LORBANERY

Aus zehn Meilen Entfernung sah Lorbanery ganz grün aus, so grün wie das Moos am Rande eines Brunnens. Im Näherkommen unterschied man Blätter und Baumstämme, Straßen und Häuser, Gesichter und Kleidung von Menschen, den Staub, die Schatten, kurzum alles, was zu einer von Menschen bewohnten Insel gehört. Doch der Gesamteindruck blieb: Lorbanery war eine grüne Insel, auf der jedes Stückchen Land, das nicht bebaut war und auf dem nicht einhergeschritten wurde, mit den kleinen, runden Hurbabäumen bepflanzt war. Die Blätter dieser Bäume sind Futter für die Raupen, aus deren Kokons die dünnen Fäden stammen, aus denen Seide gesponnen wird, die von den Männern, Frauen und Kindern auf Lorbanery zu feinen Geweben verarbeitet wird. In der Dämmerung flitzen Hunderte von Fledermäusen durch die Luft, die sich von den Seidenraupen ernähren. Und die Leute von Lorbanery wehren ihnen nicht, ja sie betrachten es sogar als ein böses Omen, eine dieser grauflügeligen Fledermäuse zu töten. Denn, so sagen sie, wenn wir Menschen von den Seidenraupen leben, so haben die kleinen Fledermäuse das gleiche Recht dazu.

Die Häuser sahen lustig aus; ihre kleinen Fenster waren ganz unregelmäßig angeordnet, und ihre Dächer waren mit Hurbazweigen gedeckt, die mit Moos und Flechten bewachsen waren und sich grün über die Häuserwände wölbten. Es mußte einst eine wohlhabende Insel gewesen sein; erstaunlich, wenn man in Betracht zog, daß es eine Insel der Außenbereiche war, die gewöhnlich weniger reich als die Inseln des Innenmeeres sind. Spuren einstigen Reichtums waren noch überall sichtbar. Man konnte sehen, daß die Häuser einst gut verputzt und gut eingerichtet gewesen waren; große Spinnräder waren noch zu sehen und große Webstühle und Hallen, wo früher geschäftig gearbeitet wurde; der Hafen von Sosara hatte verschiedene, aus Stein gebaute Piers, an denen Dutzende von Galeeren gleichzeitig festmachen konnten. Doch die Anlegestellen waren leer, der Verputz an den Häusern war abgebrökkelt, die Möbel waren alt und wurmstichig, und die Spinnräder und Webstühle standen still, Staub lagerte darauf, und Spinnweben zogen sich von Pedal zu Pedal, von den Kettfäden zu den Rahmen.

»Zauberer?« sagte der Bürgermeister von Sosara, ein kleiner Mann mit einem Gesicht, das so hart und lederbraun war wie die Sohlen seiner nackten Füße. »In Lorbanery gibt es keine Zauberer, hat es noch nie welche gegeben.«

»Wer hätte das gedacht!« sagte Sperber erstaunt. Er saß mit acht oder neun der Dorfbewohner zusammen und trank Hurbabeerenwein, ein dünnes, bitteres Getränk. Er hatte ihnen notgedrungen sagen müssen, daß er und sein Gefährte in den Südbereich gesegelt waren, um Emmelsteine zu suchen, aber sonst hatte er sich nicht verändert. Arren hatte sein Schwert wieder auf dem Boot gelassen, und wenn Sperber seinen Stab dabei hatte, waren sie gut genug gerüstet. Die Dorfbewohner waren zunächst mißtrauisch gewesen, und es sah eine Weile so aus, als ob sie sich feindlich verhalten würden, aber dank Sperbers Geschick und seiner Gewandtheit mit Worten durften sie sich beide — mit Vorbehalt allerdings — ihnen zugesellen. »Hier muß es Leute geben, die gut mit Bäumen umzugehen wissen«, sagte er jetzt. »Was macht ihr denn, wenn ein später Frost kommt?«

»Nichts«, antwortete ein magerer Mann am Ende der Reihe. Sie saßen alle nebeneinander unter dem Dachvorsprung, mit dem Rücken an die Hauswand des Wirtshauses gelehnt, und direkt vor ihren nackten Füßen klatschte der warme Aprilregen auf die Erde.

»Regen, nicht Frost, richtet Schaden an«, sagte der Bürgermeister. »Die Kästen mit den Raupen verfaulen. Kein Mensch hält Regen zurück. Hat noch keiner fertiggebracht.« Das Thema Zauberer und Zauberei schien ihn aufzubringen, einige der anderen waren weniger erbost, und einer sagte: »Hat nie geregnet, nicht zu dieser Jahreszeit jedenfalls, als der Alte noch am Leben war.«

»Wer? Der alte Mildi? Der lebt nicht mehr. Der ist tot«, sagte der Bürgermeister.

»Baumgärtner haben sie ihn geheißen«, sagte der Magere. »Stimmt, Baumgärtner hieß er«, bestätigte ein anderer. Alle schwiegen, der Regen raunte.

Arren saß am Fenster in der Gaststätte drinnen, die nur aus einem Raum bestand. Er hatte eine alte Laute gefunden, die an der Wand gehangen hatte, eine der Lauten, die nur drei Saiten haben, wie man sie nur auf der Seideninsel kennt. Er versuchte ihr Töne zu entlocken, aber er spielte ganz leise, nicht viel lauter als der Regen, der auf das Moosdach fiel.

»Auf den Märkten in Hort«, sagte Sperber, »verkaufen sie Stoffe und preisen sie als Seide aus Lorbanery an. Manche sind tatsächlich Seide, aber sie stammt nicht aus Lorbanery.«

»Wir hatten vier oder fünf schlechte Jahre«, seufzte der Magere.

»Fünf Jahre sindʹs her, am Brachmond hatʹs angefangen«, sagte ein alter Mann; er sprach mit kauender Bewegung und mehr zu sich selbst, als zu den anderen. »Ja, ja, seit der alte Mildi gestorben ist, und der ist tot, und war lange nicht so alt wie ich. Am Brachmondabend, ja, ja, da ist er gestorben.«

»Mangel treibt die Preise hoch«, sagte der Bürgermeister. »Für einen Ballen mittelfeiner Blauer kriegen wir jetzt soviel wie früher für drei.«

»Wenn wir überhaupt was kriegen! Wo sind denn die Schiffe? Und das Blau ist nicht echt«, sagte der Magere, und es entspann sich ein halbstündiger Streit über die Qualität der Farben, die in der großen Arbeitshalle verwendet wurden.

»Wer macht die Farben?« fragte Sperber, und ein neuer Disput entbrannte. Es stellte sich heraus, daß das Färben in den Händen einer Familie gelegen hatte, die sich tatsächlich Zauberer nannten, aber wenn es Zauberer gewesen waren, so hatten sie ihre Kunst verloren, und kein Mensch hatte sie wiedergefunden, wie der Magere mit saurer Miene feststellte. Und alle, außer dem Bürgermeister, stimmten überein, daß das berühmte Blau von Lorbanery und das unvergleichliche Purpur, das ›Drachenfeuer‹, das die Königinnen von Havnor dereinst getragen hatten, nicht mehr das gleiche waren. Irgend etwas fehlte an den Farben. Vielleicht war der Regen zu jeder Jahreszeit, oder die Farberde, oder der Färber daran schuld. »Auf die Augen kommtʹs an«, sagte der Magere. »Es gibt Leute, die ein echtes Azur nicht von blauem Dreck unterscheiden können«, und er blickte den Bürgermeister herausfordernd an. Doch der war nicht gewillt, den Streit fortzusetzen. Alle schwiegen wieder.

Der dünne, saure Wein schien ihre Gemütsverfassung zu beeinflussen, die Gesichter blickten immer verdrossener drein. Nur das Rauschen des Regens zwischen den unzähligen Blättern der Bäume, die in den Gärten des Tales standen, das Flüstern des Meeres am Ende der Straße und das leise Klingen der Laute in der Dunkelheit des Hauses waren zu vernehmen.

»Kann er singen, Ihr Junge mit dem Mädchengesicht?« fragte der Bürgermeister.

»Aber sicher kann er singen. Arren! Stimm was an, mein Junge! «

»Es gelingt mir nicht, die Laute aus dem Moll herauszulocken«, sagte Arren lächelnd aus dem Fenster. »Sie will weinen, die Laute. Was wünschen Sie zu hören?«

»Was Neues«, brummte der Bürgermeister.

Die Laute trillerte. Er hatte schon herausgefunden, wie sie zu spielen war. »Das ist vielleicht neu hier«, sagte er. Dann hob er an:

Bei den weißen Meeresstraßen von Solea,

bei den tiefhängenden roten Zweigen,

die ihre Blüten über mein

gebeugtes Haupt neigen, schwer

vom Kummer um den verlorenen Liebsten,

bei dem roten Zweig und bei dem weißen Zweig,

bei dem Schmerz, der nie versiegen wird,

schwöre ich, Serriadh,

ich, Morreds und meiner Mutter Sohn,

daß ich auf ewig und immerdar

des Unheils gedenken werde, das geschehen ist,

auf ewig und immerdar.

Niemand rührte sich: die verbitterten und die schlauen Gesichter, die abgearbeiteten Hände, die gebeugten Körper, alles war still. Sie saßen im warmen Regen, in der Dämmerung des Südens, und hörten das Lied, das wie der Schrei eines grauen Schwanes über die kalte See bei Ea, klagend und tief traurig, in ihre Herzen drang. Sie schwiegen noch lange, nachdem das Lied geendet hatte.

»Das ist ein komischer Gesang«, meinte schließlich einer zögernd.

Und ein anderer, überzeugt, daß die Insel Lorbanery im Mittelpunkt aller Länder und Zeiten liege, meinte: »Fremde Musik ist immer komisch — und trübselig dazu.«

»Jetzt gebt ihr ein Lied zum Besten!« munterte sie Sperber auf. »Ich persönlich würde gern was Handfestes hören. Der Junge hier singt immer von alten Helden, die schon längst tot sind.«

»Gut, ich sing’ euch was«, sagte der Mann, der zuletzt gesprochen hatte. Er war zunächst etwas verlegen, doch dann stimmte er ein munteres Trinklied an, vom Wein, der so lieblich und rein, mit einem Trallalala und einem Fallalala am Ende, doch niemand fiel in den Refrain ein, und er sang sein Lied nicht zu Ende.

»Selbst das Singen klappt nicht mehr«, sagte er ärgerlich. »Da sind die jungen Leute dran schuld, alles muß gekürzt und geändert werden, alles Alte ist schlecht, und keiner will mehr die alten Lieder lernen!«

»Das ist es nicht«, sagte der Magere. »Nichts klappt mehr. Nichts ist mehr so, wie es war. Das Glück hat uns verlassen.«

»Stimmt, stimmt«, ließ sich die dünne Stimme des alten Mannes vernehmen. »Das Glück fehlt. Fort istʹs. Daran liegtʹs.«

Darauf ließ sich nichts erwidern, und die Dorfbewohner verließen das Gasthaus zu zweit und zu dritt, bis Sperber allein draußen vor dem Fenster saß. Und Arren hörte drinnen, wie er lachte, aber es war ein bitteres Lachen.

Die scheue Frau des Schankwirts kam, breitete Strohsäcke und Decken auf dem Boden für sie aus und verschwand sofort wieder. Sie legten sich zum Schlafen nieder. Zahllose Fledermäuse nisteten in dem hohen Dachgebälk und flogen die ganze Nacht mit unaufhörlichem Gepiepse durch die unverglasten Fenster aus und ein. Erst als die Morgendämmerung kam, kehrten sie alle zurück und hängten sich, sorgfältig hintereinander angeordnet wie kleine graue Bündelchen, an den Dachbalken auf.

Vielleicht war die Rastlosigkeit der Fledermäuse an Arrens unruhigem Schlaf schuld. Viele Nächte waren vergangen, seit er nicht mehr an Land geschlafen; sein Körper war nicht mehr an die unbewegliche Erde gewöhnt und bestand darauf, daß er geschaukelt werde, geschaukelt, bevor er einschlafe, doch dann — plötzlich — tat sich der Boden unter ihm auf, und er erwachte mit einem Ruck. Dann, als er endlich einschlief, träumte er, daß er im Laderaum des Sklavenfängers angekettet war, und die Männer, an die er gekettet war, waren alle tot. Mehr als einmal schreckte er aus diesem Traum auf und versuchte ihn zu vergessen, doch sobald er wieder einschlief, nahm der gleiche grausige Traum seinen Fortgang. Schließlich fand er sich allein auf diesem Schiff, doch war er noch immer angekettet und konnte sich nicht bewegen. Dann vernahm er eine ganz merkwürdige Flüsterstimme, die ihm langsam ins Ohr zischelte: »Be … frei… dich … von … dei… nen … Fes … seln!« und noch einmal: »Be … frei…« Daraufhin versuchte er sich zu bewegen, und siehe da, er konnte sich bewegen. Er stand auf. Er schaute sich um und sah ein immenses, dunkel verhangenes Moor unter einem tiefen bleiernen Himmel. Die Erde und die stickige Luft erfüllten ihn mit Grauen. Dieser Ort war die Furcht selbst, er bestand aus Beklemmung und Schrecken. Und er, Arren, stand inmitten dieses Ortes, und es gab keinen Weg, und er war ganz klein, wie ein Kind, wie eine Ameise, und der Ort war grenzenlos, endlos, unheimlich. Er versuchte zu gehen, stolperte und wachte auf.

Jetzt, da er nicht mehr schlief, schlich sich die Furcht in sein Herz; sie war jetzt in ihm, er war nicht mehr in ihr, und sie war nicht geringer geworden, sie war noch immer grenzenlos. Er glaubte in dem dunklen Raum ersticken zu müssen, und suchte mit den Augen nach den Sternen im schwachumrissenen Viereck des Fensters, doch keine Sterne waren zu sehen, obwohl der Regen aufgehört hatte. Er lag wach auf seinem Lager und fürchtete sich. Die Fledermäuse flogen ein und aus, auf lautlosen, ledernen Schwingen, und er konnte ihre wispernden Stimmen, an der Schwelle der Hörbarkeit, ab und zu vernehmen.

Der Morgen brach hell an. Sie standen sehr früh auf, und Sperber erkundigte sich überall ernsthaft nach Emmelstein. Einige der Dorfbewohner glaubten zu wissen, was Emmelstein war, doch jeder hatte seine eigene Ansicht, die er sich von keinem nehmen ließ, und es entspannen sich darüber hitzige Wortwechsel. Sperber hörte aufmerksam zu, aber es war nicht das Für und Wider des Emmelsteins, das ihn interessierte, er spitzte die Ohren, um einen Einblick in andere Dinge zu erlangen. Schließlich folgten sie dem Rat des Bürgermeisters und machten sich auf den Weg zu einem Steinbruch, wo das Mineral für den blauen Farbstoff gebrochen wurde. Doch Sperber wandte sich bald vom Weg ab.

»Das hier muß das Haus sein«, sagte er. »Hier an diesem Weg muß die Familie der Färber und der in Ungnade gefallenen Zauberer wohnen.«

»Lohnt es sich denn, mit ihnen zu reden?« fragte Arren, der sich nur noch allzugut an Hase erinnerte.

»Irgendwo ist der Mittelpunkt dieses ganzen unheimlichen Wesens«, sagte der Magier kurz. »Irgendwo ist der Ort, wo das Glück durchrinnt. Und dorthin, zu diesem Ort, brauche ich einen Führer!« Und er ging weiter, ohne anzuhalten, und Arren hatte keine andere Wahl, er mußte ihm folgen.

Das Haus stand abseits von den Baumgärten, die zu ihm gehörten. Es war ein stattliches Haus, aber es sah ziemlich verwahrlost aus, genauso verwahrlost wie die Felder ringsum. Die Kokons ungesammelter Seidenraupen hingen, teils zerfetzt, an den leeren Zweigen, und auf dem Boden darunter lagerten graue Schichten toter Larven und Motten. Von dem Haus, das unter Bäumen stand, ging ein Geruch der Verwesung aus, der Arren abrupt an den entsetzlichen Traum der vergangenen Nacht erinnerte.

Sie hatten das Haus noch nicht ganz erreicht, als die Tür aufflog und eine grauhaarige Frau mit geröteten Augen herausstürzte und schrie: »Fort, fort mit euch! Ihr Lumpenpack, ihr Diebe, ihr Verleumder, ihr Lügner, ihr Schafsköpfe, ihr Geschmeiß! Fort mit euch! Seid verflucht, ihr Gesindel!«

Sperber blieb ziemlich überrascht stehen, dann hob er die Hand und vollführte eine seltsame Geste. Er sprach nur ein Wort: »Wende!«

Die Frau blieb wie angewurzelt stehen, als sie das hörte. Sie starrte ihn an.

»Warum hast du das getan?«

»Um deinen Fluch von uns abzuwenden.«

Sie starrte noch immer; schließlich sagte sie mit rauher Stimme: »Fremde?«

»Aus dem Norden.«

Sie näherte sich. Arren war zuerst versucht gewesen, über das alte Weib, das schreiend unter ihrer Tür stand, zu lachen. Doch als sie näherkam, schämte er sich. Sie war abstoßend und trug nur Lumpen, ihr Atem roch, doch ihre starrenden Augen sprachen von Schmerz und Pein.

»Ich habe keine Macht zum Fluchen mehr«, sagte sie gequält, »keine Macht.« Sie ahmte Sperbers Geste nach. »Das macht man immer noch dort, wo du herkommst?«

Er nickte. Sein Blick ruhte auf ihr, und sie schaute ihn an. Nach einer Weile veränderten sich ihre Züge, und sie fragte: »Wo ist dein Stab?«

»Den zeige ich nicht hier, Schwester.«

»Natürlich, du hast recht. Er hält dich vom Leben ab. Wie meine Macht: sie hat mich auch vom Leben abgehalten. Deswegen habe ich sie verloren Alles, was ich gewußt habe, alles habe ich verloren, all die Worte, all die Namen. Mit winzigen Fäden, wie Spinnenfäden, kamen sie mir aus den Augen und aus dem Mund heraus. Die Welt hat einen Riß, und alles Licht rinnt heraus. Und mit dem Licht verschwinden die Worte. Wußtest du das? Mein Sohn hockt den ganzen Tag da und blickt ins Dunkel. Er sucht den Riß in der Welt. Er sagt, er würde besser sehen, wenn er blind wäre. Er hat seine Färberhand verloren. Wir waren die Färber von Lorbanery. Schau her!« Sie schüttelte ihren dünnen, aber erstaunlich muskulösen Arm vor ihren Augen, der bis zum Ellenbogen von unaustilgbaren Farben schwach gestreift war. »Es läßt sich nie ganz von der Haut abwaschen«, sagte sie. »Aber der Geist, der läßt sich abwaschen, der erinnert sich nicht mehr an die Farben. Wer bist du?«

Sperber antwortete nicht. Wiederum blickte er sie unverwandt an, und Arren, der daneben stand, wurde es unheimlich zumute.

Plötzlich begann sie zu zittern und flüsterte: »Ich kenne dich…«

»Gewiß. Gleich und gleich erkennt sich, Schwester.«

Arren beobachtete gebannt, wie sie schreckensbleich vor dem Magier zurückwich und fliehen wollte — und doch von ihm angezogen wurde und das Verlangen hatte, sich ihm zu Füßen zu werfen.

Er ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Willst du deine Macht zurückhaben, deine Kunst, die Namen? Ich kann sie dir wiedergeben.«

»Du bist der Große«, flüsterte sie. »Du bist der König der Schatten, der Fürst des dunklen Reiches …«

»Nein, der bin ich nicht. Ich bin kein König. Ich bin ein Mensch, sterblich, dein Bruder und dir ähnlich.«

»Aber du wirst nicht sterben?«

»Doch, ich werde sterben.«

»Aber du wirst zurückkehren und ewig weiterleben.«

»Nein. Kein Mensch kann das.«

»Dann bist du nicht… nicht der Große, der Fürst der Dunkelheit«, sagte sie mit gerunzelter Stirn und schaute ihn schräg und weniger furchtsam von der Seite an. »Aber du bist auch ein Großer. Gibt es denn zwei? Wie heißt du?«

Sperbers harte Züge entspannten sich ein wenig. »Das kann ich dir nicht sagen«, sagte er sanft.

»Ich werde dir etwas verraten«, sagte sie. Sie hatte sich aufgerichtet und blickte ihm nun voll ins Gesicht; in ihrer Stimme und in ihrer Haltung lag die Spur einstiger Würde. »Ich will nicht auf ewig weiterleben. Ich hätte viel lieber die Namen wieder zurück. Aber sie sind alle verschwunden. Namen spielen jetzt keine Rolle mehr. Es gibt keine Geheimnisse mehr. Willst du meinen Namen wissen?« Ihre Augen glänzten, ihre Hände ballten sich zu Fäusten; sie lehnte sich nach vorn und flüsterte: »Ich heiße Akaren.« Dann schrie sie laut auf: »Akaren, Akaren, ich heiße Akaren. Jetzt wissen alle meinen geheimen, meinen wahren Namen, und es gibt keine Geheimnisse, keine Wahrheit mehr, es gibt keinen Tod mehr — keinen Tod mehr — keinen Tod! « Sie schrie die letzten Worte laut schluchzend hinaus, und Schaum trat auf ihre Lippen.

»Sei ruhig, Akaren!«

Sie wurde ruhig. Tränen rannen ihr übers Gesicht, das schmutzig und teilweise von ihrem strähnigen, grauen Haar bedeckt war.

Sperber nahm das verrunzelte, verweinte Gesicht zwischen seine beiden Hände und küßte sie ganz sacht auf die Augen. Sie stand regungslos da und hielt ihre Augen geschlossen. Dann flüsterte er einige Worte in der Ursprache in ihr Ohr und küßte sie noch einmal, dann ließ er sie los.

Sie schaute ihn mit klaren Augen eine Weile nachdenklich und erstaunt an. Ein neugeborenes Kind blickt so auf seine Mutter, eine Mutter blickt so auf ihr Kind. Sie wandte sich langsam um und ging auf ihre Tür zu, trat ein und schloß sie hinter sich. Sie bewegte sich ruhig, und der staunende, stille Ausdruck blieb auf ihrem Gesicht liegen.

Schweigend wandte sich der Magier um und ging zum Weg zurück. Arren folgte ihm. Er wagte nicht, irgendwelche Fragen zu stellen. Nachdem sie einige Schritte gegangen waren, hielt der Magier in dem verwahrlosten Baumgarten inne und sagte: »Ich habe ihren Namen von ihr genommen und gab ihr einen neuen. Und in gewissem Sinne ist sie wiedergeboren. Es blieb mir nichts anderes übrig.«

Er sprach mit Mühe, und seine Stimme klang erstickt.

»Sie war einst eine mächtige Frau«, fuhr er fort, »kein gewöhnliches Zauberweib oder Hexenbraumeisterin, sondern eine Frau, die bewandert war in den Hohen Künsten und die ihr Wissen benutzte, um Gutes und Schönes zu wirken, eine stolze, verehrenswerte Frau. Sie hat ein gutes Leben geführt, und alles war umsonst.« Er drehte sich brüsk um und ging den Pfad zwischen den Obstbäumen entlang. Er blieb neben einem Baum stehen, Arren den Rücken zugekehrt.

Arren wartete auf ihn, im warmen, vom Schattenspiel der Blätter unterbrochenen Sonnenlicht. Er wußte, daß Sperber ihn nicht mit seinen Gefühlen belasten wollte, und er konnte ihm auch nicht helfen, weder mit Wort noch mit Tat. Doch er fühlte mit der ganzen Stärke seines Herzens den Schmerz seines Gefährten; seine Liebe war tiefer geworden als die romantische Flamme, die Verehrung, die er zuerst für ihn empfunden hatte; jetzt schmerzte sie ihn, denn sie kam aus der Tiefe seines Herzens und sie band ihn, untrennbar, an seinen Begleiter. Mitfühlen, Mitempfinden hatte seine Liebe gefestigt, hatte sie zu einem Ganzen geschlossen und ihr Bestand verliehen.

Nach einer Weile kam Sperber durch den grünen Schatten der Bäume zu ihm zurück. Beide schwiegen. Seite an Seite gingen sie den Weg zum Dorf. Es war ziemlich heiß geworden. Der Regen der vergangenen Nacht hatte keine Spuren hinterlassen. Der Staub wirbelte unter ihren Füßen auf, als sie dahinschritten. Am Morgen war Arren der Tag bedrükkend und schwer erschienen, die Träume der Nacht hatten nachgewirkt. Doch jetzt kehrte das Wohlbehagen wieder in ihn zurück. Es gefiel ihm, abwechselnd in der brennenden Sonne und im kühlenden Schatten dahinzuwandern, ohne sich groß Gedanken über ihr ferneres Ziel zu machen.

Er hätte nichts Besseres tun können, denn ihr Nachmittag verlief völlig ergebnislos. Sie unterhielten sich mit verschiedenen Männern, die in den Steinbrüchen arbeiteten, wo die zum Färben notwendigen Mineralien gewonnen wurden. Einige behaupteten, Emmelstein zuhaben, und Sperber handelte ihnen ein paar Steinsplitter ab, die ihm als Emmelsteine angeboten wurden. Die späte Nachmittagssonne brannte heiß auf ihre Köpfe und Nacken, als sie nach Sosara zurückkehrten. Sperber meinte: »In Wirklichkeit ist es ja blauer Malachit, aber ich bin sicher, daß sie in Sosara den Unterschied auch nicht kennen.«

»Die Leute hier sind komisch«, stellte Arren fest. »Sie kennen keine Unterschiede. Es ist so mit allem. Gestern abend zum Beispiel hat der eine zum Bürgermeister gesagt: ›Du kannst ein wahres Azur nicht von blauem Dreck unterscheiden! ‹ Und sie beklagen sich über die schlimmen Zeiten und wissen gar nicht, wann sie eigentlich angefangen haben, und sie klagen über schlechte Qualität, tun aber nichts, um sie zu verbessern, sie wissen nicht einmal den Unterschied zwischen einem Handwerker und einem Zaubermeister, zwischen Kunsthandwerk und magischer Kunst. Mir kommt es vor, als hätten sie Unterschiede, Farben und Umrisse nicht ganz klar im Kopf. Alles kommt ihnen gleich vor, alles scheint ihnen grau zu sein.«

»Stimmt«, sagte der Magier nachdenklich. Er marschierte eine Weile weiter, den Kopf zwischen gezogenen Schultern, falkenähnlich; obgleich er nicht besonders groß war, machte er lange Schritte: »Was fehlt ihnen?«

Ohne zu zögern antwortete Arren: »Lebensfreude.«

»Stimmt«, sagte Sperber wieder. Er grübelte eine Weile über Arrens Feststellung nach. »Ich bin froh«, sagte er schließlich, »daß ich dich dabeihabe und du für mich denkst, mein Junge… Ich bin müde und komme mir ganz dumm vor. Es hat mir wehgetan und es schmerzt mich noch immer, an sie zu denken, die einst Akaren gewesen war. Zerstörung und Verlust kann ich nur schwer ertragen. Ich will keinen Feind. Doch wenn ich einen haben muß, so will ich ihn nicht suchen und finden und mich stellen… Wenn man schon auf eine Suche ausziehen muß, dann sollte am Ende ein Schatz zu erringen sein und nicht dieses Verabscheuungswürdige auf einen warten.«

»Ein Feind?« fragte Arren.

Sperber nickte.

»Als sie von dem Großen, von dem König der Schatten…?«

Sperber nickte wieder. »Ich glaube, ja«, sagte er. »Ich glaube, wir müssen nicht nur einen Ort, sondern auch einen Menschen suchen. Schlimm, ganz schlimm ist es, was hier auf dieser Insel vor sich geht: dieser Verlust an handwerklichem Können, an Stolz, diese Gleichgültigkeit! Das ist das Werk eines bösen Willens. Und dieser Wille hat es noch nicht einmal auf diese Insel hier abgesehen, Akaren und Lorbanery sind ihm ganz gleichgültig. Das, was wir verfolgen, ist weit mehr als eine Spur, es ist eine breite Bahn der Zerstörung, es kommt mir vor, als verfolgten wir einen Wagen, der sich losgerissen hat und jetzt den Berg hinunterpoltert und eine Lawine auslöst.«

»Hätte sie — Akaren — Ihnen nicht mehr über diesen Feind erzählen können — wer er ist, wo er ist und was er ist?«

»Jetzt nicht, mein Junge«, sagte der Magier leise, und seine Stimme klang hoffnungslos. »Sicher hätte sie können. In ihrem Wahnsinn war noch Zauberkunst. Ja, ihr Wahnsinn war ihre Zauberkunst. Aber ich konnte sie nicht festhalten, damit sie mir Auskunft gebe. Sie hat zuviel gelitten.«

Und er setzte seinen Weg fort, mit eingezogenem Kopf, als sei ihm selbst eine Last auferlegt, und als suche er verzweifelt, seinen Schmerz zu lindern.

Arren wandte sich um, weil er glaubte, Fußgetrappel hinter sich zu vernehmen. Er sah einen Mann, der, noch ziemlich weit weg, hinter ihnen herlief. Der Abstand verringerte sich rasch. Der Staub des Weges und sein langes, zerzaustes Haar waren von der Abendsonne durchleuchtet und umgab ihn wie einen Heiligenschein; sein langer Schatten hüpfte und sprang von Stamm zu Stamm der Bäume, die entlang des Weges standen. »Haltet an!« rief er. »Hört zu! Ich habʹs gefunden! Ich habʹs gefunden!«

Der Mann kam auf sie zugerannt. Arrens Hand griff flugs dorthin, wo sein Schwert gehangen hatte, und bekam nur Luft zu fassen, dann griff er dorthin, wo sein verlorenes Messer gewesen war, und fand wiederum nur Luft, dann ballte er die Hand zur Faust, alles innerhalb einer einzigen Sekunde; seine Brauen waren finster zusammengezogen, und er machte einen drohenden Schritt nach vorne. Der Mann war einen vollen Kopf größer als Sperber, breitschultrig, schweratmend, und seine Augen blickten wild um sich. »Ich habʹs gefunden!« wiederholte er immer wieder, während Arren ihn mit strengem Blick musterte und mit herrischer Stimme Einhalt gebieten wollte. »Was wollen Sie von uns?« fragte er ihn. Der Mann versuchte, um ihn herum auf Sperber zuzugehen. Arren vertrat ihm den Weg.

»Du bist der Färber von Lorbanery«, sagte Sperber.

Jetzt merkte Arren, daß er sich lächerlich benommen hatte, denn Sperber mußte nur sechs Worte sagen, und der Mann atmete ruhiger und stellte sein zielloses Gestikulieren mit seinen großen farbbefleckten Händen ein, sein Blick wurde weniger irr. Er nickte.

»Ich war der Färber«, sagte er, »aber jetzt kann ich nicht mehr färben.« Er blickte Sperber von der Seite her an und grinste, dann schüttelte er seinen rötlichen, staubigen Haarschopf. »Du hast meiner Mutter den Namen weggenommen«, sagte er. »Jetzt kenne ich sie nicht mehr, und sie kennt mich nicht mehr. Sie mag mich immer noch, aber jetzt hat sie mich verlassen. Sie ist tot.«

Arrens Herz krampfte sich zusammen, aber er sah, daß Sperber nur leicht den Kopf schüttelte. »Nein, nein«, sagte er. »Sie ist nicht tot.«

»Aber sie wird tot sein. Sie wird sterben.«

»Stimmt. Das ist eine Folge des Lebendigseins«, sagte der Magier. Der Färber stutzte und schien eine Weile über diese Worte nachzudenken, dann trat er auf Sperber zu, packte ihn an den Schultern und beugte sich über ihn. Das alles geschah so schnell, daß Arren ihn nicht daran hindern konnte, aber er stand so dicht bei ihm, daß er sein Flüstern vernahm: »Ich habe den Riß in der Dunkelheit gefunden. Der König stand dort. Er paßt darauf auf, der bewacht es. Er hat ein kleines Licht in der Hand, eine Kerze. Er hat geblasen, und sie ist erloschen. Dann blies er noch mal, und sie brannte wieder! Sie brannte!«

Sperber wehrte sich nicht dagegen, festgehalten zu werden, und er gebot ihm nicht, lauter zu sprechen. Er fragte nur ganz schlicht »Wo warst du, als du das gesehen hast?«

»Im Bett.«

»Geträumt?«

»Nein.«

»Auf der anderen Seite der Mauer?«

»Nein«, sagte der Färber, und seine Stimme klang ernüchtert; man sah, daß ihm unbehaglich wurde. Er gab die Schultern des Magiers frei und trat einen Schritt zurück. »Nein, ich … ich weiß nicht, wo es ist. Ich habe es gefunden. Ich weiß nicht, wo.«

»Und gerade das wüßte ich gern«, sagte Sperber.

»Ich kann dir helfen.«

»Wie?«

»Du hast ein Boot. Du bist hierher gesegelt. Du segelst wieder fort damit. Nach Westen? Dort ist der Weg. Der Weg zu dem Ort, von dem er kommt. Es muß eine Stelle geben — hier —, denn er lebt … er ist nicht wie die Geister, die Körperlosen, die über die Mauer gehen, nein, nein, er ist nicht so … nur Seelen kommen über die Mauer, aber er hat einen Körper, sein Fleisch ist unsterblich. Ich habe gesehen, wie er die Flamme mit seinem Atem anblies, und er hat sie ausgelöscht. Das habe ich gesehen!« Ein ekstatischer Ausdruck kam über seine Züge und verlieh seinem Gesicht in dem späten, rotgoldnen Licht eine wilde Schönheit. »Ich weiß, daß er den Tod überwunden hat. Ich weiß es. Ich habe meine Zauberkunst hergeben müssen, um das zu wissen. Ich war nämlich Zauberer! Du weißt das! Und du gehst dorthin zurück. Nimm mich mit!«

Das gleiche rotgoldne Licht fiel auf Sperbers Züge, doch sie blieben davon unberührt; sein Gesicht war hart. »Ich versuche, dorthin zu gehen«, sagte er.

»Laß mich mitgehen!«

Sperber nickte kurz. »Wenn du fertig bist, wenn wir absegeln«, sagte er, genauso kurz angebunden wie zuvor.

Der Färber trat einen Schritt zurück, der triumphierende Ausdruck auf seinem Gesicht schwand, es bewölkte sich, und er starrte Sperber mit großen stieren Augen unverwandt an. Es war, als ob ein Gedanke sich langsam durch den Sturm von Gefühlen, Visionen und Worten quäle, der ihn verwirrte. Endlich wandte er sich von ihnen ab und hastete, ohne ein Wort zu sagen, den Weg wieder zurück, in den aufgewirbelten Staub hinein, der sich noch nicht wieder gesetzt hatte. Arren seufzte erleichtert auf.

Auch Sperber seufzte, doch der Seufzer schien sein Herz nicht zu erleichtern. »Na ja«, sagte er, »auf seltsamen Wegen findet man seltsame Führer. Komm, gehen wir!«

Arren marschierte im gleichen Schritt neben ihm her. »Sie werden ihn doch nicht mitkommen lassen?« fragte er.

»Das bleibt ihm überlassen.«

Und mir, dachte Arren, und Ärger wallte kurz in ihm auf. Doch er sagte nichts, und sie gingen schweigend weiter.

Man empfing sie nicht sehr freundlich in Sosara. Auf einer Insel so klein wie Lorbanery bleibt nichts unbekannt, und man hatte zweifellos gesehen, wie sie vom Weg abgebogen und sich dem Haus des Färbers zugewandt und mit dem Irren gesprochen hatten. Der Gastwirt bediente sie unwillig, und seine Frau hatte Todesangst vor ihnen. Am Abend, als die Männer des Dorfes, wie es ihre Gewohnheit war, unter dem Dachvorsprung entlang der Hauswand saßen, übergingen sie die Fremden sehr offensichtlich und bemühten sich, ein besonders lustiges und witziges Gespräch zu führen. Aber sie hatten wenig Ursache, lustig zu sein, und die Witzigkeit ging ihnen bald aus. Sie saßen und schwiegen eine lange Weile. Dann wandte sich der Bürgermeister an Sperber: »Haben Sie die blauen Steine bekommen?«

»Ja, ich habe ein paar blaue Steine bekommen«, antwortete Sperber höflich.

»Sopli hat Ihnen bestimmt gesagt, wo man sie bekommen kann.«

»Hahaha«, ertönte es von der Wand. Die offensichtliche Ironie fand den Beifall aller.

»Sopli? Ist das der rothaarige Mann?«

»Der Irre. Heute morgen haben Sie mit seiner Mutter gesprochen.«

»Ich habe einen Zauberer gesucht«, sagte der Zauberer.

Der magere Mann, der ihm am nächsten saß, spuckte in die Dunkelheit. »Wozu?«

»Ich habe gehofft, daß ich vielleicht das finden werde, was ich suche.«

»Wenn Leute nach Lorbanery kommen, dann suchen sie Seide, nicht Steine«, stellte der Bürgermeister fest. »Sie suchen auch kein Zauberzeug, kein Mit-dem-Arm-Herumschwingen und Gefasel und Hexengeplänkel. Hier wohnen ehrliche Leute, die ein ehrliches Handwerk treiben.«

»Das stimmt. Er hat recht«, ließen sich die anderen vernehmen »Wir brauchen kein fremdes Volk hier, keine Leute, die sich in unsere Angelegenheiten mischen und ihre Nase in Sachen stecken, die sie nichts angehen.«

»Das stimmt. Er hat recht«, ertönte es im Chor.

»Wenn wir Zauberer hätten, die nicht verrückt wären, dann würden wir sie in unseren Werkschuppen anstellen, aber die wissen ja nicht, was es heißt, ordentlich zu arbeiten.«

»Sie wüßten es vielleicht schon, wenn es Arbeit gäbe«, sagte Sperber. »Aber eure Schuppen stehen ja leer, eure Bäume sind vernachlässigt, und die Seide in den Lagerhallen wurde schon vor Jahren gewoben. Was treibt ihr denn hier auf Lorbanery?«

»Wir kümmern uns um unsere eigenen Angelegenheiten«, erwiderte der Bürgermeister barsch, aber der Magere unterbrach ihn aufgeregt: » Warum kommen denn keine Schiffe, he? Was ist denn los in Hort? Hat das mit unserer Seide zu tun, die nicht mehr die gleiche Qualität hat wie …?«

Wütende Stimmen unterbrachen ihn. Sie begannen untereinander zu streiten, sprangen auf, der Bürgermeister schüttelte die Faust dicht vor Sperbers Gesicht, ein anderer hielt plötzlich ein Messer in der Hand. Ihre Stimmung war umgeschlagen, ein wilder Taumel hatte sie erfaßt. Arren war aufgesprungen. Er blickte auf Sperber; er wartete darauf, daß der aufstehen würde und sich im plötzlichen Glanz seines magischen Lichtes vor ihnen erheben und sie mit seiner Macht zum Schweigen bringen würde. Aber er rührte sich nicht. Er blieb sitzen und blickte von einem zum anderen und hörte gelassen ihren Drohungen zu. Und allmählich verstummten sie. Sie konnten ihren Zorn genausowenig aufrechterhalten wie ihr Lustigsein. Das Messer verschwand in der Scheide. Die Drohungen milderten sich zu Beschimpfungen. Sie verließen die Kampfstätte wie Hunde nach einer Rauferei: die einen hocherhobenen Hauptes, die anderen den Schwanz eingezogen.

Als sich die beiden allein fanden, stand Sperber auf, ging hinein in die Gaststätte und trank einen langen Schluck Wasser aus dem Krug, der neben der Tür stand. »Komm, Junge!« sagte er. »Mir reichtʹs hier.«

»Zum Boot?«

»Ja«; er legte zwei Silberstücke auf den Fenstersims, um für Bewirtung und Übernachtung zu zahlen. Dann hob er das leichte Bündel mit ihrer Kleidung auf die Schultern. Arren war müde und schläfrig, aber nachdem er einen Blick in die Gaststube geworfen hatte, die stickig und düster war, und in deren Gebälk das unaufhörliche Piepsen und Rascheln der Fledermäuse zu vernehmen war, erinnerte er sich wieder an die vergangene Nacht: Er folgte Sperber gern. Auch hoffte er, als sie die einzige Straße von Sosara in der Dunkelheit hinabschritten, daß sie nun diesem Sopli entweichen würden. Aber als sie den Hafen erreichten, fanden sie ihn wartend an der Anlegestelle.

»Da bist du ja«, sagte der Magier. »Geh an Bord, wenn du mitkommen willst.«

Ohne ein Wort zu reden, stieg Sopli ins Boot und kauerte sich beim Mast nieder wie ein großer, zottiger Hund. Das überstieg Arrens Geduld. »Mein Gebieter!« sagte er. Sperber wandte sich um. Sie standen sich gegenüber.

»Die Leute hier auf der Insel sind alle verrückt. Ich dachte, Sie seien es nicht. Warum nehmen Sie ihn mit?«

»Als einen Führer.«

»Als Führer — in den Wahnsinn? Zum Tod durch Ertrinken oder mit einem Messer im Rücken?«

»Zum Tod, ja — aber auf welchem Weg weiß ich nicht.«

Arren war erregt, und obgleich Sperbers Stimme ruhig klang, so lag doch ein warnender Unterton darin. Er war nicht gewohnt, zur Rede gestellt zu werden. Doch seit Arren am Spätnachmittag versucht hatte, ihn vor dem Irren auf der Straße zu schützen und gemerkt hatte, wie unnötig und umsonst sein Schutz gewesen war, fühlte er eine Bitternis in sich, und das überwältigende Gefühl der Zuneigung, das ihn am Morgen überkommen hatte, war verschwunden und ausgelöscht. Er war nicht in der Lage, Sperber zu schützen, er durfte keine Entscheidung fällen, ja er wußte oder verstand nicht einmal, was sie nun eigentlich suchten. Er wurde nur mitgeschleppt, er war so unnütz wie ein Kind. Aber er war kein Kind mehr.

»Ich möchte mich nicht mit Ihnen streiten«, sagte er, so kalt er es vermochte. »Doch das hier — das übersteigt die Vernunft.«

»Es übersteigt die Vernunft. Wir gehen dorthin, wo uns die Vernunft nicht weiterhilft. Kommst du oder kommst du nicht?«

Tränen des Zornes traten in Arrens Augen. »Ich habe gesagt, daß ich mitkommen und Ihnen dienen werde. Ich bin nicht wortbrüchig.«

»Dann ist es gut«, sagte der Magier und wandte sich schroff ab; doch dann schien er sich zu besinnen und drehte sich Arren zu: »Ich brauche dich, Arren, und du brauchst mich. Jetzt kann ich es dir sagen: dem Weg, dem wir folgen, dem mußt du folgen, nicht aus Gehorsam und Ergebenheit mir gegenüber, sondern weil er für dich bestimmt war, noch bevor du mich gesehen, bevor du deinen Fuß auf Rok gesetzt und bevor du Enlad verlassen hast. Du kannst nicht umkehren.«

Seine Stimme war nicht weicher geworden. Arren antwortete im gleichen kalten Ton: »Wie könnte ich denn umkehren? Ohne Boot, hier am Rande der Welt?«

»Das hier der Rand der Welt? Nein, der liegt weiter draußen. Viel weiter. Wir kommen vielleicht noch dorthin.«

Arren nickte kurz und sprang ins Boot. Sperber löste das Seil und sprach einen leichten Wind in das Segel. Als sie die finster aufragenden, leeren Docks von Lorbanery hinter sich hatten, blies eine frische Brise aus dem dunklen Norden, kühl und rein, und der Mond goß sein silbernes Licht über das glatte Wasser. Er zog links von ihnen seine Bahn, als sie die Küste der Insel in südlicher Richtung umsegelten.

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