Spät nachts durchbrach ihr Planwagen die Absperrung. Die Panik, das weiße Licht der Scheinwerfer und das Rattern der Maschinengewehre ließen sie rasch hinter sich. Von einer unsichtbaren Kraft beschirmt, raste der Wagen über die tischdeckenglatte Straße; die Plane hatte fünf runde Einschusslöcher davongetragen, mehr nicht. Allerdings hatte es einen Augenblick lang so ausgesehen, als seien alle tot, erschossen und tot …
Die Frauen hockten am Boden des Lasters, Rücken und Schultern aneinandergepresst. Sie hatten Angst.
Mehrmals traf der Wagen unterwegs auf Patrouillen. Die unbekannte Kraft schützte den Planwagen und seine Passagiere jedoch nach wie vor, weshalb das Auto seinen Weg fortsetzen und in einen holprigen, aufgerissenen Pfad einbiegen konnte, wo die Frauen im Wagen einander und ihr Gepäck festhalten mussten.
Irgendwann endete die schmerzliche Fahrt. Zweige kratzten über die Plane; ein Eisentor quietschte, erst einmal, dann noch einmal, als es wieder geschlossen wurde. Die Frauen wechselten Blicke — konnten sich in der Dunkelheit aber nicht erkennen.
»Ihr dürft jetzt aussteigen!«
Von draußen lockte nichts außer Regen und Finsternis. Und eine einzelne Taschenlampe, die jemand in Händen hielt.
»Das hier ist die Endstation, Schwestern! Der Weg eurer Qualen ist zu unserer Freude nun zu Ende.«
Die Frauen kletterten schweigend aus dem Wagen, nach den Eisenstufen tastend, von denen aus sie in den Dreck sprangen. Diejenige, die sie begrüßt hatte, hielt die Tür zu einem niedrigen Raum auf, der zur Hälfte eingekellert war. »Stärkt euch und wartet ab. Geduld, Schwestern. Habt keine Angst, ihr seid bereits am Ziel.«
Ein Eisenofen funkelte rot; drei von den vier gerade erst eingetroffenen Frauen kannten ein solches Stück nur von Bildern. Auf dem Tisch in der Ecke standen eine riesige Terrine, aus der ein Löffel herauslugte, und ein Turm aus Blechtellern. Eine nackte Glühbirne unter der Decke zwang die an die Dunkelheit gewöhnten Augen zum Blinzeln. In diesem äußerst schlichten und insofern offenen Licht nahmen die Frauen aus dem Laster endlich Gestalt an.
Vermutlich wären sie sich in dem Leben, wie sie es bisher geführt hatten, nie begegnet. Eine Dame in mittleren Jahren, bei Weitem nicht arm, mit dauergewelltem und vor einem Monat gefärbtem Haar, die eine schlammbespritzte Lederjacke trug und einen bauchigen karierten Koffer in der feingliedrigen Hand hielt. Eine Schülerin im ausgeleierten Jogginganzug, mit vor Müdigkeit roten, bösen Augen und einem grünen Wanderrucksack voller rotzfrecher Stickers. Eine spitzgesichtige Frau in einem altmodischen Kleid, mit rauen, dunklen, fast männlichen Händen. Und noch eine, jung, todmüde, rothaarig.
Eine Zeit lang standen alle vier hilflos mitten in dem kleinen Raum, beäugten mal den Ofen, mal die verschlossene Tür, mal das durchgesessene Sofa an der gegenüberliegenden Wand. Irgendwann ging die Dame mit dem Koffer zum Sofa, wählte einen Platz möglichst nahe am Ofen, setzte sich vorsichtig und streckte die Beine in den schmutzigen Designerschuhen aus.
Die Schülerin schluchzte. Sie stellte ihren Rucksack an der Wand ab, ließ sich auf ihn nieder und zog die Knie zum Kinn, was sie wie ein trauriges, zartes Vögelchen aussehen ließ.
Ywha hätte sich am liebsten hingelegt. Doch der Boden war kalt und ungemütlich, und auf dem Sofa gab es nicht genügend Platz. So kauerte sie sich am äußersten Sofarand hin, damit noch Platz für die alte Frau blieb. Die machte jedoch keine Anstalten, sich hinzusetzen, sondern trat an den Tisch heran, füllte sich mit gemessenen Gesten dampfende Brühe in einen Blechteller, roch daran, nickte zufrieden, zog einen Aluminiumlöffel aus ihrem Bündel und fing an, die Suppe mit Kennermiene zu löffeln.
Ywha fröstelte.
Sie hatten sie in der Dämmerung aufgelesen, nachdem bereits zwei Panikattacken hinter ihr lagen. Die Stadt war voll von Inquisitoren gewesen. Mit jeder Zelle hatte Ywha ihre Nähe gespürt, mit jedem Zentimeter ihrer geplagten, dünnen Haut. Menschen waren geflohen, zu Fuß und im Auto, die Kinder auf den Schultern, mit Koffern und Rucksäcken; sie hatten ohnehin schon volle Autos angehalten und sich in Busse gezwängt. Im Zentrum Wyshnas, das seit vielen Jahren keine Laster mehr gesehen hatte, hatten sich die LKWs wie in einem Fabrikviertel gestaut. Auf offenen Lastern hatten in Zeitungen eingewickelte Tisch- und Stuhlbeine flehentlich gen Himmel aufgeragt. Und überall hatte die Inquisition Stellung bezogen.
Nicht einmal in die Nähe des Bahnhofs war Ywha gekommen; dasselbe galt für den Busbahnhof. Sehr schnell hatte sie begriffen, dass ein Inquisitor, wenn sie ihn witterte, sie im nächsten Moment ebenfalls witterte. Bisher hatte die Menge sie gerettet; Ywha hatte sich einfach unter die zahllosen fiebrigen, verängstigten und bedrückten Menschen gemischt. In Straßen, in denen auf einen Inquisitor tausend Flüchtlinge kamen, war sie vor Entdeckung sicher. Schon bald hatte sie eine Patrouille von Weitem auszumachen vermocht, worauf sie jedes Mal in die entgegengesetzte Richtung davongestürzt war. Lange hatte sie Glück gehabt. Dann hatte sich allerdings der Abend herabgesenkt, und mit ihm war die Sperrstunde gekommen. Immer mehr Patrouillen waren unterwegs gewesen, immer weniger Verstecke waren ihr geblieben. Tordurchgänge hatten sich als zu unsicher herausgestellt, Haustüren waren mit Zahlenschlössern verschanzt, als wollten sie nach gemeinsamer Absprache Obdachlose daran hindern, es sich auf den warmen Dachböden gemütlich zu machen. Abgesehen davon: Was hätte ihr so ein Dachboden schon genützt? Ein guter Inquisitor witterte eine Hexe aus einer Entfernung von zahlreichen Metern und durch Ziegelmauern hindurch. Um einer Verhaftung zu entgehen, musste sie in Bewegung bleiben, durfte nicht stehen bleiben.
Und sie war in Bewegung geblieben.
Vermutlich war es einfach ihr Schicksal, an diesem Abend in die Falle zu gehen. Ein Auto der Inquisition, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war, hatte scharf gebremst, sich quer gestellt, ihr damit den Fluchtweg in die leere Straße versperrt und sie gegen die Wand gedrängt; Ywha hatte einen strikten Befehl gespürt: Bleib stehen. Paralysiert durch diesen Befehl, ausgeschaltet und hilflos, hatte sie im letzten Moment den Geschmack von Eisen in ihrem Mund gehabt.
Vielleicht rührte der von ihrem Blut her. Vielleicht schmeckte so auch ihre Angst. Jedenfalls war es ihr vorgekommen, als zerbeiße sie mit weißen Fuchszähnen das verrostete, unsagbar schwere Schloss ihrer Käfigtür — die gerade eben zugefallen war.
Da hatte sie sich losgerissen. Die ersten Meter hatte sie auf allen vieren kriechen müssen, weil ihre Beine, noch durch den Befehl gefesselt, ihr den Dienst verweigert hatten. Der Schmerz in den aufgeschürften Händen hatte sie jedoch rasch der Erstarrung entrissen, sie angepeitscht. Ein unbändiger Wunsch nach Freiheit hatte sie aufschreien lassen; Ywha hatte den fremden Willen, der sie gefangen hielt, durchbrochen und mit mahlenden Kiefern einzig den Befehlen ihres blutigen fuchsroten Fells gehorcht.
Eine halbe Stunde später, als sich die Dunkelheit weiter verdichtet hatte und Ywha völlig ausgelaugt war, hatte sie in einem alten Hof im trockenen Becken eines Brunnens Schutz gesucht. Jäh war die seltsame Stille dieser Nacht mit ihrem feinen Herbstregen vom Quietschen eines Wagens zerrissen worden. Eines Wagens voll von heißen Sandwiches. Das Mädchen mit der ausgelassenen Jacke, das sich überhaupt nicht verändert hatte, war kurz vor ihr stehen geblieben und hatte klimpernde gelbe Münzen aus ihrer Tasche gekramt, um sie konzentriert in die kleine Kinderhand zu zählen …
Ywha erschauderte.
Die Alte, die Suppe aus dem Blechnapf löffelte, war endlich fertig. Penibel wischte sie den Boden mit einem Brotstück aus, leckte den Löffel sorgsam ab und steckte ihn in ihr Bündel zurück. Als sie ihre Gefährtinnen abschätzend musterte, wandte sich Ywha ab.
Sie hatte Angst gehabt. Dort, am Brunnen, hatte sie vor allem Angst empfunden, hatte gefürchtet, sie werde zurückgewiesen. Noch mehr Angst hatte sie allerdings davor, aufgenommen zu werden. Und reine Panik hatte in ihr der Gedanke hervorgerufen, sie könne für ihren Verrat bestraft werden.
Die Hexen hatten sie akzeptiert. Niemand hatte ihr die Zusammenarbeit mit der Inquisition vorgeworfen. Mit keinem Wort hatte man ihr zu verstehen gegeben, dass man Bescheid wusste. Dafür war ihnen Ywha schon dankbar.
Jemand schluchzte. Ywha hob den Kopf. Das Mädchen mit dem Jogginganzug, das an der Wand saß, weinte lautlos und wischte die Tränen mit den Fäusten weg.
»Was hast du?«, fragte die Alte heiser.
»Ich will … zu meiner Mama …«, jammerte das Mädchen, das Gesicht zwischen den Knien verborgen.
»Beruhige dich«, ließ sich die Frau in der Lederjacke vernehmen. »Reiß dich noch ein bisschen zusammen, schon bald wirst du nicht mehr zu ihr wollen.«
Das Mädchen schniefte ein letztes Mal — und erstarrte, um die Frau mit großen, feuchten Augen anzugucken.
»Stimmt«, bestätigte die Alte müde. »Wär aber schön zu wissen, was man dann will.«
Lautlos öffnete sich die Eingangstür. Alle drehten sich zugleich um. Das Mädchen presste die Hände vor den Mund.
Eine Frau in mittleren Jahren trat ein. Glattes, schwarzes Haar fiel ihr locker über die Schultern. Sie trug ein bodenlanges, weites Kleid, das nicht gegürtet war.
»Kommt mit, Schwestern! Ich frage euch zum letzten Mal: Möchte eine von euch nicht mitkommen?«
Ywhas Magen zog sich zusammen. Die Frau sah sie zwar nicht an, doch Ywha hatte den Eindruck, die Frage habe einen doppelten Boden, einen gewissen Hintersinn. Einige Minuten verstrichen in Schweigen; während der gesamten Zeit schlitterten Ywhas Gedanken über die Oberfläche sinnloser Erinnerungen, obwohl sie versuchte, sich an das Wesentliche zu klammern. Vergeblich. Sie stand an einer Schwelle, an einem Abgrund, und sie würde nie wieder die Zeit finden, sich an etwas Schönes zu erinnern, weshalb sie sich wenigstens jetzt ein letztes Mal überhaupt an etwas erinnern sollte.
Der Tee, der in der Tasse erkaltete. Die weißen Gänse. Ein Lagerfeuer mitten im Schnee, ein orangefarbener Schal, ein zerknickter Kirschzweig, Teer, ein kaum wahrnehmbarer Geruch.
Schluss.
Die Frau neigte den schweren Kopf. »Gehen wir, Schwestern. Vergesst euern Kummer. Eure ungeborene Mutter wartet auf euch.«
Wenn bloß nie jemand erfuhr, was ihn dieser Gleichmut kostete!
Er fing die Blicke auf. Mit dem Nacken, dem Rücken. Alle, die sich hier versammelt hatten, wussten, dass der Großinquisitor höchstpersönlich eine Hexe hatte laufen lassen. Dass er gegen das ungeschriebene Gesetz verstoßen hatte, indem er seinen Erzfeind an der eigenen Brust genährt und sich anschließend mit der Bereitwilligkeit eines alten Dorftrottels um den Finger hatte wickeln lassen. Alle wussten das, schwiegen jedoch und wichen seinem Blick aus. Sie warteten auf einen Schritt. Von ihm.
Schweigend nahm er auf seinem Stuhl Platz. Er bedachte sie mit einem strengen, bohrenden, hasserfüllten Blick.
Die Mundwinkel von War Tanas, Kurator aus Rydna und sein ewiger Widersacher, umspielte ein galliges Lächeln.
Der nervöse Mawyn, Kurator aus Odnyza, angepasst und wetterwendisch, wusste nicht, wohin er blicken sollte. Insgeheim kalkulierte er den Schaden und fragte sich, ob es nicht an der Zeit wäre, ins Lager der Opposition überzuwechseln.
Foma aus Altyza. Ein Mann mit immensen Ausmaßen, der zwei Stühle auf einmal brauchte. Ein schlaffer Körper, in Verbindung mit einem beweglichen und schwertscharfen Verstand. Der zum Sprung ansetzte und weder Angst noch Gnade kannte.
Der bleiche Kurator aus Korda, der jede Orientierung verloren hatte und mit kraftlos herabhängenden Armen dem Überfall der Hexen zusah. Neben ihm saß Juryz, Kurator aus dem Kreis Rjanka und vor anderthalb Monaten von Starsh persönlich ernannt. Ein trauriger Mann, dem Untergang preisgegeben.
Antor, Kurator aus Egre. In seinen Augen lag offener Tadel: Ach Starsh, da habe ich dir immer ehrlich und treu gedient. Warum musstest du mich auf diese Weise verraten?
Der Kurator aus dem Kreis Bernst, die »eiserne Schlange«, äußerlich entrückt, mit gleichgültigen, unergründlichen Augen. Starshs moralische Bedenken waren ihm fremd. Wenn es nach ihm ginge, durften alle Hexen unterdrückt, eingesperrt, vernichtet und mit Stumpf und Stiel ausgerottet werden.
Da saßen sie also alle, einträchtig versammelt, um über ihn das Urteil zu fällen. Hier im Palast der Inquisition, im sterbenden Wyshna. Sterbend, denn aus der städtischen Kanalisation quoll bereits der Unrat nach oben und überflutete die unteren Stockwerke der Häuser. Ohne ersichtlichen Grund gingen Bauwerke in Flammen auf und stürzten ein, explodierten Autos; über das Zeichen des Hundes, das an allen Kreuzungen aufgestellt worden war, hatten die furchtlosen Hände von Verrätern den »Hexenkreis« gemalt. Die Bewohner, die nicht imstande gewesen waren, die Stadt zu verlassen, oder dies zuvor nicht geschafft hatten, strömten nun scharenweise zum Stadtrand; unter ihren Füßen riss der Asphalt auf und entblößte schamlos die Kabel und Leitungen, die Abflussrohre und die Metrotunnel. Die Gardeeinheiten, die vor einer Woche nach Wyshna verlegt worden waren, schlugen ihre Lager mitten auf den einst belebten Plätzen auf und trauten sich nicht näher an die Gebäude heran, da sie fürchteten, unter Trümmern begraben zu werden.
Wer aus den Kreisen kam, wer eine lange und qualvolle Reise durch das verheerte Land hinter sich gebracht hatte, wusste noch weit absonderlichere Dinge zu berichten. So sollte beispielsweise in Odniyza ein gespenstisches, schleimiges Monster aus dem Meer gestiegen sein. In den Weinhängen von Egre würden an den Rebstöcken runde Menschenaugen reifen, während sich auf den Feldern von Rjanka alle einst in der Erde vergrabenen Knochen erhöben und in Altyza die Kühe ausnahmslos tote menschliche Kinder kalbten. Zahllose solcher Geschichten machten die Runde. Nahm es da noch Wunder, dass sich überall auf den Straßen Wahnsinnige herumtrieben, allerorten Njawken auftauchten, aber niemand mehr glücklich darüber war, von den Tschugeistern einmal abgesehen, die auch weiterhin ruhig und konzentriert, als sei nichts geschehen, ihre Arbeit erledigten.
»Zu Beginn unserer Versammlung möchte ich etwas mitteilen, damit ich es nachher nicht vergesse«, erklärte Klawdi mit schiefem Lächeln. »Mein Stellvertreter hat eine Vereinbarung mit der Leitung des Tschugeister-Dienstes getroffen. Ausnahmsweise sollen ihre Leute ihre Tätigkeit auf Hexen ausdehnen. Wann immer und wo immer das möglich ist. Sicher sollte ihre Hilfe nicht überschätzt werden. In unserer Lage jedoch, meine Damen und Herren, sollten wir auch die unbedeutendste Unterstützung nicht ausschlagen. Jetzt bin ich bereit, Sie anzuhören. Jeden Einzelnen von Ihnen, ohne Ausnahme. Nur würde ich Sie bitten, sich kurz zu fassen.«
Unmittelbar an der Tür saß Fedora, den Kopf in die Hand gestützt und hohlwangig. Alles und jeder war ihr gleichgültig. Sie quälte nur eine einzige Frage: Wie konnte Klawdi Starsh, der Großinquisitor von Wyshna, wie nur konnte er, der Mann ihrer Träume, mit dieser jungen Hexe ins Bett steigen?!
Während sich Klawdi den ganzen Schwall der gegen ihn erhobenen Beschuldigungen anhörte, sah er sich jeder Möglichkeit beraubt, Fedora zu erklären, dass er nicht mit der Hexe geschlafen hatte. Er konnte ihr nicht einmal sagen, dass er seit sehr langer Zeit mit keiner Frau mehr geschlafen hatte, eine Enthaltsamkeit, die zwar für die Gesundheit mit Sicherheit schädlich war, dafür aber für die Seele angeblich höchst vorteilhaft sein sollte. Denn er, Klawdi, liebte schon seit langer Zeit niemanden mehr. Sein ganzes Leben lang, sozusagen. Es war eine andauernde, lange und hoffnungslose Enthaltsamkeit.
Fedora vernahm seine Gedanken jedoch nicht. Verhärmt starrte sie auf den Tisch. Schließlich beruhigte sich Klawdi und hakte sie innerlich ab. War es letztlich nicht einerlei, was sie von ihm dachte? Sollte sie ruhig annehmen, er sei mit einer Jüngeren ins Bett gegangen. Das würde es ihr leichter machen. Dann konnte sie das alles besser für sich verarbeiten.
Augenscheinlich bereiteten die versammelten Kuratoren seine Absetzung vor. Die Rollen für dieses Szenario waren schon vorab verteilt worden. Sicher, sie fürchteten einen Krieg gegen die Hexen, drohten diesen doch die Menschen zu verlieren; das hinderte sie jedoch nicht daran, die Stühle neu zu besetzen. Zur Zeit erhob der fette Foma aus Altyza Anspruch auf den Posten des Großinquisitors — besser als alle anderen glaubte er zu wissen, was zu tun war, sobald er erst einmal die noch von seinem Vorgänger gewärmten Zügel der Regierung in Händen hielte.
Klawdi drehte den Kopf ein wenig und schaute zum Fenster hinaus. Auf den Rauch, der durch die Stadt waberte. Wenn sie sie vor der Initiation gefangen nehmen, sinnierte er, besteht noch Hoffnung, sie in den Gefängnissen zu finden. Wenn sie das Ritual jedoch schon durchlaufen hat …
Klawdi erschauderte. Unter großer Anstrengung setzte er sich wieder die Maske des Gleichmuts auf. Alle aktiven Hexen wurden inzwischen schon bei der Verhaftung getötet. Ohne Prozess. Die ersten Körper hatten bereits gebrannt. Und er, Klawdi, saß hier und hörte sich diesen Schwall schlecht bemäntelter Beleidigungen an, während an der rothaarigen Ywha womöglich schon ihre Strafe vollstreckt wurde …
Wie immer, sagte das schwarze Flachrelief auf Djunkas Grabstein, dieses Abbild einer Frau, das sonst wen darstellen konnte: Djunka, Ywha, ja, selbst seine lang verstorbene Mutter. Wie auch immer, egal, denn du nimmst die Menschen an deiner Seite nicht wahr. Du wackelst mit den Ohren, während das Ziel deines Lebens hundserbärmlich um dich herumwuselt und versucht, in dein Blickfeld zu geraten. Immer hast du zu viel zu tun. Mal die Prüfungen in der Schule, mal die neuerliche Ankunft der Mutterhexe … Und wenn es zu spät ist, heulst und jammerst du! Als ob das etwas ändern würde! Immer wirst du dann erst etwas bemerken, wenn es nicht mehr da ist.
Er ließ die krampfhaft geballte Faust auf den Tisch niederkrachen. Der Redner, Foma aus Altyza, schien von der ungehaltenen Geste peinlich berührt. Dieser Dummkopf hielt das für eine Reaktion des Großinquisitors auf eine weitere Anschuldigung! Lächelnd bat Klawdi um Entschuldigung. Ach, mein guter Foma, wenn doch wirklich alles so einfach wäre! Aber wenn du wüsstest, worum es hier wirklich geht …
Was war er nur für ein Narr. Da hatte er einen Schatz gefunden, ihn lange mit sich herumgetragen, zwischen Münzen und Glasperlen versteckt — und am Ende verloren. Aus einem Loch in seiner Tasche war er ihm gefallen, und egal, wie sehr er ihn jetzt suchte, egal, ob er sich in den Hintern biss, er fand ihn nicht wieder.
Wer von den hier Anwesenden wohl von seiner letzten Anordnung wusste? Alle Einsatzkommandos, alle Fahnder und Patrouillen hatten den Befehl erhalten, die festgenommenen rothaarigen Hexen dem Großinquisitor persönlich zu übergeben. Begründung: Die Mutterhexe musste rothaarig sein.
Wie er sich über diesen Schachzug gefreut hatte. Niemand hatte auch nur Verdacht geschöpft. Jetzt schien ihm das Ganze allerdings naiv und sinnlos. Wer würde schon mitten in einem grausamen Krieg eine aktive Hexe in den Inquisitionspalast bringen? Die tötete man besser auf der Stelle. Vor allem, falls es sich um die Mutterhexe handelte. Warum sollte man die noch irgendwo hinschleppen? Die musste man ausschalten, sobald man sie schnappte.
Heute Morgen hatte man eine Hexe gebracht, deren Hände mit Holzblöcken gefesselt waren. Ihre Haare waren gefärbt, rosa und purpurrot. Obwohl ihr Brunnen vergessenswert war, stach sie durch eine kolossale Bösartigkeit hervor. Als dann die Strafe an ihr vollstreckt worden war, hatte sie den Tod aller prophezeit, das Ende der Welt und die Alleinherrschaft der Mutterhexe.
Erst jetzt bemerkte Klawdi die Stille, die im Raum hing. Und zwar schon seit ein paar Minuten. Außerdem ruhten alle Blicke auf ihm. Triumphierende Blicke. Verwirrte. Mitleidige. Fragende Blicke. Anklagende. Nur Wikol aus Bernst sah ihn gelangweilt an.
Was erwarteten sie von ihm? Ach ja, sicher, seinen Rücktritt. Ihrem Szenario zufolge musste er sich jetzt erheben und mit tonloser Stimme die Floskel herunterleiern, mit der er seinen Abschied erklärte. Er musste sein Unvermögen, die Aufgaben des Großinquisitors zukünftig zu erfüllen, eingestehen und als Gründe … Ach was, die Gründe spielten keine Rolle. Da konnte er ruhig das allgemeine Chaos und eine entflohene rothaarige Hexe anführen.
Er erhob sich.
Zum ersten Mal sah ihm auch Fedora in die Augen. Traurig und tadelnd. Wie konntest du nur? Nein, noch viel pathetischer, mit einem provozierenden Unterton: Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?!
»Meine Herrschaften! Ich habe mir Ihre Berichte aufmerksam angehört.«
Ein Flüstern ging durch den Raum. Wenn er die Rücktrittsforderungen als »Berichte« bezeichnete, musste er entweder sturzbetrunken sein — oder ein Ass im Ärmel haben.
»Sämtliche mit der Ankunft der Mutterhexe verbundenen Ereignisse haben letztlich genau diesen Verlauf zu nehmen. Noch kürzlich verständigte ich mich eben darüber mit Seiner Durchlaucht, dem Herzog.«
Die Kuratoren flüsterten abermals miteinander, wechselten hinter dem Rücken eines Dritten Blicke. Was redete Starsh da? Als ob nicht alle wüssten, dass ihn der Herzog nicht ausstehen konnte!
»Seine Durchlaucht hat den von mir vorgestellten Handlungsplan uneingeschränkt gebilligt. Weshalb auch dieses erstaunliche Stück Papier unterzeichnet wurde.«
Mit der Geste eines Zauberers zog er ein Blatt hervor. Eine Kopie. Das Original lag längst sicher im Safe. Womöglich ließe es sich einer der temperamentvollen Herren Kuratoren sonst noch einfallen, ihm eine bühnenreife Szene zu machen und dabei das kostbare Papier zu zerreißen.
»Mit Ihrer Erlaubnis werde ich es jetzt vorlesen. ›Wir, der Herzog der Stadt, Stefanij VII., billigen den Generalplan, wie er Uns vom Herrn Großinquisitor der Stadt Wyshna — Klawdi aus dem Hause Starsh — vorgelegt worden ist, ohne jeden Vorbehalt. Mit eigenhändiger Unterschrift bekräftigen Wir ferner einen Vertrag zur Neubesetzung bestimmter Stellen innerhalb der Inquisition, genauer zur Entbindung des Großinquisitors von seinen Pflichten, sobald dieser die von den Hexen ausgehende Aggression erfolgreich unterbunden hat.‹ Es folgen die Unterschriften. Stefanij VII., Klawdi Starsh. Und das Staatssiegel.«
Er verstummte. Und er sah nicht auf, sondern gab seinen Zuhörern die Gelegenheit, die Kontrolle über sich zurückzugewinnen. Er verzichtete auf das Recht der Sieger, sich an ihrer Erschütterung zu weiden. An ihrer Verwirrung, ihrer hilflosen Empörung, ihrer Schwäche und Angst.
Zu allen Zeiten hatte die Regierung versucht, sich die Inquisition Untertan zu machen. Und die Großinquisitoren hatten sich diesem Wunsch zu allen Zeiten widersetzt. Klawdi Starsh hatte nun eins draufgesetzt und die Regierung zu seinem Handlanger gemacht.
Damit hatte er sich allerdings auch selbst die Pistole auf die Brust gesetzt. Entweder er gewann — oder er wurde vor Gericht gestellt. Entweder er besiegte die Mutterhexe oder …
Er blickte auf.
Foma aus Altyza leuchtete violett. Sein Gesicht hatte eine derart ungesunde Farbe angenommen, dass Klawdi sich fragte, ob ihn der Schlag getroffen hatte. Menschen mit seiner Konstitution sind ungemein anfällig.
»Das hast du ja schön eingefädelt«, erklärte Wikol, die eiserne Vogelscheuche aus Bernst, volltönend und absolut leidenschaftslos. »Das war’s dann, meine Herren, wir haben etwas auf den Deckel bekommen, sollten uns jetzt die Krokodilstränen abwischen und an unsere Arbeit gehen. Also dann, fangen wir die Mutterhexe, verflucht noch mal!«
Foma hüllte sich in Schweigen. Lautlos stülpte er die Lippen vor.
»Damit kommen Sie nicht durch, Starsh«, warnte ihn War Tanas, der Kurator aus Rydna. »Sie haben die Inquisition verraten, nur um Ihren eigenen Hintern zu retten!«
Klawdi riss den Kopf hoch.
Nicht, weil ihm die Worte zusetzten, sondern weil er die in ihm aufgestaute Wut, die Unruhe und den Schmerz am liebsten herausspeien wollte. Und zwar nicht auf den Kopf seines Referenten — das brächte nichts und wäre nur gemein –, sondern mit etwas mehr Nutzen, schön und treffsicher.
»Mein Hintern lässt Ihrem schwieligen Gesäß einen Gruß ausrichten. Die Inquisition ist mir momentan scheißegal, das nur zu Ihrer Information. Soll sie doch verrecken, die Inquisition — dann aber bitte schön zusammen mit der Mutterhexe. Habe ich also die Inquisition verraten. Auch gut! Verzichten Sie von mir aus darauf, bei meiner Beerdigung zu erscheinen. Doch bevor ich ins Gras beiße, möchte ich noch die Mutterhexe töten, und Ihre Postenschiebereien werden mich nicht daran hindern, selbst wenn Sie sich auf den Kopf stellen. Ihr Ehrgeiz interessiert mich einen Dreck. Seien Sie also so gut und machen Sie sich an die Arbeit, das heißt: Schaufeln Sie die Scheiße weg, und zwar zügig, andernfalls werden Sie noch in ihr ertrinken! Gehen Sie jetzt auf Ihre Posten. Wer sich meinen Befehlen auch nur ansatzweise widersetzt, wird binnen vierundzwanzig Stunden suspendiert und dem Wyshnaer Gericht übergeben. Das war’s.«
Niemand sagte ein Wort. Alle sahen ihn an, selbst Fedora. Auf dem Grund ihrer Augen entdeckte er Begeisterung. Warum lieben Frauen bloß gerade die Männer so sehr, die sich mies verhalten? Warum lieben sie sie in einem Maße, dass sie bereit sind, selbst das flüchtige Abenteuer mit der jungen Konkurrentin zu verzeihen?
Angeekelt wandte sich Klawdi ab.
Sie befanden sich in einer Turnhalle. Offenbar in der einer Schule. Einer leeren. Vor den Fenstern gab es Gitter, die Ywha im ersten Augenblick einen ungeheuren Schrecken einjagten, dabei sollten sie nur das Glas vor Bällen schützen. Auch die dicken Stangen an der Wand waren nichts anderes als eine Sprossenwand. Allerdings gab es nicht nur die üblichen Markierungen für das Volleyball- und Basketballfeld, sondern auch noch ein kompliziertes Geflecht aus dünnen schwarzen Linien. Nein, nicht aus schwarzen, sondern aus rostroten und glänzenden — als sei das Feld des zukünftigen Spiels mit Blut markiert.
»Kommt herein, Schwestern! Verhaltet euch so, wie es euch eure Natur vorgibt. Folgt eurem wahren Wesen. Und wenn die Zeit kommt zu sterben, so sterbt. Und wenn die Zeit kommt zu leben, so lebt. Schreitet Fuß für Fuß den Faden entlang, kommt nicht vom Weg ab, denn dies ist euer Weg, geht ihn bis zum Ende!«
Ywha vermochte die schweigenden Hexen, die am anderen Ende des Saals standen, nicht klar zu erkennen. Selbst als sie sich anstrengte nicht. Sie fröstelte schon nicht mehr, sondern schlotterte, als habe sie hohes Fieber. Das Mädchen im Jogginganzug weinte, schluckte die Tränen aber hinunter und schrie immer lauter und lauter.
Ich muss mich an etwas erinnern, dachte Ywha panisch. Ich muss an etwas Schönes denken, mich an mein Leben erinnern! Ich! Zum letzten Mal bin ich ich! Bald wird es mich nicht mehr geben. Nie mehr! Klawdi! Klawdi, bitte, erinner dich an mich. Erinner dich an mich wie an dieses Mädchen aus deiner Jugend. Wie ich es beneide, wie ich …
»Beschreitet euern Weg! Möge euch ein gleichmäßiger beschieden sein!«
Nacheinander fielen vier lange Schnüre auf den Boden. Vier willenlose Schlangen, die zu vier Zeichnungen erstarrten, alle grundverschieden voneinander. Vor dem Mädchen erstreckte sich eine fast gerade Linie, die nur am Anfang einige Schlaufen aufwies. Die Alte stand vor einem Labyrinth aus Knoten, während sich die Dame mit der Dauerwelle mit Ringen konfrontiert sah, die fast eine Spirale bildeten. Vor Ywha jedoch …
Vor Ywha lag ein wirres Knäuel. So verworren und straff, dass selbst die Hexe — Ywha fing aus den Augenwinkeln heraus ihren Blick auf — unwillkürlich zusammenzuckte, um anschließend beredte Blicke mit ihren Gefährtinnen zu wechseln, die schweigend am anderen Ende des Saals warteten.
»Folgt dem Faden. Hört auf eure Natur. Weicht nicht vom Weg ab. Geht.«
Ich komme da sowieso nicht durch, stellte Ywha mit einer fast freudigen Erregung fest. Das ist doch kein Weg, der mir vorgezeichnet ist, sondern eine Falle, die sie schon vor langer Zeit aufgestellt haben.
Unbekümmert tat sie einen Schritt nach vorn, setzte den Turnschuh auf den Anfang der Schnur. Und genau in dieser Sekunde wurde ihr klar, dass sie zum Ende des Weges gelangen würde.
Dass sie durchkommen würde.
Ein Feuer loderte auf.
Die Turnhalle existierte nicht mehr.
Das Mädchen lief über Eisenbahnschwellen, über ein schmales Gleis. Zwei quecksilbrig funkelnde Schienen wiesen ihr den Weg.
Sie ging weiter, stolperte und erstarrte, während sich das Gleis verhedderte, an den Weichen verzweigte und in Kurven ertrank. Die Weichenhebel hinter ihr blinzelten zufrieden mit ihren trüben Scheinwerferaugen und klackten, als werde eine Tür zugeschlagen. Als markierten sie die durchlaufene Etappe.
Sie ging weiter, den Blick unverwandt nach vorn gerichtet, wo sich die Schienen im Nebel verloren. Scharfer Wind schlug ihr wie ein Rammbock ins Gesicht. Der Nebel. Der Wind …
Offenbar hatte sie den Zug verpasst. Jetzt musste sie rennen. Sie musste …
Sie wusste, dass sie den Weg beenden würde.
Die Alte lief auf einem Haar entlang. Ein graues endloses Haar war das, und unter ihr lag namenlose Dunkelheit. Die Alte schwankte, fing mit den Händen ihr weggleitendes Bewusstsein ein und ging weiter, sich selbst vor Augen, jung und stark, genau wie sie an jenem Tag gewesen war, als sie auf dem Heuboden der Landstreicher mit den weißen Zähnen überwältigt hatte, dem sie dann die verrostete Spitze einer Eisensense in die Leber gerammt hatte. Jetzt schritt sie auf dem grauen Haar aus und wusste, dass sie den Weg ganz bis zum Ende gehen würde.
Die Frau schlitterte über Eis. Über brüchiges Frühlingseis. Von unten, durch die transparente Kruste hindurch, schauten sie ihre ungeborenen Kinder an. Zwei Jungen und ein Mädchen. Die Frau wusste, dass sie auf gar keinen Fall auf ihre Gesichter treten durfte. Eher noch würde sie ihren Fuß in ein Eisloch setzen. Allerdings rückten diese näher und näher, die Frau irrte über das Eis und machte, ihren Spuren folgend, kehrt, dabei ein ums andere Mal auf Spuren stoßend, die von winzigen nackten Füßen stammten.
Die Frau biss die Zähne aufeinander und machte wieder kehrt. Sie musste den Weg zu Ende gehen. Ihr blieb keine andere Wahl.
Ywha ging den eingeringelten Körper einer gelb gestreiften Schlange entlang. Die Schlangenmuskeln federten unter ihren Füßen. Lautlos weinte sie, während sie sich wieder und wieder zu einem Schritt durchringen musste, denn am Ende ihres Weges erwartete sie der flache Kopf mit der zuckenden, gespaltenen Zunge. Die starren Augen blickten sie unerbittlich und zugleich verständnisvoll an. Genau so hatte Klawdi sie manchmal angesehen.
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
»Was hätte sie von meinen Briefen? Sie alle haben mich vergessen und verlassen, mit denen bin ich fertig!«
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
»Sobald ich das hier hinter mir habe, schreibe ich, ich schreibe ihr, dass ich komme …«
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
Ywha kniete sich hin, um über die straffen Schlingen des Schlangenkörpers zu krabbeln, und bohrte sich mit zusammengekniffenen Augen durch die engsten Ringe. Eine glänzende, glitschige, glatte Schuppe leistete ihr dabei Hilfe.
Ich komme durch, ich … muss mir mein Gedächtnis bewahren. Bis jetzt erinnere ich mich noch an alles. Wer ich bin, wo ich gelebt, wen ich geliebt habe. Ich muss mir mein Gedächtnis bewahren …
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
In ihrer Demütigung stöhnte Ywha auf. Mit jedem Schritt fühlte sie sich niederträchtiger, tiefer gesunken, ein Wesen, das niemand mehr brauchte. Ein Stück Dreck.
Ich werde Sie nie Wiedersehen, Klawdi.
»Warum hast du deiner Mutter nicht …«
…nie Wiedersehen, Klawdi. Niemals. Behalten Sie mich bitte nicht in Erinnerung, vergessen Sie mich!
»Warum hast du …«
Schließlich gaben ihre Knie nach. Sie fiel hin, krallte sich an dem Schlangenkörper fest, in ohnmächtiger Erwartung. Einer Angst einflößenden Erwartung — wobei sie nicht wusste, worauf.
Plötzlich hob sich der flache Kopf der Schlange schaukelnd in die Luft. »Jetzt werde ich dich beißen«, triumphierte die Schlange.
»Bitte nicht.«
»Jetzt werde ich dich beißen. Es kommt die Zeit zu sterben — also stirb ohne Furcht.«
Ywha schrie auf. Zumindest glaubte sie das. Dabei brachte sie keinen Ton zustande. Der Schlangenkopf näherte sich, öffnete das Maul und entblößte zwei apart gebogene Zähne.
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
»Bitte, beiß mich nicht.«
»Es geht nicht anders, glaube mir.«
Die Kiefer schlossen sich.
Genau in diesem Augenblick schoss auf das Mädchen, das über die Bahnschwellen ging, lautlos aus dem Nebel eine schwarze Dampflok zu.
Genau in dieser Sekunde riss das graue Haar unter den Füßen der Alten.
Genau in dieser Minute brach das Eis unter den Füßen der müden Frau, bleckte der Eisschlund seine Zähne.
Genau da spürte Ywha die todbringenden Nadeln, die in ihren Körper eindrangen. Doch sie vermochte nicht zu schreien, sondern starb schweigend.
Ihr Tod lag als schwarze Ebene mit dunkelroten Bergen am Horizont vor ihr. Über den Gipfeln brannte der Himmel, ebenfalls rot, wie glühende Kohle.
Danach kam Dunkelheit.
Dann war sie eine glückliche Sekunde lang ein Spatz im Tauwetter, ein grauer Vogel, auf dessen Flügel zwei Mal ein schwerer warmer Tropfen schmelzenden Frühlingswassers fiel.
»Und wenn die Zeit kommt zu leben, so lebt.«
Und Ywha lebte.
Schließlich erinnere ich mich doch noch an alles, oder?
Die Sohlen ihrer Turnschuhe glitten lustvoll über den straffen Schlangenkörper.
Schließlich ist das doch noch immer mein altes Ich, oder? Ich erinnere mich doch an alles?!
In diesem Augenblick sah sie das Ende des Weges.
»Das Pack herrscht nicht ewig. Nehmt die Kerzen, vollenden wir das Ritual, wie es uns unsere ungeborene Mutter befiehlt.«
Und Ywha drängte es aus ganzer Seele danach.
Genauso wie die Alte, das Mädchen und die Frau in der Lederjacke. Das Mädchen vollendete das Ritual als Erste, ihr folgte die Frau und kurz darauf die Alte. Ywha hatte es eilig, sie drängte, es fehlten nur noch ein paar Schritte …
Ich bin ich geblieben. Dabei ist das Ritual fast vollzogen. Ich hätte nicht solche Angst zu haben brauchen, denn ich bin ja ich geblieben.
Schmerz schoss in sie hinein, ein Schlag warf sie fast um, der Schlangenkörper zuckte wie in einem in Zeitlupe ablaufenden Krampf.
»Stehen geblieben! Hier ist die Inquisition!«
»Vorwärts, Schwester! Vorwärts, beende das …«
»Halt!«
Die roten Berge stürzten ein.
Ywha stürmte vorwärts — und verlor das Bewusstsein.
Am Morgen rief er die Dienst habenden Inquisitoren zusammen.
In der Nacht waren insgesamt zweiunddreißig Hexen verhört worden, davon neun unter der Folter. Fünf Kollegen Klawdis hatten von früh morgens bis spät nachts in den unterirdischen Verhörräumen gehockt. Sie mieden seinen Blick. Nach wie vor verfügten sie nur über beschämend wenig Informationen. Keine der vernommenen Hexen hatte auch nur angedeutet, wo sich die Mutterhexe aufhalten könnte. Klawdi tigerte durchs Zimmer, unter seinen Füßen raschelten wie Herbstlaut detaillierte Karten von Dörfern und Ortschaften, Gebieten und Kreisen.
»Noch ein paar Tage — und wir haben verloren.«
Seine Kollegen schwiegen.
Sie hatten ihre Familien schon seit Langem aus Wyshna herausgebracht, noch in Erste-Klasse-Waggons, weit weg, in die Berge, an menschenleere Orte. Ihre Ehefrauen genossen jetzt Hotelkomfort, machten sich Sorgen um sie und hörten die Nachrichten aus Wyshna im Radio. Doch heute Morgen gab es keine Nachrichten. Aus den Lautsprechern drang nur ein monotones, unerschütterliches Knistern.
Die Fenster waren fest verschlossen. Die Klimaanlage brachte auch keine Linderung. Im gesamten Palast der Inquisition, selbst in den Kellern, stand dicker Rauch. Die Hälfte der Städte brannte langsam ab.
Das Telefon funktionierte nicht mehr. Die Verbindung zu den Provinzen musste über Funk gehalten werden, bei der Übertragung gab es jedoch immer mehr Schwierigkeiten.
Die Gehsteige und das Kopfsteinpflaster der herrlichen Stadt Wyshna ertranken in Müll und Exkrementen. Der Inhalt der Kanalisation drückte die gusseisernen Gullideckel hoch und verwandelte die Straßen in stinkende Flüsse.
Mit einem Schlag fielen sämtliche Blätter von den Bäumen.
Der Herzog hatte die Stadt gestern verlassen. Der Hubschrauber, der bereits seit zwei Wochen auf dem Dach seiner Residenz gestanden hatte, hatte sich nun in die Luft erhoben und war davongeflogen.
Chaos und Panik herrschten und hinterließen eine leere Welt. Eine Welt, in der die Hexen erstarkten.
Die versteckte Kamera, die in den Ruinen des Opernhauses installiert worden war, fing kurz eine graue weibliche Figur ein.
Die ein Gespenst von Helena Torka zu sein schien.
»Klawdi, Sie sind ein guter Mensch.«
»Wenn wir in den nächsten Tagen keinen Durchbruch erzielen …« Er knirschte mit den Zähnen.
Diese Worte konnte er sich im Grunde sparen, das wusste er.
Noch vor Kurzem — oder war es unglaublich lange her? –, also vor anderthalb Monaten hatte er die Hexen gefoltert, die in Odnyza geschnappt worden waren. Er hatte sie gefoltert und damit etwas über das Schicksal in Erfahrung gebracht, das den Menschen im Stadion drohte. Er hatte sich die Hände bis hoch zu den Ellbogen schmutzig gemacht, obwohl er wusste, dass er diesen Dreck niemals wieder würde abwaschen können. Mit Blut und Scheiße hatte er sich besudelt — aber würde er die Katastrophe abwenden können?!
Wenn er doch nur eine Lösung wüsste. Ohne zu zögern würde er kopfüber in Scheiße springen, bis über beide Ohren in sie eintauchen, wenn er dem Ganzen nur Einhalt gebieten könnte.
Noch gestern, unter den Blicken der Kuratoren, hatte er sich so selbstsicher und stark gefühlt wie nie zuvor.
Heute musste er voller Entsetzen feststellen, dass er sich geirrt hatte. Er hatte seine Kräfte überschätzt. Die Mutterhexe hatte es nicht auf ein Duell angelegt. Sie spielte mit ihm wie die Katze mit der Maus.
»Ich allein zweifle hingegen keinen Augenblick daran, dass meine Herrinnen nicht über die eigenen Gräuel erschrocken sind.«
»Mithin habe ich, dem allein es an Hoffnung gebricht, entzöge eine solche Hoffnung mir doch jedwede Kraft, meinen Herrinnen einen würdigen Empfang zu bereiten. Nun, da die Mutterhexe so nahe ist, dass ich, ihren Geist witternd, keinen Schlaf finde. […] Und noch heute wird sich um ihren Hals die eiserne Zange schließen, die mein Wille geschmiedet.«
Nein, Klawdi witterte sie nicht. Sein Wille blieb tatenlos. Seine fünf Kollegen, die die Nacht in den Kellern zugebracht hatten, wagten es nicht, ihm in die Augen zu sehen.
Weit unten, nur knapp über ihrem Kopf, hing tief eine böse rote Sonne. Eine sengende, glühende, an eine Stahlspirale erinnernde Sonne. Ywha unterdrückte ein Stöhnen. Sie versuchte, sich zu bewegen — doch ihre Arme waren wie tot. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Die Angst fachte ihre Kräfte an, ließ sie immerhin die Lider aufschlagen.
Die gelbe Schlange war fort. Es war dunkel. Und nur knapp über ihrem Kopf brannte ein roter Fleck.
Sie erschauderte. Sie erinnerte sich an alles. Fieberhaft versuchte sie, sich zu konzentrieren, um sich die entscheidende, die wesentliche Frage zu stellen: Bin ich noch ich? Hat niemand anders von mir Besitz ergriffen, sich in meinem Bewusstsein eingenistet, in meiner Erinnerung? Bin ich noch immer die alte Ywha?
Sie lag auf der Seite, in einer merkwürdig gekrümmten Haltung. Der Boden zitterte, irgendwo lief gleichmäßig ein Motor. Sie befand sich in einem Auto. Der brennende rote Punkt über ihr war das Zeichen der Inquisition, das man an das Eisendach des Lasters gemalt hatte. Dämmerlicht und Leere umgaben sie. Ein graues Licht drang durch die Ritzen. Ihre Hände und Füße steckten in schweren Holzblöcken — Fesseln, wie sie im Buche stehen, die sich in den letzten tausend Jahren vermutlich nicht verändert hatten, war doch nichts auf der Welt so dauerhaft wie die Fesseln der Inquisition.
Doch egal. Das Einzige, was jetzt zählte, war die Frage: Bin ich ich –oder nicht?
Ihre Mutter. Gras. Ein weißes Band über der Stuhllehne. Die Gänse, Seerosenblätter, eine Sporttasche, die nach Deo stank, Zigarettengeruch …
Panik flutete über Ywha hinweg. Sie glaubte, sie würde sich an etwas Bestimmtes nicht erinnern. Oder konnte sich nicht erkennen, konnte in ihrem Gedächtnis das Gesicht ihrer Mutter nicht finden …
»Komm sofort wieder zurück! Ständig willst du fort! Dabei musst du noch Schularbeiten machen! Zu deinen Freunden kannst du nachher noch …«
Falten in den Mundwinkeln. Eine Locke in der Stirn, ein gestreiftes Handtuch in den Händen. Eine Frau, dürr wie eine Bohnenstange, auf der ausgetretenen Schwelle.
»Warum hast du deiner Mutter nicht geschrieben?«
Ywha schluchzte.
Was bist du nur für eine Idiotin, sagte eine Ruhe in ihr, von der sie nicht wusste, wo sie herkam. Genau diese Frage beweist doch, dass es dich noch gibt. Dass du das bist und niemand sonst, du, genauso wie es dich gestern gab und vorgestern und bei deiner Geburt. Dass da niemand sonst in dir steckt.
Ywha holte tief Luft. Zu ihrer eigenen Überraschung fing sie an zu lachen. In dem dunklen Kasten des schaukelnden Lasters, gefesselt mit den schweren Holzblöcken, mit dem brennenden Zeichen über sich, lachte Ywha und leckte sich die Glückstränen ab. Offenbar war das Ritual bei ihr nicht vollendet worden. Sie war diejenige geblieben, die sie immer gewesen war. Wahrscheinlich war sie auch aus diesem Grund nicht an Ort und Stelle getötet, sondern in diese dämlichen Fesseln gesteckt worden; und jetzt brachte man sie …
Das Lachen erstarb von selbst. Sie senkte die Lider und versuchte, die geröteten Augen gegen das brennende, ätzende Zeichen zu schützen. Sie hatte keine Kraft mehr, an etwas zu denken. Sollten die Dinge ruhig ihren Lauf nehmen. Sie, Ywha, würde ohnehin nichts daran ändern können.
Sie hatte die Lider gesenkt — und vor ihren Augen war der gelbe Schlangenkörper entstanden. Ein Schritt, ein weiterer, und noch einer …
Sie erzitterte. Angespannt wollte sie sich aufsetzen, sich das Gesicht abwischen, doch die Hände, die aus den Holzblöcken herausragten, gehörten praktisch nicht zu ihr. Gehorchten ihr nicht, entzogen sich ihr, waren tot, nicht mehr als zwei mit Sand gefüllte Handschuhe.
Kraftlos sackte ihr Kopf nach hinten. Sie bettete den Nacken auf den vibrierenden Boden und verzog das Gesicht, als bei einem tiefen Schlagloch ihr Kopf so hart aufschlug, als sei er eine Holzkugel. Schlafen wollte sie. An nichts denken. Abschalten.
Tatsächlich schlummerte sie ein.
Und ihr gefesselter Körper führte sich seltsam auf.
Sie blähte sich auf, schwoll zu einer Wolke an, kannte kein Maß, quoll weiter und weiter auf, bis sie den ganzen Laster mit sich selbst ausfüllte, durch die Ritzen nach draußen sickerte, zum Himmel aufstieg und auf der Straße zerfloss. Ywha stöhnte leise und sehnte sich einen neuen Traum herbei. Einen nicht ganz so schrecklichen, der ihr ihre Mutter und Gras zeigte, den Sommer …
Dann verlor sich die Angst.
Ywhas Körper waberte durch die Welt. Nein, er saugte die Welt in sich auf. Ywha spürte, wie die fahlen Lichter am Horizont erloschen — als rupfe jemand eine weißköpfige Nadel nach der anderen heraus. Wie der Himmel erzitterte, wie die Erde erkaltete, wie etwas sie kitzelte. Aber was? Ein Bach? Und sie spürte, wie die Stadt sie juckte. Ungeheuer juckte. Als ob … etwas … jemand … sie vermochte es nicht richtig wahrzunehmen, der Juckreiz ließ sie lediglich das Gesicht verziehen.
In ihre Hände kehrte das Leben zurück. Jeder Fingernagel, jedes Härchen lebte und sah die Welt mit eigenen Augen an. Ein Dutzend bunter Bilder, Straßen, die Brandstätten und die Hoffnung, das Geschrei und die Hoffnung …
Der gelbe Körper der riesigen Schlange. Ein Schritt. Noch einer.
Sehnsucht und Zärtlichkeit breiteten sich in Ywha aus. Fast wie damals, als ihre Mutter ihr nachgeschaut hatte, von der Schwelle aus. Der Schlangenkörper ringelte sich um die Erinnerung an die Mutter, wand sich um sie, doch das war nicht schrecklich, das war eher …
Der Laster bremste ab und blieb stehen; kurz darauf schrie Ywha los.
Sehnsucht und Zärtlichkeit. All das benahm ihr die Luft zum Atmen. Es ging zu tief, es war zu schmerzhaft. Jetzt aber wusste sie die Wahrheit über die Welt, und die war so schön und ganz und gar unerträglich, ganz so als erblicke ein Blinder im hohen Alter zum ersten Mal den Himmel.
»Was schreist du so?«
Die Vision endete. Einige Sekunden lag Ywha mit geschlossenen Augen da und versuchte, die Bilder zu vergessen. Es war zu schön, das durfte man nicht in sich tragen, für eine rothaarige Frau war das zu viel.
Die Vision erbarmte sich ihrer und verlor an Leuchtkraft. Sie hinterließ einen diffusen Schatten.
»Patron, Sie haben darum gebeten … Eine Hexe, wie Sie sie beschrieben haben. Sie ist aus einem Dorf hierhergebracht worden. Eine rothaarige. Sie haben darum gebeten, informiert zu werden.«
Klawdi zwang sich, den schweren Kopf zu heben. »Bringen Sie sie in den Verhörraum, zu Hljur, der hat jetzt Dienst … Nein, warten Sie. Erst sehe ich sie mir an.«
Hinter ihm lagen zwei schlaflose Nächte. Oder waren es schon mehr? Wann hatte er eigentlich das letzte Mal wenigstens fünf Stunden am Stück geschlafen? Wann war das gewesen? In welchem Leben?
Er stemmte sich vom Stuhl hoch. Aus der Schreibtischschublade holte er einen Filzstift, trat an die holzgetäfelte Wand, konzentrierte sich und führte das Zeichen des Spiegels mühevoll aus. Es glückte ihm nicht sonderlich gut, würde jedoch während der nächsten zwanzig Minuten funktionieren. Er atmete tief ein und schuf zwischen sich und dem Spiegel mental das Zeichen der Linse. Gut. Er atmete noch einmal ein, dann wieder aus. Anfangs schmerzte es ein wenig, doch er schickte seinen Willen sowohl in die eine wie auch in die andere Richtung, er spiegelte sich, kroch durch die Linse — was etwa genauso angenehm war, wie die Finger in den Fleischwolf zu stecken. Trotzdem fiel es ihm nun schon leichter. Er erhielt neue Kraft, in Form der eigenen, vielfach potenzierten Möglichkeiten. Jetzt war er stark und frisch, nun konnte er es mit der Mutterhexe aufnehmen.
Er grinste schief.
Schließlich zerstörte er das Zeichen der Linse und verwischte das des Spiegels, das daraufhin wie ein krummes, leicht schweinisches Bild aussah, das Graffito eines dämlichen Teenagers. Er würde den Referenten bitten, es abzuwaschen.
Längst hatte er jede Hoffnung verloren, Ywha wiederzusehen. Dennoch machte er sich auf, ging die Treppe hinunter; der Fahrstuhl funktionierte schon lange nicht mehr. Kein einziger Fahrstuhl in dem riesigen Gebäude funktionierte noch. Genau wie das Licht. Die Fackeln in den Kellergewölben hatten ihre dekorative Funktion eingebüßt und waren zu einer bitteren Notwendigkeit geworden. Selbst in seinem Büro brannte jetzt nachts eine Fackel.
Das federleichte Seidengewand. Einem Impuls folgend, schleuderte Klawdi es fort. Wozu noch diese zeremonielle Kleidung? Dann besann er sich jedoch eines Besseren und zog es an. Wenn schon der Großinquisitor die Tradition vernachlässigte, was sollte man dann erst vom einfachen Security-Personal erwarten?
Betont sicher und fest ausschreitend, lief er an dem Wachtposten des Gefängnistrakts vorbei. Fragend sah er den Dienst habenden Inquisitor an. Der erhob sich, ein bleicher Mann, den Klawdi kaum kannte. »Zelle 107. Soll ich Sie begleiten?«, erkundigte er sich.
Klawdi nickte. Die 107 war eine finstere Zelle, die nutzte man nicht in Bagatellfällen.
Bereits auf der eisernen Wendeltreppe, die in den Keller hinunterführte, witterte er die Hexe.
Diesen Abschaum von einer Hexe. Diesen ekelhaften Abschaum! Sie war nicht nur eine starke Hexe, sie war stark und auch raffiniert. Entweder eine Banner- oder eine Schildhexe. Wo kamen die überhaupt alle her? Woher stammte diese Pest, diese Mutanten und Monster, diese Mischtypen mit den sagenhaften Brunnen? Diese unmenschliche Bosheit?
»Man hat sie in Podralzy festgenommen«, erklärte dieser Inquisitor bedrückt, der ihm kaum bekannt war. »Sie war bewusstlos. Man hätte gleich kurzen Prozess mit ihr machen sollen. Tut mir leid, Patron. Gut, Sie haben befohlen, alle Rothaarigen vorgeführt zu bekommen. Wollen Sie sie sehen?«
Klawdi nickte erneut.
Der Schlüssel klimperte. Zelle 107, mit verschärften Haftbedingungen. Vier Zeichen des Spiegels, fest verankerte Holzblöcke für die Fesselung, das Zeichen der Presse in der Decke …
Er schubste den anderen Inquisitor mit der Schulter zur Seite und bückte sich zu dem in die Panzertür eingelassenen vergitterten Fensterchen hinunter.
Die Hexe wusste bereits seit einiger Zeit, dass er in der Nähe war. Sie sah ihn an, wandte den Blick nicht ab, drehte den Kopf so weit herum, wie es die schrecklichen Fesseln zuließen.
Klawdi spürte, wie sein Herz stehen blieb. Nicht mehr hämmerte, nicht sprang, nicht erstarrte, sondern einfach stehen blieb. Eine Sekunde verging, eine weitere, doch es erfolgte kein Schlag.
Die Hexe blinzelte. Sie senkte die Wimpern, sah ihn dann jedoch noch einmal an. Ihre Augen waren feucht. Gerade lösten sich wieder zwei glasklare kleine Bälle, rannen über die Wangen, eilten nach unten, zwei Ströme, fein und entschlossen, erreichten den lächelnden Mund, fielen vom Kinn.
»Weshalb weinst du?«
»Ich habe gedacht … ich würde Sie nie Wiedersehen.«
Sie war nicht müde. Sie spürte nur die Notwendigkeit zurückzukehren — und mit einem gewissen Bedauern nickte sie ihrer großen Welt zu, die normalerweise in dem kleinen, durch Fesseln gequälten Körper saß.
Anfangs hatten sie die Holzblöcke sehr gestört. Die gefesselten Hände demonstrierten den gebändigten Willen, und das schreckliche, in die Decke eingelassene Zeichen nahm sie in die Zwinge — wie eine riesige Presse. Der Kummer und der Schmerz der Gefangenen hatte sich von den Wänden widergespiegelt und war mit zehnfacher Wucht zu ihr zurückgekehrt. So hatte sie die ersten Stunden in der Zelle verbracht. Dann war es ihr gelungen, in die große Welt zu entschlüpfen und — nachdem sie ein ganzes Meer widersprüchlicher Motive in sich registriert hatte — zwischen Himmel und Erde zu schweben. Erschüttert machte sie sich noch einmal ihre bisherige Blindheit klar.
Der menschliche Körper verfügt nicht über das nötige Organ, um dieses Gefühl zu erfassen. Das Gehirn eines Menschen ist nicht dafür geschaffen, dergleichen zu verstehen. Vermutlich wäre ihr schwindlig geworden, und sie hätte angefangen zu weinen, doch hatte sie inzwischen weder einen Kopf noch Augen. Es gab nur ein Flechtwerk von Wegen, Knoten aus Angst und Glauben, zerfließende Hoffnungstropfen, Mitleidsbrocken und eine Vielzahl vager Kräfte, deren Namen sie nicht kannte, über die sie jedoch, wie sie sich bewusst wurde, gebot.
Eine flüchtige Vision. Sehnsucht und Zärtlichkeit. Und das Wissen, das sie vergessen wollte.
Später kehrte sie in ihren Körper zurück.
Dieser diente nicht länger als Welt. Sie schlug die geschwollenen Lider ein wenig auf, erblickte die Zelle mit den Zeichen des Spiegels an allen vier Wänden, die eigenen bleichen Hände, die aus den Fesseln herauslugten, und die roten Haare, die ihr störend vor die Augen fielen.
Das bin ich, dachte sie bitter. Ich hätte keine Angst haben müssen. Ich habe mich nicht verändert, es ist die Welt, die sich bis zur Unkenntlichkeit verändert hat. Aber ich bin nach wie vor die Alte.
Wieder schloss sie die Augen. Sie hörte den Palast über sich, der leer und feindlich war. Nur in den Verliesen glomm noch Leben, zum Tode verdammtes, in Fesseln gebanntes Leben. Ywha befeuchtete ihre ausgetrockneten Lippen. Irgendwann käme sie an die Reihe. Irgendwann.
Die Presse über ihr quälte sie zwar nicht länger, irritierte und ärgerte sie jedoch. Tief ein- und wieder ausatmend, trieb sie den riesigen unsichtbaren Kolben der Presse zurück in die Decke. Die Steine zitterten. Im Mauerwerk über ihr entstanden Risse. Das Zeichen der Inquisition zerfiel und büßte auf einen Schlag seine Konturen und seine Gewalt über sie ein. Ywha schüttelte ihren schweren Kopf und versuchte die Steinpartikel aus den Haaren rieseln zu lassen. Vor ihren Augen loderten feuerrote Locken.
Ein Spiegel …
Sie lächelte matt. Die Zeichen des Spiegels, die sie umgaben, trübten sich kurz, verschwammen — und schon im nächsten Augenblick hatte sich die grauenvolle Zelle Nr. 107 in einen Ballettsaal verwandelt. Ywha sah gleichzeitig unzählige Spiegelbilder von sich, große und kleine, die sich in der Tiefe des Spiegelgangs verloren.
Sie saß auf dem Fußboden, in schwere, mit Aussparungen versehene Holzklötze gezwängt. Da ihr der Anblick der Fesseln nicht gefiel, hörte sie nach kurzer Anstrengung einfach auf, sie wahrzunehmen. Sie spähte in sich hinein, so aufmerksam und eindringlich wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie sah sich selbst.
Das bin ich. Das bin nach wie vor ich. Ich. Ich. Ich.
Irgendwann begriff sie jedoch, dass sie mit fremden Augen sah. Mit gleichgültigen. Misstrauischen. Mitleidigen. Mit den Augen des Polizisten am Bahnhof, denen des Tschugeists Priw, ihrer Klassenkameraden und ihres Bruders, der Besitzerin des Antiquariats, und auch mit den Augen von jemand ganz anderem, der scharf darauf war, sie auszuziehen, sowie mit den Augen von Menschen, denen alles egal war.
Sie erinnerte sich noch, wie sie sich als Teenager das erste Mal nackt vor einen Spiegel gestellt und die einsetzenden Veränderungen erstaunt betrachtet hatte. Sämtliche Bilder, die sie sah, waren aufschlussreich und manchmal hart; doch mit welchen Augen sie auch schauen mochte — sie erkannte sich. Vielleicht nicht auf Anhieb, aber zweifelsfrei.
Lange und sehr traurig betrachtete sie ihr Gesicht mit den Augen Nasars. Als sie sich mit den Augen ihrer Mutter ansah, senkte sie sofort den Blick und wischte sich die Tränen von den Wangen. Um sich wieder aufzuheitern, beäugte sie sich mit den Augen des kleinen Hundes vom Platz des Siegreichen Sturms.
Nur mit den Augen Klawdis wagte sie es nicht, sich zu betrachten.
Die Spiegel trübten sich. Ywha saß da, legte das Kinn auf das glatte Holz der Fesseln und dachte an nichts. Sie wollte bloß existieren — und nicht einschlafen, denn im Schlaf würde mit Sicherheit der gestreifte Schlangenrücken wieder auftauchen. Und dieser Schlange wollte Ywha jetzt nicht begegnen.
Sie wollte Klawdi sehen. Sie wusste genau, dass er früher oder später noch einmal zu ihr kommen würde, weshalb sie geduldig und ruhig wartete. Eigentlich hätte er ihr längst einen weiteren Besuch abstatten müssen, bald würde er das auch tun, bestimmt — und sei es dienstlich.
Dieser Gedanke jagte ihr unerwartet entsetzliche Angst ein. Er würde dienstlich zu ihr kommen, in Begleitung des Henkers. Wenn Ywha bisher nur eine Zufallsbekanntschaft für ihn gewesen war, so war sie jetzt eine Feindin und eine Verräterin obendrein. Woher nahm sie überhaupt die Gewissheit, dass er ihr Gefühle entgegenbrachte, die das Protokoll nicht vorsah?
Der Gedanke quälte sie stärker als die Fesseln und die Presse. Ywha fürchtete den Henker nicht — dafür flammte ihre Angst vor Klawdi jetzt mit einer Kraft auf, die fraglos an ihre erste Begegnung erinnerte, an die in ihr aufsteigende Übelkeit und die Visitenkarte, die in ihrer Hand ein rotes Brandmal hinterlassen hatte.
Seine Seele war ein leeres Schloss voller Monster. Darin hauste das Gespenst einer einzigen, eifersüchtigen Frau, die keine Konkurrenz duldete. Obwohl Ywha über eine große und seltsame Welt herrschte, hatte sie doch keine Macht über Klawdi; und sie würde auch nie welche über ihn haben, was keinesfalls nur daran lag, dass er Großinquisitor war …
Vor ihren Augen flimmerte der gestreifte Schlangenrücken. Nein, ermahnte sie sich, nicht jetzt. Danach verändert sich die Welt jedes Mal und die Initiation scheint anzudauern, der Weg über den Rücken der gelben Schlange nie zu enden. Nicht jetzt, sagte sie sich verängstigt, denn ich will nicht, dass Klawdi mich so sieht.
In diesem Augenblick rührte sich etwas im Gefängnistrakt.
Der am Eingang wachende Inquisitor wurde nervös. Er erhielt einen Befehl, beruhigte sich und kam die Wendeltreppe herunter. Ywha begriff, dass er nicht allein war, aber ihre Witterung vermochte seinen Begleiter noch nicht zu identifizieren. Genau wie beim letzten Mal.
Inzwischen waren die beiden so nahe, dass Ywha ihre Stimmen hören konnte.
»Seien Sie so freundlich und schließen Sie die Tür auf.«
Ein heißer Kloß schnürte Ywhas Hals ab.
Der wachhabende Inquisitor zögerte. Nein, er zögerte nicht einfach — er bebte. »Patron, die Sicherheit …«, traute er sich sogar vorzubringen.
»Das ist ein Befehl.«
Panik bemächtigte sich des anderen.
Ein Zahlenschloss klackte. Dann noch eins. Die Zellentüren gaben keinen Ton von sich, hier war nichts auf Effekt angelegt, hier war alles einzig und allein der Zuverlässigkeit geschuldet. Ywha wusste, dass sie selbst bei ihrer gegenwärtigen Macht Schwierigkeiten haben würde, diese Tür von innen zu öffnen.
Im Türspalt erschien eine Fackel. Blinzelnd begriff sie zu ihrer Überraschung, dass sie bislang in tiefster Dunkelheit dagesessen hatte.
»Gehen Sie nicht hinein, Patron. Die Macht des Zeichens … ah!«
Es folgte eine lange Pause. Ywha blinzelte wie kurzsichtig und versuchte festzustellen, wohin Klawdi sah. In die Richtung, in die der zitternde Finger des anderen Inquisitors zeigte? Nämlich nach oben, auf das zerstörte Zeichen der Presse?
Hatte er Angst?
Er sagte kein Wort.
»Treten Sie zur Seite!«
Der wachhabende Inquisitor gehorchte überraschend eifrig. Vermutlich war er innerlich bereits gebrochen. Seit dreißig Jahren arbeitete er jetzt im Gefängnistrakt, da glaubte er, alles über Hexen zu wissen.
Die Fackel brannte ruhig und gleichmäßig. Hier gab es keinen Zug, hier stand die Luft. In der halb geöffneten Tür verharrte reglos ein Mann. In diesem Moment begriff Ywha, warum sie Klawdi bereits zum zweiten Mal auf eine geringe Entfernung nicht hatte wittern können. Er schien irgendwie gepanzert. Eine wandelnde Festung. Insofern erstaunte es sie auch nicht, dass die meisten Hexen in seiner Nähe kurz davor waren, in Ohnmacht zu fallen. Bemerkenswert war viel eher, dass sie, Ywha, sich so schnell an ihn gewöhnt hatte, dass sie es gelernt hatte, seine Nähe auszuhalten.
Seine Nähe. Seinen Dunstkreis. Zum ersten Mal bekam sie einen Eindruck von seiner Macht als Inquisitor. Er unterschied sich von den anderen, glich einem Abgrund, einer schwarzen Grube, und selbst jetzt, da eine große Welt in ihr lebte, konnte sie den Boden dieses Abgrunds nicht erkennen.
»Die Hexen sind so … schrecklich, Klawdi«, brach es gegen ihren Willen aus ihr heraus.
»Du hättest dich mal selbst sehen sollen«, meinte er, indem er sich ein Lächeln abrang.
Sie blickte zu Boden.
Dieses Gespräch mutete durch und durch unwirklich an. Das gleichmäßige Feuer der Fackel, der reglose Mann in der Tür.
Wenn sie sich bemühte, würde sie eventuell ansatzweise etwas von seinen Motiven verstehen. Sie streckte sich bereits nach ihm aus, fasste nach seinem Panzer — ließ jedoch sogleich von ihrem Vorhaben wieder ab und zog die unsichtbaren, fleischlosen Hände zurück. Obwohl ihm ihr Versuch nicht entgangen war, ließ er sich nichts anmerken. Nach wie vor schwieg er und hielt die Fackel in der Hand.
»Klawdi! Ich habe solche Angst gehabt, dass Sie nicht kommen.«
»Wusstest du denn nicht, dass ich komme?«
»Glauben Sie nicht, Klawdi, dass in die Seele … von Hexen bei der Initiation ein anderes Wesen einquartiert wird. Dass sie sich verändern … aufhören, sie selbst zu sein … Das stimmt nicht!«
Die Fackel in seiner Hand zuckte.
»Ywha …«
»Ja?«
»Ist dir klar, wer du bist?«
»Nein, das kann nicht sein«, widersprach sie sofort. »Das ist unmöglich! Das wäre zu viel!«
Als er nach oben sah, folgte sie seinem Blick. Das Zeichen der Presse war fast vollständig unter einem Ornament aus Rissen verschwunden.
»Es hat mich irritiert«, bekannte sie schuldbewusst. »Aber … das heißt doch nichts. Es hat mich irritiert, da habe ich es zerstört. Was soll daran so bemerkenswert sein? Frisch initiierte Hexen sind nun mal stark. Aber ich bin ganz bestimmt bloß eine Hexe, eine ganz gewöhnliche Hexe, ich …«
Bereits während sie diese Tirade ausstieß, verlor sie den Glauben an die eigenen Worte, und ihre Stimme wurde leiser und leiser, bis sie am Ende ganz erstarb.
Klawdi brachte keinen Ton hervor.
»Klaw …«, presste Ywha fast lautlos hervor. »Ich muss Ihnen so viel sagen.«
»Nur zu.«
»Die Welt … die ist nicht so, wie Sie sie sehen. Wie wir … alle … sie sehen. Sie ist anders. Aber das kann ich nicht erklären.«
»Wenn du es nicht kannst«, antwortete der Mann in der Tür leicht verbittert, »warum versuchst du es dann erst?«
»Wollten Sie das denn nicht?«
»Was?«
»Die Hexen verstehen?«
Schweigen. Ywha witterte den Gefängniswärter, der ganz in der Nähe Angst verströmte.
»Jetzt will ich es eben nicht mehr.«
Als er den Kopf abwandte, glaubte Ywha schon, er würde sich einfach umdrehen und weggehen. Und die Tür hinter sich zuknallen. Schon setzte er zu einer Bewegung an …
»Klaw!«
Ihr Ausbruch war so stark, dass sie sogar seine Abwehr berührte. Instinktiv rückten die gepanzerten Platten zusammen. Ywha prallte zurück.
Langsam wandte ihr Klawdi den Kopf wieder zu.
Nein, Ywha brauchte seine Abwehr nicht zu durchbohren. Ein Blick von ihm genügte ihr, um zu verstehen, wie sehr es ihn schmerzte, sie in Fesseln zu sehen. Fast konnte Ywha den gespiegelten Schmerz spüren. Ihren eigenen Schmerz, gebrochen im Großinquisitor der Stadt Wyshna.
»Klawdi, ich kann das nicht erklären …«
»Schweig.«
»Gehen Sie nicht weg!«
»Ich bin ja hier.«
»Klawdi … kommen Sie her. Bitte.«
Er zögerte. Nach einer Weile schloss er akkurat die Tür hinter sich, betrat die Zelle und steckte die Fackel in einen Halter. Im Halbdunkel wirkten seine Augen seltsam konzentriert. Als stellte er im Kopf eine komplizierte Rechnung an.
»Ywha, du … du bist ein Monster. Noch nie habe ich eine Hexe wie dich gesehen … Verzeih mir.«
Er hob den Arm, als wolle er auf die Uhr schauen. Mit einer typischen Geste befreite er das Handgelenk vom Ärmelaufschlag.
Ywha schrie auf.
Sie glaubte, die Wände der Zelle würden sie zerquetschen, von allen vier Seiten in die Zange nehmen. Schmerz ließ sie aufkeuchen. Plötzlich fiel ihr ein, wie Klawdi Starsh in dem brennenden Theater seinen Willen gleich einem Dutzend unterschiedlicher Hexen aufgezwungen hatte.
Schließlich legte sich der Schmerz.
Jetzt saß sie in einem engen Käfig. Einem Käfig, der nicht stofflich war und den sein Wille geformt hatte. Das musste selbst ihn eine ungeheure Anstrengung gekostet haben, denn auf dem Gesicht des Großinquisitors leuchteten im Licht der Fackel deutlich Schweißperlen.
»Verzeih mir. Ich muss meinen Vorteil nutzen, solange ich noch stärker bin als du.«
Er machte einen Schritt nach vorn. Ywha kniff die Augen zusammen. Mit geschlossenen Augen spürte sie, wie seine Hand ihre Hände berührte, die in den Holzblöcken taub geworden waren.
»Ywha.«
Sie wollte ihm das Schuldgefühl nehmen, das so deutlich in diesem kaum hörbaren Wort mitschwang. Sie wollte ihm versichern, dass sie die ekelhaften Fesseln kaum noch störten. Dass sie nur noch ein paar Schritte auf dem gelben Schlangenrücken zu machen bräuchte, und dann würde sie auch diesen Käfig sprengen. Offen und ehrlich wollte sie ihm all das eingestehen. Im letzten Augenblick, gerade noch rechtzeitig, biss sie sich jedoch auf die Zunge.
»Schon gut, Klawdi. Nur lassen Sie mich nicht allein.«
Er gewöhnte sich an das Fackellicht. Obwohl er in vielen Jahren gelernt hatte, bei dieser flackernden und archaischen Beleuchtung zu arbeiten, schmerzte ihn das Licht jetzt, beunruhigte ihn, zwang ihn, die Augen zu schließen.
Vielleicht wäre alles einfacher, wenn er mit ihr reden würde. Doch Minute um Minute verging, und Ywha schwieg. Er ebenfalls. Er sah in die müden Fuchsaugen und verstand entsetzt, dass es mit jeder Sekunde schwerer wurde, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen.
Wenn nicht sogar gänzlich unmöglich.
Das Schulterhalfter seiner Dienstpistole, das er hauptsächlich dann trug, wenn er bei seiner aktuellen Freundin Eindruck schinden wollte, hatte er gegen eine Scheide ausgetauscht. Darin steckte, die kalte Fläche gegen die warmen Rippen ihres Trägers gepresst, ein geschwungener Silberdolch. Ein Ritualdolch, den Klawdi vor gar nicht so langer Zeit einer Hexe aus dem Herzen gezogen hatte.
»Du wirst sterben, Großinquisitor.«
»Wir alle werden sterben.«
»Alle werden sterben, aber du zuerst … Unsere noch ungeborene Mutter wartet auf dich. Sie wird warten … Das verstehst du doch nicht. Denn du gibst dich mit dem zufrieden, was du mit eigenen Augen siehst.«
Das vordringliche Gefühl, das ihn diesen ganzen langen Tag — vom frühen Morgen bis zum späten Abend — gefangen hielt, war weder Angst noch Erstaunen oder kämpferische Entschlossenheit — sondern Kränkung. Eine fast kindliche Kränkung, was sie besonders unangenehm machte. Klawdi Starsh schmollte bitterlich mit dem Schicksal.
Mit einem solchen — das heißt: beleidigten — Gesichtsausdruck sprach die ältere Frau, seine Nachbarin, mit ihrem nicht weniger betagten kleinen Hund, während dieser ärgerlich kläffte: »Helza, wie konntest du nur?!«
Wie konntest du nur?!, hatte Klawdi am Morgen noch gedacht, während er durch sein mit Karten zugepflastertes Büro gelaufen war. Und er hatte nicht zu sagen gewusst, wem er eigentlich grollte, der hoffnungslos verlorenen Ywha oder dem eigenen ruchlosen Schicksal, das ihm mit einem Hohnlächeln die Mutterhexe in die Hände gespielt hatte, wenn auch noch taub und sich ihrer selbst ganz unbewusst.
Um vier Uhr nachmittags waren alle Hilfskräfte sowie ein Teil des Stammpersonals aus dem Inquisitionspalast evakuiert worden. Sein Referent Myran hatte sich lange gequält und zwischen demonstrativem Edelmut, ehrlicher Zuneigung für Klawdi und dem gesunden Menschenverstand geschwankt. Letzterer hatte am Ende gesiegt. Schuldbewusst hatte Myran mit den Augen geklappert und Klawdi das Büro in tadellosem Zustand übergeben.
Etwa eine Stunde hatte Starsh in Gesellschaft eines hervorragenden Armeefunkgeräts zugebracht. Im Inquisitionspalast herrschte gähnende Leere, dafür hatte sich der Äther, der lange geschwiegen hatte, wieder belebt. Sämtliche Statthalter und Bürgermeister hatten sich ans Volk gewandt und sich in ihren Ansprachen jeweils zum Alleinherrscher aufgeschwungen. Völlig gelassen hatten sich die Posten der Tschugeister untereinander verständigt, in regelmäßigen Abständen hatte das Militär Rufzeichen gesandt, in der ganzen Welt hatten Amateurfunker ihren Unfug getrieben und kleine private Radiostationen lahm gelegt. Aus den aufgeregten Meldungen Letzterer hatte Klawdi erfahren, dass halb Odnyza überschwemmt und in Rydna ein gigantischer Tunnel eingestürzt war, den man vor hundert Jahren unter den Bergen angelegt hatte, während sich in Altyza ein sogenannter Kreuzzug der Inquisition unter Leitung des ehemaligen Kurators und gegenwärtigen Großinquisitors Foma gebildet hatte.
Jetzt, in der Zelle, fiel ihm wieder ein, mit welch hintergründigem Grinsen er diese Neuigkeit quittiert hatte. Allein wegen dieser Nachricht lohnte es sich schon, das Ganze hier zu überleben, damit er Foma gegenübertreten und von ihm mit schrecklicher Stimme Rede und Antwort verlangen konnte.
Irgendwann hatte er das Funkgerät abgeschaltet, sein Jackett aufgeknöpft und aus der Innentasche ein flaches, unscheinbares Kästchen mit einem schmalen grauen Display herausgeholt. Zwei schwarze Knöpfe zur Eingabe der Koordinaten. Ein großer roter Knopf zur Übertragung des Befehls an die Zentrale.
Ob die Hexen wohl von der Existenz von Raketensilos wussten? Er, Klawdi, war in der sicheren Überzeugung aufgewachsen, diese wären das letzte Bollwerk der Zivilisation, das standhielt, selbst wenn alles andere im Weltenmeer versank. Oder bei einem Meteoritenaufprall ausbrannte.
Klawdi hatte das Kästchen genau betrachtet. In einer Ecke des Displays hatte ein Quadrat pulsiert, was bedeutete, dass der Kontakt zur Zentrale hergestellt und diese bereit war, Befehle zu empfangen. Und zwar jeden Befehl, wie der Herzog erklärt hatte, denn die Kriegsmaschinerie wiege per definitionem nicht ab.
Klawdi war erschaudert. Es würde ihm nicht behagen, dieses Ding mit sich herumzuschleppen, doch das Gewicht des Kästchens in seiner Innentasche würde, wenn schon nicht seine Gewissheit, so doch wenigstens seine Entschlossenheit festigen. Wie ein kleiner Junge fühlte er sich, der irgendeinen Unsinn ausheckt und sich denkt: Wenn mich jemand erwischt, schieß ich mich einfach tot — dann kann mich keiner mehr bestrafen.
Seufzend hatte er den silbernen Dolch von der Wand genommen und ihn neben das dunkle Kästchen auf den Tisch gelegt. Mit beiden Händen auf den Tisch gestützt, war er lange sitzen geblieben, um vor sich hin zu starren.
Das Gesicht des Herzogs war ihm eingefallen, das dieser gemacht hatte, als er ihm den Atomkoffer übergeben hatte. Achselzuckend hatte sich Klawdi daraufhin das runde Gesicht Fomas aus Altyza vorgestellt, genau in dem Augenblick, da der Kurator die Nachricht von der Verhaftung und Bestrafung einer »mutierten, destruktiven Hexe, der sogenannten Mutterhexe«, erhalten würde.
Wie konntest du nur?!, hatte Klawdi dem Schicksal tadelnd vorgehalten.
Wenn dieser Albtraum bloß endete! Wenn sich das Meer in Odnyza zurückziehen, die Weinstöcke in Egre wieder erblühen würden. Das Opernhaus neu aufgebaut würde. Wenn dieser Albtraum doch bloß endete. Wenn er bloß die Augen zu öffnen brauchte — und nichts davon wäre geschehen, der grauenvolle Traum hätte sich verflüchtigt und in Wyshna das Leben wieder Einzug gehalten. Wyshna — und erst da hatte er verstanden, wie sehr er diese Stadt liebte, diese verfluchte und vermüllte Stadt, die so sehr an einen geschändeten Friedhof erinnerte. Das Wichtigste verstand er eben immer zu spät.
Warum hatte er sie nicht erkannt?!
Durch alle Stockwerke hindurch hatte er sie jetzt wittern können. Durch den Beton hindurch. Er hatte sie wittern können, sie, die tief unten im Keller saß. Und ihn hatte gefröstelt.
Sollte wirklich alles so einfach sein?! Sollte da unten, in dem steinernen Verlies, wirklich die taube Mutterhexe sitzen?
Noch immer glaubte er es nicht. Er hatte die Klinge vom Tisch genommen und war langsam in den Keller hinuntergestiegen.
Nun saß er also hier, in einer Ecke der Zelle Nr. 107, mit dem Rücken gegen die kalte Wand gelehnt, und betrachtete diejenige, in der die Mutterhexe und eine junge Frau namens Djunka miteinander verschmolzen.
»Es fällt mir sehr schwer, das alles zu erzählen.«
Ywhas Lippen zitterten, sie nickte bedächtig.
Er bedeckte die Augen mit der Hand, denn das nervöse Licht der Fackel irritierte ihn. Er senkte die Lider und fing langsam, beinahe müde zu erzählen an. »Sie hieß Djunka. Djunka, Dokija. Sie hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dir … Und sie ist zweimal gestorben. Das zweite Mal meinetwegen und vor meinen Augen.«
Seine Stimme zitterte nicht, obwohl er sich nicht gerade um eine feste Stimme bemühte. Die Maske des Gleichmuts war seinem Gesicht über lange Jahre so fest angewachsen, dass sie längst nicht mehr von Fäden gehalten werden musste. Er sprach so leidenschaftslos wie ein Automat, und erst gegen Ende der Erzählung zwang ihn ein jäher und stechender Schmerz in der Brust innezuhalten. Nicht für lange Zeit, für eine Minute nur.
Je länger er berichtete, desto größer wurden Ywhas Augen, bis sie irgendwann ihr ganzes Gesicht einzunehmen schienen. In ihren schwarzen Pupillen spiegelte sich die Fackel wider.
»Nun ja, Ywha, ich bin ein komischer romantischer Held. Treu … mein Leben lang bin ich einer einzigen Frau treu geblieben … selbst in den Armen einer neuen Geliebten.« Er lachte. »Mein ganzes Leben lang habe ich mir diese Blindheit vorgeworfen … Da gab es einmal eine lebendige, eine ganz lebensfrohe Frau … ich hätte nur die Hand nach ihr ausstrecken müssen. Aber ich habe sie nicht gesehen. Ich war zu beschäftigt! Mit mir und mit Gott weiß was. Mir war nicht klar, wie sehr ich später … Und jetzt bin ich wieder blind gewesen. Ich habe auf etwas gestarrt, aber nichts gesehen. Verzeih mir. Du hast zu gut von mir gedacht. Dabei bin ich nur ein alter Esel.«
Er zog den Dolch heraus. Eine silberne, geschwungene Klinge, ein unverzüglicher und garantierter Tod, eine hervorragende Alternative für jede Hexe. Ein ruhmreicher Abgang.
Ywha blinzelte. Sie wusste längst, was er beabsichtigte, aber erst jetzt zeigte sich auf dem Grund ihrer Augen die Angst.
»Ich möchte … dich berühren. Deine Hand halten … viele Tage und Nächte … Damit du keine Angst hast. Auf gar keinen Fall möchte ich dich verlieren …«
Die silberne Klinge blieb kalt. Niemals nimmt sie auch nur einen Hauch der Wärme eines Menschen an. Niemals.
»Wenn du doch nur ahntest, wie sehr ich das will, Ywha. Immerzu möchte ich deine Finger halten, sie nie wieder loslassen.«
Er stand einen halben Meter von ihr entfernt. Auf den Knien. Ihrer beider Augen lagen auf einer Höhe. Die Hand mit dem Dolch hielt er hinterm Rücken. Sein Körper wusste ganz genau, wie er den Stich ausführen musste. Sein Körper konnte auf seine Hilfe getrost verzichten, und er durfte jetzt nichts hinauszögern, sondern musste dem Großinquisitor das Kommando übergeben, das Tötungsverbot ignorieren, das ohnehin schon so oft verletzt worden war.
Er streckte die linke, die freie Hand aus.
Der alte Zoo, das Füchslein, das Gitter, die unendlichen Zentimeter, die die Kinderhand von dem verfilzten roten Fell trennten.
Das ist etwas anderes! Das ist etwas ganz anderes!
Er streckte die Hand durch die Stäbe des Käfigs, den sein Wille geschmiedet hatte, berührte die Hand, die taub in dem Holzblock hing, berührte diese willenlose, zarte und bleiche Hand.
Die Hand kam ihm entgegen, streckte sich ihm mit aller Mühe entgegen, ohne auf die Haut des Gelenks zu achten, das von den Fesseln umspannt wurde.
Eine Berührung.
Wasser und weiße Gänse. Eine nackte junge Frau am grünen Ufer. Die Sonne in den roten Haaren. Ein unsichtbarer Stromschlag, ohnmächtige Schlaffheit, Hitze und Zittern.
Alle Umarmungen der Welt. Küsse und schlaflose Nächte, dieser ganze Wust zerwühlter Laken.
All das bedeutete nichts.
Eine Fackel, die in den beiden schwarzen Pupillen zitterte.
»Klaw …«
»Ich bin ja hier.«
»Klaw … ich …«
Und dann sah er, wie sich ihr Gesicht schlagartig veränderte. Und wie in die schlaffe Hand überraschend Kraft schoss.
»Ich wollte das nicht! Ich … dich …«
Der Dolch fiel aus seiner Hand, fiel immer tiefer, hing in der Luft, nur wenige Zentimeter über dem Boden. Genau in diesem Moment schaffte er es, sich an ihrem Blick festzuhaken und den Brunnen auszumessen.
Da war kein Brunnen.
Das hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Brunnen. Das war ein schwarzes Loch. Ein Riss im Raum.
In der nächsten Sekunde verlor er das Bewusstsein. Und darin lag ein außerordentliches Glück. Denn er musste nicht mitansehen, wie Ywha ihren langen Weg auf dem Rücken der grinsenden gelben Schlange vollendete.