.

»Mein Bruder hat es mir gesagt … und auf ihn ist Verlass. Mein älterer Bruder. Im Gegensatz zu meinem jüngeren … Der verspricht dir etwas — und hat es schon im nächsten Augenblick vergessen. Es ist ganz bestimmt für alle Beteiligten am besten, wenn ich … nicht gerade jetzt auftauche. Haben Hexen nie eine Familie?«

»Einige haben eine. Aber die meisten nicht.«

»Zweiundsechzig Prozent?«

Ein Auto fuhr vorbei. Es verlangsamte ein wenig, hielt jedoch nicht an.

»Nasar wird … Er wird mich nie heiraten. Er kann keine Hexe heiraten. Das ist doch normal. Sie hätten es auch nicht gekonnt.«

»Ich …« Der Anflug von einem Lächeln umspielte die Lippen des Inquisitors. »Ich hätte es gekonnt. Vermutlich.«

Verwundert stemmte sich Ywha sogar ein wenig hoch. Die Schwäche verlangte allerdings Tribut, und so sank sie, von Schwindel erfasst, zurück.

»Sag mal, Ywha, weißt du noch, was du mir gesagt hast?«

»Es tut mir leid«, presste sie heraus.

»Die Entschuldigung ist abgelehnt. Erinnerst du dich noch? Könntest du das wiederholen?«

Sie hüllte sich in Schweigen. »Nein. Ich … habe es vergessen«, sagte sie dann.

»Und erinnerst du dich, woher diese Worte kamen?«

»Nein.«

Das Blut, das schon versiegt war, schoss wieder aus ihrer Nase. Ywha presste das feuchte Taschentuch auf ihr Gesicht.


(Djunka. April)

Am nächsten Morgen entschuldigte sich Klaw bei Juljok Mytez. Von dem Friedensangebot begeistert, zirpte Julian den ganzen Tag wie eine Heuschrecke und erwies Klaw unzählige kleine Gefälligkeiten.

Klaw fuhr nicht in die Stadt. Er ging zum Unterricht, kam in sein Zimmer zurück, legte sich auf die Bettdecke und kniff die Augen fest zusammen.

Gestern war er wie durch ein Wunder dem Tod entkommen. Einem dummen und schrecklichen Tod, der obendrein wohl ziemlich qualvoll gewesen wäre. Seine Phantasie geizte nicht mit Einzelheiten, sodass er einen Widerhall jenes Schmerzes auf der Haut spürte, den ihm das gestrige Zusammenspiel von Ereignissen hätte bescheren sollen — ohne Frage ein reichlich dummes und seltsames Zusammenspiel.

»Njawken verkehren in der Regel mit Menschen, um diese umzubringen. Gewissermaßen um die Chancengleichheit wiederherzustellen.«

Chancengleichheit herstellen. Djunkas ewig nasse Haare … Ob sie sich daran erinnerte, wie sie gestorben war? Nämlich im Wasser. Was hatte sie damals gefühlt? Hatte sie Schmerz empfunden? Waren ihre Lungen geplatzt? Hatten immer neue Krämpfe ihren Körper gepeitscht? Wollte sie schreien — und hatte dann ihre Stimme versagt?

Er wäre ebenfalls im Wasser gestorben. Einen anderen Tod, aber …

Ein schönes Paar. Djunka im Badeanzug, mit den durchscheinenden Tropfen, die ihr über die Schultern rannen … und er, nackt, während Schaumflocken an ihm heruntersickerten. Ein Paar, wie füreinander geschaffen.

Er presste die Zähne aufeinander. Die Tschugeister hatten gelogen. Jeder Henker sucht für sich eine Rechtfertigung. Der Bestrafte ist ein zutiefst widerliches Subjekt gewesen … Njawken sind keine Menschen …

Djunka sollte also auch kein Mensch sein?!

Von Reue gequält, fing er an zu weinen.


Die Reue gab ihm Kraft. Bereits im Morgengrauen des nächsten Tages küsste er Djunka auf die rasch warm werdenden Lippen. Er empfand ihr gegenüber eine solche Schuld, dass er nicht einmal die sonst übliche Hürde vor der ersten Berührung nehmen musste. Djunka lebte, sie sah ihn verängstigt und verliebt an, und Klaw versprach, ihr heute jeden Wunsch zu erfüllen, versicherte, ihr eine Freude machen zu wollen.

Djunka klapperte mit den Augen. In Klaws Hals bildete sich ein Kloß. Wie lange er diese — ihre — Angewohnheit schon kannte! Ein Zeichen der Verwirrung, der Verwunderung und Irritation. Klapp, klapp, bis der Staub von den Wimpern flog. Welcher Idiot konnte danach noch glauben, sie sei kein Mensch, sondern nur eine leere Hülle?!

Hass auf die Tschugeister presste Klaw die Kiefer zusammen.

»Ich möchte …«, setzte Djunka unsicher an. »Ich möchte … an die frische Luft. In den Wald … jetzt ist Frühling …«

Klaw biss sich auf die Lippe. In der Stadt und im Umland wimmelte es von Gefahren und Feinden. Andererseits: die arme Djunka! Wie sehr sie sich, eingesperrt in die vier Wände, verzehrte! Wie sehr sie unter dem Mief und der Einsamkeit litt!

»In Ordnung«, flüsterte er. »Wir machen einen Ausflug …«

Die zwei Stunden Fahrt erschöpften ihn genauso wie ein Tag voller Prüfungen. Drei verschiedene Autos hatten sie mitgenommen. Und ihr Weg, auf keiner Karte eingezeichnet, hätte umständlicher nicht sein können. Dafür begegnete ihnen unterwegs aber auch nicht eine einzige Zufahrtskontrolle oder Polizeistreife.

Einmal machten sie bereits aus der Ferne eine Tschugeister-Patrouille aus. Als Klaw erstarrte und sich in den Sitz drückte, spürte er, wie in seiner Hand Djunkas feuchte Finger eiskalt wurden und sich verkrampften. Die Ampel, die ihr gelbes Auge unverwandt auf die ruhige Straße richtete, kostete sie einige endlose Sekunden; schließlich erbarmte sie sich und sprang auf Grün. Der gesetzestreue Fahrer des Wagens gab Gas und bog in die eine Richtung ab, während die Patrouille die andere wählte.

Hinter der Stadtgrenze herrschte Frühling.

Auf halbem Weg zwischen zwei Campingplätzen stiegen sie aus dem Auto und schlugen sich sofort in den Wald. Djunka schritt aus, den Kopf weit zurückgebeugt und mit dem Saum ihres Mantels über die ersten grünen Gräser streifend. Das karierte Baseballcap auf ihrem Kopf zeigte mit dem Schirm in den Himmel. Klaw hielt sich etwas hinter ihr und unterdrückte den Wunsch zu rauchen.

Zwei oder drei Mal kamen ihnen Spaziergänger entgegen, Paare wie sie, die gleichermaßen freundlich und erschrocken wirkten. Djunka lächelte und winkte ihnen zu. Klaw spielte in der Tasche mit der Zigarettenschachtel und spürte, wie sich der kalte Klumpen, der sich seit der Begegnung mit den Tschugeistern in seiner Brust zusammengeballt hatte, allmählich auflöste. Niemand würde ihm Djunka nehmen können. Keine Kraft, keine Lüge. Nie würde er das zulassen.

Später saßen sie vor einem winzigen Lagerfeuer, in das sie immer wieder knorrige Tannenzweige warfen. Durch die vibrierende Luft hindurch sahen sie einander an. Klaw glaubte, Djunkas Gesicht würde tanzen. Die dunklen Strähnen in der Stirn, die feuchten Augen, die Lippen …

Diese Lippen stellten sich als salzig heraus. Und überhaupt nicht kalt. Die Zunge war rau wie bei einem Kätzchen. Außerdem roch die Haut überhaupt nicht nach Wasser, sondern nach dem Frühlingsrauch der verbrannten Tannenzweige.

Er atmete schnell und hielt die schon aufsteigenden Tränen noch zurück. Weinte er? Er erinnerte sich nicht, wann er das zuletzt getan hatte. Wahrscheinlich an Djunkas Grab. Wie weit das zurücklag. Erst jetzt, in diesem Augenblick, glaubte er tatsächlich, dass sie zurückgekehrt war. Erst jetzt glaubte er es, uneingeschränkt und vorbehaltlos. Umarmen sollte er sie jetzt …

Die Dämmerung senkte sich rasch herab. Der Frühling war eben doch nicht der Sommer.

»Hör mal, Djun, ist das ein Zug?«

Das Rattern der Räder ließ sich deutlich vernehmen. In der Nähe mussten mehrere Tonnen Metall durch den Wald schnaufen, der sich mehr und mehr in Dunkelheit hüllte.

»Lass uns hingehen«, bat Djunka leise. Das waren ihre ersten Worte in den letzten glücklichen Stunden. Vermutlich fror sie und ängstigte sich und wollte nach Hause.

Der Wurm des gesunden Menschenverstands schrammte Klaw mit einer scharfkantigen Schuppe: Sie fror nicht. Ein normales Mädchen hätte gefroren, aber nicht Djunka …

Hau ab, befahl er dem Wurm. Er zog seine Jacke aus, um sie Djunka über die Schultern zu legen, die ihm daraufhin einen dankbaren Blick zuwarf. Sofort wurde ihm warm, aber eng ums Herz. Gefroren hat sie, in dem dünnen Mantel! Kalt ist ihr gewesen, der Armen!

Eine Zeit lang liefen sie auf gut Glück. Die Dämmerung verdichtete sich, es wurde feucht, von der Erde stieg feiner Nebel auf. Dann ratterten die Räder wieder, schon näher und etwas weiter links. Klaw beschleunigte den Schritt. Djunka stolperte.

»Bist du müde? Wenn ja, nehme ich dich huckepack … Wie einen Rucksack … Was ist?«

»Nein.«

»Wie du meinst.«

Zehn Minuten später machten sie in der Ferne im Nebel schwimmende Lichter aus.

Das war kein Bahnhof, noch nicht mal ein Haltepunkt, sondern eher ein Ausweichgleis. Vier, nein, sechs nebelfeuchte Schienenstränge, eine riesige Weiche, ein halb in der Dämmerung verschwindendes Gebäude, ein Schuppen vielleicht oder eine Werkstatt. Etwas abseits stand das Wärterhäuschen. Ein heiserer Hund kläffte ein paar Mal.

In seiner Kindheit hatte Klaw Angst vor Zügen gehabt. Seine allzu lebhafte Phantasie konnte den Anblick der vieltonnigen, über die Schienen ratternden Kolosse nicht gelassen hinnehmen, sondern schob stets Arme und Beine unter die Räder, manchmal auch einen Kopf.

»Hier hält keine Bahn«, sagte er bedauernd. »Wir müssen weiter, Djunotschka, ich will mich erkundigen, wie wir von hier wegkommen.«

»Lass uns doch hier bleiben«, flüsterte Djunka.

»Was?« Klaw hatte nicht verstanden, was sie gesagt hatte.

»Bis morgen früh.« Das trübe weiße Licht der Laternen spiegelte sich in Djunkas funkelnden Augen wider. »Bis zum Morgengrauen.«

»Hmm.« Er zuckte unsicher mit den Achseln. »Vermutlich bleibt uns sowieso keine andere Wahl … Wird es dir denn nachts nicht zu kalt werden?«

»Nein«, antwortete Djunka, und in ihrer Stimme lag eine Gewissheit, die Klaw bestürzte.

Im Wärterhäuschen war niemand. Der Hund knurrte traurig an seiner Kette, an der Tür prangte eine schief angeklebte Nachricht: »Jarusch, komme um neune, bring se alle in de Garage.« Nachdem Klaw etwa eine Minute lang geklopft hatte, kam er achselzuckend zu dem Schluss, dass, wenn es also in der Nähe eine Garage gebe, in die irgendwelche Besucher zu bringen seien, sich auch ein Auto auftreiben lassen müsse.

»Djunka!«

In weiter Ferne erklang ein noch diffuses, aber rasch näherkommendes Brummen. Ein Zug.

Klaw sah sich um. Als hätten sich Dunkelheit und Nebel miteinander abgesprochen, verdichteten sich beide gleichzeitig. Er vermochte den niedrigen Bahnsteig nicht mehr zu erkennen, an dem Djunka auf ihn warten sollte. Die weißen Laternen brannten nicht, sondern schimmerten lediglich, selbstzufrieden und ganz und gar nutzlos. Die reinsten Glotzaugen, dachte Klaw. Ihm wurde mulmig zumute.

Das diffuse Brummen verwandelte sich in das rhythmische Rattern von Rädern, in das schwere Gerassel der zappeligen Kupplungen. Klaw spürte, wie die Schienen unter seinen Füßen vibrierten — und fragte sich, welches Gleis der Zug wohl nehmen würde.

Das Rattern der Räder verwandelte sich in Donnern. Der Nebel roch nach Eisen und Kohle. Als Klaw mit der Brust gegen kalten Stein stieß, begriff er, dass es der Bahn­steig sein musste. Offenbar war der gar nicht so niedrig.

Drei gleißende Augen schlugen mit einem missbilligenden Licht zu, durchdrangen den Nebelschleier, diesen matschigen Brei. Der empörte Pfiff zerriss Klaw beinahe das Trommelfell. Mit einem Satz sprang er auf den Bahnsteig und hechtete vom Rand weg.

Der Zug brauste vorbei, ohne Anstalten zu machen, die Geschwindigkeit wegen einer so banalen Sache wie einem Ausweichgleis zu drosseln. Wahrscheinlich handelte es sich hier um einen sehr wichtigen Zug. Vermutlich informierte man den Maschinisten über Funk, der Weg sei offen und frei, der Wärter sei zu irgendwelchen Besuchern in die Garage gegangen, während man das verliebte Pärchen, das nachts im Nebel über die Gleise schlenderte, ohnehin außer Acht lassen konnte.

»Djunka!« Klaw erzitterte. Seine Stimme ging im Gedröhn unter.

Es handelte sich um einen Personenzug, für den Fernverkehr. Über Klaws Kopf zogen die schwach beleuchteten Fenster dahin, fahle Lichtflecke huschten über den bebenden Bahnsteig, den verrosteten Zaun, über das Gras und die Büsche. Und da — in einiger Entfernung — stand auch, das Gesicht den Nebelflecken entgegengereckt, eine einsame weibliche Figur.

»Djunka …«

Das Donnern riss ab. Unwillkürlich hatte sich Klaw die Ohren zugehalten. Das Rattern der Räder verebbte erstaunlich schnell, als tauche es in Watte ab.

»Puh!«

Djunka stand unten an den Gleisen. Er sah nur die fiebrig glänzenden Augen.

»Gehen wir, Klaw … Komm runter, lass uns gehen …«

Als er vom Bahnsteig runtersprang, verstauchte er sich fast den Fuß. Er wollte nach Djunkas Hand greifen, fasste jedoch ins Leere.

»Gehen wir …«

In der Ferne jaulte eine Diesellok. Klaw spürte — oder bildete er sich das nur ein? –, wie die in der Dunkelheit nicht auszumachenden Gleise bebten und zitterten.

»Gehen wir, Klaw …«

Von ihren Augen, so schien es ihm, ging ein weitaus stärkeres Licht aus als von den Laternen, die im Nebel ertrunken waren. Wie hypnotisiert hielt er auf dieses Licht zu.

»Gehen wir …« In Djunkas Stimme schwang ohne Frage Ungeduld mit.

Gehorsam folgte er ihr, über die unerwartet hohen Bahnschwellen hüpfend und kletternd. Er versuchte, die Schienen zu meiden, die rutschig wie vereiste Rippen waren. Das ferne Geräusch des Zuges kam nicht näher, entfernte sich jedoch auch nicht. Ein trübes Licht, das vor ihm aufschimmerte, veränderte mit zartem Knirschen seine Position, folglich stellten sich gerade die automatischen Weichen um.

Klaw sah Djunka nicht mehr, spürte jedoch ihre Anwesenheit: etwas weiter vorn.

Plötzlich drehte sie sich um. Ihre Augen hoben sich deutlich von der Dunkelheit ab. »Klaw … ich … dich …«

»Ich dich auch«, erwiderte er rasch. »Ich liebe dich, Djun … Was ist das?!«

Drei weiße Augen, vom Nebel leicht getrübt, tauchten aus dem Nichts auf. Genauso wie aus dem Nichts ein Donnern losbrach. Dem fast sofort ein Pfiff folgte, der Klaws Inneres in einen einzigen zitternden Klumpen verwandelte.

Zu viel Zeit verschwendete er an die Frage, ob er sich nach links oder rechts werfen sollte. Die Diesellok ragte mit einer turmhohen, dunkelroten Schnauze über ihm auf, die zwei phosphoreszierende orangefarbene Streifen zierten, ein breiter und ein schmaler. Klaw meinte in der Mitte der Eisenfratze das runde Logo der Herstellerfabrik zu erkennen. Wie ein Eisenbart reckte sich das Gitter vor. Gleich würde der Körper eines Menschen fallen und unter dieses Gitter geraten, unter diesen donnernden, sämtliche Knochen zermahlenden Bauch …

Der allgegenwärtige Nebel. Kein einziger Stern leuchtete.

Er lag auf dem Bauch, mit beiden Händen in den vertrockneten Sträuchern des Vorjahrs verhakt. Zehn Zentimeter neben ihm donnerte Eisen über Eisen. Und zwar so, dass die Erde synchron mit dem auf ihr liegenden Menschen bibberte.

Es war ihm gelungen, seinem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen — falls es denn überhaupt das Schicksal gewesen war, das ihm da in Gestalt eines schweren, hinterrücks aufgetauchten Güterzugs begegnet war.


Zu der älteren Frau im Arztkittel gehörte ein Durchschnittsgesicht, das niemand im Gedächtnis behielt. Lange ließ sie den Blick zwischen der zerbrochenen Scheibe des Autos und Ywhas geschwollenem Gesicht hin- und herschweifen. »Brauchen Sie Hilfe? Hatten Sie einen Unfall?«

»Vielen Dank, Frau Sat. Dem Mädchen geht es bereits besser. Sorgen Sie bitte dafür, dass der Posten am Eingang die Papiere aller überprüft, die aufs Gelände fahren.«

»Aber, Patron, er hat Sie doch erkannt …«

»Setzen Sie ihm bitte auseinander, dass er von allen Papiere zu verlangen hat. Von absolut allen. Ich gehe jetzt nach unten, das Mädchen kommt mit. Wir brauchen einen Begleiter, mit Schlüsseln.«

»Ich könnte selbst …«

»Wenn es keine Umstände macht.«

Es dauerte etwa drei Minuten, bis die Frau dem Safe ein klirrendes Schlüsselbund und einem hohen Schrank zwei weiße Kittel entnommen hatte. Der gestärkte Stoff roch scharf nach Desinfektionsmittel. Mit aufeinandergepressten Zähnen krempelte Ywha die zu langen Ärmel um.

Im Gang nahm der Geruch noch zu. Von klein auf hasste Ywha den typischen Krankenhausgeruch. Genau wie das Streulicht der weißen Neonröhren, die Blumenkübel mit den unnatürlich grünen Pflanzen und das funkelnde, auf Hochglanz polierte Linoleum.

»Ist das ein Krankenhaus?«

»Ja. Ich werde dir nachher auch noch genauer erklären, was für eins.«

Eine weitere Schmerzwelle ergoss sich in ihren Kopf. Ywha hielt es nicht mehr aus und presste die Hand gegen die Schläfe. Am Ende des Ganges lag eine Treppe, die nach unten führte. Zwei junge Männer in Kitteln, die an ihren kräftigen Schultern spannten, wirkten gleichermaßen bedrohlich und locker. Beim Anblick der Frau mit den Schlüsseln warfen sich beide in Positur, beim Anblick des Inquisitors nahmen sie sogar eine stramme Haltung an.

»Die Stufen hier sind steil, halt dich an mir fest.«

Gehorsam hakte sich Ywha bei ihm unter. Im ersten Au­genblick glich die Berührung abermals einem leichten Schlag oder schwachen Elektroschock. Das war im Grun­de gar nicht so unangenehm, sogar ein wenig beruhigend.

Die Frau sperrte erst eine Tür auf, dann noch zwei weitere. Hier gab es einfach zu viele Schlösser. Verdächtig viele. Allzu grell blitzte eine vernickelte Klinke auf. Und selbst die Pflanzen in ihren Kübeln rochen nach Desinfektionsmittel.

Der nächste Gang stellte sich als kurz und fensterlos heraus und mündete in eine Wand. Rechts und links gingen Türen ab, die Ywha gar nicht erst zählte. Jede von ihnen verfügte über ein kleines verschlossenes Guckloch. Das Ganze erinnerte verdammt an ein Gefängnis. Ywha erschauderte.

An einer der Türen hob die Frau die Sichtschutzblende. Nachdem sie hineingespäht hatte, blickte sie den Inquisitor fragend an.

»Öffnen Sie bitte«, sagte dieser.

Lautlos ging die Tür auf — als ob es sich nicht um eine schwere Panzertür handelte, sondern um eine schlichte Schlafzimmertür. Die Angeln mussten gut geölt sein.

»Komm her, Ywha.«

»Ich will nicht.«

»Sieh dir das an, das ist notwendig.«

Er fasste sie bei den Schultern und schob sie vor die Tür. Der Geruch nach Desinfektionsmitteln war hier noch stärker, darüber lag jedoch noch ein anderer, ein widerlicher Beigeruch. Abgestanden war die Luft, wie im Zimmer eines Schwerkranken.

Der Raum wirkte so groß wie ein Ballsaal — und ebenso leer, sah man einmal von den fünf, nein, sechs Betten ab, die sich an der Wand reihten. Unter grauen Decken zeichneten sich gekrümmte Körper ab. Auf weißen Kissen ruhten rasierte Köpfe. Ein Bett war leer, darin gab es nur eine gestreifte Matratze.

»Gehen wir rein.«

Unbewusst krallte sich Ywha in den Arm ihres Begleiters. »Wer … sind die?«

»Sieh sie dir an.«

Fünf Frauen lagen in gleicher Stellung da, die Knie vor den Bauch gezogen. Alle fünf hatten große, offene, stumpfe und wahnsinnige Augen. Keine von ihnen reagierte in irgendeiner Form auf die Besucher. Auf den halb geöffneten Lippen schimmerte Speichel.

»Hab keine Angst, Ywha.«

»Darf ich wieder gehen?«

»Ja. Gehen wir.«

Die Frau erwartete sie im Gang.

»Das und das brauchen wir nicht«, erklärte der Inquisitor, in Richtung der entsprechenden Türen nickend. »Dahinter erwartet uns der gleiche Anblick. Aber die Tür öffnen Sie bitte, Frau Sat. Ich möchte dir jemanden vorstellen, Ywha.«

Das Zimmer war wesentlich kleiner. In einer Art Zahnarztstuhl saß eine kahl rasierte Frau mit offenen Augen und entrücktem, irgendwie verschwommenem Gesichtsausdruck. Im ersten Moment glaubte Ywha, die Frau behalte die Eintretenden fest im Blick; tatsächlich nahm sie jedoch überhaupt nichts wahr. Die himmelblauen Augen wirkten wie geschliffenes Glas. An den schmalen Schultern hing ein formloses, dunkles Kleid. Auf dem rasierten Schädel saß eine schwarze Mütze.

»Guten Tag, Tyma«, sagte der Inquisitor. In seiner Stimme schien echte Zärtlichkeit zu liegen. »Das ist Ywha.«

Die Insassin antwortete nicht. Kraftlos lagen ihre Hände auf den Armlehnen. Schöne Hände hatte sie, mit schlanken Fingern und kurz geschnittenen Nägeln.

»Das ist Tyma Leus«, erklärte der Inquisitor sachlich. »Sie ist Neurochirurgin. Die einzige mir bekannte Hexe, die es geschafft hat, zu studieren und wissenschaftliche Erfolge zu erzielen.«

»Sie ist eine Hexe?!«

»Ja. Eine ehemalige. Ihr Geliebter hat ihr eine Bedingung gestellt … Er wollte keine Hexe heiraten, und sie hat geschworen, seine Bedingung zu akzeptieren. Man versucht in der Tat nicht erst seit gestern, den Hexen ihre Hexenschaft zu nehmen. Und auch nicht erst seit vier Jahren, als wir Tyma … ins Programm genommen haben. Auch nicht seit vierhundert Jahren …«

Wieder richtete Ywha den Blick auf die Frau auf dem Stuhl. Ihre Brust hob sich kaum merklich im Rhythmus ihres Atems. Andere Reaktionen zeigte sie nicht. Selbst als der Inquisitor die Hand auf der Armlehne mit der seinen bedeckte, änderte sich nichts. Nicht einmal mit den Wimpern zuckte sie. Als sei sie eine Pflanze.

»Die Hexenschaft … Es ist ein ganzer Komplex von Eigenschaften, den wir so nennen. Er ist mit den Charaktereigenschaften derart verflochten, dass wir, indem wir die Hexe in einer Frau töten, die gesamte Persönlichkeit töten müssen. Insgesamt haben an dem Programm fünfzehn Frauen teilgenommen. Tyma war die Erste. Sie alle kamen selbstverständlich freiwillig und voller Hoffnung zu uns. Sie alle hatten ihre Gründe, insbesondere Tyma, denn sie hatte jemanden, den sie liebte.«

Ywha holte tief Luft.

»Tyma war ein kluger Kopf«, sagte der Inquisitor mit unfrohem Lächeln. »Sie hatte einen eisernen Willen. Und sie war eine Schönheit … selbst jetzt ist das noch zu sehen. Am Abend vor der Operation hat sie noch ihre Witze gemacht, mich als unschlüssig verspottet …« Er verstummte. Kurz sah er der sitzenden Frau in die starren Augen, dann wandte er den Blick ab. »Von den fünfzehn Patientinnen haben neun überlebt. Alle befinden sich in diesem … Zustand. Für immer. Verstehst du jetzt?« Ywha schwieg. »Darum hast du mich heute Morgen gebeten. Hast du dir das vorgestellt, als du mir vorgeworfen hast, ich würde lügen? Verstehst du mich jetzt?«

Es war sehr still geworden, selbst Frau Sat im Gang draußen klimperte nicht mehr mit den Schlüsseln.

»Ja«, brachte Ywha heiser hervor.

Der Inquisitor ließ seine Hand kurz auf der leblosen Hand der Frau liegen. »Auf Wiedersehen, Tyma. Ich hoffe, es geht dir … gut.«

Auf dem Rückweg sagte niemand ein Wort. Ywhas Kopf schmerzte mit neuer Wucht; das Quietschen der Schlösser hallte in ihrem Nacken nach und zwang sie, sich zu krümmen, brachte sie zum Zittern. Der Inquisitor verabschiedete sich von Frau Sat, der puterrote Posten am Eingang machte Anstalten, seine Papiere zu kontrollieren. Der Inquisitor erlaubte sich, ihn darauf hinzuweisen, jetzt sei dergleichen nicht nötig; die Kontrolle habe vorher zu erfolgen, nicht nachher.

Durch das zersprungene Fenster pfiff kalter Wind. Ywha zuckte auf dem Rücksitz mit den Beinen, krümmte sich und weinte.


Das Café am Stadtrand war zu klein, als dass es einen eigenen Namen hätte haben müssen. Verwundert starrte der Kellner das seltsame Paar an: ein Mann in mittleren Jahren, kultiviert, mit einem Gesicht, das ihm vage bekannt vorkam, in Begleitung einer jungen, rothaarigen Frau, deren Nase offenbar gebrochen war, deren Augen gerötet waren und auf deren Pullover dunkelbraune Blutflecken zu sehen waren. Kurz überlegte der Kellner, ob er die Polizei holen sollte, nahm dann jedoch Abstand von der Idee.

»Ich werde dir einen Wein bestellen. Das hilft gegen den Stress.«

»Und Sie?«

»Ich muss noch fahren. Willst du etwas essen?«

»Nein.«

»Kommt gar nicht … gut, wie du willst. Sonst wirfst du mir wieder meine pathologische Liebe zum Zwang vor.«

Verbissen musterte Ywha die Tischdecke.

Der Inquisitor schwieg. Er stieß einen kurzen Seufzer aus, der so gar nicht zu ihm passte, weshalb Ywha alarmiert aufhorchte.

»Tut dein Kopf noch weh?«

»Kaum noch.«

»Gut. Sag mal, Ywha, wie oft ist dir das schon passiert, dass du so … seltsame Sachen von dir gibst? Bei einem Wutanfall oder wenn du Angst hast oder vor Schmerzen? Hast du das schon mal erlebt, dass die Worte … quasi aus dem Nichts auftauchten? Und dein Gegenüber äußerst verblüfft reagiert hat?«

Ywha war klar, worauf die Frage abzielte. Mit gerunzelter Stirn und abgewandtem Blick versuchte sie sich zu erinnern, was genau sie dem Inquisitor gesagt hatte, bevor er ihr beinah das Hirn zertrümmert hatte. Das gelang aber nicht. Sie erinnerte sich nur noch, dass sie Worte über die Lippen gebracht hatte — aber Worte ohne jede Bedeutung, ja, mehr noch, die seltsamen Sätze schienen ihr lediglich wie verquirlte Spaghetti, ein farbloser und amorpher Brei ohne jeden Sinn.

»Erinnere dich.«

Sie öffnete den Mund, um zu sagen: Ich erinnere mich nicht — doch in diesem Moment fiel ihr etwas ein.

»Das hast du schon einmal erlebt, nicht wahr?«

Ja. Die Aula der Kunstschule, die gerammelt voll war. Die Direktorin mit roten Flecken auf den Wangen, die den Mädchen den »Herrn Inquisitor unseres Kreises« vor­stellte. Die Übelkeit, die Schwäche und die Bosheit. Die vielen leeren Plätze, die sofort um sie herum entstanden waren, der aufmerksame Blick, das vielsagende Schweigen.

Die Fortsetzung folgte im Zimmer der Direktorin. Eine amtliche Benachrichtigung, angewiderte, verängstigte Blicke, Gerede der Art, dass »wir die Schule nie wieder von dieser Schande reinwaschen« werden. Und noch etwas sehr Scharfes, ein Wort wie eine Knute mit einer Bleikugel. Etwas über Hexen und Huren, über nichtsnutzige kleine Nutten ohne Familie. Etwas unsagbar Gemeines, vor allem angesichts der Tatsache, dass Ywha damals erst fünfzehn Jahre alt war und noch nie einen Jungen geküsst hatte. Und dann dieses verstehende Grinsen des Herrn Inquisitors.

Damals hatte Ywha ebenfalls den Mund geöffnet und losgeredet. Die Direktorin hatte sie damit zu Boden geschleudert; der Anblick hatte Panik ausgelöst und Ywha die Möglichkeit gegeben, dem Inquisitor vor der Nase zu entschlüpfen.

Irgendwas von einer Leber hatte sie von sich gegeben. Die bald von Löchern zerfressen sein würde. Und wohl auch noch einen medizinischen Fachausdruck …

»Was war das für eine Schule?«

»Für angewandte Künste … Industriedesign … diese Richtung. Ich erinnere mich nicht mehr, was die Leber damit zu tun hatte, von der …«

»Wer ist in Ohnmacht gefallen? Die Direktorin?«

»Sie …«

»Das war in Rydna? Die Schule für angewandte Künste?«

»Ja.«

»Gib mir zwei Minuten. Ich muss jemanden anrufen.«

Die junge Kellnerin, die gerade auf einem kleinen Wagen ihre Bestellung brachte, schaute dem Inquisitor nach. Dann richtete sie den Blick auf Ywha, abschätzend, ohne ihre Neugier zu verbergen. Ywha sah woanders hin.

Der Inquisitor kehrte nicht nach zwei, sondern erst nach zwanzig Minuten zurück. »Die Direktorin deiner Schule ist im Alter von zweiundvierzig Jahren an Leberzirrhose gestorben. Der Inquisitor, mit dem du es zu tun hattest, war Itrus Sowka, der es letztlich doch nicht zum Kurator gebracht hat. Er ist vor zwei Jahren wegen Unfähigkeit entlassen worden … Offenbar hat er nicht nur deine Verhaftung verpatzt. Ich habe ihn nicht gekannt.«

Ywha starrte auf das Tischtuch.

»Weinst du?«

»Sie … war todkrank? Und ich …«

»Vermutlich hat sie zu dem Zeitpunkt nur geahnt … dass etwas nicht stimmte. Die Ärzte haben noch gezweifelt und mit der Wahrheit hinterm Berg gehalten. Vorahnungen haben sie gequält, aber als willensstarke Frau hat sie die hässlichen Gedanken erfolgreich verdrängt. Zumindest, solange es ging.«

»Und ich habe ihr …«

»Dich trifft keine Schuld.«

»Aber ich bin eine Hexe!«

»Ja, sicher. Vielleicht bist du sogar eine potenzielle Bannerhexe. Eine nicht initiierte. Du hast eine seltsame Gabe, du erfasst die Geheimnisse anderer Leute. Unbewusst. In Stresssituationen. Nun komm schon, iss was.«

Gehorsam blickte Ywha auf den Teller. Lustlos spießte sie mit der Gabel ein bereits abgekühltes Stück Huhn auf, erinnerte sich daran, dass sie eigentlich gar nichts hatte bestellen wollen, seufzte mehrmals und legte das Besteck weg. »Und heute bin ich … auf Ihr Geheimnis gestoßen? Was hat das für mich für Konsequenzen?«

»Gar keine.«

»Ich wollte, ich könnte das glauben.«

»Ywha, hast du … Industriedesign studieren wollen? Oder hast du einfach einen Ausbildungsplatz gebraucht?«

Sie stellte das hohe Weißweinglas, das sie in der Hand hielt, auf dem Tisch ab. »Am Anfang wollte ich gern … Designerin werden. Aber dann …«

»… hast du es dir anders überlegt?«

Ywha hüllte sich in Schweigen und wandte den Blick ab. »Sagen Sie mir ganz ehrlich … hat Nasar mit mir Schluss gemacht?«

»Nein.«

»Ich habe immer geglaubt … wenn ein Mensch … also wenn er jemanden liebt … ist er auch in der Lage … zu verzeihen.« Sie holte Luft. »Zum Beispiel einer Hexe, dass sie eine Hexe ist.«

»Wenn du das wirklich glaubst, hättest du es Nasar sagen sollen.« Der Inquisitor suchte auf dem Tisch nach einem Aschenbecher.

Ywha brachte kein Wort heraus. »Sie machen mir das Leben nicht gerade leicht. So oft sagen Sie Sachen, die ich nicht hören will.«


(Djunka. April)

Seit knapp drei Monaten hatte er das Grab nicht besucht. Und seit seinem letzten Besuch hatte sich dort viel verändert. Die hölzernen Blumentöpfe mit den welken Winterpflanzen waren verschwunden, ein matter schwarzer Stein war aufgestellt worden, mit einem Flachrelief in der rauen Vorderseite. In der Nacht hatte es geregnet, also war Dokijas Gesicht feucht und wirkte seltsam lebendig. Klaw glaubte sogar, auf ihren Schultern würden ein paar Strähnen wippen, aber natürlich war dem nicht so. Der Steinmetz hatte nach einem alten Foto von Djunka gearbeitet, auf dem die Haare, ein wenig lockig und ganz trocken, zu einer prachtvollen festtäglichen Frisur hochgesteckt waren.

Klaw empfand eine Art Reue. Seit dem Tag der Beerdigung hatte er niemanden aus ihrer Familie aufgesucht. Saß der Schmerz, den ihm die Worte ihrer Schwester zugefügt hatten, so tief?

»Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Dokija geliebt hat.«

Das stimmte. Er wollte seinen Kummer nicht teilen. Djunka sollte nur ihm gehören.

Jetzt stand er vor dem gepflegten Grab, betrachtete die steinerne und dennoch unangenehm lebendige Djunka und versuchte mit aller Gewalt, eine aufdringliche, unbarmherzige Frage wegzuscheuchen.

Was, wenn unter dem Stein …

Lag sie dort? Oder war das Grab leer?

Und wenn sie dort lag?!

Der Tag war erstaunlich kalt, seltsam kalt für den Frühling. Fröstelnd schlang sich Klaw die Arme um die Schultern und sprang herum, um die Feuchtigkeit loszuwerden, die aus der Erde in die Schuhe kroch.

Diese Diesellok würde er bis an sein Lebensende nicht vergessen. Selbst über die Schienen einer Straßenbahn würde er nie wieder gehen. In allen parallel nebeneinander gezeichneten Linien würde er fortan Gleise sehen — die ihn jedes Mal erzittern lassen würden.

Wo war Djunka? Hier, unter dem schwarzen Stein? Oder dort, in der fest verschlossenen, stickigen kleinen Wohnung? In die er, ob er wollte oder nicht, zurückkehren musste.

Drei Tage lang lastete nun schon dicker, undurchdringlicher Nebel über dem Boden, der alle Geräusche schluckte.

Ein unglücklicher Zufall war unangenehm. Zwei unglückliche Zufälle waren …

Warum sollte es eigentlich nicht zwei solcher Zufälle hintereinander geben? Wie viele Menschen sterben jährlich unter den Rädern eines Güterzugs oder einer Eisenbahn? Vor allem im Nebel. Oder betrunken.

Klaw kratzte sich den Kopf. Gestern, nachdem er ins Wohnheim zurückgekommen war, hatte er wortlos eine ganze Flasche Kognak getrunken, die ursprünglich für ein Fest gedacht gewesen war. Juljok Mytez, der ihn mit der leeren Flasche erwischt hatte, konnte es nicht fassen. Es tat ihm um den edlen Tropfen leid, aber auch um …

Zu allem Überfluss hatte der Alkohol nicht einmal Wirkung gezeigt. Selbst angetrunken hatte sich Klawdi nicht gefühlt. Gut, seine Beine waren butterweich gewesen, aber sein Kopf war doch beschämend klar geblieben. Unablässig war ihm darin ein einziger Gedanke herumgegangen.

Doch den würde Klaw niemals laut aussprechen. Mehr noch: Der Gedanke an sich schien ihm schon ein Verbrechen zu sein.

Und wenn er sich bei ihrem Ausflug einen angetrunken hatte? Und sich jetzt bloß nicht mehr daran erinnerte? Vielleicht hatten sie, Djunka und er, sich wärmen wollen, als sie am Lagerfeuer gesessen hatten, von innen sozusagen?

Nein. Heute war es kalt, aber als sie den Ausflug unternommen hatten, war es warm gewesen, frühlingshaft und angenehm. Und sein Kopf war auch klar gewesen.

Die steinerne Djunka blickte ihn tadelnd an. Als wolle sie sagen: Das denkst du von mir? Von mir?

»Hast du …«, flüsterte Klaw fast tonlos.

Auf dem schwarzen Stein ließ sich furchtlos eine kugelrunde, fröhliche Meise nieder.

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