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Zum ersten Mal nach all den Tagen glaubte Ywha an ihr Glück.

Der Mann, der sie in dieser Zeit examiniert hatte, war endlich zufrieden gewesen und sogar ein wenig aufgetaut. Ein Scherz von ihr hatte ihn zum Lachen gebracht, bis ihm die Tränen kamen. Danach hatte er von ihr verlangt, sie — als Braut — möge aufhören, ihn ehrfurchtsvoll als »Professor Mytez« anzusprechen, und ihn lieber so nennen, wie es sich gehörte: Schwiegerpapa. Begeistert hatte Ywha dem zugestimmt und sich schließlich darangemacht, auf der Wiese ein Lagerfeuer für ihr Picknick zu entfachen.

»Was dein Herz begehrt, das sei ihm nicht verwehrt!« Der Professor offenbarte nun sogar den Possenreißer, der in ihm steckte. »Wo man ist zu zwei’n, da stellt sich bald ein Drittes ein, und ist man erst zu drei’n, da werden es bald fünfe sein. Lasst uns anstoßen, Kinder, auf dass die Welt bald mehr von uns hat!«

Die rote Abendsonne brach sich in den hohen Fenstern ihres zukünftigen Zuhauses. Das Gebäude mit dem roten Dach besaß einen Balkon, der, von Weinreben umwunden, an das Etikett auf einer Flasche alten Weins erinnerte. Hoch oben zitterte ein kupferner Wetterhahn. Nasar kam über den Hof, einen Korb mit Essen in der Armbeuge und dabei ständig etwas verlierend, mal ein Geschirrtuch, mal ein Bündel Servietten, mal eine glitschige Kartoffel.

Irgendwann stimmte ihr Schwiegervater die Mandoline. Zum Repertoire dieses ernsten und achtbaren Mannes gehörten zahllose neckische und sogar ein paar frivole Stücke. Vor lauter Lachen ließ Ywha ihr Brot zweimal ins Feuer fallen. Ihr Schwiegervater funkelte mit den Augen und klampfte derart los, dass sich selbst Nasars Wangen vor Verlegenheit röteten.

Mit einem Mal presste der Schwiegervater den Handteller gegen die Saiten, blinzelte, blickte ins Feuer und stimmte dann mit einer ganz veränderten Stimme etwas Lyrisches an, eine lange Ballade, in der ein Mädchen am Ufer ein Taschentuch schwenkt, während sie vom Meer aus eine Nymphe mit einem runden Spiegel in der Hand und einem Kamm im grünen Haar ruft. Und alle beide wollen sie den schönen Kapitän gewinnen.

Nasar streckte sich im Gras aus, den Kopf auf Ywhas Schenkel gebettet. Sein Vater öffnete ungeniert die nächste Flasche, stürzte in einem Zug ein halbes Glas herunter und intonierte ein Lied aus seiner Studentenzeit. Ywha hätte gern in den Gesang eingestimmt, doch da sie weder den Text noch die Melodie kannte, öffnete und schloss sie lediglich den Mund — wie ein Fisch. Nach einer Weile mischte sich ein Motor, der in der Ferne brummte, in die zarte Melodie.

»Wir bekommen Besuch«, meinte Nasar träge.

Ywha verkrampfte sich. Sie mochte weder Neuigkeiten noch Veränderungen oder ungebetene Gäste, ja, nicht einmal angenehme Überraschungen. Schon gar nicht jetzt, da sich ihre innere Anspannung gerade löste und sie in ihrem Glück dahinschmolz wie Schokolade in der Hand. Ihr fehlte jede Kraft, ihr brüchiges inneres Gleichgewicht zu verteidigen. Ein Neuankömmling stellte einen Angreifer dar, der ungebeten in ihre Welt eindrang, gerade als nach vielfältigen Schwierigkeiten Ruhe und Ordnung darin einkehrten.

Eine Ruhe auf tönernen Füßen. In der Ferne brauchte nur ein Motor zu brummen — und schon verflüchtigte sich jede Ruhe.

Voller Bedauern hob Nasar seinen Kopf von ihrem Schoß und stand auf. »Pa«, wandte er sich mit einem strahlenden Lächeln an seinen Vater, »hat Klawdi ein neues Auto? Einen grünen Graf mit Antenne?«

Sofort legte der Schwiegervater die Mandoline beiseite. »Klaw?! Ich werd verrückt … Ihr werdet sehen, Kinderchen, jetzt werden wir bis morgen früh höchst vergnügt zusammensitzen!«

Ywha hüllte sich in Schweigen. Die anderen durften ihre Enttäuschung nicht bemerken. Offenbar kam da ein alter Freund. Bestimmt erwarteten sie von ihr, dass sie sich freute. Schließlich hätte die Ankunft eines unangenehmen, unsympathischen Menschen den Schwiegervater ja wohl kaum in eine solche Begeisterung versetzt. Und auch Nasar würde sonst nicht am Tor herumalbern, dem Mann hinter dem Steuer wie ein Verkehrspolizist salutieren und dann wie ein kleiner Junge rittlings auf dem sich schließenden Eingangsgitter hocken.

Ihr Schwiegervater hielt die Mandoline jetzt wie eine Pistole im Anschlag. »Pass auf, Rote, gleich lernst du jemand ganz Besonderen kennen … Was ist denn mit dir, Rote?«

Gemächlich fuhr das grüne Auto auf den Hof, so akkurat und höflich, als sei es ein lebendiges und gut erzogenes Wesen. Die abgeblendeten Scheinwerfer wirkten auf Ywha jedoch eher wie die trüben Augen eines Monsters. Das Brot blieb ihr im Hals stecken, ließ sich weder schlucken noch ausspucken. Aus den Tiefen ihres Körpers stiegen Übelkeit und Schmerz auf. Sie kannte dieses Gefühl — nur war es damals, beim ersten Mal, entschieden schwächer gewesen. Jetzt dagegen …

»Ywha, was ist mit dir?«

Nasar schüttelte bereits die Hand desjenigen, der aus dem Auto gestiegen war. Ywha sah nur den Rücken des Ankömmlings, der ein helles Hemd trug. Ein schwarzhaariger, gepflegter Hinterkopf, glattes, penibel geschnittenes Haar …

»Ywha, was ist denn?«

»Mir ist schlecht …«, brachte sie mit Mühe hervor. »Tut mir leid, Schwiegerpapa, aber ich werde reingehen … Ich muss mich hinlegen …«

»Rote?!« Unmittelbar vor ihrer Nase tauchten die alarmierten, prüfenden und zugleich fröhlichen Augen ihres Schwiegervaters auf. »Was ist denn los? Du machst mich doch wohl nicht zum Opapa?«

Nasar brachte den Besucher schon zum Lagerfeuer. Jetzt bekam Ywha auch das lachende Gesicht des unangekündigten Gastes zu sehen. Es war ihr völlig unbekannt. Nein, nicht ihn hatte sie damals gesehen.

Ihr Unwohlsein spürend, hörte Nasar auf zu lachen und war mit zwei Sätzen an Ywhas Seite. Die Berührung seiner Hände machte es ihr leichter, wenn auch nur kurzzeitig.

»Verzeiht.« Gequält verzog sie die Lippen zu einem Lächeln und versuchte, an dem Gast vorbeizusehen.

Der Besucher lächelte nach wie vor. Mitleidig, wie sie glaubte.

Nasar hob sie in seine Arme und drückte sie wie ein Kätzchen an seine Brust. Während er sie zum Haus trug, sah er sie besorgt an. »Was machst du denn für Sachen, Rote? Hast du was Schlechtes gegessen oder … meine Rote … Sollen wir einen Arzt holen?«

Sie lächelte so beruhigend, wie es irgend ging.

Er trug sie die Treppe vor dem Haus hoch. Ungeachtet ihrer Proteste trug er sie auch noch in den ersten Stock hinauf, was ihm nicht die geringsten Schwierigkeiten bereitete, nur die Stufen knarzten jämmerlich. Mit dem Knie stieß er die Tür zu ihrem Zimmer auf, legte sie aufs Bett und setzte sich neben sie, ohne ihre Hand dabei loszulassen.

»Was soll euer Gast denn jetzt von mir denken?« Sie biss sich auf die Lippe.

Nasar schüttelte den Kopf, um eine widerspenstige Strähne aus der Stirn zu vertreiben. »Mach dir darüber mal keine Gedanken«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. »Klawdi gehört quasi zur Familie …«

Ywha atmete so tief ein, dass ihr die Luft bis in die Fersen drang. Die Übelkeit nahm ab, doch das nervöse Zittern wich nicht. Der arme Nasar. Jetzt glaubte er also, sie sei schwanger, freute sich aufrichtig und nahm an, sie habe sich den Kopf zerbrochen und ins Kissen geweint. Ach, Nasar!

Ein Anflug von Zärtlichkeit zwang sie, sich umzudrehen und ihr Gesicht im Kopfkissen zu vergraben. Ein Anflug von Zärtlichkeit und Scham. Sie hatte ihn nicht täuschen wollen. Und ihre Unpässlichkeit hing in keiner Weise mit der freudigen Erwartung auf einen Nachkommen zusammen …

»Was ist, Rote?«

Sie fuhr mit dem Finger über eine blaue Ader seiner festen, muskulösen Hand. »Mir ist nicht gut. So was Peinliches, wo gerade Besuch gekommen ist. Geh zu ihm und sag … ich habe mich nur kurz hingelegt.«

Er schluckte. Noch einmal wollte er nicht in sie dringen, weshalb er ihr auch nur über die Wange strich. Schließlich erhob er sich und ging zur Tür, kehrte jedoch noch einmal zurück. Er gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. Dann riss er sich los und sprang an die Decke, wobei er dem schweren Lüster einen solchen Klaps versetzte, dass die Zierelemente klirrten.

»Du dummer Junge …« Ywha rang sich ein Lächeln ab. »Sag mal … euer Klawdi, was ist das für einer?«

»Wie meinst du das?«, fragte er mit hochgezogener Augenbraue.

Da sie nicht wusste, wie sie ihre Frage in andere Worte kleiden sollte, schwieg sie.

»Klawdi«, erklärte Nasar, während er sich hinter dem Ohr kratzte, »ist ein fabelhafter Mann, ein alter Freund meines Vaters … Außerdem ist er der Großinquisitor der Stadt Wyshna.«

»Aha.« Ywha schloss die Augen. »Geh jetzt …«

Erneut knarzte die Holztreppe, da Nasar, zwei Stufen auf einmal nehmend, nach unten stürmte. Den Blick auf die Schatten an der Decke gerichtet, lag Ywha da, während das kühle Bett unter ihr wie eine Bratpfanne glühte.


Sie beide hüllten sich lange in Schweigen, denn Worte hätten nur gestört. Still genossen sie den Sommerabend, den Rauch des Lagerfeuers und die Gesellschaft des anderen. Der Gast blinzelte träge, und die Glut vor seinen Lippen fraß nach und nach den dünnen Schaft der teuren Zigarette. Mytez drehte über dem Feuer ein Stück Schinken, das auf einen spitzen Stock gespießt war.

In diesem Augenblick trat Nasar aus dem Haus. Mit einem entschuldigenden Lächeln näherte er sich dem Lagerfeuer. »Klawdi, dass das gerade heute passieren musste! Dabei hätte ich euch einander so gern vorgestellt.«

Derjenige, der Klawdi hieß, senkte verständnisvoll die Lider.

»Was willst du denn hier?«, blaffte der Soziologieprofessor Mytez in bärbeißigem Ton. »Warum lässt du sie allein?«

»Also, eigentlich wollte ich«, stotterte Nasar, »Klawdi nur sagen, dass sie sich entschuldigen lässt …«

Der Gast winkte ungeduldig mit der Hand ab, als wollte er zum Ausdruck bringen: Das weiß ich doch, was verlierst du darüber groß Worte. Nasar lächelte noch einmal entschuldigend und machte wieder kehrt. Die beiden Männer am Lagerfeuer blickten ihm nach.

»Erinnerst du dich noch?«, fragte Mytez leise. »Als ich mir wegen Nasar solche Sorgen gemacht habe …«

»Hm«, nickte Klawdi. »Er wollte einfach nicht erwachsen werden.«

»Was die Frauen bei uns nicht alles fertigbringen, Klaw!« Professor Mytez lächelte triumphierend. »Was ist, trinken wir einen?«

Mit einem geheimnisvollen Lächeln zog der Gast eine kleine, flunderplatte Flasche aus der Innentasche. »Ich komme gerade aus Egre, der Hauptstadt des Weins, wenn du so willst. Da hat man mir diese Kleinigkeit aufgedrängt. Neidisch?«

»Mir fehlen die Worte! Du lässt dich bestechen!«, rief der Professor mit gespielter Empörung. »Allerdings kommt uns diese Kleinigkeit gerade recht, Klaw!«

Beide verstanden etwas vom Wein, der Professor setzte beim Trinken obendrein eine Kennermiene auf, gab sich den aufmerksamen und konzentrierten Anstrich eines echten Degustators. Der Gast lachte zufrieden.

»Ich werde Enkel haben«, erklärte Professor Mytez nach einer Weile, den Anblick der rubinroten Flüssigkeit am Glasboden genießend. »Einen ganzen Stall voller Enkel … Übrigens habe ich mir schon gedacht, dass du wieder durch die Provinzen ziehst. Zu Hause habe ich dich nämlich nicht erreicht.«

»Die Pflichten«, entgegnete der Gast vage. »Die üblichen Pflichten zum Wohle aller … oder zumindest der meisten. Du bekommst eine hübsche Schwiegertochter, Jul. Wann findet die Hochzeit statt?«

»Ich glaube, im Oktober«, antwortete der Professor mit einem zufriedenen Nicken.

»Steht der Termin denn noch nicht fest?«, verwunderte sich der Gast.

»Lach jetzt bloß nicht, aber es ist erst eine Woche her, dass …« Der Professor breitete die Arme aus. »Dass Nasar sie mir vorgestellt hat. Er hat Angst gehabt, ich würde böse sein …«

»Aber das warst du nicht«, meinte Klawdi. »Und recht hast du.«

Der Professor nahm seine Mandoline aus dem Gras auf. Während der Gast beobachtete, wie Julian sorgsam die Saiten spannte, fischte er eine weitere Zigarette aus der schmalen goldfarbenen Schachtel. »Juljok …«

Etwas ließ den Professor zusammenzucken. Er riss sich von seiner Tätigkeit los und sah den Gast erstaunt an. »Ja?«

»Juljok …« Derjenige, der Klawdi hieß, zog aus dem niederbrennenden Lagerfeuer einen Ast mit glühender Spitze. »Verdammt, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Von mir aus kannst du deinen Hexen in den Verliesen mit solchem Getue Angst einjagen«, knurrte der Professor, dem es auf einmal die Laune verschlagen hatte. »Ich kann darauf verzichten! Was ist los?«

Der Gast steckte sich die Zigarette an. Nach einem tiefen Zug meinte er, ohne die zusammengekniffenen, leicht geröteten Augen von seinem Freund zu nehmen: »Du weißt natürlich, dass sie eine Hexe ist?«

»Wer?«, fragte der Professor begriffsstutzig.

»Deine Schwiegertochter«, antwortete der Gast nach einem weiteren tiefen Zug an der Zigarette. »Deine zukünftige Schwiegertochter … Wie heißt sie eigentlich?«

»Ywha«, antwortete der Professor sofort. Plötzlich schoss er von dem Baumstamm, auf dem er saß, hoch. »Was?!«

»Ywha«, wiederholte Klawdi nachdenklich.

»Ist dir klar, was du da sagst?«, fragte der Professor mit ersterbender Stimme.

Sein Gegenüber nickte. »Juljok … Seit fünfundzwanzig Jahren schinde ich mich jetzt mit dieser Arbeit ab. Mir reicht ein vergilbtes Schwarzweißfoto, um sie zu erkennen. Und am schrecklichsten ist, dass auch sie mich wittern. Ich verursache ihnen Übelkeit. Eurer Ywha ist nicht schlecht geworden, weil sie schwanger ist, sondern weil jemand so Widerliches wie ich in ihre Nähe kam.«

Der Professor setzte sich wieder. Er griff nach der Mandoline, die er hatte fallen lassen.

»Tut mir leid, dass du das nicht wusstest«, meinte Klawdi. »Ich habe angenommen … Aber das ist verzeihlich, Jul. Sie … vor allem die jungen, vor allem die aus der tiefsten Provinz … sie haben Angst. Ob sie es Nasar gesagt hat?«

»Hör bloß auf«, brummte der Professor, der nach und nach Saite um Saite stimmte. »Mist!« Ein Wirbel der Mandoline war abgebrochen. Ganz kurz lag er auf Julians Hand, dann flog er ins Feuer. Die aufgerührte Glut loderte hoch, beruhigte sich jedoch sogleich wieder.

Sein Gegenüber ließ eine gewisse Zeit verstreichen. »Im Grunde ist doch nichts Schlimmes dabei«, erklärte er schließlich seufzend. »Ich habe schon so viele glückliche Familien gesehen, in denen die Frau eine Hexe war. Weißt du, wie viele legale Hexen allein in der Hauptstadt leben? Diejenigen, die wir lediglich zu registrieren und zur Kontrolle vorzuladen brauchen?«

Die gerissene Saite der Mandoline hatte sich wie eine Weinrebe zu einer Spirale aufgerollt.

»Juljok …«

»Schweig.«

Nasar trat aus dem Haus. »Sie hat gesagt, sie wolle schlafen«, bemerkte er leicht verwirrt, ja, sogar ein wenig verbittert. »Offenbar geht es ihr aber besser … Papa?!«

»Sei so gut …« Sein Vater wandte sich zu ihm um. »Sei so gut und mach uns einen Kaffee.«

Der junge Mann rührte sich jedoch nicht vom Fleck. Immer wenn er nervös war, machte sich ein Tick an ihm bemerkbar: Seine Augen klapperten schnell auf und zu, wie bei einer Puppe, die man sanft schüttelte. »Papa …«

»Nasar …«

»Es ist alles in Ordnung, Nasaruschka«, mischte sich der Gast überraschend ein. »Geh nur …«

Beide Männer schwiegen angespannt, bis der Junge durch die Küchentür verschwunden war. Doch auch danach währte ihr Schweigen noch einige quälend lange Minuten.

»Juljok«, ergriff der Besucher zögernd das Wort. »Du bist ein vernünftiger Mann … schon immer gewesen. Aber, verflucht noch mal, ich frage mich allmählich, ob ich diese Nebensächlichkeit nicht besser hätte für mich be­halten sollen. Und dir später, in einer ruhigen Minute …«

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst, oder?« Der Professor schleuderte die Mandoline weg, die erbärmlich losschrillte, als sie auf den kleinen Steinen im Gras landete. Missbilligend zuckte der Gast die Achseln, sagte jedoch kein Wort. »Du …« Der Professor holte Luft. »Eine Hexe … in meinem Haus … mit meinem Sohn … hinter meinem Rücken … wie gemein. Was für eine Gemeinheit, Klaw!« Er erhob sich und stopfte die Hände tief in die Taschen. »Ich bitte dich, Klawdi«, sagte er mit einem fordernden Unterton in der Stimme, »sprich gleich mit Nasar. Ich will nicht … keine Minute länger …«

»Jul?« Klaw zog verwundert eine Augenbraue hoch. »Und was soll ich deiner Ansicht nach Nasar sagen? Wenn er sie doch liebt?«

»Liebt?!«

Der Professor umrundete verdrossen das Lagerfeuer, ohne die nötigen Worte zu finden. Schließlich setzte er sich. Seinem Gesichtsausdruck konnte Klaw entnehmen, dass Julian Mytez seine Selbstbeherrschung zurückerlangt hatte. »Soweit ich es verstehe«, setzte der Professor mit ausdrucksloser Stimme an, »ist es deine Pflicht, sie mitzunehmen, oder? Zur Kontrolle und Registrierung?«

»Diese Pflicht«, antwortete der Gast, der nun nachdenklich seine dritte Zigarette rauchte, »haben andere zu erfüllen. Aber anzuordnen, dass man sie festnimmt, das ist in der Tat …«

»Ich bitte dich nur um eines: nicht in meinem Haus«, presste der Professor mit nach wie vor blasser, tonloser Stimme hervor. »Ich würde nicht wollen …«

»Es besteht doch gar keine Notwendigkeit, sie zu verhaften!« Sein Gegenüber klaubte ein schwarzes Rußpartikelchen von seiner eleganten grauen Hose. »Sie kann sich selbst an die entsprechende Stelle wenden, und ich versichere dir, nicht ein Nachbar …«

»Die Nachbarn können mir gestohlen bleiben!« Wut verzerrte das Gesicht des Professors. Jeder, der noch vor einer Minute das ausgelassene Zusammensein und den Gesang miterlebt hätte, wäre über die Veränderung erstaunt gewesen, die inzwischen mit Mytez vor sich gegangen war. »Die Nachbarn können mir gestohlen bleiben. Aber mein Sohn liegt mir am Herzen. Ob die Hexe nun initiiert ist oder nicht … Verdammt noch mal, du betrachtest das alles mit den Augen des Fachmanns, aber ich …« Der Professor verstummte. Er holte tief Luft, erhob sich und wollte gerade ins Haus gehen.

»Ich anstelle deines Sohnes würde in diesem Fall nicht auf dich hören«, rief ihm derjenige, der Klawdi hieß, hinterher.


Nasar tauchte eine halbe Stunde später auf. Von einem Menschen, der einen Schock erlitten hat, heißt es oft, er sei über Nacht gealtert. Auf Nasar traf das Gegenteil zu. Der junge Mann, der seine zukünftige Frau vorhin erst ins Haus getragen hatte, wirkte jetzt wie ein verschreckter und tödlich beleidigter kleiner Junge.

»Klawdi?«

In der Zeit, die der Freund der Familie allein zugebracht hatte, hatte er ein Päckchen seiner exklusiven Zigaretten aufgeraucht. Jetzt beobachtete er, wie die aparte Pappschachtel im Lagerfeuer verbrannte.

»Sie hätte es dir noch von sich aus erzählt, Nasaruschka. Früher oder später. Aber ich musste deinen Vater in Kenntnis setzen. Alles andere wäre … meinerseits nicht sehr schön gewesen. Nicht anständig. Meinst du nicht auch?«

»Vielleicht hat sie am Ende selbst keine Ahnung davon?« Nasar schluckte geräuschvoll. »Wäre das nicht möglich?«

Eine Weile lang spielte Klawdi mit dem Gedanken, den Jungen anzulügen. »Leider nein«, meinte er aber schließlich kopfschüttelnd. »Sie wissen immer alles über sich selbst.«

»Dann hat sie mich angelogen«, sagte Nasar tonlos.

Bedrückt zuckte Klawdi die Achseln.


Ywha schlief nicht. Sie lag da, die Decke über den Kopf gezogen, die Nase in die angezogenen Knie vergraben, und stellte sich vor, sie sei eine Schnecke und befände sich in ihrem Häuschen, wo es warm und heimelig war, und alles, was außerhalb dieses Gehäuses passierte, brauchte sie nicht zu interessieren und stellte keinerlei Gefahr dar.

Irgendwann erschöpfte sich ihre Phantasie, während sich der Abend noch immer hinzog. Jemand lief durchs Haus, irgendwo unterhielt sich wer, später ließ dann einer einen Motor an.

Ganz kurz glaubte sie, der Albtraum ende und der Großinquisitor breche auf, woraufhin alles bliebe, wie es gewesen war.

Doch da kam Nasar herein. Ohne das Licht anzuschalten, blieb er im Halbdunkel direkt an der Tür stehen. Ywha verkrampfte sich, traute sich jedoch nicht, als Erste etwas zu sagen.

»Wie geht’s dir?«, erkundigte er sich, und sie begriff, dass er bereits alles wusste. »Wie fühlst du dich?«

Wie fühle ich mich?, fragte sich Ywha. Wie eine Laus beim Friseur, ein wenig unbehaglich …

Nasar schwieg. Unter seinem Blick fühlte sich Ywha, die in der Dunkelheit lag, in der Tat wie eine Laus in einer prachtvollen Mähne, ein kleines Insekt, das durch einen Betrug in diese wunderschöne Welt gelangt war.

»Dann gute Nacht«, sagte Nasar mit hölzerner Stimme, bevor er die Tür hinter sich schloss.

Ein paar Minuten lag Ywha reglos da und verbiss sich in die eigene Hand. Dann sprang sie auf, schaltete die Stehlampe ein und raffte wie wild ihre Sachen zusammen.

Das fiebrige Tun half ihr vorübergehend, ihre Gedanken zu verdrängen. Sie weidete den Schrank aus und kippte den Inhalt des Nachttischs auf den Fußboden. Die alte Tasche, Ywhas Reisegefährtin, stellte sich als zu klein für all diese Sachen heraus.

Sie hatte sich diesem Leben entwöhnt, in dem ihr gesamter Besitz noch in die zerschlissene Sporttasche gepasst hatte. O ja, sie hatte sich ihm entwöhnt, hatte sich entspannt und ihr Glück genossen.

Als sie begriff, was sie gerade verlor, durchbohrte sie der Schmerz wie eine rostige Nadel. Sie ließ die Arme hängen, setzte sich auf den Fußboden und biss sich auf die Lippe, um nicht loszuschreien. Später würde es genug Raum für Tränen geben. Später.

Dennoch hätte sie geweint, wenn ihr nicht ein anderer Gedanke eine eisige Hand auf die Schulter gelegt hätte: die Inquisition. Und zwar nicht die provinzielle Inquisition, der sie schon so oft entkommen war, sondern die richtige, die Oberste Inquisition, die in ihren Grafs durchs die Gegend fuhr, jenen Nobelwagen in der Farbe einer fetten Kröte.

Als Ywha die Stehlampe ausschaltete, hätte sie beinahe die Schnur vom Schalter abgerissen. Lautlos trat sie ans Fenster. Der herrliche Sommerabend war einer nicht minder schönen, sternenklaren Nacht voll von Grillengezirpe und tiefstem Frieden gewichen. Gestern Abend war sie um diese Zeit mit Nasar …

Ywha verabreichte sich eine Ohrfeige. Der Schlag vertrieb den Gedanken, doch den heftigen Schmerz in ihrem Innern löste ein profaner und vulgärer ab. Obwohl Ywha in der Dunkelheit nicht sonderlich gut sah, überstieg ihr Sehvermögen das eines jeden Menschen …

Sofern es sich bei diesem nicht um eine Hexe oder einen Inquisitor handelte.

So übervoll wie ihre Tasche war, erinnerte sie an die Leiche einer Kuh. Oder an jene Leiche, die sie in ihrer Kindheit auf der Straße gesehen hatte, ein Bild, das sie lange heimgesucht hatte.

Sie atmete stoßweise.

Einen Großteil der Geschenke, die Nasar ihr gemacht hatte, musste sie erbarmungslos wieder auspacken. Sie hätte sich auch ganz von ihnen getrennt, aber die warme graue Jacke leistete ihr so gute Dienste, wenn es regnete, und in den neuen Turnschuhen ließ es sich hervorragend über staubige Straßen wandern, sogar von früh bis spät.

Irgendwann fand sie zwischen den Sachen Nasars weißes Hemd und blieb mit ihm zwei lange Minuten sitzen, das Gesicht in die schlaffen leeren Ärmel gepresst. Der Kragen verströmte Nasars Geruch. Gerüche nahm sie nicht so gut wahr, doch auch das noch besser als jeder andere Mensch …

Sofern es sich nicht um eine Hexe oder einen Inquisitor handelte.

Liebend gern hätte sie sich ein Stück zur Erinnerung mitgenommen. Und Nasar wenigstens ein Wort, wenigstens einen Buchstaben hinterlassen … Sie würde es nicht ertragen können, wenn er von ihr …

… so dachte, wie sie es verdiente.

Sie öffnete die Schranktür, um sich lange in dem klaren, wenn auch verstaubten Spiegel zu betrachten. Eine Rothaarige mit den runden Wangen einer Landpomeranze und Sommersprossen im ganzen Gesicht, mit dieser angedeuteten Spitznase und den kindlich vollen Lippen — und dann auch noch dem Blick einer ausgewachsenen, aber unendlich müden und unsagbar unglücklichen Füchsin.

Die Jagdsaison war eröffnet …

Das Wort »Inquisition« brachte sie wie eine Peitsche auf Trab. Sich lautlos durchs undurchdringliche Dunkel bewegend, riss Ywha das Fenster weiter auf, schulterte die Tasche und setzte problemlos übers Fensterbrett.

Der erste Stock ihres eben noch zukünftigen Zuhauses durfte als niedriger zweiter Stock gelten. Sie blieb im Gras kauern und wartete ab, bis sich der Schmerz in den aufgeschlagenen Beinen legte. In Nasars Zimmer brannte kein Licht mehr, im Unterschied zum Esszimmer. Was ihr ehemaliger Schwiegervater wohl gerade tat? Wenn sie sich vorstellte, was er für ein Gesicht gemacht hatte, als er …

Dieses Mal verzichtete sie auf die Ohrfeige, denn jemand hätte das Klatschen hören können. Stattdessen kniff sie sich mit aller Kraft in den Schenkel, woraufhin der aufdringliche Gedanke abzog. Wie einfach das war — nur ein hässlicher Fleck von violetter Farbe würde ihr bleiben. Den Nasar glücklicherweise nie zu sehen bekäme!

Sie sprang auf, um hinters Haus zu schlüpfen, an eine Stelle, an die das Licht der Laterne nicht drang. Ein Ast des Apfelbaums mit den winzigen, noch unreifen Früchten kratzte gotteserbärmlich über die Ziegelmauer. Er warf einen zerhackten, bemitleidenswerten Schatten.

Mit angehaltenem Atem spähte Ywha vorsichtig um die Ecke. Die Pforte sicherte ein schlichter Haken. Zu dieser späten Stunde trieb sich in ihrer Nähe niemand herum. Trotzdem hämmerte ihr Herz wild und hart.

Ein Auto. Der grüne Graf stand noch immer da, wo Nasar in seinem Übermut zum Wagenschlag gerannt war.

Was war das? Das Geräusch eines Motors? Holte ihr Schwiegervater etwa das Auto aus der Garage?

»Ywha.«

Das kam aus der Nähe. Hinter ihr. Klebrig lief es ihr den Rücken herunter. Warum hatte sie sein Kommen nicht gespürt?

»Du brauchst keine Angst zu haben! Ich werde dir nichts tun.«

»Als ob Sie das nicht schon hätten«, flüsterte sie, ohne sich umzudrehen — obwohl sie sich diese Frechheit auch hätte verkneifen können.

»Tut mir leid«, versicherte der Großinquisitor der Stadt Wyshna. Offenbar tat er einen Schritt nach vorn, denn Ywha verspürte plötzlich sowohl Würgereiz wie auch Schwäche, allerdings in einer gemilderten, rudimentären Form. Vermutlich konnte er das regulieren.

»Ich will gehen«, sagte sie, sich mit dem Rücken unter den mageren Zweig des Apfelbaums gegen die Mauer pressend. »Darf ich?«

»Sicher«, sagte der Inquisitor überraschend umstandslos. »Ich an deiner Stelle würde aber den Morgen abwarten. Das ist doch sonst irgendwie … feige. Es sieht nach Flucht aus, meinst du nicht auch?«

»Stimmt«, erwiderte sie, die Tasche gegen ihre Brust drückend. »Was würden Sie mit mir machen?«

»Ich persönlich nichts«, erklärte der Inquisitor mit leicht tadelnder Stimme. »Aber wenn du dich nicht innerhalb einer Woche registrieren lässt, könntest du bestraft werden. In Form von gemeinnütziger Arbeit, die du zusammen mit deinesgleichen — also ebenfalls nicht initiierten, aber mehrheitlich bösen und unsympathischen Hexen — abzuleisten hättest. Weshalb willst du dir das antun?«

»Das geht Sie nichts an«, blaffte sie, sich der Mauer zuwendend. Die Übelkeit nahm zu. Es fehlte nicht viel, und das Gespräch mit dem Inquisitor würde auf die denkbar unglücklichste Weise enden.

»Wohin willst du? Mitten in der Nacht? Hier an dieser Chaussee?«

Sie atmete schnell und tief. Durch den Mund. »Wenn …« Mühevoll stieß sie jedes einzelne Wort aus. »Wenn … Sie mir vorschlagen wollen … mich in die Stadt zu bringen … Das lehne ich ab.«

»Das ist zwar nicht sehr klug«, konstatierte der Inquisitor, »aber wie du willst. Geh nur.«

Sie schob die Tasche so auf den Rücken, dass ihr Schatten an ein altes krankes Kamel erinnerte.

»Ywha.«

Sie gab dem Wunsch, sich umzudrehen, nicht nach. In ihre herabhängende Hand wurde ein Rechteck aus festem Karton geschoben.

»Falls es jemals so weit kommen sollte … und es wird so weit kommen … zier dich nicht und ruf mich an. Schließlich kenne ich Nasar schon … da waren Hemd und Hose noch eins. Er liegt mir am Herzen … Seinetwegen würde ich dir helfen. Also mach keine Dummheiten, ja?«

»Gut«, antwortete sie mit heiserer Stimme.

Dann trat sie durch die Pforte zu ihrem eben noch zukünftigen Zuhause. Sie lief am Nachbarhaus vorbei. Im ersten Stock brannte hinter den Gardinen ein zartes Nachtlicht, ein Kassettenrekorder summte mit gedämpfter Stimme. Vermutlich etwas über die ewige und treue Liebe.

Ywha würgte die wieder in ihr aufsteigende Verzweiflung ab. Unter einer Laterne blieb sie stehen und öffnete mit aller Gewalt die fest geballte, feuchte Hand.

Großinquisitor Klawdi Starsh, Wyshna. Palast der Inquisition, Sprechzeiten, Telefon … Privatadresse: Platz des Siegreichen Sturms Nr. 8, Wohnung 4 … Telefon …

Ywha schluckte. Verbissen zerknüllte sie den starren Karton und stopfte ihn in eine Spalte zwischen der Laternensäule und dem Zaun dahinter.

Auf ihrem Handteller blieb ein rotes Rechteck eingedrückter Haut zurück, fast eine Art Brandmal.


Der Linienbus kam im Morgengrauen, als sie das Warten schon beinah aufgegeben hatte.

Nachdem sie ein paar Stunden an der Haltestellte gedöst hatte, auf dem harten Sitz in dem leeren Wartehäuschen, war sie durch die Kälte wach geworden und hatte auf der feuchten Straße getanzt, als sei sie eine aufgebrachte Mamba. Zu schade, dass Nasar diesen Tanz der Verzweiflung nicht hatte bewundern können. Während Ywha auf der rutschigen Fahrbahn herumgesprungen war, hatte sie der Welt ihre nicht gerade vorteilhafte Meinung über dieselbe wortlos kundgetan.

Damit hatte sie sich in einem Atemzug verausgabt und gewärmt. Genau in diesem Augenblick hatte ihr das Schicksal mitleidsvoll die Wange getätschelt: In der Ferne war aus einer Kurve ein Autobus aufgetaucht, unter dem Rot einer herbstlichen Eberesche.

In seinem Innern war es warm, ja sogar stickig. Ywha hatte sich zwischen weichen Sitzen und schlafenden Menschen den langen Gang hindurch bis ans Ende des Busses gezwängt und sich neben einer kreidebleichen Frau, deren Gesicht bis zu den Augen im Kragen eines warmen Pullovers versank, auf einen leeren Platz gesetzt.

Ein älterer Mann ihr gegenüber raschelte mit einer Zeitung. Die Überschriften ähnelten sich, sie waren ungrammatisch und vage gehalten. Ywha sprang ein Satz ins Auge: »Da die Aggressivität aller Hexen mit den Jahren zunimmt …«

Der Mann hielt die Zeitung zur Seite und nahm Ywha so jede Möglichkeit weiterzulesen.

Die Frau neben ihr wirkte verhärmt, vielleicht nicht ganz gesund. Über dem weiten Kragen des Pullovers schimmerte matt eine weiße, blutleere Stirn, unter deren schütteren Brauen stumpfe, ausdruckslose Augen müde blinkerten. Auf Ywhas anderer Seite saß ein selig schlummernder junger Mann in einer knappen Fischerjacke, dessen knochige Pranken zur Hälfte aus den viel zu kurzen Ärmeln ragten. Damit endete also dieses Kapitel ihres Lebens. Ywha schloss die Augen.

Sofort träumte sie, in der engen Stadtwohnung in Nasars Bett zu liegen. An der Decke des ärmlichen und etwas liederlichen Studentenquartiers baumelte ein prachtvoller Lampenschirm in Gestalt eines Piratenschiffs mit geblähtem Segel. Eine Woche lang hatte Nasar das Stück entzückt im Schaufenster eines Antiquariats betrachtet. Als er sich endlich zum Kauf durchgerungen hatte, hatte hinter dem Ladentisch eine junge Frau mit feuerrotem Haar, offenen Gesichtszügen und den Augen einer lustigen Füchsin gestanden …

Ywha lächelte im Schlaf. Ihre Hand, die sich in die Sitzlehne gekrallt hatte, lag ja eigentlich auf der festen Schulter des schlafenden Nasar. Das Schiff leuchtete von innen heraus und warf auf alle Gegenstände in diesem kleinen Zimmer bizarre Schatten. Sanft schaukelte das Deck …

Auf einmal fuhr sie zusammen und erstarrte. Statt vor sich hin zu träumen, sollte sie besser nie wieder ein Auge schließen. Der Bus hielt. Und der Stille in seinem Innern haftete etwas Unnatürliches an.

»Verehrte Fahrgäste, der Tschugeister-Dienst bittet Sie für die kurze Verzögerung um Entschuldigung …«

Ywha schlug die Augen auf. Der knochige Mann neben ihr wachte ebenfalls auf und starrte verängstigt auf die im Gang stehenden Wesen.

Es waren drei, und sie hatten kaum Platz. Derjenige, der in zungenbrecherischem Tempo die seit Langem auswendig gelernte Formel heruntergeleiert hatte, war sehnig und mager. Die beiden anderen würdigte Ywha gar nicht erst eines genaueren Blickes. Alle drei trugen über ihrer eng anliegenden schwarzen Kleidung eine legere, weite Weste aus Kunstpelz. Jedem von ihnen baumelte eine Kette mit einer silbernen Dienstmarke um den Hals.

Alle im Bus schwiegen. Ywha, die sich innerlich krümmte, senkte den Kopf.

»Eine Routinekontrolle«, fuhr der Magere mit gedämpfter Stimme fort. »Ich bitte alle, an ihren Plätzen zu bleiben. Personen weiblichen Geschlechts bitte ich, mir in die Augen zu sehen.«

Ywha zog den Kopf ein.

Der Plastikboden quietschte zart unter den federnden Schritten des Mageren. Seine beiden Kollegen folgten ihm im Abstand eines Meters. Eine füllige Frau in den vorderen Reihen tat ihre Empörung kund. Die Tschugeister blieben ihr jede Antwort schuldig. Ywha bemerkte, wie sich die Fahrgäste, an denen das Dreiergespann bereits vorbeigegangen war, entspannten und sogar zu scherzen anfingen. Ywhas Nachbarin, die Frau in dem dicken Pullover, tauchte bis zum Scheitel in ihren Kragen ab.

Der Magere blieb vor Ywha stehen. Als ringe sie sich zu einer widerlichen, jedoch unabdingbaren medizinischen Prozedur durch, überwand sich Ywha und hob den Blick. Sobald der Tschugeist ihren gehetzten Blick auffing, beugte er sich gierig vor. Seine Augen glitten über Ywha hinweg und sondierten einen zwar unsichtbaren, doch eindeutig spürbaren Abgrund, ließen dann jedoch auf halbem Weg enttäuscht von ihr ab, als sei sie lediglich ein alter Kleidersack.

»Hexe«, formten die Lippen des Mageren das Urteil. Genauer gesagt, sie wollten das Wort gerade aussprechen, als ein Schrei den beengten Innenraum des Busses durchriss.

Die Frau in dem warmen Pullover, die neben Ywha saß, schrie auf, und ihre Stimme bohrte sich wie ein Spieß in jedes Ohr. Als Ywha von ihr abrückte, wäre sie beinah auf dem knochigen Mann gelandet.

Das blutleere Gesicht, das schließlich aus dem grauen Kragen aufstieg, war in Panik verzerrt. Die abgezehrten Hände, die die Frau zu verbergen suchte, erinnerten an Vogelkrallen. »N… nein … Ne… «

Die beiden Tschugeister, die hinter dem Rücken des Mageren hervortraten, zogen die Frau, die sich sträubte, bereits zur Tür. Durch den gesamten, vom Geschrei paralysierten Bus kroch den dreien ein Flüstern hinterher: eine Njawka … eine Njawka … eine Untote … eine Njawka …

Der Magere zögerte noch. Wieder belinste er Ywha. Er fuhr sich mit dem Finger über die Lippe, als fege er einen dort sitzenden Krümel weg. In Gedanken versunken stand er — bis er sich endlich in Richtung Ausgang bewegte. Eine Njawka … hier … im Bus … eine Njawka, murmelten die erregten, leicht heiseren Stimmen.

An der Tür drehte sich der Tschugeist noch einmal um. »Unser Dienst dankt allen Fahrgästen für die engagierte Mithilfe, die uns bei der Festnahme eines besonders gefährlichen Individuums des Typus Njawka gewährt wurde. Angenehme Weiterfahrt …«

Da Ywha seinem Blick nicht noch einmal begegnen wollte, wandte sie den Kopf und schaute zum Fenster hinaus.

Die, die eben noch neben ihr gesessen hatte, kreischte ununterbrochen, nur büßte ihr Schrei immer mehr an Volumen ein, und schließlich erstickte ihn die dicke Scheibe des Busses vollends. Die Njawka hockte auf Knien am Straßenrand, vor ihren erstaunlich großen Augen hing ein Schleier des Entsetzens. Ein paar Mal riss sie den Mund weit auf. Ywha glaubte die Worte eines zusammenhanglosen Gebets zu hören, die dem Mund zusammen mit dem Schrei entschlüpften.

Der Magere und seine beiden Kollegen bauten sich langsam um die Njawka herum auf, die sie zum Zentrum eines gleichseitigen Dreiecks machten. Ihre seitlich ausgestreckten Arme berührten sich flüchtig, als wollten die Tschugeister einen Reigen um ihr Opfer vollführen. Die Njawka schrie mit neuer Kraft los. In diesem Augenblick fuhr der Bus an.

Die Bäume und die schrägen Dächer in der Ferne zogen an den Fenstern vorbei. Erst ein paar Minuten später begriff Ywha, dass sie mit all ihrem Gewicht auf dem knochigen Mann lastete, der sich jedoch nicht getraut hatte, sie einfach wegzuschieben.

Im Bus fingen alle zugleich zu sprechen an. Ein Kind weinte. Jemand fand für seine Eindrücke lauthals die unanständigsten Worte, ein anderer kicherte, ein Dritter lachte fröhlich. Die meisten zeigten sich jedoch empört, behaupteten, die Njawken nähmen überhand und der Tschugeister-Dienst komme mit dem Fangen nicht nach. Außerdem sei es unmoralisch, Njawken an öffentlichen Orten zu erledigen, da könne man ja gleich einen streunenden Hund auf einem Kinderspielplatz erschießen. Obendrein lege die Regierung die Hände in den Schoß, während die Steuergelder im Nichts versandeten und die Stadt allmählich zum Spielball des Bösen werde. Erst die Njawken, dann die Hexen …

»Tut mir leid«, entschuldigte sich Ywha bei dem Mann, der neben ihr saß. Dieser lächelte bloß einfältig.

Der Sitz rechts von Ywha blieb leer. Über ihm zitterte eine sorgfältig in der Gepäckablage verstaute Plastiktüte. Ihre Besitzerin dürfte inzwischen nicht mehr unter den Lebenden weilen.

Allerdings galt das schon seit einer ganzen Weile. Eine Njawka konnte man doch nicht mehr umbringen, denn sie war ja ohnehin tot. Eine Njawka musste man ausweiden, ganz und gar vernichten. Und die Tschugeister verstanden ihr Handwerk.

Ywha hatte das schon einmal mitangesehen. Die Tschugeister nehmen an anderen keinen Anstoß, fürchten auch keine Zeugen. In ihrer Offenheit lag etwas Anstößiges. Normalerweise brachten sie ihr Opfer nicht weiter als bis zur nächsten Hausecke. Auf offener Straße, mitten in einem Hof vollzogen sie ihr Ritual, das eigentlich in einem menschenleeren Keller ausgeführt werden sollte. Selbst Kinder wohnten manchmal dem Tanz der Tschugeister bei. Nachts nässten sie dann ins Bett und bereiteten ihren Eltern allerlei Kummer und Sorge. Tschugeister töten Njawken mit einem Tanz. Dieser Tanz spinnt das Opfer in ein unsichtbares Netz ein, erstickt es und presst es aus. Auch eine dematerialisierte Njawka hatte Ywha schon gesehen. Genauer gesagt, sie hätte sie sehen können, wenn sie sich nicht davor gefürchtet und den Blick abgewandt hätte …

Am Fenster zogen die gekrümmten Schultern eines Fahrradfahrers vorbei, der in die Pedale trat. Ywha schluckte. Verglichen mit den Tschugeistern nahm sich die Inquisition fast wie Väterchen Frost aus. Der gute Alte, der erst Geschenke an die braven Kinder verteilte und in den leer gewordenen Sack dann diejenigen stopfte, die weniger folgsam gewesen waren.

Der knochige Mann neben ihr schien sich einzubilden, nun, nachdem Ywha schon auf seinen Knien gesessen hatte, hätte er gewisse Rechte erworben, und zwinkerte ihr frech zu. Angewidert wandte sich Ywha ab.


Klawdi raste nie. Selbst jetzt, auf der leeren Überlandstraße, jagte er nicht in halsbrecherischer Geschwindigkeit dahin, wie es die ungeheure Motorstärke des Autos eigentlich verlangte. Er fuhr einfach in normalem, wenn auch nicht sonderlich langsamem Tempo. Beim Fahren wollte er sich entspannen, legte es jedoch nicht auf einen Kick an. Allerdings kam der Großinquisitor auch ohne diesen Geschwindigkeitsrausch in den Genuss extremer Empfindungen — in letzter Zeit sogar mehr, als ihm lieb war.

Er hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, seinen Instinkten zu vertrauen. Wenn ein unangenehmes, im Grunde genommen jedoch nicht außergewöhnliches Ereignis einen unerklärlichen Alarm in ihm auslöste und ihn dieses Gefühl, obwohl es sich längst gelegt haben sollte, nicht verließ, dann nahm er das Signal ernst. Dann fragte er sich: Woher rührte es?

Klawdi fuhr durch die letzten Schwaden des Morgennebels. Auf dem Beifahrersitz leistete ihm eine halbleere Schachtel dünner teurer Zigaretten Gesellschaft. Er rauchte, den Ellbogen aufs Fenster gestützt. An einer Seite der Windschutzscheibe klebte ein Bild, ein spitzbübisches Mädchen auf einem Besen, mit einem im Wind wehenden Schwanz, einem spielerisch entblößten Bein und charmanten Grübchen in den rosafarbenen Wangen.

Das Bild hatte Klawdi letztes Jahr an einem Kiosk gekauft. Er hatte es aus einer Unmenge von lachenden Echsen, Krokodilen, Robotern, nackten Feen und bärtigen Magiern ausgewählt. Und er war der einzige erwachsene Kunde gewesen, alle anderen waren Kinder.

Kurz riss er den Blick von der leeren Straße, um das eigene Spiegelbild in der Scheibe zu betrachten. Verschwommen und bleich, wie ein Gespenst, mit einem unangenehmen Lächeln um die dünnen Lippen. Vorurteile …

Wer, wenn nicht er, verstand etwas über das verknäulte Netz von Vorurteilen, das sich seit Langem über den Hexen zusammenzog. Wer, wenn nicht er, vermochte die mächtigen Wurzeln all dieser diffusen Ängste auszumachen. Wenn Julian Mytez das über Hexen gewusst hätte, was dem Großinquisitor im Zuge seines Berufs bekannt geworden war, hätte er Ywha kurzerhand auf der Wiese vor seinem Haus verbrannt. In dem Lagerfeuer bei ihrem Picknick …

Und trotzdem: Worum handelte es sich bei dieser Kette von Ereignissen, die sich da in seinem Gedächtnis wand und sich zwar nicht an der Oberfläche zeigen, aber auch nicht vergessen werden wollte? Woher speiste sich dieses Gefühl einer drohenden Gefahr, diese Ahnung eines nahenden Unglücks?

Selbstverständlich hätte er das Mädchen eigentlich nicht gehen lassen dürfen. Es war ihm jedoch schlicht zuwider gewesen, es vor diesen beiden Romantikern, Mytez senior und junior, zu einer beispiellosen Szene der Gewalt kommen zu lassen. Und es wäre ihm auch peinlich gewesen, den alten Freund mitansehen zu lassen, mit welch professionellem Geschick er Druck auf jemanden ausüben konnte. In diesem Fall auf eine junge Frau, die für die beiden keine Fremde war, die ihnen ans Herz gewachsen und zu einer der Ihren geworden war.

Voller Schmerz verzog er das Gesicht, als er sich daran erinnerte, wie Nasar geweint hatte, in einer Ecke kauernd, untröstlich und kindlich. Wie unangemessen sich die kläglichen Versuche seines Vortrags zu dem Thema »Eine Hexe ist auch ein Mensch« ausgenommen hatten.

Julian nahm ihm die Sache ganz ohne Frage übel. Und hatte er nicht auch wirklich das Recht, von seinem Freund in einer schweren Stunde Hilfe zu erwarten — statt dieser banalen Erläuterungen? Tatsächlich hätte er, Klawdi, Hilfe leisten können, indem er Nasar einige Fälle aus der Praxis geschildert hätte, damit dieser, der gestern noch so verliebt gewesen war, sich wieder zu ihnen ans Lagerfeuer hätte gesellen können.

Die Straße machte eine Kurve. Klawdi bremste ab. Am Rand parkte ein Wagen der Tschugeister, ein helles Auto mit einem gelb-grünen Blinklicht auf dem Dach.

Er drückte die zu Ende gerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und vertrieb den angewiderten Ausdruck, der sich unwillkürlich auf sein Gesicht geschlichen hatte. Zwei kräftige Männer stopften etwas in einen Plastiksack, das noch vor Kurzem eine Njawka gewesen war. Ein dritter stand an der Straße und rauchte ebenfalls. Der grüne Graf interessierte ihn nicht mehr als ein sich rasch auflösender Nebel.

Klawdi unterdrückte den Wunsch anzuhalten. Schließlich mischte sich der Tschugeister-Dienst ja auch nicht in die Belange der Inquisition ein. Wer auch immer die Unglückselige gewesen sein mochte, deren Überreste nun in dem Beutel landeten, davor war sie jedenfalls eine Njawka gewesen, eine wandelnde Leiche, ein Wesen, das den Tod brachte.

Etwas schüttelte ihn. Der Wagen mit dem Blinklicht und die Menschen am Straßenrand lagen bereits weit hinter ihm, er rauchte eine Zigarette nach der anderen und tastete im Handschuhfach nach einer neuen Schachtel, die er vor sich selbst versteckt hatte.


(Djunka. Juni)

»Willst du wissen, auf wen die Ameise zukrabbelt? Die krabbelt auf dich zu.«

Der Sand hatte eine seltsame Farbe. Grellgelbe Flecken wechselten mit hellgrauen, eine feste Kruste, die noch von dem gestrigen Regenschauer zeugte, knackte erwartungsgemäß unter den nackten Füßen, und in diesen Mulden ihrer Fußspuren hielten die Ameisen Hof, friedliche, schwarze Tiere, die nicht bissen.

»Wollen wir zum anderen Ufer rüberschwimmen?« Djunka lächelte.

All das musste schon einmal jemand erlebt haben. Der warme Sand gab in allzu vertrauter Weise unter den Füßen nach. Es roch nach Wasser und nach Weiden.

»Hier ist es doch schön«, antwortete er verblüfft. »Oder nicht?«

(Seine berühmte Intuition schwieg, als sei sie taubstumm.)

Djunka steckte sich die Haare hoch. Er staunte jedes Mal, wie sie so klar artikulieren konnte, während sie ein halbes Dutzend Spangen im Mund hielt.

»Was ist jetzt? Wollen wir rüber oder nicht?«

Am anderen Ufer standen Kiefern. Fünf hohe Bäume, die es aus unerfindlichen Gründen in das Reich der Weiden verschlagen hatte. Über den nadelbedeckten Sand rannte ein großes Eichhörnchen.

»Du weißt doch, was für einen Schwimmer ich abgebe.« Gedankenversunken rieb er sich die Nasenspitze.

Djunka klimperte mit den Augen. Ihren Klassenkameraden gegenüber verhielt sie sich ganz ungezwungen, aber bei Klaw versetzte sie jedes missverstandene Wort in Panik. Diesmal hatte sie offenbar seine Eitelkeit angekratzt, denn bis zum anderen Ufer würde er es in der Tat nicht schaffen.

»Gut, dann nehmen wir das Boot …«

Das sogenannte Boot gehörte drei jungen Männern, die auf drei abgenutzten Strandmatten lagen und auch die Besitzer der drei Motorräder im Hintergrund waren. Sie tranken Limonade und verschoben träge irgendwelche Spielsteine. Unmittelbar am Wasser lag ein riesiger Schlauch von einem LKW-Reifen, der teilweise schon trocken und so grau wie Asphalt, teilweise aber noch nass und schwarz wie eine Robbe im Zoo war. Klaw zog die Brauen hoch. Sein gesunder und nüchterner Menschenverstand verbot es ihm, diese drei Kerle um etwas zu bitten.

Aber Djunka stapfte bereits los, wanderte direkt zu den dreien hinüber. Eifersüchtig registrierte Klaw, wie sich drei trübe Augenpaare von den Spielsteinen losrissen und wie in ihnen, in diesen Blicken, ein Feuer aufloderte, das Klaw förmlich herausforderte. Djunka ging jedoch unbeirrt weiter, in ihrem schlangenfarbenen Badeanzug, während sie diese dämliche hochaufragende Frisur wie eine Kanne auf dem Kopf balancierte.

Klaw verkrampfte sich. Ein Spaß war ja gut und schön, aber wenn sich diese Kerle das herausnehmen sollten … oder etwas, das Klaw dafür hielt …

Doch nein, das taten sie nicht. Nicht bei Djunka. Sie verhandelte bereits mit ihnen, zeigte auf das Boot. In ihrer Stimme lag weder Verlegenheit noch Provokation, weder aufgesetzte Lockerheit noch Angst. Djunka verstand es, für alle und jeden den richtigen Ton zu finden, für das Schaf in der Koppel genauso wie für den Wolf im Wald oder den Direktor ihrer Schule, Herrn Fedul. Und allem Anschein nach bereitete ihr keine der Situationen auch nur die geringste Mühe.

Schwerer fiel es ihr, mit Klaw eine gemeinsame Sprache zu finden. Sie hatte eine panische Angst davor, ihn zu verletzen. Nie wollte es ihr gelingen, ihre Zuneigung auch nur ansatzweise zu verbergen — und das stellte ihre Achillesferse dar. Das schwächte sie, denn eine Frau sollte nicht zu leicht zu erobern sein.

Sobald der Schlauch auf dem Wasser schaukelte, verlor er seine graue Farbe. Nun glänzte er so schwarz wie ein Meeresungeheuer.

»Herr Starsh wird aufgefordert, sich an Deck zu begeben! Herr Starsh, sämtliche Ratten haben das Schiff bereits verlassen, Sie können die Kapitänsbrücke also getrost betreten! Hey, Herr Starsh, wenn Sie noch eine Sekunde länger zögern, probt die Mannschaft den Aufstand! Hey, Klaw, hiss das Segel, bring mir eine Buddel Rum und pack das Gold in unsere Truhen. Yohoho, hol den Anker ein!«

Da er Angst vorm Wasser hatte, klammerte er sich schon an den Schlauch, selbst als seine Füße noch Halt am Grund fanden. Das Wasser spritzte auf, denn Djunka schlug mit den Armen, sie zerhackte die Sonnenreflexe, tauchte ins Wasser und funkelte mit dem schlangenfarbenen Badeanzug. Klaw stockte der Atem. Djunka bezeichnete sich gern als Seeschlange. Bislang war Klaw jedoch nicht klar gewesen, welch erotische Anziehungskraft diese Schlangen besaßen.

Er kniff die Augen zusammen. Jäh ging ihm auf, dass er glücklich war, dass er den Augenblick eines außerordentlichen Glücks genoss, den er aber nicht festhalten konnte, sondern an den er sich nur lange, lange Jahre würde erinnern können.

Djunka spürte seine Stimmung. Sie hörte auf zu toben und stieß den Reifen konzentriert vom Ufer weg, näher an die Schilfwand heran, wo in einem löchrigen Kahn ein älterer Angler pittoresk schlummerte.

»Weißt du was, Klaw?«

Ihre Stimme klang ein wenig heiser. Das mochte vom kühlen Wasser herrühren oder von ihrem piratenhaften Gehabe.

»Weißt du was, Klaw … Warum heiraten wir nicht? Schon morgen könnten wir uns trauen lassen. Was meinst du, Klaw, was das für ein Spaß wäre!«

»Morgen«, erwiderte er mit lehrerhaft erhobenem Finger, »habe ich eine Prüfung. In Weltgeschichte.«

»Und übermorgen bin ich dran«, meinte Djunka enttäuscht. »Wann wollen wir dann heiraten? Na, sag schon!«

Verstört bemerkte Klaw, dass er nicht wusste, ob sich Djunka einen Scherz erlaubte oder nicht. Oder scherzte sie nur zum Teil? Vielleicht zu sechzig Prozent?

Er schüttelte den Kopf. Diese dämlichen Prüfungen raubten ihm noch den Verstand. Selbst die simpelsten Gedanken rechnete er bereits in Prozent um.

»Und dann gehen wir auf Hochzeitsreise«, sagte Djunka verträumt. »Fahren ins Ausland, in ferne Länder, ans Meer, zu den alten Schlössern …«

Das in dem Reifen eingeschlossene Wasser plätscherte leise. Durch das so entstandene runde, schwarze Fenster glaubte Klaw bis zum Grund, bis auf jenes grüne Geflecht mit den kahlen Stellen aus hellem Sand hinunterspähen zu können. Djunkas lange Beine blitzten hier und da auf, weiß wie eine Süßkirsche.

»Hey, das ist ja ein echtes Bullauge«, begeisterte er sich. Djunka lächelte.

Im nächsten Augenblick tauchte sie unter. Wie eine Seeschlange glitt sie durchs Wasser. Ihre Beine verschwanden aus dem Blickfeld des runden Fensterchens, und der Reifen schwankte. Plötzlich sah Klaw Djunkas Gesicht.

Unter Wasser schaute sie ihn durch das Bullauge an. Klaw verschlug es den Atem. Die Unterwasser-Djunka lächelte ihm mit geschlossenem Mund zu, als sei sie ein Bild in einem alten Rahmen und betrachte ihn aus der Tiefe eines Spiegels heraus. Wie schaffte sie es nur, die Luft derart lange anzuhalten?

Das Schilf knackte. So wie sich ein Eisbrecher seinen Weg durchs Eis bahnte, pflügte der Autoreifen die Rohre nieder. Das Geräusch weckte den Angler.

Djunkas Lippen waren fischkalt. Zu lange war sie unter Wasser geblieben. Klaw dagegen schien sich den weißen Rücken verbrannt zu haben. Morgen, bei der Prüfung, würde ihn sicher ein Fieber schütteln. Egal.

Er hatte beschlossen, nicht mehr mit ihr über die Heirat zu sprechen. Für ihn war die Sache klar, aber diese Entscheidung sollte vorerst ruhig noch sein Geheimnis bleiben. Sonst würde sie vermutlich an nichts anderes mehr denken können und durch ihre Prüfung rasseln. Außerdem würde sie ihm die ganze Zeit mit der Genehmigung für die Hochzeit in den Ohren liegen. Aus irgendeinem Grund hielt man eine Siebzehnjährige für reif genug, diesen Schritt zu tun, während ein junger Mann, der ein Jahr weniger auf dem Buckel hatte … Egal. Er fühlte sich nicht mehr wie ein Teenager. Seit Langem hielt er sich in jeder Hinsicht für einen erwachsenen Mann.

Die drei am Strand machten sich allmählich Sorgen, natürlich ausschließlich um ihren Schlauch. Klaw rechnete schon mit Vorwürfen, aber ein Lächeln von Djunka genügte, um ihn jede Schimpftirade ertragen zu lassen. Die Weiden raschelten, der Wind hatte den Sand in die Sandalen geweht, die unter einem Strauch lagen.

»Wie schön es hier ist«, flüsterte Djunka. »So schön, dass es fast ein bisschen schrecklich ist. Oder nicht, Klaw?«

(Seine Intuition schwieg nach wie vor.)

»Du bist mir eine! Normalerweise bekommen es die Menschen mit der Angst zu tun, wenn etwas nicht schön ist.«

»Übermorgen findet meine Prüfung statt, und ich habe noch keinen blassen Schimmer von …«

»Meine ist morgen. Und mir geht es so ähnlich.«

»Lüg mich nicht an. Du weißt immer alles.«

»Du bist eine Süßholzrasplerin. Eine Schmeichelzunge …«

»Nenn mich nicht so!«

»Doch! Du schmierst mir Honig ums Maul, drischst Komplimente … Ich habe bisher keinen einzigen Blick ins Lehrbuch geworfen.«

»Hindert dich vielleicht jemand, es zu lesen?«

»Du!«

Kreischend sprangen ein paar nackte, braun gebrannte Jungen im Wasser herum. Der heiße Wind trieb den Sand auf die vergilbten Seiten des alten Lehrbuchs, das von Verrat und Kriegen berichtete. Djunka langweilte sich.

»Hör mal, Klaw, ich schwimme noch eine Runde, während du lernst.«

»Ist es nicht zu kalt?«

»Pah!«

Er sah ihr nach, wie sie zum Wasser hinunterging. In der Sonne funkelte der schlangenfarbene Badeanzug, die träge Flusswelle wich zur Seite, um dem geschmeidigen Körper Platz zu machen.

Ihm standen noch drei lange Kapitel bevor, Arbeit für eine Stunde.


Erst als der Schatten der kleinen Weide an sein Buch herankroch, tauchte er wieder aus seiner Lektüre auf. Beinahe schlaftrunken schüttelte er den Kopf, um die Benommenheit zu vertreiben. Richtig festgelesen hatte er sich, noch dazu in dieser Hitze.

Der Strand hatte sich inzwischen geleert. Die Jungs waren verschwunden, die Datschenbesucher wollten gerade nach Hause zurückkehren, der Angler marschierte mit einigen kleinen Brassen in einem Drahtnetz vorbei. Auf den Sohlen von Djunkas Sandalen häufte sich Sand. Wie Scherben in alten Amphoren …

Die drei, die ihnen das Schlauchboot geliehen hatten, pressten gerade konzentriert die Luft aus diesem heraus, indem sie sich nacheinander auf das immer schmaler werdende schwarze Gebilde legten.

Die Schmerzen in den verspannten Muskeln ignorierend, erhob sich Klaw.

Der Sand hatte die Farbe gewechselt. Das Wasser ebenfalls. Am anderen Ufer spielten ein paar Leute zwischen den Kiefern Volleyball.

Verärgert biss sich Klaw auf die Lippe. Wie zu erwarten, war Djunka zum anderen Ufer geschwommen, nachdem sie ihren schwächlichen Freund in Gesellschaft seines Lehrbuchs zurückgelassen hatte. Und es wäre ja in der Tat seltsam gewesen, wenn der Anblick der Volleyballspieler sie nicht angelockt hätte. Schon die ihr eigene übermäßige Geselligkeit musste sie zu ihnen getrieben haben.

Er schlenderte zum Wasser hinunter. Die Augen mit der Hand abschirmend, schaute er zu den Volleyballern hinüber. Ein oder zwei Mal glaubte er, einen schlangenfarbenen Badeanzug dazwischen auszumachen. Aber die Spieler, darunter auch ein paar junge Frauen, trugen Jeans und T-Shirt, einzig eine magere Frau in mittleren Jahren sprang im Bikini herum.

Klaw wurde wütend. Er kehrte zur Strandmatte zurück, hockte sich hin und schnappte sich sein Buch. Das Lesen wollte ihm jedoch nicht glücken.

»Lass dich nicht unterkriegen.«

Neben ihm stand ein junger Mann, einer der Besitzer des Autoreifens. Seine Freunde beluden in aller Ruhe ihre Motorräder.

»Lass dich nicht unterkriegen. Du weißt doch, wie die Frauen sind. Wenn du einmal nicht nach ihrer Pfeife tanzt, spielen sie prompt die beleidigte Leberwurst.«

»Aber wir haben uns gar nicht gestritten«, bemerkte Klaw, selbst verblüfft darüber, dass er sich überhaupt auf ein Gespräch mit diesem aufdringlichen Kerl einließ.

»Eine Klassefrau«, erklärte der Typ völlig aufrichtig und ohne jede Geringschätzung. »Meine Freundin ist auch nicht schlecht, aber deine … echt stark …«

Zehn Minuten später heulten die Motorräder auf. Die noch anwesenden Datschenbesucher blickten ihnen verdrossen nach. Klaw tigerte am Wasser auf und ab.

Warum tat sie ihm das an? Wusste sie denn nicht, was für Sorgen er sich machte? Jetzt war es schon bald sieben Uhr. Ausgerechnet heute Morgen war er versehentlich auf seine Uhr getreten, die seitdem stand.

Still steht die Uhr, stumm,

Schon stirbt mein Name, verlischt.

Golden schimmert eine Blume in der Welt aus Stahl,

Tönern schlägt die Stunde und stumm steht die Uhr.

Die prätentiösen Zeilen ließen ein beklommenes Gefühl in ihm aufsteigen. Er konnte sich nicht erinnern, wo er sie überhaupt gelesen hatte. In einer Zeitschrift? In einem Buch? Oder hatte Djunka sie ihm vorgetragen? Sie hatte diese Angewohnheit, mit geheimnisvoller Miene Vierzeiler vorzulesen und mit großen Augen auf Klaws Reaktion zu lauern.

Die Volleyballspieler am anderen Ufer verschwanden hinter den Kiefern. Als Letzte brach die halbnackte, dünne Frau auf. Der Ball in ihren Händen sprang auf und ab, als lebe er.


Als die Dämmerung hereinbrach, beschloss er endlich, den leeren Strand zu verlassen. Djunkas Kleidung ließ er zurück. Sie mitzunehmen hieße, daran zu glauben.

Djunka wird schon noch kommen, redete sich Klaw immer wieder ein. Djunka wird kommen — und dann fände sie ihre Sachen nicht. Sie konnte doch nicht im Badeanzug nach Hause gehen, oder? Schließlich war die Nacht kühl.

Er trabte im gemäßigten Tempo dahin, und als er dennoch außer Puste geriet, wechselte er in Schrittgeschwindigkeit. Nur kurz anrufen würde er und dann gleich zurückkommen. Djunka würde sich die Haare auswringen und ihn aufgebracht anfahren: Warum hast du nicht auf mich gewartet?


Das Polizeirevier war verraucht. Graublauer Qualm hing über den Holztischen, über den Schränken und Bänken, über der leeren, einsamen Zelle in der Ecke, eingerichtet für alle diejenigen, die sich etwas hatten zuschulden kommen lassen.

»Wiederhol den Namen, vollständig.«

»Dokija Sterch … Siebzehn Jahre.«

»Und ihr habt euch wirklich nicht gestritten?«

»Nein. Sie … sie hätte so etwas nie gemacht. Sie …«

»Beruhige dich.«

Er schloss die Augen. Zum x-ten Male: Beruhige dich. Hier waren alle ruhig, hier heulten jede Nacht Leute, während andere lautstark fluchten, hier roch es sogar durch den Rauch hindurch nach Eisen und Schweiß, hier war es unerträglich stickig.

»Wyshnaer Schule Nr. 3 … Wohnheim. Zimmer 74 …«

Es läutete. Noch einmal. Durch die Scheibe war kein Ton zu hören. Eifrig bewegten sich Lippen.

»Was hatte sie an?«

»Hä?«

»Was hatte sie an?«

Djunkas Sandalen lagen da, unter einer Schicht Sand begraben. Sorglos hatte sie die Shorts auf die Strandmatte geworfen …

»Beruhige dich, mein Junge. Wird schon nichts passiert sein. Morgen früh ist sie wieder da.«

Und dann brach der Morgen an.

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