Trocken, ganz trocken war sein Mund. Er konnte Staub schmecken. Seine Lippen waren mit Staub bedeckt.
Er beobachtete das Schattenspiel, ohne den Kopf vom Boden zu heben. Die großen Schatten streckten und beugten sich, die kleineren, undeutlicheren eilten hurtig, wie neckend, über Decke und Wände. In der Ecke befand sich ein Schatten, und auf dem Boden lag ein Schatten. Beide waren regungslos.
Sein Hinterkopf begann zu schmerzen. Ganz plötzlich klärte sich das Bild vor seinen Augen; es durchlief ihn eiskalt. Hase saß zusammengekrümmt in einer Ecke, sein Kopf lag auf seinen Knien. Sperber lag auf dem Rücken, ein Mann kniete auf ihm, ein anderer warf Goldstücke in einen Beutel, und ein Dritter sah zu. Der dritte Mann hielt in der einen Hand eine Laterne und in der anderen einen Dolch, Arrens Dolch.
Er konnte sich nicht Klarheit darüber verschaffen, ob sie redeten. Er hörte nur seine eigenen Gedanken, die ihm sofort und ohne Umschweife diktierten, was er zu tun habe. Er gehorchte im gleichen Augenblick. Langsam, ganz langsam, kroch er einen halben Meter nach vorne, dann streckte er flink seine Hand aus und ergriff den Beutel mit dem Gold. Er sprang auf und rannte, einen heiseren Ruf ausstoßend, hinaus auf den Gang und die Stufen hinunter. Sicheren Fußes, ohne eine Stufe auszulassen, flog er die stockfinstere Treppe hinunter. Er stürmte auf die Straße hinaus und warf sich blindlings und in vollem Lauf in die Dunkelheit.
Die Häuser hoben sich wie große schwarze Klumpen vom sternklaren Himmel ab. Das Licht der Sterne spiegelte sich schwach im Fluß, der rechts neben ihm dahinströmte. Obgleich er nicht sah, wohin die Straßen führten, erkannte er doch die Straßenübergänge, und manchmal schlug er eine entgegengesetzte Richtung ein, um seine Verfolger irrezuleiten. Sie waren ihm hart auf den Fersen, er hörte sie ganz in der Nähe. Sie waren barfuß, und ihr keuchender Atem war lauter als das Geräusch ihrer Füße. Er hätte aufgelacht, wenn er Zeit dazu gehabt hätte; endlich wußte er, was es hieß, der Gejagte und nicht der Jäger, die Beute und nicht der Führer der Meute zu sein. Allein war er, frei war er! Er bog rechts ab, rannte geduckt über eine Brücke mit hoher Brüstung, schlüpfte in eine dunkle Gasse, um eine Ecke herum, zurück zur Straße am Fluß, ihr entlang, dann über eine andere Brücke. Seine Schuhe schlugen hart auf das Kopfsteinpflaster; es war das einzige Geräusch in der stillen Stadt. Er hielt an einem Brückenpfeiler an, um seine Schnürsenkel aufzumachen, doch sie waren fest verknotet, und seine Verfolger hatten ihn nicht verloren. Die Laterne glitzerte kurz im Wasser des Flusses, das leise, schwere Getrappel der Füße war nahe. Er konnte sie nicht in der Dunkelheit verlieren, er konnte ihnen nur davonlaufen; lauf weiter, lauf geradeaus, führ sie weg von dem staubigen Zimmer, weit weg…
Sie hatten ihm seinen Mantel und sein Messer weggenommen. Er trug nur ein Hemd, es war dünn, und doch war ihm heiß. In seinem Kopf drehte sich alles, der Schmerz im Hinterkopf nahm zu. Er stach bei jedem Schritt mehr, doch er rannte, rannte immerfort… Der Beutel hinderte ihn am Laufen. Er schleuderte ihn von sich, und ein Goldstück flog heraus und klirrte auf die Steine. »Hier habt ihr euer Gold!« schrie er, seine Stimme war heiser, und er rang nach Atem. Er rannte weiter. Und plötzlich hörte die Straße auf. Keine Querstraße, keine Sterne waren mehr zu sehen; er war in eine Sackgasse geraten. Ohne seinen Lauf zu unterbrechen, wandte er sich um und lief seinen Verfolgern entgegen. Die Laterne schwang hin und her. Sie blendete ihn, doch er warf sich, mit einem trotzigen, herausfordernden Ruf auf den Lippen, gegen seine Feinde.
Eine Laterne pendelte hin und her. Ein schwaches Licht in einer großen grauen Leere. Lange hielt er seine Augen darauf gerichtet. Es wurde immer schwächer, und schließlich schob sich ein Schatten davor, und das Licht verschwand. Er trauerte ihm nach, vielleicht trauerte er um sich selbst, denn er wußte, daß er jetzt aufwachen mußte.
Die erloschene Laterne pendelte weiter an dem Mast, an dem sie festgemacht war. Das erste Licht des Tages lag auf dem Meer, das sie auf allen Seiten umgab. Eine Trommel schlug den Takt. Ruder knarrten, langsam, gleichmäßig; das Holz des Schiffes schrie und knirschte mit Hunderten kleiner Stimmen; ein Mann, im Bug stehend, rief den Männern hinter sich etwas zu. Die Männer, die mit Arren im hinteren Laderaum gefesselt beisammen saßen, schwiegen. Jeder von ihnen trug einen Eisengürtel und Handschellen, von beiden führten Eisenketten zum Nachbarn links und rechts; der Eisengürtel war außerdem noch durch eine Kette mit einem Eisenring an Deck verbunden, so daß die Männer sitzen oder kauern, aber nicht stehen oder liegen konnten. Sie waren sowieso so dicht zusammengepfercht, daß Liegen ausgeschlossen war. Arren befand sich an der vorderen Ecke an der Backbordseite. Wenn er den Kopf hochreckte, waren seine Augen auf einer Höhe mit dem Deck, das zwischen Laderaum und Reling, nicht mehr als einen halben Meter breit war.
Von den Geschehnissen der vergangenen Nacht war ihm nur noch die Jagd durch die Straßen und die Sackgasse gegenwärtig. Er hatte sich gewehrt und war überwältigt, dann gefesselt und fortgetragen worden. Ein Mann mit einer merkwürdig flüsternden Stimme hatte gesprochen, dunkel erinnerte er sich an eine Art Schmiede, an ein loderndes Feuer in einer Esse … Es war alles verschwommen. Doch er wußte, daß er sich auf einem Sklavenschiff befand, daß er gefangen war und verkauft werden würde.
Es war ihm ziemlich gleichgültig. Er war viel zu durstig. Sein Körper war wund, und sein Kopf schmerzte. Die Strahlen der aufgehenden Sonne bohrten sich wie schmerzende Pfeile in seine Augen.
Später am Morgen bekam jeder von ihnen das Viertel eines Brotlaibes und durfte einen langen Schluck aus einer Lederflasche nehmen, die von einem Mann mit harten, scharfen Zügen an ihre Lippen gehalten wurde. Um seinen Hals trug er ein breites, mit Goldnägeln verziertes Lederhalsband, wie ein Hundehalsband sah es aus, und als Arren ihn sprechen hörte, erkannte er die seltsam schwache, flüsternde Stimme.
Der Trunk und die Nahrung verminderten sein körperliches Unbehagen für eine Weile; er konnte wieder klar denken. Zum ersten Mal schaute er die Gesichter seiner Leidensgenossen an, der drei, die neben, und der vier, die hinter ihm saßen. Einige hatten die Knie hochgezogen und ließen den Kopf darauf ruhen; einer war vornüber gefallen und hing leblos an seinen Ketten, vielleicht war er seekrank, vielleicht hatte man ihm Drogen gegeben. Neben Arren saß ein ungefähr zwanzigjähriger Bursche mit einem breiten, flachen Gesicht. »Wo bringen sie uns hin?« fragte Arren.
Der Bursche blickte ihn an — ihre Gesichter waren nur ein paar Zentimeter voneinander entfernt — und grinste, dann zuckte er die Achseln, und Arren nahm an, daß er es nicht wußte. Doch dann bewegte er seine gefesselten Hände und versuchte ihm etwas zu zeigen; er öffnete seinen noch grinsenden Mund weit — und wo eine Zunge hätte sein sollen, war nur noch ein schwarzer Stummel.
»Wahrscheinlich nach Schoul«, sagte ein Mann hinter Arren, und ein anderer fügte hinzu: »Oder auf den Markt nach Amrun.« Doch der Mann mit dem Halsband, dem nichts auf dem Schiff zu entgehen schien, zischte: »Ruhe, kein Wort, oder ich werfe euch den Haifischen als Futter vor«, und alle schwiegen.
Arren versuchte sich diese Orte, Schoul und Amrun, vorzustellen. Dort wurden Sklaven verkauft. Sie wurden den Käufern vorgeführt wie Ochsen oder Schafböcke auf dem Markt von Berila. Er würde dort in Ketten stehen. Irgend jemand würde ihn kaufen und nach Hause führen und ihm einen Befehl erteilen, und er würde den Gehorsam verweigern. Oder er würde gehorchen und versuchen zu entfliehen. So oder so, er würde getötet werden. Es war keine Empörung, die bei dem Gedanken an Sklaverei in seinem Herzen aufwallte, dazu fühlte er sich viel zu elend und war zu verwirrt. Er wußte ganz einfach, daß er es nicht tun konnte, daß er innerhalb einer oder zwei Wochen sterben oder getötet werden würde. Obgleich er dies voraussah und als Tatsache hinnahm, erschütterte ihn der Gedanke, und er versuchte, nicht weiter an die bevorstehenden Tage zu denken. Er starrte auf die faulenden, schwarzen Planken des Laderaums zwischen seinen Füßen. Die Sonne brannte auf seine nackten Schultern, und er fühlte, wie der Durst seinen Mund austrocknete und seine Kehle zuschnürte.
Die Sonne ging unter. Die Nacht war klar und kalt. Die Sterne hoben sich scharf vom dunklen Himmel ab. Die Trommel schlug langsam, gleichmäßig wie ein Herzschlag. Das Rudern wurde nicht unterbrochen, denn es regte sich kein Wind. Die Kälte wurde unerträglich. Arren bekam ein wenig Wärme von den hochgezogenen Beinen des Mannes hinter ihm, und an seiner linken Seite von dem Stummen, der zusammengekauert saß und ununterbrochen einen einzigen Ton vor sich hinsummte. Die Ruderer lösten sich ab, die Trommel fing wieder von neuem an. Arren hatte auf die Dunkelheit gewartet, doch jetzt konnte er nicht schlafen. Seine Muskeln schmerzten ihn, und er konnte seine Stellung nicht ändern. Er saß und zitterte vor Kälte. Mit wunden Gliedern und ausgetrockneter Kehle starrte er hinauf zu den Sternen, die sich bei jedem Ruderschlag heftig bewegten, dann wieder an ihren gewohnten Platz zurückrutschten, still standen, sich dann wieder bewegten, zurückrutschten, still standen…
Der Mann mit dem Halsband und ein anderer Mann standen zwischen dem hinteren Laderaum und dem Mast. Die kleine, pendelnde Laterne am Mast warf einen schwachen Schein und zeichnete die Umrisse ihrer Köpfe und Schultern ab. »Nebel, verfluchtes Schwein«, erklang die schwache, haßerfüllte Stimme des Mannes mit dem Halsband. »Was hat ein Nebel zu dieser Jahreszeit in den südlichen Gewässern zu suchen? Verflucht!«
Die Trommel dröhnte weiter. Die Sterne bewegten sich, rutschten zurück, standen still. Der Mann ohne Zunge, der neben Arren saß, schauderte plötzlich zusammen, hob den Kopf und stieß einen durchdringenden Angstschrei aus, einen furchtbaren, formlosen, unmenschlichen Schrei. »Ruhe!« brüllte der andere Mann am Mast. Der Stumme schauderte wieder zusammen und setzte sein monotones Summen und die unaufhörlich kauende Bewegung seines Unterkiefers fort.
Die Sterne glitten verstohlen vorwärts und verschwanden im Nichts.
Der Mast schwankte und verschwand. Eine feuchtkalte graue Decke schien sich auf Arrens Schultern zu senken. Die Trommel stockte kurz und fuhr dann in langsamerem Rhythmus fort.
»Wie Sauermilch so dick!« zischelte die heisere Stimme irgendwo über Arren. »Rudert! Es gibt keine Untiefen im Umkreis von zwanzig Meilen!« Ein horniger, vernarbter Fuß tauchte aus dem Nebel auf, hielt kurz vor Arrens Gesicht an und verschwand mit dem nächsten Schritt.
Der Nebel löschte jede Empfindung des Vorwärtsbewegens aus, nur das Ziehen der Ruder war zu spüren. Der Schlag der Trommel klang dumpf und erstickt. Die feuchte Kälte drang bis auf die Knochen. Der Nebel kondensierte sich in den Haaren, und Arren versuchte, die Tropfen mit seiner Zunge aufzufangen, um seinen Durst zu stillen, doch seine Zähne klapperten zu stark. Das kalte Metall einer Kette schlug gegen seinen Schenkel und brannte wie Feuer auf der Haut. Die Trommel schlug, und schlug — und verstummte.
Es war totenstill.
»Schlag weiter! Was ist los?« zischte die heisere, pfeifende Stimme aus dem Bug des Schiffes. Alles blieb still.
Das Schiff rollte ein wenig auf dem stillen Wasser. Hinter der kaum sichtbaren Reling lag nichts, nur Leere. Irgend etwas rieb an der Schiffswand. Das Geräusch klang laut in dieser unheimlichen Stille und Dunkelheit. »Wir sind aufgelaufen«, flüsterte einer der Gefangenen, doch die Stille erstickte seine Stimme.
Der Nebel hellte sich auf, als ob ein Licht in ihm blühte. Arren konnte die Köpfe der Männer, die um ihn herum gefesselt saßen, klar erkennen, er sah die winzigen Wassertropfen in ihrem Haar glitzern. Wiederum rollte das Schiff, und Arren streckte sich so weit hoch, wie seine Ketten es erlaubten, er reckte den Hals, um in das Vorderteil des Schiffes sehen zu können. Der Nebel lag hell auf dem Deck, wie eine vom Mond durchleuchtete, dünne Wolke, und schimmerte kalt. Die Ruderer saßen regungslos, wie aus Stein gemeißelt. Die Besatzung stand in der Mitte des Schiffes, nur ihre Augen glitzerten schwach. An Steuerbord stand ein Mann, und das Licht ging von ihm aus. Sein Gesicht, seine Hände, sein Stab glänzten wie geschmolzenes Silber.
Zu seinen Füßen kauerte ein unförmiger, dunkler Schatten.
Arren versuchte zu sprechen, doch kein Laut kam über seine Lippen. Der Erzmagier, umstrahlt von diesem majestätischen Licht, näherte sich ihm und kniete nieder auf dem Deck. Arren fühlte, wie er seine Hand auf ihn legte und hörte seine Stimme. Er spürte, wie sich die Ketten an seiner Taille und an seinen Gelenken lösten und von ihm abfielen; durch den ganzen Laderaum hörte man das Rasseln von Ketten. Doch keiner bewegte sich. Nur Arren versuchte aufzustehen, doch es gelang ihm nicht, seine Glieder waren verkrampft von dem langen, unbeweglichen Sitzen. Der Erzmagier hielt ihn am Arm fest, und mit seiner Hilfe gelang es ihm, aus dem Laderaum zu klettern; er erreichte das Deck und ließ sich erschöpft nieder.
Der Erzmagier schritt durch das Schiff, und die neblige Pracht erhellte die Gesichter der regungslosen Ruderer. Er blieb bei dem Mann stehen, der sich an der Reling niedergeduckt hatte.
»Ich strafe nicht«, sprach die klare, harte Stimme, kalt wie das magische Licht, das ihn umgab. »Aber im Namen der Gerechtigkeit, Egre, nehme ich es auf mich: möge deine Stimme stumm bleiben, bis zu der Stunde, wo ein Wort, das wert ist, gesprochen zu werden, über deine Lippen kommt!«
Er kehrte zu Arren zurück und half ihm auf die Beine. »Komm, Junge!« sagte er, und mit seiner Hilfe humpelte Arren nach vorne und halb fallend, halb kletternd erreichte er die Weitblick, das Boot, das unten, an der Seite des Schiffes, auf den Wellen schaukelte; seine Segel sahen im Nebel wie die Flügel einer Motte aus.
Langsam erlosch das magische Licht in der unwirklichen Stille und Ruhe der Nacht, das Boot wendete und glitt davon. Fast im gleichen Augenblick war die Galeere, die schwachglühende Laterne am Mast, die regungslosen Ruderer und die hohe, schwarze Schiffswand verschwunden. Arren glaubte, Stimmen zu vernehmen, die in Schreie übergingen, doch das Geräusch war fern und verlor sich bald. Nach einer Weile hob sich der Nebel, zerriß in Fetzen, und die Schwaden trieben vorbei und verschwanden in der Dunkelheit. Bald wölbte sich der weite, sternenbesäte Himmel über ihnen, und so geräuschlos wie ein Nachtfalter flog die Weitblick durch die klare Nacht über die See davon.
Sperber hatte Arren mit Decken zugedeckt und ihm Wasser zu trinken gegeben, er saß bei ihm, und seine Hand lag auf der Schulter des Jungen, als Arren plötzlich zu schluchzen begann. Sperber sagte nichts, doch die Berührung seiner Hand war lindernd und beruhigend. Langsam kehrten Friede, Wärme und Ruhe wieder zurück in Arrens Herz.
Er schaute auf zu seinem Gefährten. Kein unwirklicher Glanz umgab mehr dessen dunkles Gesicht. Er konnte es kaum gegen den Sternenhimmel sehen.
Das Boot flog dahin, von Zauberwinden geleitet. Die Wellen flüsterten, überrascht, gegen die Seiten des Bootes.
»Wer ist der Mann mit dem Halsband?«
»Bleib ruhig liegen. Ein Seeräuber, Egre. Er trägt das Halsband, um eine Narbe zu verbergen, wo seine Kehle einmal durchgeschnitten wurde. Es scheint, als ob er sein Gewerbe der Piraterie mit dem des Sklavenhandels vertauscht hätte. Doch dieses Mal vergriff er sich. Er nahm das Junge des Bären.« In der trockenen, ruhigen Stimme lag ein Ton der Befriedigung.
»Wie haben Sie mich gefunden?«
»Zauberei, Bestechung … Ich habe Zeit vergeudet. Ich wollte nicht, daß überall herumerzählt wurde, der Erzmagier und Hüter von Rok treibt sich in den Slums von Hort herum. Es wäre mir immer noch lieb, wenn ich meine Verwandlung hätte aufrechterhalten können. Aber ich mußte diesen und jenen aufspüren, und als ich endlich erfuhr, daß das Sklavenschiff schon vor Sonnenaufgang ausgelaufen war, riß mir die Geduld. Ich machte die Weitblick los und rief einen Wind in die Segel, gerade als sich auf der ganzen Bucht kein Windchen rührte und alles still in der Hitze brütete, und dann sorgte ich noch dafür, daß die Ruder auf jedem Schiff in den Dollen steckenblieben — wenigstens eine Zeitlang. Wie sie sich das erklären werden, wenn Zauberei nichts als Luft und Lügen sein soll, weiß ich nicht, aber das ist ihr Problem. Doch in meiner Hast und in meinem Zorn überholte ich Egres Schiff, das sich östlich von dem üblichen Südkurs hielt, um den Untiefen auszuweichen. Alles ging schief an diesem Tag! Hort ist keine Stadt, die Glück verheißt … Na ja, und dann habe ich einen Findezauber gewoben, und in der Dunkelheit fand ich es endlich. Willst du jetzt nicht schlafen?«
»Ich bin wieder in Ordnung. Es geht mir wieder viel besser.« Sein Frösteln war in ein leichtes Fieber übergegangen, und er fühlte sich wirklich besser, seine Glieder waren zwar noch ermattet, doch sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, und er wollte alles wissen, was sich zugetragen hatte. »Wann sind Sie aufgewacht? Was ist mit Hase passiert?«
»Als ich aufwachte, war es bereits Tag, und Gott sei Dank habe ich einen harten Kopf, hinter dem Ohr habe ich eine Beule, so groß wie eine Gurke, und die Haut ist aufgeplatzt. Hase schlief noch in seinem Drogenrausch, als ich ihn verließ.«
»Ich war kein guter Posten…«
»Aber nicht, weil du eingeschlafen bist.«
»Nein«, sagte Arren zögernd. »Es war … ich war …«
»Du liefst mir voraus, ich habe dich gesehen«, sagte Sperber, und seine Stimme klang merkwürdig. »Und deswegen konnten sie sich hereinschleichen und uns Schläge auf den Kopf versetzen wie Lämmern an der Schlachtbank, uns unser Gold und unsere gute Kleidung wegnehmen und den Sklaven fangen, der eine Stange Geld bringen würde. Denn sie wollten dich, mein Junge! Du wärst auf dem Markt von Amrun einen Bauernhof wert gewesen.«
»Mir haben sie keinen harten Schlag gegeben. Ich bin aufgewacht. Ich bin ihnen davongelaufen. Und ich habe ihre Beute über die ganze Straße ausgeschüttet, bevor sie mich in einer Sackgasse fingen.« Arrens Augen funkelten.
»Du bist aufgewacht, als sie noch da waren — und bist fortgelaufen? Warum?«
»Um sie von Ihnen wegzulocken.« Die Überraschung, die in Sperbers Stimme gelegen hatte, schürte Arrens Stolz, und er fügte triumphierend hinzu: »Ich dachte, sie wären hinter Ihnen her. Ich fürchtete, daß die Räuber Sie töten würden. Ich nahm ihnen den Beutel und das Gold weg, damit sie mir nachliefen und schrie und rannte davon. Und sie sind mir gefolgt!«
»Gewiß — gewiß sind sie dir gefolgt!« Sperber sagte nichts weiter, kein Wort der Anerkennung folgte, doch er saß und grübelte lange vor sich hin. Dann sagte er: »Hast du nicht daran gedacht, daß ich schon tot sein könnte?«
»Nein.«
»Erst töten, dann rauben, dann kann nichts schiefgehen.«
»Daran habe ich nicht gedacht. Ich wollte sie nur weglocken von Ihnen.«
»Warum?«
»Weil Sie uns beide verteidigen und retten können, wenn Sie Zeit dazu haben. Oder wenigstens sich selbst hätten Sie retten können. Ich war der Wachtposten, und ich habe auf meinem Posten versagt. Ich wollte das wieder wettmachen. Ich hatte auf Sie aufzupassen. Auf Sie kommt es an. Ich kam ja nur, um zu wachen und um andere Dienste zu verrichten… Sie sind der Führer, Sie können uns dorthin bringen, wo wir hingehen müssen, wo immer das nun sein mag, und nur Sie können wieder alles in Ordnung bringen.«
»Meinst du?« sagte der Magier. »Das habe ich auch gemeint — bis gestern abend. Ich glaubte, ich hätte einen bei mir, der mir folgt, aber ich bin derjenige, der folgt, mein Junge.« Seine Stimme klang kühl und etwas ironisch.
Arren wußte nicht, was er sagen sollte. Er war nun wirklich ganz durcheinander. Er hatte geglaubt, daß er seine Pflichtvergessenheit, sein Einschlafen, oder seine Trance auf dem Wachtposten kaum dadurch, daß er die Aufmerksamkeit der Räuber von Sperber auf sich lenkte, sühnen könne. Aber es sah nun so aus, als sei dies ziemlich dumm gewesen, wohingegen seine Trance im richtigen Augenblick ganz geschickt gewesen war.
»Es tut mir leid…«, sagte er und preßte seine Lippen fest zusammen, denn die Tränen saßen wieder locker, »daß ich nicht das Richtige getan habe. Und Sie haben mir das Leben gerettet…«
»Und du vielleicht meines«, sagte der Magier barsch. »Wer weiß? Sie hätten mir vielleicht die Kehle aufgeschlitzt, wenn sie Zeit dazu gehabt hätten. Reden wir nicht mehr davon, Arren. Ich bin froh, daß ich dich dabeihabe.«
Dann ging er an die Vorratskiste und zündete den kleinen Holzkohlenbrenner an, auf dem sie kochten. Er holte etwas aus der Kiste heraus und war beschäftigt. Arren lag auf dem Rücken und blickte hinauf zu den Sternen; sein Gemüt beruhigte sich, er konnte wieder klar denken. Und es kam ihm zu Bewußtsein, daß sein Verhalten, sein Tun oder Nichtstun, nicht von Sperber beurteilt werden würde. Er hatte gehandelt, und Sperber hatte es als vollendet akzeptiert. »Ich strafe nicht«, hatte er zu Egre gesagt, und seine Stimme war eiskalt gewesen. Und lohnen tat er auch nicht. Doch er war, so schnell er konnte, über die See geeilt und war ihm zu Hilfe gekommen, und er hatte die Macht seiner Zauberkunst um seinetwillen entfesselt. Wenn es sein mußte, dann würde er das wieder tun. Man konnte sich auf ihn verlassen.
Er verdiente die Liebe, die Arren für ihn empfand, und das Vertrauen, das er ihm entgegenbrachte. Denn umgekehrt vertraute er auch Arren. Was Arren tat, war richtig.
Jetzt kam er zurück und gab Arren eine Tasse voll dampfenden, erhitzten Wein zu trinken. »Darauf wirst du gut schlafen. Paß auf, daß du dir die Zunge nicht verbrennst.«
»Wo kommt denn der Wein her? Ich habe keine Weinflasche an Bord gesehen…«
»Manches ist dem Auge verborgen. Die Weitblick birgt mehr, als man vermutet«, sagte Sperber und setzte sich neben Arren. Er lachte leise in der Dunkelheit. »Sie macht ihrem Namen Ehre.«
Arren setzte sich auf, um zu trinken. Der Wein war gut und erfrischte Körper und Geist. Er fragte: »Wo fahren wir jetzt hin?«
»Nach Westen.«
»Wohin sind Sie Hase gefolgt?«
»In die Dunkelheit. Ich habe ihn nicht verloren, doch er war verloren. Er wanderte in den Grenzbereichen herum, in den endlosen, trostlosen Gehegen des Deliriums und der Alpträume. Seine Seele piepste wie ein kleiner Vogel in diesen öden Gefilden, wie eine Möwe, die zu weit aufs Meer hinausgeflogen ist. Er ist kein Führer. Er war schon immer verloren. Trotz seiner zauberischen Macht hatte er nie den Weg vor sich liegen sehen, er sah immer nur sich selbst.«
Arren verstand nicht alles, was Sperber sagte, und er hatte auch nicht den Wunsch, alles zu verstehen, noch nicht jedenfalls. Er war nur ein kleines Stück in diese ›Dunkelheit‹ gelockt worden, von der die Zauberer sprachen, und er wünschte, daß er sie vergessen könnte. Er wollte nichts mehr damit zu tun haben. Deswegen wollte er auch nicht schlafen, denn er hatte Angst, daß er sie in seinen Träumen wiedersehen und dieser dunklen Gestalt begegnen würde, diesem Schatten, der ihm eine Perle entgegengehalten und geflüstert hatte: »Komm!«
»Warum …?« seine Gedanken waren schon wieder bei einem anderen Thema, »warum…?«
»Schlaf jetzt!« sagte Sperber, leicht verzweifelt.
»Ich kann nicht, wirklich. Warum haben Sie die anderen Sklaven nicht befreit?«
»Ich habe sie befreit. Keiner war mehr gefesselt an Bord des Schiffes.«
»Aber die Leute, die Egre dienten, die waren bewaffnet. Wenn Sie die gefesselt hätten…«
»Wenn ich die gefesselt hätte? Es waren ja nur sechs. Die Ruderer waren gefesselt, wie du. Egre und seine Leute sind vielleicht schon tot oder von den anderen gefesselt worden, um als Sklaven verkauft zu werden. Ich befreite sie, und es steht ihnen frei, zu tun, was sie wollen, zu kämpfen oder zu handeln. Ich bin kein Sklavenjäger.«
»Aber Sie wußten, daß es böse Menschen waren.«
»Bedeutet das, daß ich auch so handeln muß wie sie? Sollte ihre Schändlichkeit mein Tun beeinflussen? Muß ich mich nach ihnen richten? Ich treffe keine Entscheidungen für sie, und ich werde auch nicht zulassen, daß sie meine Entscheidungen bestimmen.«
Arren schwieg und dachte über diese Worte nach. Nach einer Weile fuhr der Magier mit leiser Stimme fort: »Siehst du jetzt ein, Arren, daß eine Handlung, wie junge Menschen es glauben, nicht wie ein Felsbrokken ist, den man aufhebt und fortwirft, und der entweder das Ziel trifft oder es verfehlt. Nein, wenn dieser Brocken aufgehoben wird, dann wird die Erde leichter, und die Hand, die ihn hält, wird schwerer. Wenn er geworfen wird, dann bleibt selbst die Bahn der Sterne davon nicht unberührt und wo er hinfällt, ändert sich die Umwelt. Jede Handlung beeinflußt das Gleichgewicht der Dinge. Die Winde und die Meere, das Wasser, die Erde und das Licht, all die Mächte und alles, was Tiere und Pflanzen tun, ist richtig und gut. Sie alle handeln, ohne das Gleichgewicht zu stören. Ein Orkan, das Blasen eines Riesenwals, der Fall eines dürren Blattes, der Flug einer Mücke, all dies ist Teil eines Ganzen und all dies trägt zum Gleichgewicht bei. Wir aber, wir haben begrenzte Macht über die Natur und über uns selbst, und wir müssen lernen, was Blatt, Fisch und Wind instinktiv richtig tun. Wir müssen lernen, das Gleichgewicht aufrechtzuerhalten. Da uns Verstand gegeben wurde, dürfen wir nicht handeln, als ob wir keinen hätten. Da uns eine Wahl gegeben ist, dürfen wir nicht unverantwortlich handeln. Wer bin ich, daß ich — obwohl ich die Macht dazu hätte — bestrafen und belohnen kann und mit dem Geschick der Menschen spielen, wie es mir gutdünkt?«
»Aber«, sagte der Junge und sah nachdenklich hinauf zu den Sternen, »bleibt denn das Gleichgewicht erhalten, wenn man nichts tut? Bedeutet das, daß ein Mensch nur dann handeln soll, wenn er alle Folgen kennt, die seine Handlung nach sich ziehen kann? Würde denn dann überhaupt noch gehandelt werden?«
»Hab keine Angst. Es fällt dem Menschen viel leichter zu handeln, als vom Handeln abzusehen. So lange wir leben, so lange werden wir Gutes oder Böses tun … Aber wenn wir wieder einen König hätten, der über uns alle herrschte, und wenn er, wie es früher üblich war, bei einem Magier Rat suchen würde, und wenn ich dieser Magier wäre, dann würde ich zu ihm sagen: Mein Fürst, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen edel, oder lobenswert, oder rechtmäßig vorkommt, handeln Sie nicht, nur weil es Ihnen. Handeln Sie nur dann, wenn Sie es nicht vermeiden können, wenn Sie nicht umhin können, zu handeln.«
In seiner Stimme lag wieder der Ton, der Arren aufhorchen ließ, und er blickte ihn an. Er glaubte wieder das Licht wahrzunehmen, das von seinem Gesicht ausging, das die gekrümmte Nase, die vernarbte Wange, die dunklen, tiefen Augen erhellte. Und er blickte ihn an, voll Liebe, aber auch voll Furcht, und er dachte: »Er ist mir so weit überlegen.« Doch als er ihn weiterhin anblickte, merkte er, daß es kein magisches Licht war, keine kalte, zauberische Helle, sondern daß es das Licht selbst war, das gewöhnliche Licht des Tages. Es gab eine Macht, die größer war als die Macht des Magiers. Und die Jahre waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen, Arren sah Linien in seinem Gesicht, die das Alter gefurcht hatte, und er sah müde aus im immer heller werdenden Licht des Morgens. Er gähnte …
Gedankenverloren ließ er den Blick auf ihm ruhen und schlief endlich ein. Doch Sperber blieb an seiner Seite sitzen und wartete auf die Morgendämmerung und den Sonnenaufgang. Er saß und glich einem Menschen, der einen Schatz prüft, an dem nicht mehr alles vollkommen ist, ein Juwel mit einem Makel, ein krankes Kind.