DIE DRACHENINSELN

Dieser Herr über die Insel der Weisen wachte gerade auf, weit draußen auf dem Meer im äußersten Westbereich und streckte seine verkrampften, vom Liegen schmerzenden Glieder. Er gähnte. Der Morgen war klar und kalt. Ein paar Minuten später deutete er nach Norden und sagte zu seinem noch verschlafenen Gefährten: »Schau! Die zwei Inseln dort! Kannst du sie sehen? Das sind die südlichsten der Dracheninseln.«

»Sie haben die Augen eines Raubvogels, mein Gebieter«, sagte Arren und spähte aus schlaftrunkenen Augen über das Meer. Er sah nichts.

»Deswegen bin ich ja auch der Sperber«, sagte der Magier; er war noch immer in bester Stimmung; was ihnen drohte, schien ihn nicht zu bedrücken.

»Ich sehe Möwen«, sagte Arren, nachdem er seine Augen wachgerieben und den blaugrauen Horizont, der sich vor dem Boot erstreckte, abgesucht hatte.

Der Magier lachte. »Selbst einem Falken dürfte es schwerfallen, Möwen auf zwanzig Meilen Entfernung zu sehen, meinst du nicht auch?«

Als die Sonne hinter dem Morgennebel im Osten immer heller wurde, sah Arren, wie die winzigen, kreisenden Punkte in der Luft zu schillern begannen, wie Goldblättchen, die im Wasser geschüttelt oder wie Staubkörnchen, die von einem Sonnenstrahl erfaßt wurden. Und plötzlich wurde Arren bewußt, daß es Drachen waren.

Als sich die Weitblick den Inseln näherte, sah Arren, wie die Drachen, vom Morgenwind getragen, in die Höhe stiegen und ihre Kreise zogen, und sein Herz schlug höher, und ein Gefühl der Erfüllung durchströmte ihn, so heftig, daß es ihn schmerzte. Die ganze Glorie, die ganze Pracht des Lebens war in diesem Flug enthalten: eine ungeheure Stärke, eine ungezügelte Wildheit, eine Geschmeidigkeit, wie sie nur der Vernunft eigen war, lagen in diesem Flug. Denn dies waren denkende Geschöpfe, die über eine Sprache verfügten und über uralte Weisheit. In den gemessenen Bahnen ihres Fluges offenbarte sich ein gemeinsamer, mächtiger Wille.

Arren sagte kein Wort, doch er dachte: Jetzt ist es mir gleichgültig, was folgt, denn ich habe die Drachen gesehen, wie sie auf den Schwingen des Morgenwindes geflogen sind.

Manchmal wurden die gleichmäßigen Bahnen und Kreise unterbrochen, und dann und wann blies der eine oder der andere der Drachen eine lange Feuerflamme aus seinen Nüstern, die sich wand und einen Augenblick lang in der Luft schwebte und der Krümmung des langen Drachenkörpers folgte. Der Magier ließ seinen Blick prüfend auf ihm ruhen, dann sagte er: »Sie sind zornig. Sie drücken ihren Zorn im Tanz aus.«

Und nach einer Weile fügte er hinzu: »Jetzt sitzen wir im Hornissennest.« Denn die Drachen hatten das kleine Segel auf den Wellen erspäht, und einer nach dem anderen brach aus dem Reigen des Tanzes aus und kam, lang und gerade gestreckt, mit mächtigen Flügelschlägen die Luft zerteilend, auf das kleine Boot zugeschossen.

Der Magier blickte auf Arren, der an der Ruderpinne saß, denn die Wellen schlugen heftig und unregelmäßig gegen das Boot. Der Junge hielt das Boot mit fester Hand auf geradem Kurs, doch seine Augen waren auf die mächtigen Schwingen gerichtet. Der Magier schien befriedigt, er wandte sich wieder um und, neben dem Mast stehend, ließ er den magischen Wind erschlaffen. Er hob seinen Stab und sprach laut.

Beim Klang seiner Stimme und den Worten der Ursprache machten einige der Drachen in der Luft kehrt und flogen vereinzelt zu den Inseln zurück. Andere hielten inne und schwebten in der Luft, ihre langen Krallen zwar ausgestreckt, doch sie verharrten reglos. Einer kam herunter und flog langsam auf sie zu: zwei mächtige Flügelschläge brachten ihn über das Boot. Der schuppige Unterleib berührte fast die Mastspitze. Arren sah die verrunzelte, ungeschützte Haut zwischen den Schultergelenken und der Brust, die, wie das Auge, verletzbar war; nur ein mit außerordentlichen Zauberkräften gerüsteter Speer konnte dem Rest des Körpers Schaden zufügen. Der aus dem langen, mit Zähnen gespickten Rachen strömende Rauch erstickte ihn fast, und der Aasgestank ihres Atems würgte ihn. Er biß die Zähne zusammen und hielt den Atem an.

Der Schatten flog vorbei. Er kam wieder zurück, und dieses Mal spürte Arren die heiße Glut des Rachens, bevor er den Rauch roch. Er vernahm Sperbers klare, gebieterische Stimme. Der Drache flog weiter. Dann zerstoben sie alle, wie feurige Funken vom Windstoß davongetragen.

Arren atmete tief aus und wischte sich über die schweißbedeckte Stirn. Er blickte seinen Gefährten an und sah, daß dessen Haar weiß war, der Atem des Drachen hatte die Haarspitzen zu Asche verbrannt. Und das schwere Segeltuch war auch auf der einen Seite braun verkohlt.

»Dein Kopf ist etwas angesengt, mein Junge.«

»Mein Gebieter, auch Ihrer ist nicht mehr so, wie er war.«

Sperber fuhr sich überrascht durchs Haar. »Du hast recht! Das war eine Frechheit, doch ich gehe einem Streit mit diesen Geschöpfen aus dem Wege. Sie scheinen toll oder ganz verängstigt zu sein. Sie haben nicht gesprochen. Noch nie habe ich einen Drachen gesehen, der nicht, bevor er auf seine Beute herabstieß, etwas sagte, wenn es auch nur ein paar Worte waren, genug jedenfalls, um die Qual zu verlängern … Jetzt müssen wir weiter. Schau ihnen nicht in die Augen, Arren! Wende dein Gesicht zur Seite, wenn es nötig ist. Wir segeln mit dem Wind der Welt weiter. Er bläst ja ganz frisch aus dem Süden. Es ist möglich, daß ich meine Kunst für anderes brauche. Halte das Boot auf Kurs.«

Die Weitblick segelte weiter, und bald tauchte linker Hand in der Ferne eine Insel auf, und rechts lagen die Zwillingsinseln, die sie zuerst gesehen hatten. Sie bestanden aus niederen Felsen, die nackt emporragten, weißlich gesprenkelt vom Kot der Drachen, mit kleinen, dunklen Punkten übersät, wo die schwarzköpfigen Seeschwalben nisteten, die sich furchtlos unter den Drachen tummelten.

Die Drachen waren emporgestiegen und kreisten wie Aasgeier hoch in der Luft. Keiner kam mehr auf das Boot heruntergestoßen. Manchmal schrien sie sich etwas zu, hoch und krächzend, über den Abgrund hinweg, der zwischen ihnen lag. Arren konnte nicht verstehen, ob es Worte waren.

Das Boot umsegelte eine kleine Landenge, und Arren sah etwas am Strand liegen, das wie eine zerfallene Festung aussah. Es war ein Drache. Ein schwarzer Flügel lag unter ihm, der andere streckte sich riesig über den Sand ins Wasser, und das Auf und Ab der Wellen hob und senkte ihn, eine klägliche Nachahmung des Fluges. Der lange, schlangenartige Körper lag ausgestreckt über Sand und Gestein. Eine Vorderklaue fehlte, die Schuppen und das Fleisch hingen von den Rippen los, der Bauch war aufgerissen, und giftiges Drachenblut hatte eine weite Fläche des Sandes schwarz gefärbt.

Doch der Drache lebte noch. Die Lebenskraft eines Drachens ist so groß, daß nur eine ihm ebenbürtige Zauberkraft ihn schnell töten kann. Die grüngoldenen Augen waren offen, und als das Boot vorbeiglitt, bewegte sich der schmale, riesige Kopf ein wenig, und ein dünner Strahl Blut schoß aus den Nüstern.

Der Strand zwischen dem sterbenden Drachen und dem Meer war plattgewalzt und zertrampelt von den Füßen und den schweren Körpern anderer Drachen, seine Eingeweide waren in den Sand hineingestampft worden.

Weder Arren noch Sperber redeten, bis sie ein gutes Stück von der Insel entfernt waren und sich mitten auf der breiten Meeresstraße befanden, die, gespickt mit Untiefen, Riffen und Klippen, die nördliche der Doppelinselkette von der südlichen trennte. Da erst sagte Sperber mit ausdrucksloser, harter Stimme: »Das war ein schrecklicher Anblick.«

»Fressen sie sich… gegenseitig auf?«

»Nein, genauso wenig wie wir es tun. Sie sind wahnsinnig geworden. Sie haben ihre Sprache verloren. Sie, die lange vor den Menschen über Sprache verfügten, die älter sind als jedes heute existierende Lebewesen, die Kinder von Segoy — sie sind nun nichts weiter als Tiere und von einer blinden, primitiven Furcht besessen. ›Oh, Kalessin! Wohin haben dich deine Flügel getragen? Hast du noch erlebt, wie deine Rasse es gelernt hat, sich zu schämen?‹« Seine Worte hallten wie Metallschläge über das Meer, und er blickte suchend in die Höhe. Doch die Drachen waren zurückgeblieben. Sie kreisten jetzt niedriger über der Felseninsel und dem mit Blut getränkten Strand. Über Arren und Sperber spannte sich ein blauer Himmel, in dem die Mittagssonne hoch stand.

Es lebte zu dieser Zeit kein Mensch, außer dem Erzmagier, der die Dracheninseln angesteuert und besichtigt hatte. Vor mehr als zwanzig Jahren hatte er sie mit seinem Boot von Osten nach Westen und wieder zurück durchmessen. Für einen Seemann waren sie beides: ein Wunder und ein Alptraum. Die Gewässer dort waren ein Labyrinth blauer Meerengen und türkisfarbener Untiefen, von Felsen und Riffen unterbrochen, und durch dieses Gewirr bahnten sie sich jetzt, mit allergrößter Vorsicht, Hand und Worte zu Hilfe nehmend, ihren Weg. Manche Felsen waren flach und verschwanden teils ganz, teils halb unter den sie umspülenden Wellen; sie waren mit Seeanemonen, Muscheln und sich schlangelnden Farnen bedeckt und sahen wie teils erstarrte, teils sich windende Wasserungeheuer aus. Manche ragten hoch aus den Wogen empor, spitze Türme, steile Felsen, wie Bögen und Halbbögen, wie gemeißelte Säulen, wie fantastische Tiere, wie Eberrücken oder Schlangenköpfe aussehend; alle waren riesig und unförmig, als stecke ein dumpfes, nur halb erwachtes Leben im Fels. Die See schlug dagegen, rhythmisch wie ein Atem, und sie waren naß und glänzten unter der hellen, harten Gischt. In einem dieser Felsen konnte man, von Süden kommend, die gebeugten Schultern und das schwere, edelgeformte Haupt eines Mannes erkennen, der sich gedankenverloren nach vorne neigte. Nachdem das Boot vorbeigesegelt war und weiter gegen Norden steuerte, war er verschwunden, nur eine Höhle, die sich in den riesigen Felsen hinein erstreckte, war sichtbar, in der das Wasser sich regelmäßig mit hohlem Klatschen hob und senkte. Und in diesem Geräusch schien ein Wort, eine Silbe, enthalten zu sein. Als sie weitersegelten, verloren sich die verstümmelnden Echos, und die Silbe wurde klar und vernehmbar, so daß Arren fragte: »Hat die Höhle eine Stimme?«

»Die Stimme des Meeres.«

»Aber sie spricht ein Wort.«

Sperber horchte; er warf einen Blick auf Arren, dann zurück zur Höhle: »Was hörst du?«

»Es klingt wie Ahm.«

»In der Ursprache heißt das ›Anfang‹ oder ›vor langer Zeit.‹ Ich höre Ohb, und das kann heißen ›das Ende.‹ — Paß auf!« Er unterbrach sich, gerade als Arren warnend rufen wollte »Untiefe!« Obgleich die Weitblick sich geschickt wie eine Katze zwischen den gefährlichen Stellen hindurchwand, waren sie eine Weile vollauf mit dem Steuern beschäftigt. Die Höhle, in der gleichmäßig und unaufhörlich das rätselhafte Wort donnerte, blieb hinter ihnen zurück.

Das Wasser wurde tiefer, und sie verließen die Fantasmagorie der Felsen. Vor ihnen lag eine Insel, die wie ein Turm über das Wasser ragte. Ihre steilen Flanken waren schwarz und schienen aus zahlreichen, dicht beisammen stehenden Säulen oder Zylindern zu bestehen, die spiegelblank und oben glatt abgeschnitten waren. Sie ragten mehr als dreihundert Fuß hoch aus dem Wasser.

»Das ist Kalessins Hort«, sagte der Magier. »Das haben mir die Drachen erzählt, als ich vor vielen Jahren hier war.«

»Wer ist Kalessin?«

»Der Älteste…«

»Hat er diese Insel so gebaut?«

»Das weiß ich nicht. Ich weiß nicht, ob sie überhaupt gebaut wurde, und auch nicht, wie alt er ist. Ich sage zwar ›er‹, aber selbst das weiß ich nicht… In Kalessins Augen ist Orm Embar noch ein Jährling. Und du und ich, wir sind nichts als Eintagsfliegen.« Er blickte prüfend auf die drohenden Palisaden, doch Arren schaute beklommen hinauf. Er stellte sich vor, wie ein Drache so schnell wie ein Schatten von diesem hohen, schwarzen Rand herunter auf sie zustoßen konnte. Doch kein Drache zeigte sich. Sie bewegten sich langsam durch das stille Wasser im Windschutz des Felsens und hörten nur das leise Raunen und Klatschen der beschatteten Wellen gegen die Säulen aus Basalt. Arren steuerte das Boot, und Sperber stand im Bug und spähte die Felsen entlang hinauf in den hellen Himmel, der sich vor ihnen auftat.

Endlich glitten sie aus dem Schatten von Kalessins Horst hinaus in das helle Sonnenlicht des Spätnachmittags. Die Dracheninseln lagen hinter ihnen. Der Magier hob den Kopf wie ein Mensch, der endlich sieht, was er erwartet hat, und über die weite, lichtüberflutete Fläche, die sich vor ihnen erstreckte, kam auf goldenen Flügeln der Drache Orm Embar herangeschwebt.

Arren hörte, wie Sperber ihm zurief: »Aro Kalessin?« Es war nicht schwer zu erraten, was das bedeutete, doch die Antwort des Drachen verstand er nicht. Immer wenn er die Ursprache hörte, kam es ihm vor, als verstünde er sie fast, als läge sie ihm auf der Zunge, als wäre es eine Sprache, die er vergessen, und nicht eine Sprache, die er nie gekannt hatte. Wenn der Magier in ihr redete, so war seine Stimme viel klarer, als wenn er hardisch redete, und doch lag eine Stille darin, wie sie von einer großen, nur ganz leicht berührten Glocke hervorgebracht werden kann. Die Stimme des Drachen dagegen war wie ein Gong, tief und schrill zugleich, oder wie eine Zimbel, klingend und schellend.

Arren sah seinen Gefährten in dem schmalen Bug stehen und zu der riesigen Kreatur sprechen, die über ihnen schwebte und den halben Himmel bedeckte. Er jauchzte innerlich auf und Stolz durchflutete ihn bei diesem Anblick; er sah, wie schwach, wie gering und wie schrecklich zugleich ein Mensch sein kann. Denn der Drache hätte mit einem Schlag seiner gekrümmten Klaue den Kopf des Mannes von den Schultern reißen können, er hätte das Boot zermalmen und versenken können wie ein Stein ein schwimmendes Blatt versenkt — wenn es nur auf die Größe ankäme. Doch Sperber war so gefährlich wie Orm Embar, und der Drache wußte das.

Der Magier wandte den Kopf: »Lebannen«, sagte er, und der Junge stand auf und kam nach vorne, obgleich er überhaupt kein Verlangen verspürte, sich diesem fünf Meter langen Rachen und den schmalen, gelbgrünen Augen mit den geschlitzten Pupillen zu nähern, die von oben auf ihn herabbrannten.

Sperber sagte kein Wort zu ihm, doch er legte seine Hand auf Arrens Schulter und sprach wieder kurz zu dem Drachen.

»Lebannen«, ließ sich die mächtige Stimme vernehmen, »Agni Lebannen!«

Er blickte nach oben, doch ein leichter Druck von Sperbers Hand erinnerte ihn daran, dem Blick des Drachen nicht zu begegnen.

Er konnte nicht in der Ursprache reden, aber er war nicht stumm und nicht dumm: »Ich begrüße Sie, Orm Embar, Fürst über alle Drachen«, sagte er mit klarer Stimme, wie ein Prinz, der einen Ebenbürtigen begrüßt.

Danach war alles still, nur Arrens Herz schlug laut und heftig. Doch Sperber, der neben ihm stand, lächelte.

Dann hob der Drache wieder an zu sprechen, und Sperber antwortete; Arren kam es wie eine Ewigkeit vor. Doch endlich, ganz plötzlich, war alles vorüber. Der Drache sprang mit einem Schlag seiner Schwingen so kraftvoll in die Höhe, daß er das Boot fast zum Kentern brachte; dann flog er davon.

Arren sah, daß die Sonne dem Untergang nicht viel näher war als zuvor. Nur wenig Zeit war verstrichen, doch das Gesicht des Magiers war aschgrau und schweißbedeckt, und seine Augen glitzerten, als er sich Arren zuwandte. Er setzte sich auf die Ruderbank.

»Du hast dich gut gehalten, mein Junge«, sagte er heiser. »Es ist nicht leicht — mit einem Drachen zu reden.«

Arren holte etwas zu Essen heraus, denn sie hatten den ganzen Tag noch keinen Bissen zu sich genommen, und der Magier redete nicht mehr, bis er gegessen und getrunken hatte. Als sie fertig waren, stand die Sonne schon tief am Himmel, obwohl in diesen nördlichen Breiten, wenn die Mittsommernacht noch nicht allzu lange vorbei ist, die Nächte spät und langsam kommen.

»Na«, sagte er endlich, »Orm Embar hat mir ja, wenn man in Betracht zieht, daß es von ihm kommt, ziemlich viel gesagt. Er sagte, daß der, den wir suchen, auf Selidor ist und doch nicht dort ist … Einem Drachen fällt es schwer, sich klar auszudrücken. Ihre Gedankengänge sind komplex. Und selbst wenn einer von ihnen einem Menschen die Wahrheit sagen wollte, was selten vorkommt, dann weiß er immer noch nicht, was der Mensch als Wahrheit betrachtet. Deswegen habe ich ihn gefragt: ›So wie dein Vater Orm sich auf Selidor befindet?‹ Denn wie du ja weißt, Orm und Erreth-Akbe sind dort im Kampf gefallen. Und er antwortete: ›Ja und nein. Du wirst ihn auf Selidor, doch nicht auf Selidor finden! ‹« Sperber hielt inne und grübelte eine Weile über die Worte nach, während er an einer Brotkruste kaute. »Vielleicht wollte er damit sagen, daß der Mensch, den ich suche, nicht auf Selidor ist, doch ich muß nach Selidor, um zu ihm zu gelangen. Vielleicht… Dann habe ich ihn über die anderen Drachen ausgefragt. Er sagte, daß dieser Mensch sich unter sie gewagt habe, denn er habe keine Furcht vor ihnen, denn wenn er getötet würde, dann kehrte er in seiner anderen Gestalt lebendig wieder zurück. Daher fürchten sie ihn als ein Wesen, das außerhalb der Natur steht, das unnatürlich ist. Ihre Furcht verleiht seiner Magie mehr Kraft über sie, und er nahm ihnen die Ur—, die Schöpfungssprache weg und überließ sie ihren wilden Instinkten. Sie fressen sich gegenseitig auf, nehmen sich das Leben, indem sie sich ins Meer stürzen — ein abscheulicher Tod für die Feuerechsen, die Tiere des Windes und des Feuers. Dann habe ich gefragt: ›Und wo ist Kalessin, dein Herr?‹ Und darauf hat er nur gesagt: ›Im Western, und das kann bedeuten, daß Kalessin in andere Länder geflogen ist, die weiter entfernt liegen, als je ein Schiff gesegelt ist, wenn man den Drachen glauben kann; es kann aber auch etwas anderes bedeuten. Dann hörte ich auf, Fragen zu stellen, und er fragte mich: ›Ich flog über Kaltuel, als ich vom Norden zurückkehrte und über die Tore Torins. Auf Kaltuel sah ich, wie Dorfbewohner ein Kind auf einem Altar opferten, und auf Ingat sah ich, wie ein Zauberer von den Bürgern der Stadt gesteinigt wurde. Werden sie das Kind verzehren, was meinst du, Ged? Wird der Zauberer vom Tode zurückkehren und Steine auf die Städter werfen?‹ Ich dachte zuerst, daß er mich ausspotte, doch dann merkte ich, daß es ihm ernst war. Er fuhrt fort: ›Alles ist sinnlos geworden. Die Welt hat einen Sprung bekommen, die See rinnt davon, das Licht entflieht. Wir bleiben zurück im trockenen Land. Es wird keine Sprache, keinen Tod mehr geben.‹ Und dann verstand ich endlich, was er mir zu sagen hatte.«

Arren verstand es nicht und war darüber hinaus tief beunruhigt. Denn Sperber, als er die Worte des Drachen wiederholte, hatte seinen wahren Namen genannt. Dies rief in Arren die unbehagliche Erinnerung an die Frau auf Lorbanery wach, die aufgeschrien hatte: »Mein Name ist Akaren!« Wenn die Zauberkräfte, wenn die Musik, die Sprache und das Vertrauen schwächer wurden und langsam abstarben, wenn diese irrationale Furcht sie überkam, die von den Drachen Besitz ergriffen hatte, und sie dazu trieb, sich gegenseitig zu zerstören, wenn das eintrat, konnte sein Gebieter dann noch widerstehen? War er stark genug dazu?

Er sah nicht stark aus, wie er so dasaß, vornübergebeugt über sein Mahl aus Brot und geräuchertem Fisch, mit ergrautem, von Feuer angesengtem Haar, mit seinen ausdrucksvollen, schmalen Händen und seinem müden Gesicht. Doch der Drache hatte ihn gefürchtet. »Was liegt dir auf dem Herzen, Junge?« Es gab keinen Ausweg. Er mußte die Wahrheit sagen. »Mein Gebieter«, sagte er, »Sie haben Ihren wahren Namen ausgesprochen.«

»O ja, stimmt. Ich habe vergessen, daß ich das nicht früher getan habe. Du mußt meinen wahren Namen wissen, wenn wir dorthin kommen, wo wir hingehen müssen.« Er blickte, noch immer kauend, auf und sah Arren an. »Hast du geglaubt, daß ich senil geworden bin und herumlaufe und meinen Namen vor mich hinschwätze, wie es alte, tattrige Männer tun, die keine Scham und keine Vernunft mehr haben? Noch bin ich nicht soweit, mein Junge!«

»Nein«, antwortete Arren, so verwirrt, daß er nichts weiter hinzufügen konnte. Er war erschöpft, der Tag war lang gewesen und voll von Drachen. Und vor ihnen breitete sich die Dunkelheit aus.

»Arren«, sagte der Magier, » — nein, Lebannen: dort wo wir hingehen, gibt es kein Versteck. Dort trägt alles seinen wahren Namen.«

»Den Toten kann man nicht mehr weh tun«, sagte Arren besorgt.

»Nicht unter den Toten allein werden Menschen bei ihrem wahren Namen gerufen. Die, die am tiefsten getroffen werden können, die am verwundbarsten sind, die Liebe gegeben und sie nicht zurückgenommen haben, die nennen sich auch bei ihren wahren Namen; all die, die treue Herzen haben, die Liebe schenken… Du bist ganz erschöpft, Junge. Leg dich hin und schlafe! Jetzt gibt es nichts mehr zu tun, nur der Kurs muß die ganze Nacht eingehalten werden. Und morgen früh werden wir die letzte Insel der Welt sehen.«

In seiner Stimme lag wohltuende Wärme. Arren rollte sich im Bug zusammen, und der Schlaf überkam ihn sofort. Er hörte noch, wie der Magier einen leisen, fast flüsternden Gesang anstimmte, nicht in Hardisch, sondern in der Ursprache, und als er endlich verstand, was die Worte bedeuteten, gerade an der Schwelle des Verstehens, schlief er ein.

Der Magier verstaute das Brot und den Fisch, sah nach dem Segel, überprüfte alles im Boot. Dann nahm er die Segelleine in die Hand und setzte sich auf die hintere Ruderbank. Er rief einen kräftigen magischen Wind herbei, der das Segel prall füllte, und die Weitblick flog pfeilschnell über das Meer.

Er blickte auf Arren. Das Licht der Abendsonne lag rotgolden auf dem Gesicht des schlafenden Knaben. Das dichte Haar war vom Wind zerzaust. Der weiche, unbeschwerte, etwas hochmütige Ausdruck im Gesicht des Jungen, der vor ein paar Monaten im Brunnenhof des Großhauses vor dem Erzmagier gesessen hatte, war verschwunden; das Gesicht vor ihm war schmaler, härter und viel ausdrucksvoller geworden. Aber es war nicht minder schön.

»Ich habe keinen gefunden, der mir auf meinem Wege folgen wird«, sprach der Erzmagier Ged laut zu dem schlafenden Jungen oder in den leeren Wind hinein. »Keinen außer dir. Und du mußt deinen eigenen Weg gehen, nicht den meinen. Doch dein Königtum, das wird man mir zum Teil verdanken. Denn ich erkannte dich als Erster, ich erkannte dich! Und man wird mich später für diese Tat mehr rühmen als für jede andere, die ich mit Hilfe meiner magischen Kraft vollbracht habe — wenn es ein Später geben wird. Denn zuerst müssen wir dorthin gehen, wo sich das Gleichgewicht der Welt die Waage hält, auf dem Zünglein selbst müssen wir stehen. Und wenn ich stürze, so wirst auch du untergehen, und mit dir der Rest — eine Zeitlang, eine Zeitlang. Kein Dunkel dauert ewig. Und selbst dort, selbst dort scheinen Sterne … Doch, oh, wie gerne würde ich dich gekrönt in Havnor sehen, das Licht der Sonne hell auf dem Turm des Schwertes und auf dem Ring, den wir, Tenar und ich, aus den finsteren Gräbern von Atuan zurückgebracht haben, noch bevor du geboren wurdest.«

Er lachte kurz auf und wandte sein Gesicht nach Norden, und zu sich selbst im vertrauten Dialekt sprechend sagte er: »Ein Ziegenhirte will den Erben Morreds auf seinen Thron erheben! Werde ich denn nie auslernen?«

Nach einer Weile, während er mit dem Segeltau in der Hand da saß und das pralle Segel, rötlich leuchtend im untergehenden Sonnenlicht, betrachtete, sprach er leise: »Weder nach Havnor noch nach Rok zieht es mich zurück. Es wird Zeit, daß ich mein Streben nach Macht aufgebe, daß ich die alten Spiele hinter mir lasse und weitergehe. Es wird Zeit, daß ich heimgehe. Ich würde Tenar wiedersehen, und Ogion, und noch mit ihm reden können, bevor er stirbt, dort in dem Haus auf dem Felsen von Re Albi. Ich sehne mich danach, wieder auf dem Berg zu wandern, in den Wäldern auf dem Berge Gont, im Herbst, wenn die Blätter bunt sind. Kein Königreich kommt diesen Wäldern gleich. Es wird Zeit, daß ich dorthin zurückkehre, schweigend und allein. Und vielleicht werde ich dort das lernen, was mich keine Tat, keine Kunst und keine Macht lehren konnte, das, was ich nie gelernt habe.«

Im Westen glühte es noch einmal auf in einer letzten, lodernden, wildschönen Pracht. Das Meer lag dunkelrot vor ihm, das Segel über ihm war so rot wie Blut. Dann kam auf leisen Sohlen die Nacht. Und die ganze Nacht hindurch schlief der Knabe, während der Mann wachte und aufmerksam nach vorne in das Dunkel spähte. Kein Stern schien am Himmel.

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