Der Bus kam mit einer halben Stunde Verspätung in Wyshna an. Ywha steuerte auf die nächste Telefonzelle zu und zog ihr zerfleddertes Notizbuch heraus, rührte sich dann aber lange nicht, sondern blickte mit starrem, entrücktem Blick durch das trübe Glas.
In dieser Stadt lebten mehr als genug Menschen. Und es gab durchaus einige, für die die Wortverbindung »Ywha Lys« nicht nur eine leere Hülse war. Zum Beispiel Beta, mit der sie sich ein Zimmer geteilt hatte. Oder Klokus, der so gern mit ihr befreundet sein wollte. Oder die Besitzerin des Antiquariats am Rosenplatz, eine strenge, auf Etikette bedachte Dame, die Nasar damals an der Tür aufgehalten hatte, um ihm leise ins Ohr zu flüstern: »Das ist kein Mädchen, sondern ein Wunder. Sie sollten keine Sekunde zögern …«
Normalerweise stellte man in dem Antiquariat niemanden ohne Empfehlungen ein. Doch Ywha passte ausgezeichnet — geradezu ideal — zu dem barocken Ambiente, ihr unscheinbares Gesicht mit den Fuchsaugen und der feuerroten Mähne nahm sich inmitten der verschnörkelten Pracht so gut aus …
»Dein Name passt zu dir. Lys, das bedeutet Fuchs. Und ein Fuchs bist du. Eine Füchsin. Ein Füchslein …«
Ein fülliger Mann klopfte sanft gegen die milchige Scheibe. »Junge Dame, sind Sie fertig? Kann ich jetzt telefonieren?«
Ywha kam heraus und überließ ihm das Telefon. Sie setzte sich auf eine Bank und presste den Riemen ihrer zerschlissenen Tasche in den Händen zusammen.
Jeder von ihnen … Jeder Einzelne von ihnen … Was würde die Besitzerin des Antiquariats für ein Gesicht machen, wenn sie erführe, dass in ihrem Geschäft ein halbes Jahr lang eine Hexe gearbeitet hatte? Würden die Kunden nicht angetrabt kommen, um alles zurückzugeben, was Ywha ihnen verkauft hatte? Und Klokus … Ja, sogar Beta, die vermutlich die Baseballkappe wegschmeißen würde, die sie Ywha einmal ausgeliehen hatte.
Aber was erwartete sie denn von ihnen? Wenn sogar Nasar …
Die Knöchel ihrer Hände traten weiß hervor. Sicher, Nasar hatte ihr keinen Vorwurf gemacht. Sie selbst war es, die ihn eines Schrittes für fähig hielt, den er gar nicht gemacht hatte. Deshalb war sie fortgerannt, ohne jede Erklärung. Wie eine Verräterin, wie eine Diebin.
Der Dicke beendete sein Gespräch. Als Ywha zur Telefonzelle zurückging, spürte sie, wie ihr Herz hämmerte und ihre Hände feucht wurden.
Ein langes Tuten am anderen Ende der Leitung. Noch eins. Und dann noch eins.
»Hallo?«
Die Stimme ihres Schwiegervaters. Die Worte blieben Ywha im Hals stecken.
»Hallo!«, erklang es nun verärgert.
Behutsam hängte Ywha den Hörer ein.
Ein kleiner Misserfolg zieht sofort Tränen nach sich. Das Bewusstsein, ein Fiasko erlitten zu haben, stellt sich dagegen erst langsam ein, nach und nach.
Ywha stieg in die Metro und fuhr jeweils ein paar Stationen in die eine und in die andere Richtung. Die trügerische Freiheit raubte ihr noch den Verstand. Sie konnte gehen, wohin sie wollte — doch die Tür des kleinen Käfigs fiel bereits zu. Sie war gefangen, gefangen wie ein Füchslein. Und sie konnte nichts daran ändern.
Sie konnte sich nicht dazu durchringen, einen ihrer Bekannten aufzusuchen. Als wäre ihr das Wort »Hexe« auf der Stirn eingebrannt. Sie hatte nicht nur Nasar verloren — sie hatte ihr Geheimnis verloren, das es ihr erlaubt hatte, glücklich in dieser glücklichen Stadt zu leben. Obwohl das natürlich Quatsch war: Wie sollte sie denn ohne Nasar ein glückliches Leben führen?
Etwas Ähnliches hatte sie schon einmal erlebt. Erst, als sie aus ihrem Heimatdorf hatte fliehen müssen. Und dann, als sie die Ausbildung hatte abbrechen und Hals über Kopf die Stadt Rydna hatte verlassen müssen, die doch im Grunde ganz passabel gewesen war. Außerdem noch, als …
Sie erschauderte. Dort, in jenem Brei unangenehmer Erinnerungen, verbarg sich auch ihre erste Begegnung mit einem Inquisitor. Die Übelkeit und die Schwäche, die sie damals empfunden hatte. Der ausgestreckte Zeigefinger: »Hexe!«
Ywha fuhr zusammen und sah sich um. Der Metrowaggon war voller Fahrgäste, ab und zu schaukelte er wie eine Wiege. Die auf sie gerichteten Zeigefinger existierten jedoch nur in ihrer Phantasie. Die Leute lasen, schlummerten, unterhielten sich oder starrten mit leerem Blick auf die dunklen Scheiben.
Sie sehen aber auch abscheulich aus, kleines Fräulein, kanzelte Ywha ihr bleiches Spiegelbild innerlich ab. Sie sollten unbedingt zum Friseur und zur Massage gehen, meine Liebe, vor allem aber zu einem Psychiater. Denn Sie haben ganz wahnsinnige Augen. Vermutlich wird man sich weigern, eine verrückte Hexe wie Sie überhaupt zu registrieren. Selbst zur gemeinnützigen Arbeit taugen Sie nicht. Die werden Sie unverzüglich auf dem Scheiterhaufen verbrennen — oder was sie heute so haben. Auf dem Lande, da gibt es mit Sicherheit noch einen primitiven Scheiterhaufen, aber hier in der Stadt werden sie wohl eher einen humanen elektrischen haben … einen Hexengrill …
Auf einmal bedrückte sie die Fahrt in der Untergrundbahn. Wieder an der frischen Luft, brauchte sie lange, um sich zu sammeln, wobei sie so tat, als studiere sie die Zeitschriften in der Auslage eines Kiosks. Damit zog sie allerdings einige erstaunte Blicke auf sich, bis sie plötzlich begriff: Es handelte sich um ausgesprochen frivole Magazine, solche mit dem fetten Aufdruck »Für Männer«.
Sie trat einen Schritt zur Seite — und wäre beinah mit einem jungen Mann zusammengestoßen, der über der hautengen schwarzen Kleidung lässig eine Fellweste trug.
Der Tschugeist betrachtete sie mit gelangweiltem, irgendwie gummiartigem Blick, der mal vorschnellte und Interesse bekundete, dann wieder teilnahmslos wegglitt, als sei er ein Gartenschlauch, dessen geschmeidiger Wasserstrahl abriss. Gebannt stand Ywha da, unfähig, die Sohlen ihrer abgetragenen grauen Turnschuhe vom Asphalt zu lösen.
So sind sie alle. Erst stürzen sie sich auf dich, dann rümpfen sie die Nase. Tschugeister wittern Hexen, interessieren sich jedoch nur für Njawken. Jeder Tschugeist konnte in Ywhas Innerem lesen, machte aber glücklicherweise kein Aufhebens davon.
Der Tschugeist wandte sich von ihr ab. Es spielte keine Rolle mehr, wie viele untote Frauen er heute endgültig getötet hatte, denn im Augenblick hielt er ein Hochglanzmagazin in Händen, auf dessen Cover pralles rosafarbenes Fleisch das Leben pries, lockendes Fleisch, dessen Ruf taub machen konnte.
Ywha drehte sich um und schleppte sich mit schweren Beinen davon.
Das kleine Antiquariat war geöffnet. Ywha fasste allerdings nicht den Mut, das Geschäft zu betreten, und suchte stattdessen die Telefonzelle auf der gegenüberliegenden Straßenseite auf. Sie wählte die Nummer der Inhaberin, drückte die Gabel aber sofort wieder herunter. Anschließend rief sie mit fest zusammengebissenen Zähnen bei den Mytezes an, um den hallenden, triumphierenden Klingeltönen lange zu lauschen.
In Nasars Stadtwohnung nahm ebenfalls niemand ab. Mit eingezogenem Kopf überquerte Ywha schließlich den Rosenplatz, erreichte einen kleinen Park, setzte sich und streckte erschöpft die Beine aus.
»Heiße Sandwiches?«
Sie zuckte zusammen.
Unmittelbar vor ihr stand ein kleiner Karren mit einem grellfarbenen Behälter, aus dessen geöffnetem Deckel Dampf aufwölkte. Den Wagen schob ein etwa vierzehnjähriges Mädchen. Unter ihrer langen, ausgelassenen Jacke lugte der Saum eines dunklen Kleides hervor, das an eine Schuluniform erinnerte.
»Heiße Sandwiches«, rief das Mädchen mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Mit Tomaten und Zwiebeln … Nur fünf Taler.«
Ywha klimperte mit dem Kleingeld in der Tasche. Ein Gedanke, der sie völlig gleichgültig ließ, kam ihr in den Sinn und schlich sich wieder davon: Morgen würde sie vielleicht überhaupt kein Geld mehr haben. Nicht einmal für ein Sandwich …
Aus irgendeinem Grund hatte das Mädchen keine Eile weiterzuziehen. Es stand da und sah zu, wie Ywha kaute. Ob sie auf Lob wartete?
»Die Sandwiches sind ausgezeichnet.« Ywha zwang sich zu einem freundlichen Lächeln.
»Du … du bist die Füchsin, die mit den Hühnern leben will«, erklärte das Mädchen völlig ernst. »Und du hoffst, dass sie dich nicht durchschauen.«
Ywha schwieg. Der Bissen blieb ihr im Hals stecken.
»Eine Füchsin isst keine Hirse!«, hielt das Mädchen ihr überlegen vor. »Das wirst du schon noch sehen … irgendwann.« Dann hantierte sie geschäftig an ihrem Karren herum. »Auf Wiedersehen …«
Ihre Hand bohrte sich schmerzhaft in Ywhas Schulter. Daraufhin verschluckte sie sich. Schon im nächsten Augenblick war das Mädchen fort, wobei es den Karren mit einem derart trauervoll-siegreichen Blick vor sich herschob, als handle es sich bei ihm um den Katafalk auf einer Militärbeerdigung.
Als er in die Stadt einfuhr, meldete sich am Armaturenbrett mit einem stechend roten Blinklicht der Notruf. Obwohl Klawdi nicht nach dem Telefonhörer griff, krampfte sich seine Brust in schlimmer Vorahnung schmerzlich zusammen. Also doch …
Am Platz des Siegreichen Sturms parkten immer viele Autos; heute versperrte ein schnittiger weißer Maxik mit seinem kecken Hintern die Durchfahrt, sodass sich Klawdi zu seinem Verdruss gezwungen sah, die Sirene einzuschalten.
Nachdem er oben in seiner Wohnung angekommen war, studierte er nachdenklich den Inhalt des Kühlschranks; dann schlug er die Tür zu, setzte Teewasser auf und machte es sich mit dem Telefon bequem.
»Nieder mit dem Abschaum, Patron.« Obwohl die Stimme seines Stellvertreters professionell rau war, hörte Klawdi klar und deutlich einen Hauch echter Erleichterung heraus. »Ich habe Sie gesucht, Patron …«
»Nieder mit dem Abschaum, Hljur. Was gibt’s?« Klawdi streckte sich auf dem Sofa aus, ohne die verstaubten Schuhe auszuziehen.
»Eine Epidemie, Patron. Pestfälle in Rjanka …«
»Fälle? Wie viele?«
»Zehn, Patron.«
»Wie viele?!«
»Zehn Fälle von Beulenpest, davon bereits drei mit tödlichem Ausgang … Die Sanitätstruppe schlägt Alarm, Rjanka ist zum Sperrgebiet erklärt worden … Die Information ist bereits zur Presse durchgesickert …«
»Weiter.«
»Lynchjustiz.«
Klawdi klemmte sich den Hörer mit der Schulter ans Ohr. In der Küche pfiff der Kessel immer lauter.
»Wo?«
»Auf dem zentralen Platz, Patron. In ihrer Panik haben die Menschen dort einen Scheiterhaufen errichtet. Unsere Leute sind erst eingetroffen, als das Feuer schon brannte.«
»Das ist bedauerlich.« Klawdis Stimme klang jetzt unbeteiligt und sachlich. »Es ist höchst bedauerlich, dass unsere Leute in Rjanka so lahm sind. Wer ist die Tote?«
»Eine Hexe. Aber … eine nicht initiierte, Patron. Ob sie etwas mit der Epidemie zu tun hat …«
»Festnahmen?«
»Fünfzehn Menschen. Der Kurator des Kreises Rjanka zeigt Härte … sozusagen, um die Wogen zu glätten …«
»Der Kurator des Kreises Rjanka ist nach Wyshna abzuberufen«, erklärte Klawdi gedehnt. »Als Nachfolger soll … Wenn ich mich recht erinnere, arbeitet Juryz in diesem Kreis?«
Sein Stellvertreter hüllte sich in Schweigen. »Das dürfte dem Rat der Kuratoren kaum gefallen …«, brachte er dann vorsichtig, jedes Wort auf die Goldwaage legend, hervor. »Sie beschweren sich ohnehin bei jeder Sitzung darüber, dass Wyshna überall seine eigenen Leute hinschickt.«
Klawdi prustete los. Sein Gelächter war auch am anderen Ende der Leitung gut zu hören, worauf Hljur sich rasch auf die Zunge biss.
»Alle Inhaftierten …« Klawdi ließ den Clip seines goldenen Füllers klackern. »Alle Inhaftierten sind in die Stadt zu bringen. Zu mir.«
»Ja, Patron«, murmelte der Stellvertreter etwas zu hastig, als dass es mit seiner Position in Einklang zu bringen gewesen wäre.
Gedankenversunken betrachtete Klawdi die prächtigen Weinranken vor dem Fenster.
Wenn er das doch nur geahnt hätte. Aber gut, noch konnte er das alles akzeptieren. Noch — denn es hätte auch wesentlich schlimmer aussehen können.
»Ich komme jetzt gleich rüber, dann brauche ich genaue Informationen, Hljur. Ich will wissen, wo in Rjanka die Brunnen liegen … Warum haben Sie mir bisher eigentlich noch nicht mitgeteilt, dass der Herzog angerufen hat?«
»Patron …« Sein Stellvertreter verstummte. »Woher wissen Sie das?«
»Kommen Sie schon!« Klawdi lachte. »Jedes Mal, wenn wir versagt haben … Und Ihnen ist doch klar, Hljur, dass alles, was geschehen ist, auf unser extremes Versagen zurückgeht, oder?«
»Ja, Patron.« Der Stellvertreter schluckte so heftig, dass es in der Leitung zu hören war. »Ja, natürlich.«
(Djunka. Juni)
Am Tag der Beerdigung nahm ihn Djunkas Schwester zur Seite und bat ihn, die tiefliegenden, geröteten Augen fest auf ihn gerichtet: »Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Dokija geliebt hat.«
Er sank in sich zusammen, als hätte sie ihn mit einem Beil geschlagen. Dann nickte er.
Die letzten zweiundsiebzig Stunden waren zu einem einzigen, nicht enden wollenden Tag verschmolzen. Drei Mal war die Nacht heraufgezogen. Er hatte auf Fragen geantwortet, während seine Freunde, Mitschüler und ihm völlig unbekannte Menschen hinter seinem Rücken beredte Blicke gewechselt und miteinander getuschelt hatten: Das ist der Junge, mit dem sie an dem Tag am Strand war. Das ist der Junge …
»Sie kann nicht einfach ertrunken sein! Sie schwamm wie ein … Das ist unmöglich!«
»Beruhige dich, Starsh. Ihr Körper wies keinerlei Spuren von Gewaltanwendung auf. Ein Krampf muss ihr zum Verhängnis geworden sein.«
Ein Krampf.
»Klaw, komm schon, du darfst dich nicht so quälen. Sieh zu, dass du deine Prüfungen bestehst, versuch, auf andere Gedanken zu kommen …«
»Klaw, verzeih, aber habt ihr beide … und sei es auch nur ein Mal … habt ihr?«
Jetzt wartete er, bis sich der Friedhof leerte.
Die Menschen, die eben noch die gramgebeugte Prozession gebildet hatten, strömten langsam dem Ausgang zu. Nur Juljok Mytez blieb zurück, um verzweifelt nach Klaw Ausschau zu halten. Als er ihn nicht fand, rannte er zu den anderen, die gleichzeitig bedrückt und überdreht wirkten. Djunkas Mutter entschwand bereits seinem Blick — gerade schlug hinter ihr eine Autotür zu.
Vor vielen Stunden hatte Klaw aufgehört, sich für diese Menschen zu interessieren. Reiß dich zusammen –das hieß doch nichts anderes als: Sei in deinem Egoismus konsequent.
Der Abend dämmerte. Die verwelkenden Blumen verströmten einen starken, satten und schweren Geruch.
»Djunka«, sagte er und ließ sich auf die Knie fallen. »Djunka, ich wollte dir sagen, dass wir nach den Prüfungen heiraten … Schick mich nicht weg. Kann ich hier einfach ein bisschen sitzen?«
Der schummrige Abendhimmel. Das beruhigende Zirpen der Zikaden.
»Djunka …«
Er fand keine Worte.
Vielleicht wollte er ihr sagen, dass er sich unverzeihlicherweise an ihre Liebe gewöhnt hatte. Dass er sie zu oft großspurig weggescheucht hatte: Komm morgen wieder. Dass sie für ihn halb ein Gegenstand und halb ein Kind gewesen war. Dass er nicht wusste, wie er sich bestrafen sollte. Und ob ihm die grausamste Strafe überhaupt helfen würde …
Schließlich sprach er das aus, was er für nötig hielt. Was er als das einzig Richtige und Angemessene erachtete. »Djun, ich schwöre, dass ich niemals irgendjemanden außer dir lieben werde.«
Fuhr da der Wind durch die Krone einer der dunklen Friedhofstannen? Oder erzürnte sich Djunka, die ihn von dort beobachtete, die nassen Haare schüttelte und verärgert die spitz zulaufende Nase rümpfte?
»Jetzt habe ich es gesagt«, flüsterte er tonlos. »Verzeih mir.«
Hinter ihm knackte das Geäst. Er erstarrte, zählte langsam bis fünf und drehte sich um.
An alle, die bei der Beerdigung gewesen waren, erinnerte er sich zwar nicht, dennoch meinte er aus irgendeinem Grund sicher zu wissen, dass dieser Alte nicht daran teilgenommen hatte. Er trug einen zerknitterten dunklen Anzug und zerschlissene Stiefel. Der Friedhofswärter? Obdachlose, die leere Flaschen einsammelten und verkauften, hatten ganz bestimmt nicht ein so entschlossenes Gesicht. Und keinen so klaren Blick.
»Ich bin ein Lum«, sagte der Alte, als antworte er auf die unausgesprochene Frage. »Du brauchst keine Angst zu haben.«
Ein Lum. Ein Tröster auf dem Friedhof. Es hieß, dieses Handwerk gehe auf einen heute in Vergessenheit geratenen Glauben zurück. Auf jene Geistlichen, die einst für die am schmerzlichsten leidenden Seelen, die durch den Verlust am stärksten geschwächt waren, Worte gefunden hatten. Djunkas Eltern hatten nicht zu den Diensten eines Lums Zuflucht genommen, stolz wollten sie die Bürde des eigenen Leids allein tragen. Ob der Alte glaubte, er würde bei Klaw, der sich von der Prozession abgesondert hatte, mehr Glück haben?
»Nein.« Klaw drehte sich um. »Danke, aber … Ich glaube nicht daran. Ich brauche das nicht. Ich schaffe das selbst.«
»Woran glaubst du nicht?«, fragte der Alte verwundert.
»Ich möchte allein sein«, flüsterte Klaw. »Mit … ihr. Bitte, gehen Sie weg.«
»Du tust Unrecht«, seufzte der Alte. »Du tust Unrecht … aber ich gehe ja schon. Nur …«
Verärgert hob Klaw den Kopf.
»Nur …« Der Alte kaute auf den Lippen herum, als wolle er die Worte erst schmecken — und danach die richtigen auswählen. »… tust du etwas, das man nicht tun darf. Du gönnst ihr keine Ruhe, rufst sie herbei. Du hältst sie fest. Diejenigen, die jener Welt angehören, darf man jedoch auf keinen Fall in diese ziehen. Die Njawken …«
Klaw fuhr zusammen. »Gehen Sie.«
»Leb wohl …«
Die schwarzen Tannenzweige erzitterten, als sie den lautlos verschwindenden Lum durchließen. Klawdi Starsh, ein sechzehn Jahre alter Junge, der sich für einen Mann hielt, blieb allein zurück.
Mit Djunka.
Die Nacht verbrachte sie auf dem Bahnhof.
Das schmerzhafte Gefühl, schutzlos zu sein, trieb sie von Stockwerk zu Stockwerk, von Saal zu Saal; jedes Mal, wenn sie für ein paar Minuten auf einem der tiefen Plastikstühle einnickte, schreckte sie wie im Fieber aus dem Schlaf hoch und konnte sich lange nicht besinnen, wer sie war und wo sie sich eigentlich befand.
Schließlich, der drückenden Hitze und des unnatürlichen Lichts der weißen Deckenlampen müde, trat Ywha auf einen der vom Sprühregen feuchten Bahnsteige hinaus. Winzige Wasserpartikel flirrten wie Mücken um die unerträglich grellen Laternen. Die unbequemen Nachtzüge kamen an oder fuhren ab, eine schwarze Silhouette lief rasch die riesigen, Furcht einflößenden Räder ab und schlug mit einem Stab geräuschvoll gegen das Eisen. Die Zeiger der runden Bahnhofsuhr klebten reglos am Zifferblatt, die Nacht zog sich ewig hin. Ywha verzweifelte.
Der Polizist, der neben der Kasse Posten stand, schielte anfangs gleichgültig, später aber neugierig zu ihr hinüber. Ywha baute sich unmittelbar vor ihm auf und studierte ausgiebig und demonstrativ die Anzeige für die Züge, diese riesige Tafel voller Namen und Ziffern, die mit gleichmäßig blinkenden Linien die ganze Welt symbolisierte.
Plötzlich wollte sie ihre Taschen umstülpen und sich mit dem letzten Geld das Recht erwerben, unbehelligt über den Bahnhof zu schlendern — als Besitzerin einer Fahrkarte, als Herrin über das eigene Schicksal — und von oben herab auf den neugierigen Polizisten zu blicken, da sie dann zumindest hier eine völlig legal handelnde Person abgab, eine gesetzestreue und anständige Frau.
Der Gedanke lockte derart stark, dass sie sogar einen Schritt auf das Fensterchen zu machte, wobei sie im Gehen überschlug, wie weit sie die bescheidenen Mittel bringen könnten, die ihr noch verblieben waren. Doch schon der nächste Schritt fiel um die Hälfte kürzer aus, danach weigerten sich ihre Beine ganz weiterzugehen, denn wenn sie jetzt wegführe, bedeutete dies, sich endgültig von Nasar zu trennen.
Verwundert starrte der Polizist sie an. Ywha blieb stehen, hob den Blick zu der Anzeigentafel und ging naiv davon aus, ihre Tränen seien, da sie ihr ja nicht über die Wangen kullerten, nicht zu bemerken.
Doch sie standen ihr in den Augen. Wie zwei von Staudämmen eingeschlossene Seen.
»Junge Frau, kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
Der Polizist verschwamm vor ihrem Blick. Offenbar sah er sie jedoch voller Mitleid an.
Ywha schüttelte den Kopf und wandte sich rasch dem Ausgang zu.
Den Morgen erlebte sie in Gesellschaft einer Najade des städtischen Springbrunnens. Während sie sich in die graue Jacke — ein Geschenk Nasars! — mummelte, versuchte sie, die Reste der Wärme zu speichern, nicht einen Zug der feuchten Luft durch den Kragen dringen zu lassen und auch nicht zu atmen. Auf dem Kopf der Najade saß eine Taube, deren Krallen ständig abglitten, wieder und wieder abrutschten.
Manchmal glaubte Ywha allerdings, es gebe gar keine Taube. Dass das Tier nur ein Auswuchs ihrer Phantasie sei und jene weiße Skulptur keine Najade, sondern eine an eine Säule gekettete Frau darstelle, zu deren Füßen ein steinernes Reisigbündel liege, aus dem bereits ein steinernes Feuer lodere.
In Ywhas Nacken saß eine Art Nagel, schon seit einer ganzen Weile, und er fühlte sich immer wohler, schlug Wurzeln.
Als ein paar Räder aufquietschten, zuckte Ywha zusammen.
Bereits früh am Morgen lief das Mädchen mit der ausgelassenen Jacke, unter der das an eine Schuluniform erinnernde braune Kleid hervorlugte, durch die menschenleeren Straßen. Der grellfarbene Karren polterte hinter ihr über den Asphalt.
»Heiße Sandwiches«, rief das Mädchen, obwohl der Wagen leer war.
Ywha leckte sich über die Lippen. Der Nagel in ihrem Nacken bohrte sich tiefer.
»Übernachte nicht noch mal auf dem Bahnhof!« Das Mädchen rieb sich die Nasenwurzel, und da begriff Ywha plötzlich, dass die andere nicht erst vierzehn, sondern schon viel älter war. »Die haben dich bereits ins Auge gefasst … diese bösen Menschen.«
Ywha schwieg, ohne die andere aus den Augen zu lassen.
»Böse Menschen machen böse Sachen. Ein Mädchen ohne Zuhause ist eine Ware, die ihnen umsonst zufällt.« Die Sandwich-Verkäuferin verzog einen Mundwinkel zu einem schiefen Lächeln. »Geh nicht mehr zum Bahnhof.«
Angst beschlich Ywha. Das Mädchen schwieg und lächelte, während in ihren Augen die Antwort auf die noch unausgesprochene Frage stand: Du weißt, wer ich bin. Denn du weißt, wer du selbst bist. Also verhalte dich entsprechend!
Eine Hexe, eine reife Hexe schaute Ywha aus dem schmächtigen Körper einer Schülerin an. Ein Schauder lief über Ywhas Rücken; um ihre Angst zu überwinden, stellte sie sich ihr Gegenüber bei einer Mathematikstunde vor. An der Tafel, mit der abgegriffenen Kreide in der mageren Hand, biss sie sich konzentriert auf die Lippe …
»Was ist so komisch?«, fragte das Mädchen irritiert.
»Nichts«, antwortete Ywha und blickte schnell woanders hin.
Das Mädchen schob ihren Karren vor und zurück. »Kommst du mit mir mit?«
»Nein.« Ywha erhob sich, und mit einem Mal kam ihr die Tasche unerhört schwer vor. Ihre Verunsicherung ärgerte sie. »Ich ziehe heterosexuelle Beziehungen vor«, fügte sie dann hinzu.
Der Nagel, der sich in ihrem Nacken eingenistet hatte, ruckte und schmerzte noch heftiger. Ywha schulterte die Tasche und ging schnellen Schrittes davon, doch die Worte, die ihr das Mädchen nachrief, erreichten sie auch so und peitschten ihr schmerzhaft über den Rücken: »Bilde dir nicht ein, dass du eine Wahl hast, du Idiotin. Es wird nur schlimmer, wenn man dich unschuldig verbrennt.«
Eine Panikattacke, die ihr weiche Knie beschert und in ihrem Mund einen ekligen Geschmack zurückgelassen hatte, lag bereits hinter ihr; zweimal war Ywha in einer Straßenbahn die gesamte Strecke mitgefahren, bis der Schaffner sie schließlich misstrauisch beäugt hatte.
Es hieß, eine Hexe fürchte die Initiation genauso wie eine Jungfrau die Hochzeitsnacht. Ywha wusste nicht, ob das stimmte; von ihrer Jungfräulichkeit hatte sie sich spielend verabschiedet — es war ihr so vorgekommen, als ob Nasar und sie bloß fummelten. Bei dem Gedanken an eine mögliche Initiation packte sie dagegen heftige Angst; sie sah sich an einem Abgrund stehen, dessen gezackter Rand einen Punkt markierte, von dem es kein Zurück mehr gab. Selbst einen Menschen und einen Hund schien mehr miteinander zu verbinden als einen Menschen und eine Hexe …
In ihren Albträumen schwebte sie in einem langen schwarzen Gewand über einem aufgeschlagenen alten Buch. Sie lief einen schmalen, verschlungenen Weg entlang, eine von vielen, die an einer beängstigend einlullenden Prozession teilnahmen. Schließlich flog sie nackt auf einem Besen durch die Luft, wobei an ihrem Hintern ein kurzer Schwanz prangte. Aber sobald sie aufwachte und den warmen, entspannten Körper Nasars spürte …
Ywha schaltete sich in die Realität zurück. Unmittelbar vor ihr befand sich ein neues Münztelefon, ein grauer Apparat mit nur einem einzigen, langen und tiefen Kratzer. Wie eine Narbe auf einem jungen Gesicht.
Ywha seufzte mehrmals. Seit zwei Tagen verfolgten sie jetzt diese Telefone. Die Apparate hefteten sich ihr an die Fersen, packten sie bei den Händen, rammten ihr die Hörer unter die Nase: Wähl! Wähl, und Nasar wird sagen: Ywha … Mein Füchslein, wo steckst du denn …
Sie biss sich auf die Lippe. Die Stimme war zu deutlich zu hören, als dass es sich um ein Phantasieprodukt handeln konnte; vielleicht war sie ja imstande, über die Entfernung hinweg Nasars Gedanken zu lesen. Vielleicht …
»Hallo.«
Beinah hätte Ywha aufgeschrien. Sie presste den Hörer so fest ans Ohr, bis es schmerzte.
»Hallo. Wer ist da?«
Ein spröde, angespannte Stimme. Ob er auf den Anruf gewartet hatte? Ob er ahnte, wer am anderen Ende schwieg und in den Hörer atmete?
Er musste es ahnen, begriff Ywha mit einem Frösteln. Es konnte gar nicht anders sein. Nach allem, was vorgefallen war — wer sollte da sonst anrufen und schweigen?!
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte die monotone Stimme Nasars. »Ich verstehe Sie nicht … Hallo? Sagen Sie doch was!«
Sie wollte etwas sagen. Sie hatte schon tief Luft geholt und damit durch die Telefonleitung über viele Kilometer hinweg einen erstickten Laut geschickt: chha …
»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Nasar wieder. »Versuchen Sie es bitte noch einmal.«
Freizeichen. Andauernd knallten sie aus dem Hörer: wie Gerten, mit denen man in alten Zeiten ungehorsame Kinder bestraft hatte.
Ganz vorsichtig legte Ywha den Hörer auf, trat jedoch nicht aus der Telefonzelle hinaus. Stattdessen beobachtete sie, wie die Tropfen des nach und nach einsetzenden Regens über die Scheibe rannen.
Platz des Siegreichen Sturms Nr. 8, Wohnung 4. Telefonnummer …
Telefonnummern hatte sie sich immer nur mit Mühe einprägen können. Wie sollte man sich auch eine Reihe bedeutungsloser Ziffern merken?
Doch diese Nummer hatte sich ihr ein für alle Mal in den Schädel gehämmert. Was für ein Hohn!
Oder machen ihre Visitenkarten das? Einmal gelesen — und schon behältst du die Angaben für immer im Gedächtnis?
Der Regen tropfte ihr in den Kragen. Unwillkürlich zog sie den Kopf ein.
Nachdem sie den ganzen Tag ziellos durch die Straßen gestreift war, stieß sie schließlich auf den Palast der Inquisition.
Seit ein paar Stunden umrundete sie ihn schon, umzingelte ihn, ging für eine Tasse billigen Kaffees in ein Café, bläute sich die Straßennamen ein und zog ihre Kreise enger und enger. Am Ende erhob sich vor ihr das hohe, recht neue, allerdings im klassischen Stil erbaute Gebäude mit dem spitzen, in den Himmel aufragenden Dach.
Wie ein Vogel vor einem Schlangennest verharrte Ywha an Ort und Stelle. Die Flügel der breiten Tür zierten kupferne Wappen mit der kursiv gehaltenen Inschrift: »Nieder mit dem Abschaum«. Dieser Abschaum, der bin ich, schoss es Ywha durch den Kopf. Sie presste ihre Tasche gegen die Brust.
Rechts neben dem Haupteingang befand sich eine kunstvolle Glastür. Vor ihr stand eine Reklametafel, nur dass anstelle der üblichen Werbung ein strenges Plakat darauf geklebt war. Ywha blinzelte. Der Nagel in ihrem Nacken schmerzte erbärmlich.
»Hexe, vergiss nie, dass die Gesellschaft dich nicht zurückweist. Erhebe dich über den Abschaum und lass dich registrieren, damit du eine gleichberechtigte und gesetzestreue Bürgerin wirst … Hängst du auch weiterhin dem Bösen an, so verdammst du dich selbst zu Kummer und Einsamkeit … Gemäß Artikel … des Gesetzbuches … Nichtregistrierung … wird mit gemeinnütziger Arbeit bestraft … in Tateinheit mit einem Verbrechen … wird sie vor das Gericht der Inquisition gestellt …«
Ywha schluchzte auf. Jetzt gleich würde sie diese Glastür öffnen und sich auf den Weg machen … zu allen anderen Bürgern, zu gleichberechtigten und gesetzestreuen Menschen wie Nasar. Wenn die Gesellschaft mich nicht zurückweist, warum weist du mich dann zurück?, grummelte sie innerlich. Bist du etwa besser als die Gesellschaft?!
Mit dem Handrücken wischte sich Ywha das kümmerliche Nass unter der Nase weg. Eine schmerzhafte Courage hatte sich ihrer bemächtigt, die ihr jedoch angenehmer vorkam als Verzweiflung oder Panik. Auf der Stelle würde sie den Großinquisitor anrufen. Schluss mit der albernen Grübelei! Aber wo war das Telefon?! Sie war doch voll von Telefonen, diese verdammte Stadt.
Energisch wählte ihre Hand die gesamte Nummer, von Anfang bis Ende, erst bei der letzten Sieben zögerte sie. Aber nur eine Sekunde.
Sie hoffte, ihre Erinnerung trüge sie. Dass die Nummer gar nicht existierte und eine automatische Ansage sie unverzüglich mit widerwärtiger, nasaler Stimme davon in Kenntnis setzte.
Es läutete. Der lange Ton des Freizeichens. In Ywhas Innernem vereiste alles.
Gleich würde eine geplagte Hausfrau an den Apparat gehen: »Wen?! Die Inquisition? Ich bitte Sie, unterlassen Sie solche Scherze! Sie haben sich verwählt.«
Wie oft hatte es schon geklingelt? Drei Mal oder fünf Mal? Der Herr Großinquisitor war ein viel beschäftigter Mann und selten zu Hause …
Beim achten Klingeln hatte sie sich fast beruhigt. Anstandshalber wollte sie das zehnte Klingeln noch abwarten — und dann wieder gehen. Vor allem, da die Entschlossenheit, die sie ans Telefon getrieben hatte, längst verflogen war.
»Hallo.«
Beinahe hätte Ywha den Hörer fallen lassen.
Eine kalte, etwas müde Stimme, die von weit her klang, als käme sie aus einer anderen Welt.
»Hallo, wer ist denn …«
Sie sollte unverzüglich die Gabel herunterdrücken. Den gefährlichen Faden kappen, den sie in ihrer Unvorsichtigkeit gespannt hatte, zwischen sich und …
»Wer ist da?«
Ywha befeuchtete sich die Lippen und streckte die Hand nach der Gabel aus.
»Bist du das, Ywha?«
Sie konnte ihre Hand nicht mehr aufhalten. Die eingeleitete Bewegung setzte sich fort, die Hand drückte auf die Gabel, und zwar so stark, dass sich die eisernen Hörner ihr schmerzhaft ins Fleisch bohrten.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden waren im Kreis Rjanka zehn Menschen infolge der Epidemie gestorben, hundertundacht erkrankt; die Schuld für diese Vorfälle wurde den Hexen zugeschoben. Die Nachrichten, die stündlich im Fernseher liefen, brachten unermüdlich das immer gleiche, reißerische Bild: eine junge Hexe mit Schaum vorm Mund, die in die Kamera schrie: »Das ist bloß der Anfang! Das ist bloß der Anfang! Wartet’s nur ab!« Eine Amateuraufnahme des Hexensabbats. Eine aufgelöste Menge. Mitten auf einem Platz war in einem Hexenfeuer ein Körper verbrannt worden. Klawdi nippte an dem heißen Kaffee, verzog jedoch das Gesicht, als handle es sich um Medizin.
Die Aufnahme stammte noch aus dem letzten Jahr. Eine Fernsehgesellschaft hatte dem Verrückten, der sie gemacht hatte, eine unerhörte Summe dafür geboten, und jetzt, kaum war das Wort »Hexe« gefallen, fiel den Leuten in den Sendeanstalten nichts Besseres ein, als diese unscharfen Bilder zur Illustration der jüngsten Ereignisse zu bringen. Klawdi grinste gallig. Sie alle hatten nur eine sehr vage Vorstellung von dem, was ein echter Hexensabbat war. Und bestimmt würden mindestens hundert Leute ihr letztes Hemd für das Recht hergeben, im Videoarchiv der Inquisition zu kramen.
Ein Körper, von Hexen verbrannt. All das waren alte Bilder — aber dort, in Rjanka, hatte man jetzt wirklich jemanden verbrannt, noch dazu eine völlig unschuldige Frau. Und vor dem Sitz der Inquisition in Rjanka demonstrierten seit dem Morgen die Menschen: »Schützt uns vor den Hexen!«
Im welchem Irrenhaus hatte man diese Hysterikerin bloß aufgetrieben? »Das ist bloß der Anfang! Das ist bloß der Anfangt Wartet’s nur ab!«
Jetzt kam eine verängstigte Frau mit einem Kind auf dem Arm ins Bild. »Was haben wir ihnen denn getan, diesen Hexen? Was haben wir ihnen bloß getan? Angeblich sind schon alle Brunnen … und auch das Leitungswasser vergiftet …«
Klawdi stellte den Fernseher ab. Aus einem halbleeren Päckchen fischte er eine weitere Zigarette. In einer Ecke stand ehrerbietig ein Bote, der wohl dachte, er verberge seine Gedanken zur Genüge. Doch hinter der Fassade höflicher Aufmerksamkeit ließen sich auf seinem Gesicht ohne Frage Verzweiflung und Ärger erkennen: Der Großinquisitor macht es sich gemütlich. Der Großinquisitor tut nichts, sondern legt die Beine hoch, trinkt Kaffee und macht einem Päckchen Zigaretten den Garaus, während sich eine Epidemie ausbreitet und die Panik auf die Hauptstadt überzugreifen droht.
Das Telefon blökte mit schwacher Stimme los. »Nieder mit dem Abschaum!«, meldete sich der Polizeichef.
»Nieder mit ihm.« Klawdi ließ das Feuerzeug aufschnippen und blinzelte in die bläulich-gelbe Flamme.
»Man hat sie hergebracht, Patron … Vier. Der Rest taugte ohnehin nichts, den haben wir gleich in der Kreisverwaltung behalten …«
»In den Verhörraum.«
»In welcher Reihenfolge?«
»Egal. In alphabetischer.« Klawdi legte auf und erhob sich. Als der Bote seinen Blick auffing, trat er unwillkürlich einen Schritt zurück — mit einem Nicken entließ Klawdi ihn.
In seinem Vorzimmer versauerte der Kurator des Kreises Rjanka. Da er den Kollegen, einen Nichtraucher, nicht mit seinem Tabakrauch belästigen wollte, verschwand Klawdi durch eine Geheimtür. Der Kurator wartete bereits seit dem Morgen darauf, vorgelassen zu werden. Klawdi wusste nicht, weshalb er diesen im Grunde anständigen Menschen quälte; darüber würde er sich später den Kopf zerbrechen. Und er würde versuchen zu vergessen, dass ebendieser Kurator vor fünf Jahren alles darangesetzt hatte zu verhindern, dass Klawdi Starsh seinen jetzigen Posten bekam. Oder sollte er besser versuchen, sich daran zu erinnern?
Der Verhörraum lag traditionell im Kellergeschoss, fünf Minuten von seinem Büro entfernt, wenn er gemächlich ging. Also konnte der Großinquisitor noch in aller Ruhe zu Ende rauchen.
(Djunka. Oktober — Dezember)
Versetzt wurde Starsh noch unter Vorbehalt, doch bereits im Herbst bestand er ordnungsgemäß die beiden fehlenden Prüfungen. Sein Zimmergenosse war nun Juljok Mytez, ein gutmütiger Tollpatsch, der Liebling aller Frauen und ein Ritter mit Mandoline. Im Zimmer gab es fast jeden Tag eine Party, wobei Klaw wie alle grölte und sich gesellig zeigte. Er machte jetzt alles wie alle, denn jene Worte von Djunkas Schwester: »Reiß dich zusammen, Klawdi. Du führst dich auf, als wärst du der Einzige, der Dokija geliebt hat« hatten sich tief in seiner Seele eingenistet.
Zum Friedhof konnte er bequem trampen. Die Fahrer schwerer LKWs kannten ihn schon bald und hielten an, ohne auf sein Zeichen zu warten.
Von diesen nächtlichen Ausflügen wusste nur Juljok. »Klaw, was soll das denn? Bei dem Regen heute … Willst du nicht lieber morgen fahren? Ja, ja, ich halt schon den Mund. Also, dann bring ich heute Lynka mit aufs Zimmer. Du hast doch nichts dagegen, oder?«
Stundenlang saß Klawdi auf der kleinen Bank an der Friedhofsmauer. Neben sich stellte er eine batteriebetriebene Lampe — und versank dann in einen Dämmerzustand, in einen Tagtraum. Und dort, in diesem Traum, lebte Djunka und war an seiner Seite.
Der alte Lum sprach ihn nur noch ein Mal an. Unhörbar trat er aus der Dunkelheit heraus und versperrte ihm den Weg zum Grab. »Aus Unwissenheit richtest du schlimme Dinge an, mein Junge. Störe sie nicht. Quäle weder sie noch dich, erinnere dich voller Freude an sie, aber störe ihre Ruhe nicht mit deinen Rufen!«
»Sie können mich nicht trösten!«, sagte Klaw leise. »Gehen Sie weg!«
»Dir sind bestimmte …« Der alte Lum presste die Lippen aufeinander. »… Möglichkeiten gegeben. Ich weiß nicht, was du einmal werden wirst, aber … dein Wunsch hat ein zu großes Gewicht. Wünsch dir daher nichts Unvernünftiges.«
Mit diesen Worten verschwand er.
Als der Winter anbrach, hielt es Juljok Mytez, der bislang geduldig darauf gewartet hatte, dass Klaw »gesund« wurde und den Kampf gegen seinen Kummer gewann, nicht mehr aus und probte den Aufstand. »Du bist doch nicht normal! Du bist verhext, geplatzt wie ein Fieberthermometer in kochendem Wasser! Wenn das so weitergeht, rufe ich den Notarzt, damit der dir ein Beruhigungsmittel spritzt! Was soll das denn? Kannst du nicht tagsüber gehen, sonntags, wie alle Leute?!«
Klaw öffnete den Mund und wünschte seinen Freund an einen Ort, von dem es kein Zurück gab. Tödlich beleidigt schwieg sich Juljok lange aus.
Eine Woche später fing sich Klaw tatsächlich eine Erkältung ein und erkrankte, jedoch nicht ernstlich, man steckte ihn bloß für eine Woche ins Krankenzimmer. Aus dem Reich der Medizin konnte er sich nicht unbemerkt davonstehlen; als er es doch einmal versuchte, hätte ein mürrischer Pfleger den aufsässigen Patienten beinahe zusammengeschlagen. Seines wichtigsten Lebensinhalts beraubt, zog sich Klaw die Decke über den Kopf und wandte sich in einer ganz normalen Fieberphantasie an Djunka. »Verlass mich nicht …«
An dem Tag, als er gesundgeschrieben wurde, fand in der Schule der traditionelle Winterball statt. Für Klaw bot sich damit eine willkommene Gelegenheit zu verschwinden, und zwar ohne Aufsehen zu erregen. Er schützte Schwäche und Kopfschmerzen vor — und nach seiner Krankheit war er in der Tat schwach — und weigerte sich, Juljok und seiner Mandoline Gesellschaft zu leisten. Gegen Abend brach jedoch ein Schneesturm los, der so heftig tobte, dass selbst der fanatische Klaw genug Verstand besaß, auf einen Friedhofsbesuch zu verzichten.
Während sich alle anderen amüsierten, saß Klaw im leeren Zimmer an dem zugeschneiten Fenster. Vor ihm stand eine elektrische Lampe in Form einer dicken, gedrehten Kerze auf dem Tisch. Das Spiegelbild der Lampe in der schwarzen Fensterscheibe wirkte wie eine richtige brennende Kerze; vor dieser Kerze saß ein trübsinniger Junge, der sich für erwachsen hielt — und sein Spiegelbild war nicht minder streng, nicht minder finster. Böser, wütender Schnee hämmerte gegen das Fenster.
Das Gefühl schlich sich keineswegs hinterrücks an. Klawdi ertappte sich dabei, wie er bereits seit einigen Minuten angespannt lauschte, vielleicht auf die fernen Ballgeräusche, vielleicht auch auf das Heulen des Windes, vielleicht auf sich selbst. Das zarte Würmchen der Panik rührte sich zunächst kaum merklich in seiner Brust, ruckte dann unter Schmerzen, als hinge es am Haken, und jagte einen Schauder über seine Haut, der weitaus kälter war als der Frost draußen. Klaw meinte, das Licht der kerzenartigen Lampe in der Scheibe flackere wie eine Flamme in der Zugluft.
Er schlug die Hände vors Gesicht. Ein paar Sekunden lang saß er da und versteckte sich hinter dem nicht sehr soliden Gitterwerk seiner verschränkten Finger vor der Welt. Schließlich zog er die Schublade unter dem Tisch auf, ertastete das Röllchen mit den weißen Tabletten und nahm gleich zwei, die er ohne Wasser herunterschluckte.
Kurz darauf hatte er seine Ruhe wiedergefunden. Eine gewaltsam herbeigeführte Ruhe freilich, als sei sein hämmerndes Herz in eine Zwangsjacke gesteckt worden. Schläfrig blinzelte er, gähnte, schaute auf die dunkle Glasscheibe und ließ den Kopf auf die Hände sinken.
Das nächste Mal bohrte sich die Unruhe durch seine schlaftrunkene Benommenheit — wie ein Messer durch Watte. Klaw rang kurz mit sich, dann stand er auf und schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Das Licht flutete bis in den hintersten Winkel des Zimmers, in Klaws Innerem herrschte jedoch noch immer Finsternis und Panik. Reglos, als sei er an das Eisengeländer einer unsichtbaren Treppe gekettet, lauschte er auf die weichen Schritte, wie sie die Stufen erklommen. Sie näherten sich langsam, aber zielstrebig und ohne zu zögern. Wer kam da? Was kam da?!
Ihm war klar, wie dumm es aussehen würde, wenn er mitten in der Nacht in den Ball platzte, bleich und verschreckt, in einem verwaschenen Trainingsanzug. Das war ihm klar, und er biss sich auf die Lippe, doch weder Stolz noch Scham vermochten ihn aufzuhalten, als er zur Tür hinausstürzen wollte.
Welches Gefühl es dann eigentlich war, konnte er nicht sagen.
Gegen die Scheibe bollerte trockener Schnee. Die elektrische Kerze brannte gleichmäßig, die Deckenlampe leuchtete hell und rein, im Fenster ließ sich wie in einem schwarzen Spiegel das gemütliche Zimmer der beiden fleißigen jungen Herren erkennen. Auf der anderen Seite der Scheibe prangte indes ein weißes Gesicht, das, halb von einer Straßenlaterne beleuchtet, an den abnehmenden Mond erinnerte.
Klaw presste die Hände gegen die Rippen, die sich hoben und senkten. Diese idiotischen Späße seiner betrunkenen Mitschüler. Wie sie es wohl geschafft hatten, auf den Balkon zu klettern?
Seine Gedanken schwirrten in alle Richtungen. Seine Gedanken schützten ihn, instinktiv, wie ein Vogel, der sich tot stellt, um sein Nest zu verteidigen. Klaw trat einen Schritt ans Fenster heran. Dann noch einen. Dann …
Ihr Gesicht war traurig. Sehr bedrückt, lang und schmal, wie die Flamme der Lampe, die Lippen kummervoll zusammengepresst, die fremdartig großen Augen verschattet. Nur einen Blick erhaschte er, der sich ihm unauslöschlich einprägte.
Der Wind!
Grausamer Wind trieb den Schnee gegen das Fenster, bis die Scheibe, von außen vereist, von einem Muster bedeckt wurde, durch das man nichts erkennen konnte, dazu kam noch das Licht der Straßenlaterne, das von der Seite auf sie einfiel — und der verrückte Junge nahm in diesem Schattenspiel Gott weiß was wahr …
In dem schmalen Kellerraum spendete eine einzige Fackel, die hinter Klawdi angebracht war, Licht. Er streckte den Arm in der Dunkelheit aus. Ein unsichtbarer Wächter legte ihm unverzüglich das feine, leichte Gewand über den Arm.
Die Einrichtung im Verhörraum bestand lediglich aus einem langen Eichentisch und einem Stuhl mit einer überproportional hohen, beschnitzten Lehne, ebenfalls aus Eiche. Kaum hatte Klawdi Platz genommen, griff er schon gleich nach den Zigaretten in der Brusttasche; seine Hand spürte die Schachtel unter der undurchdringlichen Seide des Gewands. Sich zusammenreißend, zog Klawdi die Kapuze über den Kopf. Der leichte Stoff, der nach Naphthalin und Feuchte roch, verbarg sein Gesicht bis zu den Lippen. In Augenhöhe waren schmale Sehschlitze ausgespart. Bereits nach einer Minute nahm Klawdi die Kapuze nicht mehr als störend wahr, er hatte sich an sie gewöhnt.
Eine Weile lang herrschte im Verhörraum noch die tiefste Stille. Klawdi starrte vor sich hin. Er durfte einer Hexe nicht leichtfertig gegenübertreten. Schweigend ließ er nach und nach den Großinquisitor in sich entstehen.
»Bring sie herein«, befahl er schließlich. »Eine nach der anderen. Die Reihenfolge spielt keine Rolle.«
Die Tür quietschte. Die Angeln wurden traditionell nicht geölt. Klawdi wartete.
Eine junge Frau kam herein, nicht älter als dreißig. Hand- und Fußgelenke steckten in Holzblöcken; diejenigen, die sie geschnappt hatten, mussten sie also für besonders gefährlich gehalten haben. Auf ihrem Gesicht lag ein gleichgültiger, überlegener Ausdruck.
Unter der Kapuze verengten sich Klawdis Augen zu Schlitzen. Vor ihm stand eine Schildhexe. Es war keinesfalls übertrieben, sie zu fesseln. Die Schildhexe schien es bereits mehrfach mit der Inquisition zu tun gehabt zu haben, denn obwohl die Nähe Starshs, der sich aufs Verhör vorbereitete, schmerzhaft für sie war, brachte sie es fertig, sich nicht das Geringste anmerken zu lassen. Tapfer und routiniert steckte die Hexe den Schlag ebenso klaglos ein wie hartes Leder einen Peitschenhieb.
»Sei gegrüßt, Schild«, sagte Klawdi mit gesenkter Stimme. »Hast du einen Namen?«
Die Hexe hüllte sich in Schweigen. Hinter ihr standen zwei kräftige Wachtposten — wie dunkle Säulen.
Klawdi griff nach den Papieren, die vor ihm lagen. »Magda Rewer. Mir ist völlig egal, ob du diesen Namen bei der Geburt bekommen oder ihn dir selbst gewählt hast. Hängst du an deinem Leben?«
Eine Welle seiner inneren Kraft ergoss sich über die Hexe. Kaum hatte Klawdi ihren überheblichen Blick abgefangen, hakte er sich an ihm fest, um das Niveau des »Brunnens« auszumessen. Die Hexe zuckte zusammen, doch in den aufgerissenen Augen spiegelte sich kein Schmerz. Diejenigen, die diesen Schild geschmiedet hatten, verstanden ihr Handwerk.
Erschöpft sank Klawdi gegen die Stuhllehne zurück. Ihr sogenannter Brunnen nahm auf der Skala einen Wert von zweiundsiebzig ein. Das war ein hoher Wert, ein sehr hoher sogar. Ein gefährlicher …
»Du weißt, was jetzt kommt? Sprichst du freiwillig mit mir oder soll ich etwas nachhelfen, damit du mir erzählst, was ich wissen will?«
Magda Rewers Wange zuckte. »Dazu bist du nicht imstande.«
»Ach nein?« Klawdi beugte sich vor.
Obwohl er gar nicht die Absicht hatte, seine Drohung in die Tat umzusetzen — nach dem langen, schweren Tag stand ihm wahrlich nicht der Sinn danach, sich durch einen Schild zu bohren, noch dazu bei einem zweiundsiebziger Brunnen –, fasste die Hexe seine knappe Bewegung als einen solchen Versuch auf.
Ihre Lippen formten daraufhin ein unschuldiges, geradezu kindliches Lächeln. Das zerknitterte Kostüm, in dem sie vermutlich auch festgenommen worden war, wechselte von der schmutzig beigen Farbe plötzlich zu Schneeweiß, um sodann in Fetzen von ihr abzufallen und auf den Steinfußboden zu gleiten. Magda Rewer stand nackt vor ihm. Die Fesseln, die sich schmerzhaft in Hand- und Fußgelenke bohrten, versinnbildlichten nun eine bizarre erotische Phantasie.
Magda Rewer warf den Kopf in den Nacken, und ein lang anhaltender, leidenschaftlicher Schauder erfasste ihren Körper. Die bräunlichen Brustwarzen zogen sich zusammen und richteten sich auf, stachen dem Inquisitor förmlich in die Augen. In Klawdis Ohren trommelte es dumpf. Immer lauter und lauter.
Er biss sich auf die Lippe und riss die rechte Hand mit aneinandergepressten Fingern nach vorn. Die Hexe unterdrückte den Schmerzensschrei nicht.
Die nächsten Minuten betrachtete Klawdi den eigenen Schatten, der im Licht der Fackel zuckte, und lauschte darauf, wie die Spannung von ihm abfiel. Wendungen dieser Art mochte er nicht sonderlich. Nach solchen Verhören blieb das Gefühl, ein geiler Bock zu sein, an ihm kleben, und Gewissensbisse plagten ihn.
Er hob den Blick. Magda Rewer krümmte sich, ging jedoch nicht zu Boden. Nach wie vor trug sie das zerknitterte Kostüm, die Wächter hinter ihr standen ungerührt da. Sie hatten diese Vision nicht gehabt, denn die Schildhexe hatte ihre Kräfte auf einen der anwesenden Männer konzentriert.
»Magda«, flüsterte er. »Du arbeitest gerade an deinem eigenen Scheiterhaufen.«
Sie wimmerte zwar, ihr Blick behielt jedoch seinen gelangweilten, überheblichen Ausdruck bei.
»Du hast zwei Stunden, um über alles nachzudenken … Ich möchte aus Rjanka einen hexenfreien Kreis machen. Das ist nicht einfach, aber du wirst mir bestimmt dabei helfen …«
Die Hexe grinste über beide Ohren.
»Von mir aus kannst du es auch bleiben lassen«, fuhr Klawdi unbeirrt fort. »In diesem Fall wären für den Henker sämtliche Zweifel ausgeräumt.«
Die Schildhexe hüllte sich in Schweigen und gaukelte Klawdi vor, die Umrisse ihrer Brustwarzen würden sich unter ihrem Jackett abzeichnen. Der Inquisitor presste die Zähne aufeinander.
»Ich fahre nach Rjanka«, verkündete er. »Vorher jedoch wirst du mir sagen, was ich wissen will. Du oder eine andere. Aber mit Sicherheit wird mir eine von euch weiterhelfen.«
Indem er die Hand hob, bedeutete er ihr, dass das Verhör beendet sei. Als Magda abgeführt wurde, setzte sie an, etwas zu sagen, brachte dann aber doch kein Wort hervor. Nur ihre Augen verengten sich für einen flüchtigen Moment zu Schlitzen, was sie wie die Schießscharten einer belagerten Festung aussehen ließ.
»Magda Rewer, Registrierungsnummer 712«, sagte Klawdi in den Raum. »Verschärfte Haftbedingungen.«
Die beiden Stunden, die ihr zum Nachdenken zugebilligt worden waren, verbrachte die Schildhexe Magda Rewer in einer Einzelzelle, Hände und Füße in fest verankerte Holzblöcke gezwängt. Da die Zellenwände mit dem Zeichen des Spiegels versehen waren, wurde jeder ihrer Gedanken von den Wänden zurückgeworfen und traf, zehnfach verstärkt, wieder auf die Quelle.
Wenn Magda am Leben bleiben wollte, musste sie an etwas Angenehmes denken. Klawdi grinste spöttisch.
Bei dem Gedanken an den abberufenen Kurator aus dem Kreis Rjanka schlich sich Schadenfreude in dieses Grinsen. Jetzt wusste er immerhin, was er dem Mann sagen konnte, der so viele lange, unangenehme Stunden in seinem Vorzimmer hatte warten müssen. Jetzt wusste er auch, weshalb er den Kollegen aus Rjanka auf diese Weise erniedrigt hatte. Nicht, weil er, Klawdi, von Natur aus gemein war — und nicht einmal, weil er sich für Intrigen aus der Vergangenheit rächen wollte. Für die Verhaftung einer Schildhexe hätte der Kollege aus Rjanka Lorbeeren einheimsen können — wenn sie vor der Epidemie erfolgt wäre und nicht, während diese gerade tobte. Insofern durfte der Herr Kurator kaum noch mit Lob rechnen.
Klawdi unterdrückte das Verlangen nach einer Zigarette. Erschaudernd dachte er an die prallen Brüste Magda Rewers. Er presste die Kiefer aufeinander und schwor sich, heute bis zum Umfallen zu arbeiten. Bis er überhaupt keinen Wunsch mehr in sich verspürte. Bis zur Leichenstarre.
»Weiter«, befahl er mit tonloser Stimme. »Die nächste.«
Wieder quietschte die Tür enervierend in den ungeölten Angeln. Die eintretende Frau trug keine Fesseln, zischte etwas und fiel hin.
Eine gewöhnliche Arbeitshexe, etlichen Anzeichen zufolge nur Mittelmaß. Warum man ausgerechnet sie unter den anderen Verhafteten ausgewählt und zum Verhör nach Wyshna gebracht hatte, war Klawdi schleierhaft. Obwohl … Mit dem Brunnen stimmte offenbar etwas nicht, der wirkte ausgesprochen merkwürdig.
»Steh auf«, sagte er leise.
Die Wächter mussten die Hexe stützen. Willenlos hing sie in ihren Armen. Ihre Abwehrkräfte reichten nur, um das Bewusstsein nicht zu verlieren.
»Lass uns das Kriegsbeil begraben«, schlug Klawdi vor, während er die Kapuze zurechtrückte und die Sehschlitze neu ausrichtete. »Du bist zu schwach für einen Kampf, und mir steht nicht der Sinn danach … Was ist in Rjanka los? Holt ihr zum Schlag aus? Oder spannt ihr ein Netz?«
»Ich weiß es nicht«, krächzte die Hexe voller Hass. Um diese Lüge zu bestrafen, bohrte er sich in ihren Blick und maß ihren Brunnen aus.
Die Hexe schrie auf, denn der Schmerz war mehr, als sie ertragen konnte. Klawdi biss die Zähne aufeinander. Vierundsiebzig. Bei einer unauffälligen, durchschnittlichen Arbeitshexe! Ein ähnliches Gefühl musste einen Gemüsegärtner beschleichen, der in seinen Beeten einen Bären von der Größe eines Königspudels einfing.
Die Frau verlor das Bewusstsein und tauchte in eine tiefe Ohnmacht ab. Klawdi schielte zum Protokoll über das Vorverhör hinüber. Xana Utopka, von Beruf Grundschullehrerin.
Mit geschlossenen Augen stellte er sich den Kurator aus Rjanka in allen Einzelheiten vor, packte ihn insgeheim beim Revers, schüttelte ihn …
Er würde nach Rjanka fahren müssen. Über kurz oder lang würden die Scheiterhaufen der Lynchjustiz dort lodern. Grillen würde man jedoch weder Schild- noch Kampfhexen, ja, nicht einmal einfache Arbeitshexen, sondern ganz gewöhnliche, dumme, nicht initiierte Mädchen, solche wie jene Rothaarige, die ihn an eine Füchsin erinnerte.
»Xana Utopka«, sagte er in die Dunkelheit hinein. »Registrierungsnummer 709, normale Haftbedingungen … Und holt sofort einen Arzt!«
Die quietschende Tür öffnete und schloss sich.
Die nächste Hexe betrat mit stolz erhobenem Kopf den Raum. Sofort erkannte Klawdi sie wieder. »Das ist bloß der Anfang! Das ist bloß der Anfang! Wartet’s nur ab!«
»Hallo, Schreihals«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Das Mädchen war höchstens fünfzehn. Klawdis Anwesenheit irritierte sie, mehr aber auch nicht. Um ihre innere Abwehr hätte sie ein schwerer Panzer beneiden können.
»Hallo, Henker«, erwiderte sie ungerührt. »Hast du für den Scheiterhaufen genug Brennholz auf Vorrat?«
»Keine Sorge, das hab ich«, beruhigte sie Klawdi. »Warum hast du gesagt, dies sei nur der Anfang?«
»Das wirst du schon noch sehen«, erklärte die junge Frau mit gebleckten Zähnen. Bei ihr handelte es sich um eine Bannerhexe. Dieser Typ war fanatisch bis zum Wahnsinn und verfügte, was die Sache besonders unangenehm machte, ansatzweise über das zweite Gesicht. Sie spielten die hysterischen Wahrsagerinnen, tarnten ihren nüchtern kalkulierenden Verstand dabei jedoch bloß hinter Raserei.
»Bist du schon volljährig?«, fragte Klawdi nachdenklich.
»Nein«, teilte das Mädchen sorglos mit. »Ich bin noch keine achtzehn … Laut Hexenrecht dürfen Minderjährige beim Verhör nicht gefoltert werden, ebenso wie bei ihnen von allen anderen Arten der Bestrafung abzusehen ist. Stimmt doch, oder?«
»Hmm«, meinte Klawdi nickend, während er nach ihrem Blick schnappte.
Eine sekundenkurze Pause. Die Hexe erbleichte, ließ sich ihren Schmerz jedoch nicht anmerken. Klawdi gab sie wieder frei und sank erschöpft gegen die Lehne.
Der Brunnen rangierte auf der Skala bei fünf- oder sechsundsiebzig. Entweder musste dem Kurator aus Rjanka eine Prämie für die Festnahme der drei stärksten Hexen im Land ausgezahlt werden, oder …
… oder in Rjanka schossen seit Kurzem Hexenmonster wie Pilze aus dem Boden.
Klawdi senkte die Lider. Er gierte nach einer Zigarette.
Eine Bannerhexe also. Vorgefühle, Vorhersagen, geheime Hoffnungen und Ängste …
»Kein Verhör mit Folter«, presste er zwischen den Zähnen hervor.
Seine rechte Hand streckte sich in Richtung der Hexe aus, bis die Spitzen der angespannten Finger auf Höhe ihrer gemeinen grünen Augen schwebten. Bannerhexen hatten eine fatale Schwäche: Sie orakelten allzu gern.
»Neh…men … Sie … die weg!«, jammerte das Mädchen. Klawdis Finger pressten sich zusammen.
Auch unter der Folter hätte sie vermutlich kaum etwas preisgegeben. Prophezeiungen krochen jedoch ganz von selbst aus ihr heraus. Sie konnte diesen kruden Strom nicht eindämmen — und vermutlich wollte sie es auch gar nicht. Die grünen Augen loderten entrückt.
»Sie … kommt! Sie ist schon auf dem Weg, sie …« Es folgte zusammenhangloses Gemurmel. »Sie schart uns um sich und …« Wilde Schreie, ein seliges Lächeln.
Klawdi schielte in die Schublade des Tisches. Alles in Ordnung, das Aufnahmegerät war eingeschaltet. Er würde sich den Text einprägen. Das eine oder andere dürfte von Interesse sein, selbst wenn vorerst nur ein einziger Hinweis relevant war: »Odnyza!«, schrie das Mädchen, während es den Kopf zurückwarf. »Im Kreis Odnyza. Ja, ja, ja!«
Odnyza, das klang für die meisten Menschen wie Musik. Ein Ferienort, Magnet für Touristen aus aller Welt, endlose Strände, la dolce vita, ein heiliger Traum, ausgebrütet in den langen Monaten des Winters und Herbstes, Geld, das eigens »für Odnyza« abgezweigt und gespart wurde, für Odnyza und in seinem Namen.
Der Kreis Odnyza grenzte an Rjanka. Der zwischenzeitlich eingesetzte Kurator war ein Mann Klawdis, ein treuer und zuverlässiger Kollege. Und da es längst zu spät war, nach Rjanka zu fahren, blieb ihm nur Odnyza, der Kreis Odnyza.
Zehn Sekunden nachdem er den Druck aufgegeben und die Hand weggenommen hatte, stellte das Mädchen das Prophezeien wieder ein. Mit einem schiefen Grinsen versuchte die junge Hexe, die eingebüßte Würde zurückzugewinnen. Denn vormachen konnte sie sich da nichts: Sie hatte sich der Gewalt gefügt und getan, was er von ihr verlangt hatte.
Die Rache ließ nicht lange auf sich warten. »Du wirst dein Leben auch noch in unserem Feuer aushauchen.«
»Ach ja?« Klawdi zog die Augenbrauen hoch. »Verwechselst du mich da nicht mit jemandem?«
»Du stirbst im Feuer«, wiederholte das Mädchen nachdrücklich. »Schade, dass ich nicht dabei sein werde.«
»Fürwahr ein würdiger Anlass zur Wehklage«, bemerkte er.
Die Hexe beruhigte sich jedoch nicht, sondern fuhr mit ihrem lautstarken Lamento auch dann noch fort, als man sie bereits den Gang entlangführte. »Ins Feuer! Der Großinquisitor teilt das Schicksal der Hexen, ins Feuer, ins Fe…«
Die quietschende Tür schloss sich und würgte damit das Ende des Satzes ab. Für eine Zigarettenpause reichte die Zeit nicht.
Die vierte Inhaftierte war mager und hatte eine Hakennase. Der dunkle Mantel hing an ihr wie an einem Kleiderständer. Sobald sie Klawdi erblickte — eine schwarze Figur, beleuchtet von einer Fackel, die schwarze Kapuze, die starren Augen in den Sehschlitzen –, fing die Frau an zu zittern und bedeckte das Gesicht mit den Händen.
Eine Weile lang starrte er sie verwundert an. Es bereitete ihm Mühe, so wie sonst seinem professionellen sechsten — oder siebten? — Sinn zu vertrauen. »Dyara Luz«, informierte ihn das Protokoll über das Vorverhör. »Leiterin eines Tanzensembles. Vermutlich eine Kampfhexe, deren Klassifizierung schwierig ist, da …«
Klawdi huschte mit den Augen über den Text, bis er ans Ende gelangte, zur Unterschrift. Als er sie las, empfand er eine gewisse Erleichterung. Damit, mein lieber Kurator aus Rjanka, hast du dir dein eigenes Grab geschaufelt. Nun kann ich dich problemlos und ohne jedes Zögern eliminieren, denn einen solchen Lapsus sehen dir selbst deine engsten Freunde nicht nach. Kampfhexe, pah!
»Ich bin keine Hexe«, flüsterte die Hakennasige, die sich das Gesicht immer noch mit den Händen bedeckte. »Das ist ein grauenvoller Irrtum … Ich schwöre bei meinem Leben, dass ich keine Hexe bin, dass ich …«
»Ich weiß«, versicherte Klawdi seufzend.
Die Frau verstummte. Sie löste die tränenfeuchten Finger von den Wangen und richtete die Augen auf Klawdi. Sie waren vom Weinen geschwollen. »Sie … Ich bin keine … Weshalb?!«
»Die Oberste Inquisition entbietet Ihnen ihre aufrichtige Entschuldigung«, sagte er mit offizieller, monotoner Stimme. »Die für diesen Fehler Verantwortlichen werden aufs Schärfste bestraft werden.«
»Mich …«, schluchzte sie, »… wie eine … zusammen mit … denen … wie soll ich jetzt … leben … was soll ich sagen …«
Die Wächter, selbst nahezu fassungslos, geleiteten sie bereits auf den Gang hinaus. Klawdi senkte den Kopf und ließ sich nicht in die Augen blicken.
Die quietschende Tür schloss sich. Wütend riss sich der Großinquisitor die Kapuze vom Kopf, streifte den Seidenumhang von den Schultern und tastete in der Brusttasche nach dem heißersehnten Päckchen Zigaretten.
Er hatte nicht die geringste Absicht, seine Zeit mit dem Kurator von Rjanka zu verplempern. Deshalb unterschrieb er einfach nur den Suspendierungsbefehl und beauftragte Hljur, den Kollegen entsprechend in Kenntnis zu setzen.
Die nächsten anderthalb Stunden verschlangen Berichte und Dossiers. Der Epidemie in Rjanka war Einhalt geboten worden, allerdings setzte nun in Bernst, am anderen Ende des Landes, ein massenhaftes Viehsterben ein. Draußen vor dem Palast der Inquisition ertranken aufgebrachte Demonstranten fast im Regen. Klawdi warf einen flüchtigen Blick auf ein noch warmes Foto, aus dem ihn undurchdringliche Gesichter und ausnehmend beleidigende Plakate ansprangen. Warum, wusste er zwar nicht, aber er war davon überzeugt, dass dem Herzog genau in dieser Minute ebenfalls ein solches Bild auf den Schreibtisch gelegt wurde.
Gleichsam als Antwort auf diesen Gedanken blinkte das rote Lämpchen des Regierungstelefons auf.
»Es ist nicht leicht, Sie zu erreichen, Herr Großinquisitor.«
»Die Arbeit im Namen der staatlichen Sicherheit verlangt eine gewisse Mobilität, Eure Durchlaucht«, entgegnete Klawdi trocken.
»Dann will ich nur hoffen«, schnaubte der Herzog, »dass Sie sich in den nächsten Stunden etwas mobiler zeigen als im letzten halben Jahr — selbstverständlich nur, falls es diesbezüglich tatsächlich eine gewisse Dependenz gibt. Ich meine, zwischen Ihrer Mobilität und der Zahl der Toten in Rjanka. Oder zwischen Ihrer Mobilität und dem Schaden, den die Wirtschaft in Bernst erlitten hat. Haben Sie schon gehört, dass die Kühe dort verrecken? Sie wissen wohl nicht auch zufällig, warum?«
»Um der Reinheit des Experiments willen«, entgegnete Klawdi bedächtig, »sollte ich vielleicht Urlaub nehmen … den ich am liebsten in Odnyza verbringen würde. Dann würden wir ja sehen, ob die Dinge wieder ins Lot kämen. Vielleicht werden die Kühe ja wieder lebendig?«
»Eine schöne Zeit für Ihre Scherze haben Sie sich da ausgesucht.« Die Stimme des Herzogs wechselte von einer kalt-spöttischen Tonlage in die gänzlich kalte.
»Und Sie haben eine nicht minder schöne für Ihre Gardinenpredigt gefunden«, parierte Klawdi. »Ich kenne einen Witz, da verprügelt ein besonders schlauer Bauer seinen Zuchthengst, nun … sozusagen … mitten im Geschehen. Um die Qualität der Nachkommen zu verbessern. Na, kommt Ihnen das vage bekannt vor?«
Der Herzog legte eine Pause ein. Jeder andere Beamte hätte es in dieser Zeit geschafft, sich vor Angst gewaltig in die Hose zu pinkeln. Es war eine bedeutsame, eine schöne Pause.
»Ich will Ihnen nicht zu nahe treten, Klaw«, fuhr der Herzog mit tiefer Stimme fort. »Aber mir gefällt nicht, was da vor sich geht.«
»Wir tun alles, um das Ganze im Zaum zu halten«, erklärte Starsh einlenkend.
Damit konnten sich beide zufrieden geben.
Noch ein paar Minuten behielt Klaw den stummen Hörer nachdenklich in der Hand. Dann drückte er auf die Gabel und wählte die Nummer seines Stellvertreters. »Hljur, ich fahre nach Odnyza.«
Für den Nachhauseweg brauchte er eine halbe Stunde. Wieder betrachtete er den Inhalt des Kühlschranks, den seine umsichtige Haushälterin aufgefüllt hatte. Nachdem er etwas kaltes Wasser getrunken, das Hemd gewechselt und den überquellenden Aschenbecher angeekelt zur Kenntnis genommen hatte, warf er sich aufs Sofa, um sich einem fünfzehn Minuten langen An-nichts-Denken hinzugeben. Seine heilige Viertelstunde.
Aus diesem entspannenden Halbschlaf riss ihn das Telefon. Ganz von selbst tastete seine Hand nach dem Hörer. »Ja, hallo.«
Es knisterte leise in dem unsichtbaren Gang, der zwischen ihm und jenem, der am anderen Ende schwieg, entstanden war.
»Hallo …«, wiederholte er mechanisch.
Jemand atmete in den Hörer. Unterdrückt und ungleichmäßig. Noch immer benommen setzte sich Klawdi auf dem Sofa hoch. »Wer ist denn da?«
Niemand. Stille. Keine falsche Verbindung, sondern einfach Schweigen. Ein Hörer, den eine Hand fast zu Tode quetschte. Durch die Wände der Telefonzelle drang der ferne Krach der Stadt. Am anderen Ende versuchte gerade jemand, den Atem anzuhalten. Dieser Jemand konnte nicht sehr groß sein, dazu war das Brustvolumen zu klein.
»Ywha, bist du das?«
Verschreckt tuteten die kurzen Freizeichen los.
Klawdi schaute auf die Uhr. Unten wartete bereits ein Wagen auf ihn.
Mist.
Er hämmerte auf die Tasten. Glücklicherweise ging Mytez junior an den Apparat. Heiser und offenbar verschlafen. »Nasar?« Klawdi versuchte, seine Stimme möglichst natürlich und sorglos klingen zu lassen. »Hier ist Klaw. Wie geht’s dir?«
»Danke«, brachte der junge Mann tapfer hervor. »Gut … Ich … Soll ich Papa rufen?«
»Nasaruschka«, sagte Klawdi, »ich muss jetzt gleich wegfahren … Ich wollte dich nur fragen, ob … Ywha ist nicht zufällig aufgetaucht?«
Eine Pause. O ja, hier hätte der Herzog seinen Meister gefunden. Von ihm könnte er noch lernen. Von diesem Nasar Mytez, zwanzigeinhalb Jahre alt.
»Nein«, stieß Nasar schließlich aus. »Soll ich Papa jetzt rufen?«
»Richte ihm einen Gruß von mir aus«, sagte Klawdi rasch. »Also dann, tschüs.«
»Tschüs …«
Wieder erklangen die vielsagenden Freizeichen. Was für ein Tag, dachte Klawdi müde. Ein wahrer Festtag des Telefonsignals!
Er wählte erneut. Der Wachhabende im Gefängnistrakt meldete sich prompt.
»Guten Abend, Kul, hier ist Starsh … Magda Rewer, Registrierungsnummer 712, will sie immer noch nichts sagen?«
Schweigen. Wirklich ein erstaunlicher Tag, dachte Klaw.
»Kul, die Fähigkeit, Gedanken zu lesen, ist mir nicht gegeben. Sie sollten sie schon in Worte kleiden.«
»Herr Großinquisitor … Ich habe bereits vor zehn Minuten Herrn Hljur darüber informiert, dass …«
»Was?!«
»Magda Rewer, Nummer 712, hat sich das Leben genommen. Mit dem Zeichen des Spiegels … Ich bin bereit, jede Strafe auf mich zu nehmen, Herr Großinquisitor, aber …«
»Verstehe. Setzen Sie Ihren Dienst fort, Kul. Was ich zu diesem Vorfall zu sagen habe, werde ich Ihnen persönlich mitteilen.«
Diesmal unterblieben die Freizeichen — der Wachhabende Kul wartete beflissen, bis Klawdi den Hörer aufgelegt hatte. Zeremonien!
Magda Rewer wäre so oder so zum Tod verdammt gewesen. Trotzdem gehörte einiges dazu, den grausamen und widerwärtigen Tod mit dem Zeichen des Spiegels zu wählen, bei dem man in der eigenen Scheiße ertrank. Gefesselt hatte die Hexe dagesessen, in dieser kleinen quadratischen Zelle, und all ihren Hass und ihre Niedertracht heraufbeschworen. Gespiegelt an der Wand mit dem Zeichen, brachte ihre eigene Teufelei sie ganz langsam um.
Oder war ihr doch ein schneller Tod beschieden gewesen? Schließlich war sie stark und böse gewesen, diese Magda Rewer. Vielleicht hatte sie ja doch einen leichten Tod sterben können.
Jemand klingelte sanft an der Tür. Halb angezogen ging Klawdi in die Diele hinaus. Sein Anblick brachte den vor der Tür wartenden Bodyguard in Verlegenheit. »Es hat bereits jemand vom Flughafen angerufen, Herr Starsh. Ob sie auf uns warten sollen oder nicht …«
»Sie werden sich noch etwas gedulden müssen«, meinte Klawdi ungerührt. »Ich werde ja wohl erst in meine Hosen schlüpfen dürfen, oder?«
Der Bodyguard schwieg höflich.
(Djunka. Dezember — Januar)
Nach diesem Abend fuhr er nie wieder zum Friedhof. Die nächtlichen Besuche am Grab brachten ihm doch keine Ruhe mehr, sondern fachten nur die Unruhe an, die sich in seinem Innern eingenistet hatte.
Juljok freute sich zwar darüber, doch schon bald schien ihn das seltsame Verhalten seines Freundes weit mehr zu beunruhigen als die bisherigen Friedhofsgänge.
Klaw wurde nervös. Jede unschuldige Berührung der Schulter ließ ihn zusammenzucken. Er fürchtete die Dunkelheit — wobei er gleichzeitig gierig zu den nächtlichen Fenstern hinausstarrte, in die Dämmerung hinein. Und der Ausdruck, der in solchen Minuten in Klaws Augen lag, gefiel Juljok in keinster Weise.
»Du … wenn was ist, sag’s ruhig. Kann ja alles mal vorkommen. Brauchst du vielleicht einen Arzt?«
»Vielen Dank, Jul, mit mir ist alles in Ordnung.«
Eines Tages, als Juljok einmal eher vom Unterricht zurückkam als sein Freund, bemerkte er im Zimmer Spuren der Anwesenheit einer dritten Person, woraufhin er vermutete, Klaw hätte eine neue Freundin.
»Klaw, hast du heute ein Mädchen erwartet? Ich glaube, hier ist jemand gewesen, hat die Kekse aus der Schale aufgegessen, ein paar dreckige Fußspuren hinterlassen und ist dann wieder gegangen. Läuft deine Freundin im Wohnheim eigentlich barfuß herum?«
Klaw wurde nicht bleich, sondern blau. Zum ersten Mal kam Juljok der Gedanke, in ein anderes Zimmer überzuwechseln. Um von vornherein jeder Gefahr aus dem Weg zu gehen.
Vermutlich hätte er sich tatsächlich zu diesem radikalen Schritt durchgerungen, wenn er gewusst hätte, dass Klaw allmitternächtlich mit panisch verdrehten Augen aufwachte. Nacht für Nacht träumte er von dem Gesicht, das ihn aus dem Wasser durch das runde Fenster des schwarzen LKW-Reifens anstarrte — und zwar nicht lebendig und froh wie an jenem Sommertag, sondern bleich und reglos, verloren in dem dämlichen Seidenvolant des schweren Sargs.
»Hast du gerade mit der Tür geklappert, Jul? Als du ins Zimmer gekommen bist?«
»Nein … Ich dachte, das warst du.«
»Ich … ich bin im Bad gewesen …«
»Na, dann wird es Pynja gewesen sein, der sein Buch geholt hat. Was ist so schlimm daran?«
»Nichts … aber sein Buch, das liegt da …«
»Dann wird es jemand anders gewesen sein. Was ist denn bloß los?! Hast du Angst, beklaut zu werden? Du führst dich ja wie ein hysterisches Weib auf. Haufenweise Tabletten stopfst du in dich rein. Wenn du so weitermachst, hängst du bald an der Nadel …«
»Verpiss dich doch …«
In der nächsten schlaflosen Nacht gestand Klaw Djunka seine jämmerliche Feigheit ein, bekannte, dass er das Unbekannte fürchte; das, was sich zwischen dem Sein und dem Nicht-Sein befinde und ihn mit Sehnsucht erfülle. Dabei lebe er doch nur noch, um an Djunka zu denken. Weshalb flößte ihm die Erinnerung an diesen Abend, als der Schneesturm getobt hatte, bloß solche Angst ein? Verübelte sie ihm seine Furcht? Wenn sie ihn jetzt hören könne, solle sie ihm ein Zeichen geben. Seine Liebe würde ausreichen, um jede Grenze zu überschreiten.
Nach dieser fiebrigen Beichte erbarmte sich seiner eine sonderbare Ruhe. Traumlos schlief er die ganze Nacht und wachte um sieben Uhr auf. Wie von der Tarantel gestochen.
Juljok atmete geräuschvoll. Sein Unterricht fing heute erst in der dritten Stunde an. Im Waschraum gegenüber rauschte das Wasser, ihre Mitschüler redeten und kicherten miteinander. Die üblichen morgendlichen Geräusche, an die er zu gewöhnt war, als dass sie ihn aus tiefem Schlaf hätten reißen können …
Da war allerdings noch ein Geruch. Ein seltsamer Geruch, der unangenehme Duft angekokelter Synthetik.
Er stand auf. Im Halbdunkel blinzelnd, tapste er hinter den Paravent, der das »Schlafzimmer« vom »Flur« trennte, und schaltete die Lampe auf dem Tisch ein.
Ein Schneesturm schickte seine Vorboten, Flocken trieben gegen die Scheibe.
Obwohl er noch nicht verstand, was eigentlich los war, war sein Hemd, eine Reaktion seines Unterbewusstseins, am Rücken bereits klatschnass.
Auf dem alten Holztisch, auf dem sich Konserven, Kekse, eine Kaffeekanne, Streichhölzer und Kernseife türmten, lag seit Urzeiten ein buntes Tischtuch aus Wachstuch.
Mitten in den daraufgedruckten Äpfeln und Tomaten, Zwiebeln, Nüssen und anderen Gaumenfreuden prangte jetzt ein schwarzer Brandfleck.
So etwas passiert, wenn du ein Bügeleisen auf ein Wachstuch stellst. Das Tuch trägt eine gekräuselte, schwarze Narbe davon, und es entsteht dieser ekelhafte Brandgeruch. Genau wie hier!
Nur dass derjenige, der vor Kurzem hier gewesen war, die Tischdecke weder mit einem Bügeleisen noch mit einem Lötkolben berührt hatte. Denn bei dem Brandmal handelte es sich um den Abdruck einer Hand. Die fünf Finger waren deutlich eingebrannt.
Klaw riss sich zusammen.
Juljok schnaufte noch immer. Aufmerksam lauschte Klaw und zuckte bei jeder Veränderung in Juljoks Atmung zusammen. Dann machte er sich daran, das Tischtuch ruckweise herunterzuziehen.
Die Dosen klapperten. Klaw fluchte lautlos und beeilte sich. Aus irgendeinem Grund glaubte er felsenfest, jeder fremde Blick auf diesen Abdruck löse ein nie gekanntes Leid aus. Zum Glück hatte der Tisch an der Stelle darunter kaum gelitten. Die wenigen Rußspuren kratzte Klaw verbissen mit einem Messer ab.
Während Juljok schlief, zog Klaw seinen Mantel an, gleich über seinen Pyjama, und schlüpfte aus dem Zimmer, eine kleine Zeitungsrolle an sich gepresst.
Als er zurückkam, ging der Geruch verbrannten Plastiks von ihm aus. Niemand hatte ihn beobachtet. Niemand würde je etwas erfahren.
An einer Ecke unterhielten sich fünf Mitarbeiter des Tschugeister-Dienstes bei einer Zigarette. Wer an ihnen vorbeiging, wahrte einen respektvollen Abstand. Klaw dagegen näherte sich ihnen mit einem breiten und einnehmenden Lächeln. »Gebt mir eine Zigarette, Freunde.«
Konfrontiert mit fünf solchen Blicken hätte sich einer wie Juljok Mytez vor Angst in die Hosen gemacht. Klaw aber zuckte nur bescheiden die Achseln. »Ich bin ein armer Schüler, meine Eltern geben mir kein Geld für Zigaretten, was ja auch verständlich ist, oder?«
»Stimmt«, erwiderte ein Schrank von einem Mann mit kurzen Beinen. Die breite Fellweste ließ seine Figur so gedrungen wie einen Tisch wirken. »Rauchen schadet der Gesundheit, und Schnorren birgt auch ein gewisses Risiko.«
»Spiel dich nicht so auf«, meinte ein anderer amüsiert, der leicht gebeugt dastand und glasklare blaue Augen hatte. »Bist du überhaupt schon siebzehn?«
»Nein«, erklärte Klaw, der sich nicht zu einer Lüge bequemen wollte. »Aber weil ich schon mit einer Frau geschlafen habe, könnt ihr mich ruhig für volljährig halten. Okay?«
Vier der fünf schienen einen kurzen Moment lang irritiert. Der Fünfte, ein nicht mehr ganz so junger Mann mit braun gebranntem, faltigem Gesicht, nickte wohlwollend. »Das ist ein Argument. Hier.«
Er legte eine kurze und dicke Zigarette in Klaws Hand, der ein Feuerzeug folgte. »Lass sie dir schmecken …«
Klaw nahm den ersten Zug seines Lebens.
Die vier, die ihn anschwiegen und ihm ihre eigene Verwirrung immer noch übel nahmen, erhielten prompt die Gelegenheit zur Revanche. Der Junge hustete, die Lungen rebellierten gegen den starken Tabak der Matros, aus seinen Augen schossen dicke Tränen.
»Man soll den Mund eben nicht so voll nehmen!«
»Wie war das mit der Frau? Ob wir dir das abkaufen sollen? Oder hast du dich da geschickter angestellt?«
»Das werde ich deiner Schule melden! Wie läuft das? Gibt’s bei euch noch die Prügelstrafe?«
Seinen Brechreiz überwindend, nahm Klawdi Zug um Zug. Vor seinem inneren Auge vermoderte das Tischtuch mit der eingebrannten Hand. Wenn die Tschugeister das gesehen hätten …
Er musste die Furcht vor ihnen besiegen, vor den Tschugeistern, diesen Killern von Njawken. Denn er war der Komplize einer Njawka und hatte das Beweisstück vernichtet. Von nun an würde Djunka mit ihm leben, das wusste er genau.
Ihm war egal, was sie jetzt war. Hauptsache, sie würden zusammenbleiben.