In der Metro sitzend, in eine Ecke gekauert, fand Ywha für rund sechs Stunden nervösen Schlaf. Um sie herum kamen und gingen Menschen. Sie träumte, jemand ziehe ihr die Tasche aus der Hand, man wecke sie, nehme sie fest, bringe sie irgendwohin … Panisch riss sie die Augen auf — und beruhigte sich, schlief wieder ein, während die trüben Lampen brannten, Fahrgäste ein- und ausstiegen, Tunnel an ihr vorbeizogen und sich in ihren Traum bald Stimmen mengten, die mal wie eine wütende Menge unter freiem Himmel, mal wie ein durchdringender Kinderchor klangen.
Irgendwann wurde der Betrieb für die Nacht eingestellt, und ein mürrischer Alter in Dienstuniform forderte sie auf auszusteigen. Da war es ein Uhr nachts.
Wo sollte sie jetzt hin? Verloren stand Ywha in einer völlig menschenleeren Straße unterm Sternenhimmel. Es roch nach Veilchen, das Geäst wogte beruhigend. Ywha hatte keine Ahnung, an welchem Ende der Stadt sie sich befand. An der Straße führte eine gelbe Mauer entlang, der sie nur folgte, weil ihr sonst nichts Besseres einfiel.
Sie stieß auf Eisenbahngleise und ein paar abgekuppelte Güterwaggons, die hier aus irgendeinem Grund die Nacht verbrachten. Es roch nach Maschinenöl und schon wieder nach Veilchen. Der Wind trug den Geruch von Wasser heran, offenbar lag in der Nähe ein Fluss oder ein See. Sobald Ywha ein abgeschiedenes Plätzchen für sich gefunden hätte, könnte sie sich endlich richtig ausschlafen. Genau in diesem Augenblick beschlich sie das Gefühl, hier sei noch jemand.
Ywha sah in der Dunkelheit nicht so gut und vermochte die Gedanken eines Menschen nicht so treffend zu erahnen, ihre Intuition war allerdings immer gut ausgeprägt gewesen, weshalb sie sofort verstand, dass sie hier nicht bleiben konnte. Hier sollte sie nicht schlafen — lieber nicht.
Wie zur Bekräftigung dieses Entschlusses leuchteten in einiger Entfernung gespenstisch die weißen Augen von Taschenlampen auf.
Ywha blieb stehen. Alle Ängste, die die horrorverliebte Phantasie der Menschen mit einsamen, verlassenen Orten in Verbindung brachte, fielen ihr prompt ein und verknäulten sich zu einem undurchdringlichen Ganzen. Lauerten hier etwa Verrückte? Vergewaltiger? Kannibalen?
Eine Frau schrie. Scharf und laut wie ein großer Vogel. Die Taschenlampen krochen vorwärts und drifteten zu einem Halbkreis auseinander. Ywha fühlte sich wie in einem schlechten Traum: Ihre Beine sollten sie forttragen, rührten sich aber nicht von der Stelle.
Zwei Frauen sprangen auf Ywha zu. Da sie in der Dunkelheit und im Lauf nur schlecht auszumachen waren, wirkten sie fast wie Zwillinge. Beide waren jung und bleich, beide trugen nur Lumpen. Und in beider Augen glomm die Panik eines gehetzten Tiers, eine pathologische Angst, derzufolge dem, was sie in der Dunkelheit verfolgte, ein hundertfach größerer Schrecken anhaftete als dem Tod.
Ywha wich zurück. Die beiden huschten an ihr vorbei, ohne sie zu bemerken, obwohl sie sie fast umgestoßen hätten. Von ihnen ging ein Geruch aus, den Ywha nicht einzuordnen wusste, der jedoch noch vom Geruch der Angst überlagert wurde. Kurz verlor Ywha die Kontrolle über sich.
Sie ergriff die Flucht. Sie musste es bis zur Metro schaffen, die Straße erreichen und diese schreckliche gelbe Mauer hinter sich lassen. Sie feuerte sich an weiterzulaufen, alles zu geben …
Die beiden rannten vor ihr her. Als sie sich unter dem dunklen Bauch eines Waggons abduckten, begriff Ywha, dass auch ihre Rettung dort lag. Kalt funkelte das Gleis im Licht einer einsamen Laterne. Sich die Hände aufkratzend und die Tasche wegwerfend, die sie nur behinderte, kroch sie auf die andere Seite. Wieder und wieder verschwand sie unter den Waggons — eine Füchsin im Wald, der von Jägern umstellt war, ein rotfelliges Tier, das der Hatz zu entkommen suchte, seine Spuren verwischte und weiterlief, immer weiter …
Das grelle Licht der Taschenlampe spiegelte sich in einer Konservendose wider, die jemand weggeworfen hatte. Ywha schrie auf. Die beiden, die vor ihr herrannten, ebenfalls. Keinen klaren Gedanken vermochte Ywha mehr zu fassen, und so verwandelte sie sich endgültig in ein Tier, das den schmalen Grat zwischen Leben und Tod entlanghetzte; mit letzter Kraft wollte sie sich durch einen schmalen Mauerspalt zwängen. Hinter dieser Mauer winkte Rettung, da gab es Menschen und Häuser, da gab es …
Im letzten Moment packte sie jemand am Bein. Die blassen Zwillingsgestalten schrien erneut auf, zweistimmig, jämmerlich und panisch.
Es waren so viele. Und sie waren überall. Sie bildeten Ringe, diese Schwarzgewandeten, die sich in der Dunkelheit der Nacht verloren hätten, wenn ihre groben Westen aus Kunstpelz nicht im schneidenden Licht der Laternen gefunkelt hätten. Kaum hatten sie einen Kreis gebildet, legten sie die Hände auf die Schultern des Nebenmannes und schritten vorwärts.
Ein Schrei.
Der Kreis der Tänzer zog sich zusammen, als sei er eine fleischfressende Pflanze, die eine Fliege erwischt hat und die Blatthälften zufrieden über der Beute zusammenklappt, als sei er ein grummelnder Magen, der sich anschickt, alles Lebendige zu verdauen, das unvorsichtigerweise in seine Nähe gekommen ist. Der Tanz der Tschugeister ist nichts anderes als das Instrument, mit dem eine grauenvolle Strafe vollzogen wird.
Ihr Reigen begann, dieser Wechsel komplizierter Bewegungen, mal langsamer und bedächtiger, mal abrupter und entschlossener, ganz so wie bei einem Spinnrad, das seine Fäden ausspuckt. Nur dass dieser schwarze Ring, der sich drehte, jemandem den Tod brachte.
In die Szenerie mischte sich der Veilchengeruch, ein unnatürlich starker Geruch.
Die Erde erbebte.
Mit jeder Bewegung vervielfältigten sich die unsichtbaren Fäden, die auf ihre Opfer einpeitschten, diese pulsierenden Schläuche, die ihnen das Leben nahmen, diese schwarzen Rüssel, die ihnen die Seele heraussaugten. Zwei Schatten lagen in einer quälenden Agonie, ein dritter gehörte der erstarrten, lautlos schreienden Ywha.
Die erstickende, nach Veilchen riechende Nacht wendete alles nach links, und von der dampfenden, nach außen gekehrten Innenseite ihres Fells baumelten die inneren Organe herab.
»Hexe …«
Zu ihrem Glück verlor Ywha kurzzeitig das Bewusstsein. Die Tschugeister zogen sie, gepackt an Armen und Schultern, über das Gras und die kleinen, sich in den Körper bohrenden Steine. Die Nacht verwandelte sich in Tag, denn gleich mehrere Scheinwerfer knallten ihr ins Gesicht, das sie aufkreischend mit den Händen bedeckte.
»Halt den Mund, du Idiotin!«
»Ich gehöre nicht zu denen!«
»Das kannst du uns alles noch nachher erklären …«
Dann ließen sie sie in Ruhe.
Dafür fingen nun die Njawken an zu schreien. Und Ywha ahnte, was sie durchmachten. Am Ende blieb nur die leere Haut von ihnen übrig, dieser Overall, der so kunstvoll zusammengenäht schien. Und die Plättchen der Fingernägel blieben auch noch übrig, ebenso wie die weißen Bälle der Augen und die Haare auf dem flachen Kopf, der an einen schlaffen Fußball erinnerte und deshalb übernatürlich groß wirkte.
Als die Tschugeister ihren Tanz beendet hatten, war das Einzige, wozu Ywha noch imstande war, von ihnen wegzukriechen. Unter den Waggon, wo sie sie jedoch gleich fanden.
»Komm her!«
Sie leistete keinen Widerstand.
»Du bist doch eine Hexe, oder? Was machst du dann hier, du Idiotin?«
Sie hätte es ihnen erklärt, bestimmt hätte sie das.
»Das Mädchen ist ja mit den Nerven völlig am Ende«, mischte sich einer der Tschugeister ein, dessen Taschenlampe ein Gelbfilter verblendete. »Was treibt sie sich auch nachts in dieser finstren Gegend rum? Und warum rennt sie vor uns weg? Schließlich ist sie doch keine Njawka!«
Ywha spürte, wie ihre willenlose Hand auf die kräftige Schulter von jemandem gelegt wurde. »Gehen wir, Mädchen. Und du …« Das galt seinem Kollegen. »Warum händigst du ihr nicht gleich ein Handbuch über das richtige Verhalten von jungen Hexen aus, die sich nicht initiieren lassen wollen und die Registrierung fürchten? Das trifft doch auf dich zu, oder?« Letzteres galt Ywha.
Ywha konnte nicht aufhören zu schluchzen. Der mit der harten Schulter begriff alles viel zu schnell, erklärte alles viel zu ausführlich. Der Boden unter ihr schwankte, weshalb sie sich, bemüht, das Gleichgewicht zu wahren, in die Fellweste verkrallte, die seine Schulter bedeckte.
»Du brauchst keine Angst zu haben. Wir tun dir nichts. Auf solche wie dich haben wir’s nämlich gar nicht abgesehen.« Das war der mit dem Gelbfilter. »Kann schon sein, dass andere bei dir nichts hätten anbrennen lassen, aber wir sind in festen Händen. Und unsere Freundinnen sind sauberer und auch hübscher als du.«
Jemand lachte. Jemand warf ihm ein freundliches »Halt den Mund« hin. Gegen die Erstarrung und den Schmerz ankämpfend, kam Ywha zu dem Schluss, der Besitzer des gelben Filters müsse der Scherzbold unter ihnen sein. Ein alberner Tschugeist — Sachen gibt’s!
»Hey, Mädchen, ist das deine Tasche? Oder gehört die einer von denen!«.
Jammernd presste Ywha die Tasche an sich.
Ihre Autos standen auf der anderen Seite der Mauer. Ein Laster mit einem gelb-grünen Blinklicht auf dem Dach und einige PKWs, große und kleine, ältere und noch nicht ganz so abgenutzte.
»Sollen wir dich mitnehmen?«, fragte ein großer Tschugeist mit rundem, fast kahl rasiertem Schädel, während er die Tür des Lasters vor Ywha aufriss. Achtlos hatte er sich einen mit einem Reißverschluss gesicherten Plastiksack unter den Arm geklemmt. Ywha wusste, was sich darin befand.
Und dieses Wissen musste sich auf ihrem Gesicht widerspiegeln, denn derjenige, auf dessen Schulter sie sich stützte, sprach jetzt beruhigend auf sie ein: »Du brauchst wirklich keine Angst zu haben …«
Sie schüttelte den Kopf. Sie würde sich nicht zu Tode erschrocken in diesen Laster setzen. Eher würde sie sich vors Auto werfen …
»Na komm, ich nehm dich mit«, sagte der mit dem Gelbfilter plötzlich völlig ernst. »Ich habe einen Maxik. Vor einfachen PKWs wirst du doch keine Angst haben, oder?«
Alle sechs, die noch vor einer halben Stunde Teil jenes monsterhaften Mechanismus gewesen waren, sprachen jetzt leise miteinander, wie ganz normale Menschen. Ein Auto nach dem nächsten wurde angelassen. Mit einem Mal begriff Ywha, dass auch die Tür des Lasters zuschlug, um sie herum niemand mehr war — nur derjenige, an dessen Schulter sie sich festgehalten hatte. Er vereinbarte etwas mit dem rundschädligen Hünen, bevor sie dann über den kommenden Tag sprachen, den sie jedoch nicht »morgen«, sondern »heute« nannten.
Der Himmel war nicht mehr schwarz, sondern schon grau. Ein dunkles, trübes Grau, die Dämmerung …
»Was ist? Weißt du nicht, wohin?«, wurde Ywha von dem gefragt, den sie insgeheim den Scherzbold getauft hatte. »Hast du kein Zuhause? Hat man dich rausgeschmissen? Oder bist du nicht von hier? Hast du kein Geld?«
Sie wollte ihn schon bitten, sie in Frieden zu lassen, verzog stattdessen bei dem kläglichen Versuch, ein Lächeln zustande zu bringen, aber nur die Lippen.
»Gehen wir.« Er griff nach ihrem Arm.
Er fuhr wirklich einen Maxik. Einen kleinen Wagen, dessen Hintern offenbar gerade Bekanntschaft mit dem Laster geschlossen hatte, sah der Kofferraum doch wie eine Quetschkommode aus.
»Ich habe jetzt einen Tag frei … Du brauchst keine Angst zu haben. Ich bin kein Tier … Aber schau mal in den Spiegel. Du bist eine schöne Frau … Ich versteh ganz gut, dass die Inquisition euch jagt, aber ich gehöre nicht dazu … Wirf deine Tasche auf den Rücksitz, was klammerst du dich so daran fest, ich nehm sie dir schon nicht weg!«
Die gelbe Mauer zog an ihnen vorbei, immer schneller und schneller.
Ywha atmete stoßweise und schloss die Augen.
Odnyza empfing Klawdi mit einer stickigen Nacht, einer Lichterkette und einem gepanzerten Wagen am Rande der Landebahn, einem schwarzen Ding, das aus der Ferne an einen feuchten Lackschuh erinnerte.
»Nieder mit dem Abschaum, Patron.«
Es verging eine volle halbe Minute, bevor er die Stimme erkannte, diese tiefe und kräftige Stimme einer verhinderten Opernsängerin. Wie sich ihre Trägerin in den letzten drei Jahren verändert hatte! Nicht gealtert war sie, aber sie hatte sich doch stark verändert. Oder trug daran das künstliche gelbe Licht der Scheinwerfer die Schuld?
Die getönten Scheiben des Autos verwandelten die Außenwelt in eine weiche, matte Märchenlandschaft. Ungeachtet der späten Stunde funkelten in Odnyza überall Lichter, Reklametafeln drehten sich, die Stadt machte den Touristen schöne Augen. Gleich fiel Klawdi wieder ein, wie er vor gut dreißig Jahren zum ersten Mal mit seiner Mutter in diese Stadt gekommen war. Auch damals in der Nacht. Am Flughafen hatten sie sich ein Taxi genommen, durch die Scheibe hatte Odnyza wie eine verzauberte Stadt gewirkt.
»Kurator Mawyn hat einen Bericht vorbereitet, Patron. Sobald Sie es wünschen …«
»Nachts achte ich nicht auf die Etikette«, ließ Klawdi trocken fallen. »Quäl mich nicht, Fedora, ich bin ohnehin schon am Ende meiner Kräfte. Wie geht es deinen Kindern?«
Es folgte eine Pause. Die Autos, die noch in großer Zahl durch die nächtlichen Straßen fuhren, machten dem gemächlich dahinzuckelnden schwarzen, gepanzerten Wagen respektvoll Platz. Der kurz geschorene Nacken des Fahrers hinter der blauen Trennscheibe fing den Widerschein der Lichter ein, was ihn wie einen Planeten wirken ließ, um den Hunderte von Gestirnen kreisten.
»Den Kindern … geht es gut«, antwortete Fedora stockend. »Allen … geht es gut.«
»Ich wusste nicht, dass du jetzt in Odnyza bist«, gab Klawdi ehrlich zu.
»Wyshna ist eben nicht in der Lage, alle Versetzungen im Auge zu behalten«, sagte Fedora mit fahlem Lächeln. »Das wäre auch ungewöhnlich.«
»In den letzten drei Jahren hast du ordentlich Karriere gemacht.«
»Ich gebe mir alle Mühe.«
»Wie stehst du zu diesem Querulanten Mawyn?«
Eine weitere Pause, die Klawdi zu verstehen gab, dass er sich im Ton vergriffen hatte.
»Unser Verhältnis ist einigermaßen gut«, erklärte die Frau schließlich. »Aber nicht eng — falls du das wissen wolltest.«
Klawdi wollte ihr schon versichern, dass er das nicht wissen wollte, hielt sich jedoch im letzten Augenblick noch zurück. Dies hätte erst recht taktlos gewirkt.
»Dein Besuch war immerhin nicht eingeplant«, sagte Fedora mit einem kurzen Lachen. »Er kam ziemlich überraschend. Das war zu viel für Mawyn. Er hat nämlich Angst vor dir.«
»Ach ja?«, staunte Klawdi.
Die Frau holte tief Luft. »Also …« Sie senkte den Blick. »Für mich wäre es leichter gewesen, wenn wir uns an die Etikette gehalten hätten.«
Leichter, das muss nicht immer heißen: besser, wollte Klawdi schon einwenden. Doch auch diesmal beherrschte er sich, vertrieb den bedeutungsschweren Satz von der Zunge. Was sollte das bringen? Fedora würde ihn für weiser halten, als er eigentlich war …
Er lächelte schief, die Frau verkrampfte sich.
»Wir können gern zur Etikette zurückkehren«, lenkte er ein.
»Dazu ist es jetzt zu spät«, entgegnete Fedora. »Jetzt würde mich das verletzen.«
Ein eiserner Charakter, ein brillanter Verstand — und die Empfindlichkeit eines hässlichen Teenagers. Nein, niemals hätte er es ihr recht machen können. Und vermutlich würde er das auch nie fertigbringen.
»Was glaubst du, weshalb ich gekommen bin?«
Wieder schlich sich Anspannung in ihre schönen, kalten Augen. Fast Schrecken. Oder täuschte ihn auch diesmal das gespenstische, dahinhuschende Licht?
»Klawdi … Klaw …« Zum ersten Mal sprach sie ihn heute mit Namen an. Hastig und vernuschelt, als fürchte sie, sich die Zunge zu verbrennen. »Klawdi, wir stehen vor ungeheuren Problemen … Mawyn, ich, wir alle.«
»Ja?«
»Ja. Im Sommer nimmt die Sterblichkeit im Kreis traditionell zu. Unglücksfälle in den Bergen, im Meer … Vergiftungen, Schlägereien unter Jugendlichen … Der enorme Zulauf von Touristen … da ist es sehr schwer zu entscheiden … wann hinter einem Tod eine Hexe steckt. Aber … in den letzten zwei Wochen haben wir ein Dutzend Menschen verurteilt. Die Urteile sind noch nicht vollstreckt …«
Klawdi hüllte sich in Schweigen. Fedora hatte Angst. In der langen Geschichte der Inquisition ließen sich die Frauen, die für sie gearbeitet hatten, an den Fingern abzählen — von drei Händen. Die Frauen, die an solchen Stellen saßen, fielen in der Regel durch ihre Härte und Unnachgiebigkeit auf. Fedora verfügte über das eine wie über das andere. Doch jetzt hatte sie Angst, und Klawdi wollte sie nicht unterbrechen und eventuell noch weiter beunruhigen.
»Im letzten Monat hat sich das Niveau der frisch initiierten Hexen durchschnittlich verdoppelt, Patron … Wir haben es jetzt mit fünfundsiebziger und achtziger Brunnen zu tun … Es gibt eine nie da gewesene … Aggressivität … Und Zusammenrottungen. Früher kam dergleichen nie vor, da stand jede Hexe für sich allein … Aber jetzt …«
»Warum hat sich Kurator Mawyn damit nicht an Wyshna gewandt?«, zischte Klawdi mit einer seiner furchterregendsten Stimmen. Er spürte, wie Fedora weiter von ihm abrückte.
»Er …«, presste sie heraus. »Anfangs hielten wir das Ganze für einen Irrtum. Dann glaubten wir, es liege an unserer Unachtsamkeit, dass wir etwas übersehen hätten und es wieder geradebiegen müssten … Natürlich ist es nicht gerade angenehm … die eigene Unzulänglichkeit einzugestehen.«
»Ich hab schon verstanden«, sagte Klawdi mit seiner normalen Stimme. »Erzähl Mawyn nichts von unserem Gespräch. Er soll mir lieber von sich aus alles erzählen.«
Das Auto hielt vor einem schwach beleuchteten Gebäude, einem architektonischen Denkmal. Der älteste und schönste Palast der Inquisition im ganzen Land.
»Klaw …«
Er spürte, wie sie ihn am Arm zurückhielt.
»Klawdi … Du verstehst das doch, nicht wahr? Das, was hier vor sich geht? Du kannst dem doch Einhalt gebieten, oder?«
Die Tür öffnete sich. Der Fahrer machte eine respektvolle Verbeugung, die die Inquisitoren zum Aussteigen aufforderte.
Von ihrer Schwäche unangenehm überrascht, wollte Klaw schon etwas Beruhigendes und Vages antworten — doch in diesem Augenblick schien ihm die tote Hexe Magda Rewer aus der Nacht entgegenzustarren, mit zu Schlitzen verengten Augen. Das zerknitterte Kostüm fiel in Fetzen auf den Boden …
Er sah Fedora nackt vor sich. So, wie er sich an sie erinnerte. Weich und weiblich, mit schweren runden Brüsten und nach den heutigen Maßstäben zu breiten Hüften. An der rechten Schulter hatte sie ein Muttermal, aus dem antennengleich ein schwarzes, starres Haar herausragte.
Was bist du bloß für ein geiler Bock! Solche Phantasien, in Gegenwart von zwei Untergegebenen!
»Steig aus!«, sagte er scharf. Zu scharf. Fedora zuckte zusammen, doch er machte keine Anstalten, einen sanfteren Ton anzuschlagen. Der Kampf mit sich selbst dauerte eine lange Minute und trug ihm ein paar neue graue Haare ein. Gut, von nun an würde er härter sein. Sowohl mit Fedora als auch mit ihnen, den Gefährtinnen der toten Magda Rewer — egal, wie viele von ihnen er in dem herrlichen Kreis Odnyza orten mochte.
(Djunka. Februar — März)
Eine Woche vor Winterende hatte er einem Bekannten den Schlüssel für das Bootshaus im Sportzentrum aus den Rippen geleiert.
Unter der Decke brannte ein Glühbirne, umhüllt von einem Schirm aus Spinnennetzen. Tote Fliegenkörper warfen überproportional große Schatten an die furnierten Wände. Die Spiralen eines elektrischen Heizgeräts glühten rot, in einer Ecke stapelten sich die orangefarbenen Rettungswesten zu einem kleinen Berg, an der Wand standen lackierte Ruder — stramm wie Soldaten. Klaw setzte sich auf das durchhängende Bett und wartete.
Ihm war unklar, woher sie eigentlich kam. Musste sie eine Grenze überschreiten oder versteckte sie sich einfach in den Weiden? Oder vielleicht unter Wasser?
Die Holzstufen des alten Hauses knarrten leise unter ihren nackten Füßen. Sobald er dieses Knarzen hörte, verspürte er jedes Mal eine lähmende Schwäche. Dazu kam das Geräusch tropfenden Wassers. Platsch … platsch …
Quietschend öffnete sich die Tür ein Stück weit. In dem Spalt stand Djunka. Die nassen, offenen Haare fielen ihr über die Schultern, und aus den haarigen Eiszapfen sickerte in glasklaren Strömen Wasser. Der schlangenfarbene, feuchte Badeanzug schimmerte matt.
In der ersten Zeit war es ihm nicht leicht gefallen. Allerlei Unsinn hatte er da gebrabbelt und versucht, seine Angst und eine quälende Befangenheit hinter Albernheit zu verbergen. An solchen Tagen hatte Djunka geschwiegen, mit geschlossenem Mund ein Lächeln angedeutet und nur genickt, traurig und verständnisvoll.
Nach und nach hatte er sich dann an die Situation gewöhnt und angefangen, ohne weiche Knie, ohne diese Lähmung und auch ohne nächtliche Albträume auf ihr Erscheinen zu warten. Als dann auch Djunka fröhlicher wurde, hatte er endgültig geglaubt, sie sei zurückgekehrt.
Stets redete er, während sie zuhörte. Ihre Gespräche kreisten um nichts Bestimmtes. Manchmal legte sie ihm eine kalte Hand auf die Schulter. Mit zusammengepressten Zähnen versuchte er, nicht zu erschaudern. Schließlich nahm er ihre Hand in die seine, woraufhin sich die Eishand erwärmte; Klaw hauchte einen Kuss darauf. Wie verhext murmelte er: »Djunka, ich habe nie eine außer dir … Djunotschka, könntest du nicht für immer zurückkehren? Komm mit mir, wir wollen in der Stadt leben, und wenn du willst, gebe ich die Schule auf …«
Sie schwieg und lächelte geheimnisvoll. Kein Ja, kein Nein.
Als sie aufbrach, legte sie den Finger vor den Mund, eine magere Figur, das Sinnbild ewigen Schweigens. Er blieb in dem leeren Zimmer zurück, tigerte von einer Ecke zur anderen und zählte bis hundert. Dann schlüpfte er hinaus, schnappte sich einen alten Besen, der unter der Vortreppe stand, und machte sich daran, den Weg gründlich zu fegen, denn hier und da waren im Schnee und im überfrorenen Sand die Abdrücke nackter Füße zu erkennen. Zum Schilf hin verloren sich die Spuren. Klaw verschnaufte, blickte zu den Sternen hoch, die inzwischen am Himmel standen, schulterte die Sporttasche und ging zur Bushaltestelle, um am übernächsten Tag wiederzukommen.
Juljok Mytez nahm Klaws Stimmungswechsel schweigend und voller Freude zur Kenntnis. Endlich hatte sein Zimmergenosse eine neue Freundin gefunden, eine feste, anständige, kein Flittchen. Und Juljok glaubte sich allen Ernstes für die Heilung seines Freundes mitverantwortlich: Hatte er also nicht umsonst so lange auf Klaw eingeredet und ihm diesen Gedanken schmackhaft gemacht. Auch die schöne Myra, seine eigene ehemalige Freundin, hatte er ihm nicht umsonst vorgestellt. Selbst wenn es mit den beiden nicht geklappt hatte, hatte sein Freund endlich das innere Gleichgewicht wiedergefunden.
Das Einzige, was dem gutherzigen Juljok nicht gefiel, war der ständige Tabakgeruch, der sich hartnäckig in ihrem Zimmer hielt. Klaw rauchte wie eine Chemiefabrik. Billige, stinkende Zigaretten.
Zu Frühlingsbeginn wurde Klaw siebzehn. Die chronische innere Anspannung, die Liebe, die Freude und das Geheimnis, das er permanent mit sich trug, machten ihn für Frauen aller Art zu einer begehrenswerten Beute. Brummend entdeckte Juljok immer wieder Briefe von Verehrerinnen unter der Zimmertür. Klaw deutete lediglich mit dem Mundwinkel ein Lächeln an, während der lebenslustige Mytez über diese ritterliche Treue nur staunen konnte. Was für ein monogamer Kerl! Der sah nicht einmal einer anderen hinterher!
Er hieß Priw. Der saubere Treppenabsatz vor seiner schmalen Wohnungstür roch nach feuchtem Staub und kaltem Tabakrauch. Ywha biss sich auf die Lippe. Der Geruch, das Muster auf dem braunen Kunstleder und die seltsam geschwungene Holzklinke erinnerten sie an jenen Tag, als Nasar und sie zum ersten Mal in seine Stadtwohnung gegangen waren. Als durchlaufe die Zeit voller Spott den nächsten Kreis und alles, was Ywha bisher widerfahren war, zeigte es sich nun noch einmal in einem hässlichen Zerrspiegel.
»Komm rein.«
Im Flur roch es anders, nach Kleister, Seife und etwas, das sie nicht bestimmen konnte. Ywha schluckte dicken Speichel hinunter.
»Möchtest du einen Kaffee?«
Bei dem Gedanken an Kaffee wurde Ywha schlecht. All die billigen Cafeterien mit den immer gleichen weißen Tassen, der dunkle Satz am Boden sowie die schrägen und schmierigen Blicke der Stammkunden fielen ihr ein.
Einen Tee oder Milch, dachte Ywha sehnsüchtig, erlaubte ihren Lippen jedoch nicht, sich zu öffnen. Schweigend schüttelte sie den Kopf.
»Oder was zu essen?«
Sie nickte rasch und heftig.
»Setz dich hier hin … Und entspann dich einfach. Schau dir die Bilder an …«
Nachdem zunächst ein verstaubter Tennisball, der hinter dem Fuß des Schrankes lag, ihren Blick gefesselt hatte, registrierte sie, dass sie auf der Kante eines weichen, dunkelvioletten Sessels saß, dessen Armlehnen leicht abgerieben waren. Schließlich erweiterte sich ihr Horizont und sie nahm den flachen Tisch mit dem Berg von Zeitschriften, das Sofa mit der rauen Decke darauf und das Rechteck, das das Sonnenlicht auf dem Boden zeichnete, wahr. An der Grenze zwischen Licht und Schatten kroch eine kleine Stubenfliege entlang.
Ywha seufzte. Erschrocken flog die Fliege zur Decke hoch und zog ihre Kreise unter dem weißen Lampenschirm, an dem Ywha ein schief aufgeklebtes Inserat: »Zoo sucht Wärter, Putzfrau und Elefantenpfleger für den hinteren Teil, Bezahlung nach Stunden …« durchschimmern sah.
Ywha befeuchtete die ausgetrockneten Lippen und sah sich genauer um. Der Sonnenstrahl fiel durch ein gardinenverhangenes Fenster. Auf dem Fensterbrett stand ein Blumentopf, in dem eine Schaumstoffpalme wuchs, an deren Stamm ein Gummiaffe hochkletterte. Auf der Krone der Pflanze lag wie auf einem Teller ein Tütchen mit rotem Pfeffer.
Ywha rang sich ein Lächeln ab. Priw pfiff in der Küche, aus dem Hahn plätscherte Wasser, Geschirr klimperte leise. All diese gewohnten Haushaltsgeräusche machten Ywha schwindlig.
Eine ganze Weile saß sie da, gegen die Sessellehne gesackt, die Augen geschlossen. Wer hätte gedacht, dass das Brodeln von kochendem Wasser in der Küche eine derart betörende Kraft haben konnte? Die gedämpften Schritte, das Klappern des Geschirrs, der Sonnenstrahl auf dem Boden — all das war real. Passierte jetzt. Hier gab es keine Njawken und keine Inquisition, keine Vergangenheit und keine Zukunft, sondern nur das Rauschen des Wassers und den Geruch gebratenen Fleisches. Und ihr Leben zog sich dahin, solange sich dieser Morgen dahinzog …
Ihr Lächeln gewann an Zuversicht. Im Sonnenstrahl tanzten Staubkörner. Die bunte Tapete wirkte durch die hier und da angepinnten Fotografien, Bilder und Zeitungsausschnitte noch farbenfroher. Sie stützte sich ab und stand auf.
Eine Eisbahn im Winter, auf der eine Frau tanzte, deren Bekleidung einzig aus Schlittschuhen und einem roten Schal um den Hals bestand. Ein rosafarbenes Schweinchen mit absolut skeptischer Miene, das auf einem kleinen Computerbildschirm thronte. Ein braun gebrannter Priw in verwaschener Badehose auf einem Bock aus dem Sportunterricht, der in einem Fluss stand. Das nächste Foto: derselbe Bock, auf dem sich diesmal jedoch vier Personen zwängten, drei Männer und ein Mädchen von etwa zwölf Jahren; auf ihren ausgestreckten Armen lag eine Riesenschlange, allem Anschein nach eine echte.
Eine Ecke der Aufnahme war akkurat mit einer Nadel durchbohrt. An einem strammen Faden baumelte ein blauer Busfahrschein, ein Plastikring, wie ihn Schüler für den Gewinn bei einem Quiz erhalten. Und ein Päckchen Brausepulver. Glücksbringer, die einzig für den Besitzer von Bedeutung waren.
Ein Strand am Meer. Eine halb zerfallene Sandburg, vor der ein trauriger, fünfjähriger Junge saß, nackt, das Barett eines Astrologen über ein Ohr gezogen und mit einem Fernglas auf den Knien.
Drei Personen, die ein riesiges Dreieck bildeten, in dessen Mitte …
Ywha prallte zurück, konnte den Blick jedoch nicht von dem Bild wenden.
In der Mitte des Dreiecks lag eine Frau mit seltsam deformiertem Körper im Gras. Das Gesicht hatte sich in den Schädel eingedrückt, die Augen glibberten über die Stirn. Eine aufblasbare Puppe, aus der alle Luft entwichen war.
Beinahe hätte Ywha die Kontrolle über sich verloren. Sie wollte aufstöhnen, bekam jedoch keine Luft, als sei ihr Hals mit Watte verstopft. Die letzte Nacht würde für immer in ihrem Gedächtnis bleiben. Jetzt erst recht.
Die nächste Aufnahme, überraschend großformatig, zeigte einen älteren Mann auf dem Asphalt, inmitten einer Blutlache. Ein hellgelber Vordruck baumelte an ihm: »Tod … durch Fall aus großer Höhe … infolge des Kontakts mit einer Njawka …«
Dann ein Mann in mittleren Jahren im nassen Trainingsanzug auf einem Gulli. »Tod … durch Ertrinken … infolge des Kontakts mit einer Njawka …«
Eine Badewanne, randvoll mit purpurrotem Wasser. Ein gelbes Gesicht, von dem sich nicht sagen ließ, ob es zu einem jungen Mann oder zu einer kurzhaarigen Frau gehörte. »Tod … durch … infolge des Kontakts mit einer Njawka …«
Ein Bär, der auf einer Laute spielte. Etwas Grelles, Sommerliches, Bälle und Zelte, lachende Kinder, funkelnde Wasserspritzer …
Der erschlaffte Körper einer Njawka. Eine Hülle, die man wie einen Teppich zusammenrollen konnte. Ein Kopf wie ein eingetretener Ball.
»Genug gesehen. Lass uns lieber frühstücken.«
Priw stand hinter ihr. Der Klang seiner Stimme ließ Ywha zusammenzucken. Seine große, feste Hand legte sich beruhigend um ihre Taille.
»Beruhige dich … Gleich kriegst du ein paar Tropfen, denn deine Nerven liegen echt blank. Eine nervöse Hexe, das ist doch einfach traurig. Fast wie ein vegetarisches Krokodil.«
Schwach und gehorsam folgte sie ihm in die Küche. Auf dem blitzblanken Tisch dampften zwei Teller mit Fleisch, das mit Tomatenschnitzen garniert war. »Geh dir die Hände waschen …«
Im Bad gab es rechts von einem großen Spiegel ein kleines Aquarium. Auf dem Sandboden lagen eine zerbrochene Amphora, einige Flussmuscheln und ein eingepacktes Präservativ. Zwei rote Fische schwammen gleichmütig an einem Schild vorbei: Im Notfall Scheibe mit Hammer einschlagen.
»Seit einiger Zeit verstehe ich sie nicht mehr.« Der Kurator Mawyn nahm zum vierten Mal in der letzten Minute die Brille ab, um sie zu putzen. »Sie haben … ihre Vorsicht verloren. Jedes Gefühl für das richtige Maß. Jeden Verteidigungsinstinkt. Mir ist unbegreiflich, warum sie all das tun … was sie da tun. Geht es um ihren eigenen Vorteil? Was in Teufels Namen soll das für ein Vorteil sein? Diese blinde Aggressivität, die doch in der Regel mit einem Verhör in unseren Verliesen endet. Es jagt mir Angst ein, wenn ich etwas nicht begreife, und momentan verstehe ich die Hexen nicht im Geringsten …«
»Früher konntest du dich also damit brüsten, sie zu verstehen?« Klawdi kniff die Augen zusammen und schickte einen dicken bläulichen Rauchfaden in Richtung Decke.
»Das habe ich zumindest geglaubt, Patron«, meinte Mawyn achselzuckend. »Das half mir … bei der Arbeit.«
Es tagte bereits. Klawdi schoss der Gedanke durch den Kopf, ein wenig zu schlafen. Bevor er, dem Büro des Kurators entkommen, endlich in seine Badehose schlüpfte und sich zu dem goldenen Strand aufmachte, nach dem er sich so sehnte, und sich vom warmen Meer liebkosen ließ. »Ich habe meine Badehose nicht mal eingepackt«, sagte er laut.
»Wir haben Hochsaison«, erklärte Mawyn mit gequältem Lächeln, während Fedora bewusst wegsah. »Und die fällt komischerweise ausgerechnet mit der … Zeit der unverhofften Erbschaften zusammen. Da stirbt zum Beispiel eine angesehene Frau an einem Herzinfarkt. Sie ist noch nicht alt und ihr gehört, sagen wir mal, ein Friseurgeschäft. In der Regel taucht schon bald eine Erbin aus der tiefsten Provinz auf. Wie geht es dann weiter?! Nach einer kurzen Krise floriert das Geschäft wieder, nach wie vor kommen — jedenfalls mehr oder weniger — die alten Kunden … Nach einer Weile kommt es jedoch zu einem Ansturm auf die psychiatrische Klinik. Außerdem sind ein paar Infarkte, einige unerklärliche Morde, aber auch Lottogewinne zu verzeichnen. Eine Maniküre, auch das nur ein Beispiel, fängt plötzlich an zu singen und gelangt schnell ganz nach oben … Dann ziehen wir los, um die Erbinnen festzunehmen. Meist ist es schon zu spät. Die Hexenbrut hat sich längst vermehrt und ist uns über den Kopf gewachsen. Friseurinnen sind aus irgendeinem Grund besonders …« Mawyn verstummte, als sei er nicht imstande, das richtige Wort zu finden.
»Sie flechten ihren Kundinnen ›Krötenhaare‹ ein«, meinte Fedora mit tonloser Stimme. »Alles wie gehabt, die Hexen holen sich Fingernägel und Haare von ihren Kundinnen. Aber auf Befehl? Und von wem? Wer gibt den Auftrag, ein Zimmermädchen aus einem kleinen Hotel, das ein halbes Jahr gespart hat, um sich den Besuch in diesem extravaganten Friseurladen leisten zu können, verrückt zu machen? Und wozu?«
»Aber die Maniküre hat angefangen zu singen?«, fragte Klawdi mit hochgezogener Braue.
»Die Maniküre!« Fedora runzelte verärgert die Stirn. »Wir haben sie ein Dutzend Mal durchleuchtet. Die können wir völlig außer Acht lassen. Vielleicht haben sich die Hexen da einfach einen schlechten Scherz erlaubt.«
»Und machen Sie sich klar, wie viele Friseure es in Odnyza gibt, Patron«, klagte Mawyn. »Oder andere Läden, wo manchmal harmlose Tätowierungen vorgenommen werden, manchmal in die Haut der naiven Leute das Zeichen von Keil oder Pumpe eingeritzt wird. Außerdem haben wir noch Vergnügungseinrichtungen, in denen …« Mawyns Stimme überschlug sich. »Von den Tausenden von Hotels, Restaurants, Massagesalons, Privatkliniken und dergleichen ganz zu schweigen!«
Klawdi drückte die Zigarette in einem riesigen, geschmacklosen Marmoraschenbecher aus. »Mawyn, ich habe immer geglaubt, du würdest den Kreis, in dem du arbeitest, kennen. Mehr noch: Als du diesen Posten angetreten hast, wusstest du doch, worauf du dich einlässt. Und jetzt erklärst du mir mit beleidigter Miene: Wie ich festgestellt habe, kann man sich am Feuer verbrennen, und Wespen stechen …«
Wieder nahm Mawyn seine Brille ab, damit entblößte er einen empfindlich geröteten Abdruck an der Nasenwurzel. »Dennoch ist es in Odnyza ruhig, Patron. Zumindest auf den ersten Blick. Dafür haben wir … aber lassen wir das. Und die Epidemie ist in Rjanka ausgebrochen, nicht hier.«
»Beschrei’s nicht!«
Mawyns und Klawdis Blicke kreuzten sich, worauf der Kurator prompt dermaßen erbleichte, dass selbst der rosafarbene Streifen auf der Nasenwurzel mit der Haut verschwamm. »Was? Hier? In Odnyza? Was?!«
»Ich muss da eine Sache überprüfen.« Nachdenklich zählte Klawdi die Zigaretten, die noch in der Schachtel steckten. »Ich muss dringend mit euren Todeskandidatinnen sprechen. Mit den zehn Frauen, die verurteilt wurden, aber noch nicht bestraft worden sind … Sieh mich nicht so an, Fedora. Ich brauche einen Raum für die Verhöre und … Möglicherweise werde ich sie auch foltern müssen.«
(Djunka. März)
Juljok ahnte nicht einmal, dass sein Freund ausgerechnet an seinem Geburtstag einen neuen Schock zu verkraften hatte.
Das ungute Gefühl nagte bereits seit der Haltestelle an Klaw, dort wo er jetzt, im Frühling, normalerweise aus dem Bus sprang, um in einer halben Stunde über einen menschenleeren Pfad zum Sportzentrum zu wandern. Äußere Gründe gab es dafür keine, keinerlei Geräusche, außer dem Krächzen einer Krähe, keine Gerüche, außer dem gewöhnlichen Duft feuchter Erde, keine fremden Spuren im Schnee. Trotzdem verkrampfte sich Klaw, sein Mund trocknete aus.
Den gewohnten Weg legte er in knapp der Hälfte der Zeit zurück. Vorm Tor zum Sportzentrum stand ein Minibus, ein gelber, mit Blinklicht. Klaw glaubte, seine Beine versänken bis zu den Knien im Boden.
Diese Schweine!
Er sah den engen Kranz des Reigens, in dessen Mitte sich eine weibliche Figur in einem schlangenfarbenen Badeanzug wand, schon fast vor sich. In den geballten Fäusten spürte er förmlich das warme, blutbeschmierte Fleisch ihrer Henker. Mit allen Kräften musste er vorwärtsstürmen, um sie allein gegen eine Überzahl zu verteidigen.
Tatsächlich aber machte er keinen einzigen Schritt.
Er atmete ein. Und aus. Langsam zählte er bis zehn und ging gelassen und maßvoll weiter. Niemand, kein einziger Beobachter dieser Szene, hätte in seiner Miene etwas anderes zu entdecken vermocht als die erstaunte Neugier eines Jungen.
Die Tschugeister tanzten nicht. Es waren vier, und sie marschierten am Ufer der teilweise vereisten Bucht entlang, rauchten und warfen sich geschäftig Sätze zu. Ohne die Worte richtig zu verstehen, wusste Klaw, dass überhaupt kein Tanz stattgefunden hatte. Tschugeister, die getanzt und ihr Opfer getötet hatten, zeigten andere Gesichter. Andere Bewegungen, ein anderes Verhalten.
Also war Djunka …
Klaw spürte, wie heißes, pulsierendes Blut in seine bleichen, tauben Wangen schoss. Djunka lebte doch noch! Ihr war nichts geschehen! Sie hatten sie gar nicht erwischt!
Alles Gute zum Geburtstag, Klaw. Heute ist dein Glückstag.
Sie hatten ihn längst bemerkt. Er wartete noch einen Augenblick, genau so lange, wie ein forscher Junge brauchte, um seine natürliche Schüchternheit zu überwinden. Schließlich marschierte er munter weiter. »Guten Tag«, sagte er. »Ist hier was passiert?«
Wieder diese Blicke. Klaw hatte eigentlich geglaubt, die Angst vor ihnen ein für alle Mal überwunden zu haben. Ein Irrtum, wie sich jetzt herausstellte.
»Hallo.« Der Chef der Gruppe war ein kleiner junger Mann mit schwarzem Haar; offenbar stammte er aus dem Süden. »Verrätst du uns vielleicht deinen Namen und was du hier tust?«
»Ich bin Klawdi Starsh von der Wyshnaer Schule Nr. 3. Ich wollte rudern …«
»Ach ja? Das Wasser ist noch gefroren, Junge. Eishockey könntest du spielen …«
Daraufhin sollte Starsh tunlichst in Pein vergehen. Er sollte unter dem hartnäckigen Blick erröten und erbleichen, sich tröpfchenweise die schreckliche Wahrheit aus der Nase ziehen lassen.
Und wollte er tief in seinem Innern denn nicht auch gestehen? So wie man essen oder trinken will?
Ihm kam entgegen, dass er jünger aussah, als er war. Der Tschugeist wusste, dass kein Junge unter einem solchen Blick zu lügen vermochte. Selbst ein Erwachsener würde da zusammenbrechen.
Mit den Augen klappernd, mimte Klaw den Aufgewühlten. Er würde doch nur den üblichen Kram erledigen … das Haus sauber machen, die Rettungswesten flicken … sämtliche Schlösser überprüfen … Im letzten Jahr war der Kühlschrank aus dem Haus des Trainers gestohlen worden … und einen offiziellen Objektschützer gebe es eben nicht!
»Kommst du allein her? Oder triffst du hier vielleicht jemanden? Eine Freundin?«
Er schüttelte den Kopf, bis seine Haare unter der Kapuze herauslugten. Aber nein, niemand wolle mit ihm in diese Einöde, ihm gefalle ja gerade, dass er hier ganz ungestört sei …
»Wann bist du das letzte Mal hergekommen? Wer ist dir hier begegnet? Wen hast du gesehen?«
Bereitwillig gab er Auskunft: Da waren schon einige Leute. Ein Junge habe sich hier herumgedrückt, vermutlich wollte er etwas klauen. Dann die Angler. Die lüden ihn immer auf einen Tee ein.
Die Tschugeister fielen ihm grob ins Wort und verlangten, er solle den Mund halten, kehrt machen und verschwinden. Und sich hier nie wieder blicken lassen. Allem Anschein nach treibe sich hier nämlich eine Njawka rum!
Mit hastigen Schritten verließ er das Sportzentrum, nicht ohne sich immer wieder umzudrehen. Auf halbem Weg zur Haltestelle schlug er sich in ein junges Tannenwäldchen, hockte sich auf die trockenen kalten Nadeln und zündete sich eine Zigarette an.
Sie wollten Djunka umbringen. Sie zwingen, noch einmal zu sterben. Djunka jedoch war verschwunden. Keine Ahnung, warum, aber er wusste genau, dass sie in Sicherheit war, dass ihr keine Gefahr mehr drohte.
Diesmal.
Ywha lag auf dem Sofa, eine weiche Decke unter sich. Sie lag da, drückte die Schulter gegen die Wand, hatte sowohl ihren Pullover als auch ihre abgetragenen Hosen noch an. Priw saß zu ihren Füßen, seine lässige Haltung hätte sie beruhigen sollen. Ruhe und Freundlichkeit strahlte er aus, keinen Druck. Trotzdem brachte Ywha es nicht fertig aufzustehen, solange Priw da war. Vielleicht unterstellte sie ihm völlig zu Unrecht gemeine Absichten. Einfach aus Angst. Aber wovor sollte sie sich fürchten — da sie doch keine Njawka war?
»Wovor hast du Angst?«, fragte Priw leise, als habe er ihre Gedanken gelesen.
Sie drehte den Kopf auf dem Kissen herum. »Vor nichts …«
Die Tropfen, die sie, sich seinem sanften Befehl beugend, eingenommen hatte, waren tatsächlich weder eine Droge noch ein Schlafmittel gewesen, sondern nur irgendwelche Kräuter, eine angenehm entspannende Mischung. Doch im Grunde war ihr das egal. Es gefiel ihr, sich in seiner Macht zu fühlen. Hündische Ergebenheit und friedliche Ruhe — ja, ohne Frage, diese Art der Ruhe tat ihr gut.
»Willst du dich waschen?«
Ywha hob die schweren Lider. »Hä?«
»Willst du duschen? Du bist dreckig wie ein Ferkel …«
»Ja.« Ywha rang sich ein Lächeln ab. »Wenn die Fische … im Bad … dann nicht erschrecken.«
Zu spät wurde ihr der Hintersinn des Satzes bewusst. Entsetzt errötete sie. Es brannte, bis ihr die Tränen kamen.
»Das sind ganz normale Fische«, erwiderte Priw amüsiert. Seine Hand ruhte auf Ywhas Bauch.
Ywha fing an zu weinen. Sie wusste nicht, welche ihrer Sorgen das auslöste. Vermutlich war es der Kummer darüber, nie einen friedlichen Morgen mit Geschirrklappern erleben zu dürfen. Darüber, dass die Sonne niemals durch das offene Fenster hereinfallen und Nasar sie nie zum Frühstück rufen würde. Ihr Leben hätte Ywha für einen solchen Morgen gegeben. Für einen kurzen Augenblick dieses viel belachten Glücks. Dafür, so zu sein wie alle.
»Ich bin eine Hexe«, erklärte sie Priw, indem sie die Tränen herunterschluckte.
»Deshalb brauchst du doch nicht zu weinen«, erwiderte er ernsthaft.
»Du … Ekelst du dich nicht vor mir? Ich widere dich nicht an?«
Priw betrachtete sie so lang und aufmerksam, dass sie sich am liebsten unter die plüschige Decke verkrochen hätte.
»Du hast Angst vor mir.« Nachdenklich fuhr er sich mit dem Finger über die Unterlippe. »Hat schon mal jemand Angst vor dir gehabt?«
Ywha schluchzte.
Mit einer unmerklichen Bewegung beugte sich Priw vor, wobei er ihr Haar gegen das Sofa drückte, bis es ziepte. Ywha nahm den Geruch von Minze wahr, der von ihm ausging. Zahnpasta vielleicht, oder ein Kaugummi.
»Wir werden uns jetzt an deinem … Professorensöhnchen rächen.« Behutsam befreite er Ywhas malträtiertes Haar. »Gleich jetzt! Stimmt’s, er ist ein Idiot?«
»Ja«, flüsterte sie, während sie gebannt in die schwarzen Augen mit den starren Pupillen blickte.
»Heulen wird er, wenn er erfährt, wie wir uns an ihm gerächt haben, oder etwa nicht?«
»Ja«, bestätigte Ywha flüsternd. Sie sah das bleiche Gesicht Nasars mit seinen zusammengepressten Lippen vor sich.
Priw meinte das völlig ernst.
»Du bist bestimmt müde«, presste sie heraus, sich an ihre Unentschlossenheit klammernd, »nach deiner Schicht.«
»Ich bin schon wieder topfit. Na, geh die Fische füttern. Nimm das grüne Handtuch. Die Schachtel mit dem Futter steht auf dem Regal neben dem Spiegel.«
Die Fische fraßen gierig.
Die Badezimmertür ließ sich nicht abschließen, an der Stelle des Schlosses klaffte ein Loch. Unsicher stocherte Ywha mit dem Finger darin herum. Warum machte sie sich bloß all diese Gedanken? Schließlich ging sie nicht zum Schafott. Sie war nicht zum Tode verurteilt. Sie stand nicht im Zentrum des Kreises tanzender Tschugeister, landete nicht in dem Plastiksack mit Reißverschluss. Befand sich nicht in den Verliesen der Inquisition. Oder in dem stickigen Büro, in dem die Hexen zur Registrierung antreten mussten, was angeblich eine grauenvolle Prozedur war.
Und Nasar? Was hatte er eigentlich von ihr erwartet? Blieb ihr nicht nur die Wahl zwischen Regen und Traufe? Sie wollte weder zur Registrierung noch auf den Scheiterhaufen. Und auch nicht auf den Strich. Obwohl … Verehrte Herren, besuchen Sie unser exotisches Bordell Hexensabbat im Bett. Sex auf dem Besen, verehrte Herren, Sie werden verzückt sein, Ihre Freizeit mit unseren temperamentvollen Hexen zu verbringen!
Sie wollte nur noch heißes Wasser. Inbrünstig schrubbte sie sich die Nächte ab, die sie in Wartesälen verbracht hatte, wusch sich den Geruch der Metro und den penetranten Duft des Deos vom Körper. Letzteres hing ihr zum Halse heraus. Drei Tage lang quälte sie sich jetzt damit. Sie würde ein anderes kaufen, und sei es von ihrem letzten Geld, gleich heute würde sie das erledigen.
Sie wollte sich häuten. Wie eine Schlange. Sich erneuern, das alte, überflüssige, glanzlose und zerlöcherte Leben fortwerfen — wie eine alte Socke. Und sich beispielsweise ohne Wenn und Aber in Priw verlieben, diesen anständigen Kerl.
Ohne Wenn und Aber. Für den einen Tag, der ihm bis zur nächsten Schicht blieb.
Der Reißverschluss an dem Plastiksack. Der Reißverschluss, die roten Fische, die gierig nach dem streng riechenden Futter schnappten. Die schrecklichen Überreste der Njawka im flach getretenen Gras. Die Strahlen des heißen Wassers …
»Du bist doch nicht ertrunken?« Priw klopfte taktvoll an die Tür. »Oder haben dich diese Piranhas etwa aufgefressen?«
Das grüne Handtuch war so groß wie ein Bettlaken. Ywha stand vor Priw, verhüllt wie ein Denkmal kurz vor der Einweihung. Ihre herabhängende Hand krampfte sich um die vom Dampf ganz feucht gewordene Kleidung.
»Warte.« Priw betrat das Bad und öffnete sich dabei die Hose. »Ich werde sie auch noch füttern.«
Einen Moment lang verharrte Ywha im dunklen Flur und lauschte auf das Rauschen des Wassers.
Eine halbe Stunde nach Beginn des Konzerts kamen sie vorm Stadion angerast. Überall auf den Tribünen sangen und klatschten die Leute. Die Masse, die versucht hatte, ohne Eintrittskarte hinter die Absperrung zu kommen, zerstreute sich allmählich, die Absperrung selbst, eine Kette aus jungen Männern in Uniform, lockerte sich ein wenig, löste sich hier und da auf. Über dem Spielfeld waberte bunter Rauch, über den, immer wieder in ihn ein- und aus ihm auftauchend, die grellen Lichter trunkener Scheinwerfer fegten.
»Du rührst dich nicht von der Stelle«, befahl Klawdi Fedora.
Im Minibus, in dem lauter bewaffnete Männer saßen, trat eine bedeutsame Stille ein. Wie in einem Gerichtssaal, kurz vor der Urteilsverkündung. Oder wie in einem Krankenhaus.
»Patron …« Mawyn hüstelte, über seine Brillengläser huschten Lichtreflexe. »Der Großinquisitor ist hier nicht … Das ist ein Einsatz. Ein Einsatz in meinem Gebiet, für den einzig und allein ich …«
Klawdi nickte bestätigend. Er wartete ab, bis Mawyn erleichtert seufzte, um ihm dann mit kalter, offizieller Stimme mitzuteilen: »Angesichts der Ausnahmesituation halte ich meine persönliche Anwesenheit für angemessen und um des Allgemeinwohls willen für unerlässlich. Die Einsatzgruppe …« Sein Blick erfasste die Männer, die mit ihm im Bus saßen. »… untersteht meinem Befehl. Nieder mit dem Abschaum!«
Mawyn schwieg. Um den Effekt seiner Worte zu steigern, ließ Klawdi noch einen Augenblick verstreichen, bevor er die Tür öffnete und ausstieg.
Der Platz vor dem Stadion war bis zum Gehtnichtmehr vollgemüllt. Durch zertretene Plastikbecher, Zeitungsfetzen und die bunten Schalen greller Südfrüchte watend, hielt Klawdi auf die riesige Betonschale zu, die da unter dem funkelnden Abendhimmel lag. Ein Teller voll von brodelnder Menschenbrühe.
Brühe? Suppe? Kam er zu spät?!
Um hinter die Bühne zu gelangen, musste man drei Kontrollen passieren. Einige der nicht ins Stadion eingelassenen Fans standen noch in Gruppen beisammen und blickten finster auf die über und über mit Waffen behängten Security-Leute der ersten Kontrolle. Sobald die Furcht einflößenden Männer Klawdis Dienstmarke sahen, traten sie verängstigt auseinander, als seien sie eine Horde Dorfjungs.
Über das Gelände wogte ein Lied, gar kein schlechtes — ehrlich gesagt. Klawdi jedoch würde die ganze Schönheit darin leider nie erfassen. Wie ein Chirurg beim Ballett, der nicht den Tanz, sondern nur die Muskelkontraktion und die gedehnten Sehnen registrierte, hörte er statt der Musik lediglich den impertinenten Lärm, das stumpfe rhythmische Getrommel, das nicht zu seinem Herzschlag passte und ihn hinderte, sich zu konzentrieren.
Ohne stehen zu bleiben, streckte er die rechte Hand seitlich nach unten aus. Diejenigen, die ihm folgten, waren alles andere als Dilettanten. Ach ja, wie lange hatte er schon an keiner Operation mehr teilgenommen!
Die zweite Kontrolle. Männer in Zivil. Die magische Wirkung der funkelnden Dienstmarken der Inquisition. Die erschrockenen Gesichter. Ein paar halb nackte Tänzerinnen, deren durchscheinende Hosen an den verschwitzten Körpern klebten. Eine Dame in einem Gehrock mit eingemeißelten professionellen Falten in den Winkeln der aufeinandergepressten Lippen.
»Was gibt es, meine Herren? Sie …«
»Bewahren Sie bitte die Ruhe. Die Oberste Inquisition.«
Die dritte Kontrolle. Eine Visage, die auf Dienstmarken und Etikette spuckte. Auf keinen Fall wollte sich Klawdi an diesem Kerl die Hände schmutzig machen. Jetzt, da er bereits eine Hexe witterte. Immer deutlicher. Dort, hinter der geschlossenen Tür …
»Zurück! Stehen geblieben, sage ich!«
Die Visage drohte ihm. Offenbar mit einer Pistole. Grandiose Idee! In diesem Gedränge zu schießen!
Klawdi trat zur Seite. Mochten sich die unteren Ränge mit dem Kerl befassen. Er, der Großinquisitor, witterte eine Hexe. Beinahe hatte er schon vergessen, dass Hexen nicht in Verhörräumen zur Welt kommen, fix und fertig und gefesselt, ja, kaum erinnerte er sich noch, wie eine ordentliche freie Hexe aussah.
Statt die Klinke zu berühren, gab er bloß ein Zeichen, und jemand aus seinem Gefolge sprang eichhörnchengleich herbei, um die Tür mit der Schulter einzustoßen. Obwohl sie äußerlich so uneinnehmbar wirkte, handelte es sich nur um billiges Furnier.
Ein Krachen, ein leiser Aufschrei. All das ging im Rhythmus des ewig andauernden Liedes unter.
Ein prachtvoller Raum. Auf samtbezogenen Sofas waren malerisch Kleidungsstücke drapiert. Beflissen warfen hohe Spiegel eine unendliche Reihe von Lampen zurück. Zwei Frauen hielten sich hier auf, die eine kniete in einer Ecke und bedeckte das Gesicht mit den Händen, die andere war hinter der Lehne eines Drehstuhls erstarrt, einen Schminktopf in der Hand. Ihre Augen …
Klawdi prallte zurück. Zwei unglaublich lange, spitze Klingen schienen sich ihm gleichzeitig unterhalb der Ohren in den Hals zu bohren. Die vor ihm stehende Hexe war unsagbar stark. Monströs stark.
»Zurück, Inquisitor.«
Noch einmal ein leiser Schrei, ausgestoßen von der Frau, die in der Ecke kniete.
»Zurück. Oder auf den Tribünen werden sich die Toten stapeln.«
Klawdi hüllte sich in Schweigen. Das war nicht der Moment, seine Kraft an ein Gespräch zu vergeuden.
»Hast du mich verstanden, Inquisitor?«
Das Lied brach ab.
Auf dem höchsten Ton und so abrupt, als sei es abgeschossen worden. Im Stadion toste der Applaus los. In diesem Augenblick stürzte Klawdi auf die Hexe zu.
Ihre Lippen verzogen sich in schrecklicher Weise. Sie schlug mit einem Strahl ihrer Angst, ihrer panischen, Ekel erregenden Angst, auf Starshs Gesicht ein. Er schaffte es gerade noch, die Hände schützend hochzureißen, als sich die Augen der Hexe zu den vertikalen Schlitzen einer Katze formten. »Zu…rück!«
Wieder traf ihn eine Woge der Angst wie der Schlag einer Peitsche. Allerdings erschlaffte die Peitsche nun ein wenig und war bereit, sich der Hand zu entwinden.
»Zurück … Inquisitor …« In ihrer Hand blitzte trüb Metall auf. Silbern. Eine geschwungene Silberklinge.
Dann folgte ein Stöhnen. Die Hexe taumelte auf eine graziöse, in gewisser Weise schöne Art zurück, krümmte sich in der Mitte zusammen und fiel zu Boden.
Ihr Ärmel schlug aufs Parkett auf, mehr war nicht zu hören.
Die andere winselte leise. Über ihnen wummerte auf der Bühne die Musik, und mehrere schwache Mädchenstimmen näselten rhythmisch los.
Klawdi hielt die Leute, die durch die Tür drängen wollten, mit einer Geste auf. Er trat an die gestürzte Hexe heran und fuhr mit der Hand durch die Luft über ihr, als wolle er sie streicheln, traue sich jedoch nicht. Seine Hand spürte auch nichts — als ob da auf dem Parkett niemand läge.
Klawdi packte die Hexe bei der Schulter und drehte sie unter Aufbietung aller Kraft auf den Rücken.
Das Blut der Hexe war schwarz wie Pech. Erst jetzt fiel Klawdi auf, dass sie den blauen Kittel einer Maskenbildnerin trug. Zwischen den beiden Brusttaschen lugte kokett der Griff eines silbernen Ritualdolchs heraus, der ihr einen schnellen und sicheren Tod beschert hatte. Eine würdige Alternative für jede Hexe. Ein ruhmreicher Abgang.
»Was … geht hier … Meine Herren, Sie …«
Klawdi wandte sich um. Mit dem Ellbogen stieß er den schweißgebadeten, verängstigten Star zurück, der völlig aufgelöst vor dem Eingang der eigenen Garderobe herumwieselte. Was hatte die Hexe gesagt? Die Toten würden sich auf den Tribünen stapeln?
Und was hatte die Bannerhexe prophezeit? »Im Kreis Odnyza, ja, ja, ja.«
Was hatte sie noch vorhergesagt?
Vor der Tür, eine verängstigte Traube von Stadionmanagern und Bühnenpersonal im Rücken, hatte sich der Kurator Mawyn aufgebaut, in dessen Augen es kalt und gierig loderte.
(Djunka. April)
»Wohin soll ich euch bringen, Kinder?«
Zwei Tramper, ein Junge von etwa sechzehn Jahren und ein Mädchen, das in einen langen schwarzen Mantel gehüllt war, dessen hochgestellter Kragen ihr Gesicht bis zu den Augen verbarg.
»Mir-Passage? Oh, oh, um diese Zeit gibt es da jede Menge Staus …«
»Wir haben es nicht eilig.«
Gemütlich fraß das Auto die Kilometer. Mit dem Rücken gegen den Ledersitz gepresst saß Klaw da, Djunkas kalte Finger fest in seiner Hand haltend.
Jetzt würde alles anders werden. Er würde verhindern, dass sie weiter gejagt würde, er würde niemanden an sie heranlassen. In Wyshna wimmelte es von Menschen, das war kein ödes Sportzentrum. Da sollten die Tschugeister mal versuchen, zwischen einer Million Spuren diejenigen Djunkas aufzunehmen.
Er hatte eine Wohnung im Stadtzentrum gemietet. Dafür hatte er sein Sparbuch geplündert, das er vor drei Jahren angelegt hatte, um sich den Traum von einem Sportwagen zu erfüllen. Einen winzigen Käfig im vierzehnten Stock eines engen Bienenstocks hatte er bekommen, in dem sogar die Nachbarn einander nur flüchtig und zufällig kannten. Jetzt würden Djunka und er einen richtigen, ruhigen Alltag genießen. Als ob das nie passiert wäre.
Angst ließ ihn jäh zusammenfahren, und er drückte ihre Hand fester. Er fürchtete um Djunka, aber, was noch schlimmer war, er fürchtete sich auch vor ihr. Sosehr sich sein Gehirn auch anstrengte, er konnte diesen Widerspruch nicht überwinden: Djunka war gestorben. Djunka war zurückgekehrt. Sie lag im Grab, sie war tot — und sie saß hier neben ihm.
Mit aller Entschlossenheit nahm er sich vor, nie mehr daran zu denken. Man sollte ohnehin nicht allzu intensiv über das Leben nachdenken, denn das nahm einem die Lust daran. Zukünftiges Unheil ließ sich nicht vorhersagen, Probleme konnte man nicht vorab lösen.
Auf Djunkas Sitz entstand ein feuchter Fleck. Der Badeanzug nässte durch den dünnen Mantel.
»Frierst du nicht?«
Eine verneinende Kopfbewegung. Ihr schien jetzt nie kalt zu sein, selbst wenn ihre Finger so eisig wie der Winter waren.
Als spüre sie seine Stimmung, drehte sie ihm den Kopf ein wenig zu. Sanft drückte sie seine Hand. »Klaw … verlass … mich … nicht.«
Das Zimmer war winzig klein. Zur Straße hin gab es einen halbrunden Balkon mit einem schiefen, verrosteten Geländer. Als Klaw zum Rauchen hinaustrat, wurde ihm sofort schwindlig, denn vierzehn Stockwerke unter ihm schossen unaufhaltsam zwei Ströme aus funkelndem Metall, bunten Lichtern und verärgertem Gehupe aufeinander zu, das zu ihm heraufdrang. Die Nacht schien sich hinter ein schmutziges, künstliches Licht zurückgezogen zu haben.
Djunka saß auf dem durchhängenden Sofa. Den Mantel hatte sie abgelegt, sodass sie nur den verfluchten schlangenfarbenen Badeanzug trug.
»Zieh den aus«, bat Klaw im Flüsterton. »Wir wollen ihn … verbrennen.«
Obwohl er nicht damit gerechnet hatte, kam sie der Bitte nach. Sie streifte erst einen, dann den anderen Träger über die Schulter. Klaw, der sich nicht rechtzeitig umgedreht hatte, konnte den Blick nun nicht mehr von ihr wenden. In jenem Leben hatte er Djunka nie nackt gesehen. Deshalb konnte er nicht beurteilen, ob sie sich seitdem verändert hatte oder nicht.
Ihre Brust hob sich bleich gegen den Rest des Körpers ab. Und ihre Sonnenbräune schimmerte nicht bronzen, sondern war aschgrau. Oder spielte ihm da das Licht, das von der Straße hereinfiel, einen Streich?
Djunka erhob sich und rollte die Schlangenhaut über die Schenkel. Klaw blinzelte. Der Badeanzug verwandelte sich in einen nassen Schlauch, der ihr die Knie fesselte.
Hitze überkam ihn. Unwillkürlich griff er nach der Schnalle seines Gürtels. Djunka schleuderte den Badeanzug fort und erhob sich. »Klaw …«
Seine Nackenhaare sträubten sich. Fast hätte er aufgeschrien, so schmerzhaft knallten die beiden gleich starken, auch gleichermaßen erbarmungslosen Wissensströme in ihm gegeneinander.
Der geliebte Körper, seine Freundin, seine Frau. Das erste Mal …
Andererseits die nassen Haarsträhnen, die eisigen Hände, die Fußabdrücke im gefrorenen Sand, der erstickende Geruch der Blumen auf dem Grab und vor allem ihr Gesicht in dem breiten Trauerrahmen …
Er sah sie im Grab vor sich. Und er sah sie jetzt.
»Klaw … jag … mich … nicht … fort …«
»Das tu ich nicht«, stieß er mit trockener Kehle hervor. »Aber …«
»Hab keine Angst … Klawuschka, hab keine Angst. Ich liebe dich doch. Umarm mich, Klaw, ich sehne mich schon so lange danach …«
Er rammte sich die Zähne so in die Unterlippe, dass warmes Blut über sein Kinn rann. »Nicht jetzt, Djunotschka …«
»Klaw! Klaw …«
Ich kann das nicht, dachte er hilflos. Ich … kann das nicht.
Da stand Djunka vor ihm, mit fischkalten Händen, als oh sie zu lange im Flusswasser geblieben wäre.
Und das stimmte ja auch. Sie war zu lange dort drin geblieben.
Er musste sich zwingen zu glauben, dass die Zeit zehn Monate zurückgestellt worden war. Dass sie heißen Juni hatten, er morgen seine Prüfung ablegte und Djunka nach dem Baden einfach fror. Er musste sich zwingen, die Beerdigung und diesen schrecklichen Blumengeruch zu vergessen. Ganz genau wie den Geruch der Friedhofserde. Er musste es einfach vergessen. Auf der Stelle.
»Klaw …«
»Gleich, Djunotschka. Gleich …«
Dem Kuss haftete der Beigeschmack des Blutes an, das aus seiner verletzten Lippe troff.
»Klawuschka …«
Er presste die Zähne aufeinander. Er wusste, dass die Entscheidung gefallen war.