Ein silberweisses Licht ging von dem Erlenstab in des Magiers Hand aus, als sie die dumpfe, immer dichter werdende Düsternis betraten. Ein schwach schimmerndes weißes Licht zog Arrens Blick auf sich; entlang der entblößten Schwertklinge, die er in der Hand trug, zog sich ein schmaler Lichtstreif. Als der Drache am Strand von Selidor durch seine Tat und seinen Tod den Bann brach, mit dem das Schwert belegt gewesen war, hatte es Arren sofort aus seiner Scheide gezogen. Und jetzt, obwohl er hier nur als ein Schatten wanderte, trug er den Schatten seines Schwertes in der Hand.
Kein anderes Licht war sonst zu sehen. Alles war trüb, wie eine späte Dämmerung im November, unter einem mit Wolken verhangenen Himmel. Eine bedrückende, kalte, unbewegliche Luft, in der man zwar sehen konnte, doch nur begrenzt und undeutlich, umgab sie. Arren kannte den Ort: es war das Moor, die öde Landschaft seiner hoffnungslosen Träume, doch kam es ihm jetzt vor, als befände er sich viel weiter darin als er je in seinen Träumen gewesen war. Er konnte nichts klar erkennen, außer daß er und sein Gefährte am Abhang eines Hügels standen, und daß sich vor ihnen eine niedere, aus Stein erbaute Mauer hinzog.
Geds Hand lag noch auf Arrens Arm. Er schritt immer noch voran, und Arren ging mit ihm. Sie überstiegen die Steinmauer.
Vor ihnen lag der Hang; seine Umrisse waren verschwommen; er neigte sich gegen ein Ungewisses Dunkel.
Doch über ihnen, wo Arren eine dichte Wolkendecke vermutet hatte, erstreckte sich nun ein tief schwarzer Himmel mit Sternen. Er blickte auf, und es war ihm, als zöge sich sein Herz ganz kalt und klein in seiner Brust zusammen. Solche Sterne hatte er noch nie gesehen. Sie standen zwar an einem Himmel, doch kein Glanz ging von ihnen aus; sie standen unbeweglich, sie kannten weder Auf- noch Untergang, und keine Morgenröte ließ sie je verblassen. Starr und stumm blickten sie herab auf das trockene Land.
Ged begann, auf der Seite jenseits des Lebens hinabzusteigen, Arren folgte ihm. Entsetzen war in ihm, doch sein Herz war entschlossen und sein Wille so fest, daß die Furcht keine Macht über ihn gewinnen konnte, er war sich ihrer gar nicht klar bewußt. Er fühlte nur, wie etwas tief in seinem Innern litt, wie ein Tier, das in einem verschlossenen Raum angekettet war.
Es kam ihm vor, als wären sie schon ein großes Stück den Abhang hinuntergegangen, doch vielleicht war es nur ein kurzes Stück, die Zeit stand still hier; kein Wind blies, und die Sterne rührten sich nicht. Sie betraten jetzt eine der Städte, die es dort gibt, und Arren sah die Häuser, deren Fenster nie erleuchtet waren, und unter manchen Türen standen, mit ruhigen Gesichtern und mit leeren Händen, tote Menschen.
Die Marktplätze waren alle leer. Hier wurde nichts gekauft oder verkauft, nichts gewonnen und nichts verloren. Nichts wurde benötigt und nichts wurde gemacht. Ged und Arren waren die einzigen, die durch die schmalen Gassen schritten, obgleich sie ab und zu eine Gestalt um eine Ecke huschen sahen, weit vorne und kaum sichtbar in der Trübnis. Als Arren zum erstenmal die Gestalt wahrnahm, schreckte er auf und deutete mit seinem Schwert darauf, doch Ged schüttelte den Kopf und ging weiter. Arren sah schließlich, daß es die Gestalt einer Frau war, die sich langsam bewegte und die nicht vor ihnen floh.
All diejenigen, die sie sahen — es waren nicht viele, denn obgleich es viele Tote gibt, so ist das Land so riesig, daß sie sich darin verlieren — standen still oder bewegten sich langsam, gleichmütig, ohne Ziel. Keiner trug Wunden wie die Erscheinung von Erreth-Akbe, der gezwungen worden war, am Ort seines Todes ins Tageslicht hinauszutreten. Keiner trug die Zeichen einer Krankheit. Sie waren alle geheilt vom Schmerz und von dem Leben. Sie waren nicht abstoßend, wie Arren es befürchtet, nicht furchterregend, wie er es erwartet hatte. Ihre Gesichter waren ruhig, sie waren frei von den Lasten und Lüsten des Lebens, ihre umschatteten Augen bargen keine Hoffnung mehr.
Und so kam es, daß Arren anstelle der Furcht nur großes Mitleid für sie empfand, und wenn das Mitleid auch der Furcht entsprungen sein mag, so fürchtete er nicht um sich selbst, sondern um alle Menschen. Denn er sah die Mutter und das Kind, die zur gleichen Zeit gestorben und im dunklen Land beisammen waren, doch das Kind rannte nicht herum und weinte nicht, und die Mutter hielt es nicht in ihren Armen und schaute es nicht an. Und die, die um der gemeinsamen Liebe willen gestorben waren, begegneten sich still auf der Straße und setzten gleichgültig ihren Weg fort.
Die Scheibe des Töpfers stand still, der Webrahmen war leer, der Herd kalt. Keine Stimmen erhoben sich zum Gesang.
Die dunklen Straßen zwischen den dunklen Häusern schienen kein Ende zu nehmen, sie schritten immer weiter. Der Tritt ihrer Füße war das einzige Geräusch. Und es war kalt. Am Anfang hatte Arren die Kälte nicht wahrgenommen, doch jetzt spürte er, wie sie in seinen Geist, der ihm hier Körper war, eindrang. Er fühlte, wie große Müdigkeit ihn überfiel. Der Weg, den sie zurückgelegt hatten, mußte lang gewesen sein. Warum noch weitergehen? fragte er sich, und seine Schritte verlangsamten sich.
Ged blieb plötzlich stehen und wandte sich einem Mann zu, der an einer Kreuzung stand. Er war schlank und groß, und es kam Arren vor, als hätte er das Gesicht schon einmal gesehen, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wo das gewesen war. Ged sprach ihn an. Keine Stimme hatte — seit sie die Steinmauer überquerten — die Stille dieses Landes unterbrochen. »O Thorion, mein Freund, dich finde ich hier?«
Und er streckte dem Gebieter von Rok seine Hände entgegen.
Thorion erwiderte die Geste nicht. Er stand still und stumm, und sein Gesicht war unbeweglich, doch das silberne Licht von Geds Stab fand einen zaghaften Widerschein in den umschatteten Augen. Ged ergriff die Hand, die ihm nicht entgegengestreckt wurde, und sprach: »Was suchst du hier, Thorion? Du gehörst noch nicht in dieses Königreich. Kehre um!«
»Ich folgte dem Unsterblichen. Ich habe meinen Weg verloren.« Die Stimme des Gebieters war leise und teilnahmslos, wie die Stimme eines Menschen, der im Schlaf redet.
»Hinauf, auf die Mauer zu«, sagte Ged und deutete zurück auf die Straße, auf der sie heruntergekommen waren.
Diese Worte lösten ein Zucken auf Thorions Gesicht aus, als ob die Hoffnung, scharf wie ein Schwert, in ihn zurückgekehrt sei.
»Ich kann den Weg nicht finden«, sagte er. »Mein Meister, ich kann den Weg nicht finden!«
»Vielleicht wirst du ihn jetzt finden«, sagte Ged und umarmte den Meister des Gebietens, dann ging er weiter seines Weges. Thorion blieb regungslos an der Kreuzung hinter ihnen stehen.
Als sie weitergingen, kam es Arren vor, als gäbe es in dieser außerhalb jeder Zeit liegenden Trübnis kein Vorwärts und kein Rückwärts, keinen Osten und keinen Westen, als gäbe es überhaupt keinen Weg. Würden sie hier je wieder herausfinden? Ihm fiel auf, daß sie, gleichgültig, welche Straße sie wählten, immer abwärts gingen und daß sie, um die Steinmauer wieder zu finden, nur umkehren und immer bergauf gehen müßten. Doch sie wandten sich nicht um. Nebeneinander schritten sie weiter. Folgte er Ged? Oder führte er ihn?
Sie ließen die Stadt hinter sich. Das Land der unzähligen Toten war leer. Weder Baum, noch Dorn, noch Grashalm wuchs auf dem steinigen Boden unter den unbeweglichen Sternen.
Vor ihnen lag kein Horizont, denn das Auge konnte in diesem Schattenreich nicht weit blicken, doch weiter vorne, über eine große Strekke hinweg, spannte sich ein leerer Himmel, an dem keine kleinen reglosen Sterne hingen, und der von keinen Sternen beleuchtete Grund schien gezackt und gefurcht wie eine Bergkette zu sein. Als sie näherkamen, wurden die Umrisse deutlicher: hohe, schroffe Gipfel, von Wind und Wetter unberührt, ragten in die Höhe. Kein Schnee glitzerte im Sternenlicht, die Berge waren kahl und tief schwarz. Ihr Anblick rief neues Entsetzen in Arrens Herzen wach. Er wandte den Blick von ihnen ab. Doch er kannte sie, sie waren ihm vertraut, seine Augen wurden unwiderstehlich von ihnen angezogen. Und jedesmal, wenn sein Blick auf sie fiel, fühlte er eine kalte Last auf seiner Brust, und seine Nerven versagten ihm fast. Doch immer weiter führte sie ihr Weg, abwärts, zum Fuße dieser Berge. Endlich sagte er: »Mein Gebieter, was sind …« Er deutete auf die Berge, denn er konnte nicht mehr weiterreden, seine Kehle war wie zugeschnürt.
»Sie stehen, wie die Steinmauer, an der Grenze zwischen Licht und Dunkel«, antwortete Ged. »Sie haben keinen Namen. Man nennt sie nur die Pein. Es gibt einen Weg, der darüber führt. Ihn zu beschreiten ist den Toten untersagt. Er ist nicht lang, doch ist er bitterhart.«
»Ich habe Durst«, sagte Arren, und sein Gefährte erwiderte: »Hier trinkt man Staub.«
Sie schritten weiter ihres Weges.
Es kam Arren vor, als ob sein Gefährte seine Schritte verlangsamte und manchmal zögerte. Er selbst fühlte kein Zögern, obgleich die Müdigkeit nicht verschwunden war, sondern sich merklich verschlimmert hatte. Sie mußten hinunter, sie mußten weitergehen. Und sie setzten ihren Weg fort.
Manchmal durchquerten sie andere Städte, deren dunkle Dächer sich schräg vom Himmel und den unbeweglichen Sternen abhoben. Hinter den Städten lag wieder leeres Land, wo nichts wuchs. Sobald sie durch eine Stadt geschritten waren, verschwand sie hinter ihnen in der Dunkelheit. Nichts war vor oder hinter ihnen sichtbar, nur die Berge, die immer näherrückten, immer höher ragten. Rechts vor ihnen verlor sich der Hang, der keine Umrisse hatte, in der Tiefe, wie er es getan hatte, seit sie — wie lange war es schon her? — die Steinmauer überschritten hatten. »Was liegt vor uns?« murmelte Arren, zu Ged gewandt. Es verlangte ihn, einen menschlichen Laut zu vernehmen, doch der Magier s chüttelte nur den Kopf. »Ich weiß es nicht, vielleicht ein Weg ohne Ende.«
Als sie weitergingen, wurde der Weg merklich flacher. Der Boden unter ihren Füßen knirschte laut, wie Lava, das zu grobkörnigem Schutt zerfallen war. Doch immer weiter führte sie der Weg. Jetzt dachte Arren an keine Umkehr mehr, auch nicht, wie sie zurückkehren würden. Auch an ein Anhalten dachte er nicht mehr, obwohl er todmüde war. Einmal versuchte er, die betäubende Dunkelheit, die Erschöpfung und die Furcht, die sein Herz umfangen hielten, zu erleichtern, und er dachte an seine Heimat, doch er konnte sich nicht mehr erinnern, wie das Sonnenlicht oder das Gesicht seiner Mutter ausgesehen hatten. Es blieb ihm nichts übrig, er mußte weitergehen. Und er ging weiter.
Er fühlte, wie der Grund unter seinen Füßen eben wurde. Ged, neben ihm, zögerte. Da hielt auch er an. Der lange Abstieg war vorüber: hier war das Ende. Es gab keinen Weg, der weiter führte, es war nicht nötig weiterzugehen.
Sie befanden sich in einem Tal am Fuß der Berge, am Fuß der Pein. Der Grund war mit Felsgestein übersät, neben ihnen ragten Felsblöcke wie Schlacken so rauh in die Höhe. Es schien, als ob dies schmale Tal einst ein Flußbett gewesen wäre, vielleicht hatte es einst Wasser geführt, vielleicht einen Feuerstrom, der längst erkaltet war und der von den Vulkanen, die ihre schwarzen, unerbittlichen Häupter emporreckten, ausgespien worden war.
Hier, in diesem schmalen Tal im tiefen Dunkel hielten sie an. Sie standen wie die Toten und starrten schweigend, ohne Ziel, ins Nichts. Arren dachte, und es schreckte ihn wenig: »Wir sind zu weit gegangen.«
Es war bedeutungslos geworden.
Ged sprach seine Gedanken aus: »Wir sind zu weit gegangen, um umkehren zu können.« Geds Stimme war leise, doch ihr Schall wurde von der großen schwarzen Leere, die sie umgab, nicht völlig erstickt, und als Arren die Laute vernahm, verlor er etwas von der Gleichgültigkeit, die von ihm Besitz ergriffen hatte. Waren sie nicht hierhergekommen, um den zu finden, dem ihre Suche galt?
Eine Stimme aus der Dunkelheit sprach: »Ihr seid zu weit gegangen.«
Arren antwortete: »Nur zu weit ist weit genug.«
»Ihr befindet euch am Trockenen Fluß«, ließ die Stimme sich wieder vernehmen. »Ihr könnt nicht mehr zur Steinmauer zurück. Ihr könnt nicht mehr ins Leben zurück.«
»Nicht auf diesem Weg«, sagte Ged in die Dunkelheit hinein. Arren konnte ihn kaum erkennen, obgleich sie nebeneinander standen, denn die Berge, unter denen sie sich befanden, hielten das schwache Sternenlicht ab, und die Strömung des Trockenen Flusses schien aus Dunkelheit selbst zu bestehen. »Doch wir könnten von dir lernen und den Weg erfahren.«
Sie erhielten keine Antwort.
»Hier treffen wir als Ebenbürtige aufeinander. Wenn du blind bist, Cob, so denke daran, daß auch wir uns im Dunkeln befinden.«
Sie erhielten keine Antwort.
»Wir können dir hier nichts antun. Wir können dich nicht töten. Wovor also fürchtest du dich?«
»Ich kenne keine Furcht«, ließ die Stimme in der Dunkelheit sich vernehmen. Dann, ganz allmählich, begann es zu schimmern, wie das Licht, das manchmal an Geds Stab erschien, und der Mann wurde sichtbar. Er stand etwas stromaufwärts, nicht weit von Ged und Arren entfernt, zwischen den riesigen, undeutlichen Felsblöcken. Er sah wieder groß, breitschultrig und langatmig aus, wie die Gestalt, die auf der Düne am Strand von Selidor gestanden hatte, doch nun viel älter; sein Haar war weiß und hing in schütteren Strähnen über die hohe Stirn. So erschien er vor ihnen im Geist, im Königreich des Todes, unverbrannt und unverletzt vom Feuer des Drachen, aber doch nicht vollkommen: die Höhlen seiner Augen waren leer.
»Ich kenne keine Furcht«, wiederholte er. »Wovor sollte sich ein Toter fürchten?« Er lachte. Das Lachen hallte so widerlich, so unheimlich durch das schmale, steinige Tal unter den Bergen, daß Arrens Herz einen Augenblick stehenblieb. Doch er umfaßte sein Schwert fester und hörte zu.
»Ich weiß auch nicht, wovor sich ein Toter fürchten sollte«, antwortete Ged, »bestimmt nicht vor dem Tod. Doch mir scheint, daß du ihn fürchtest, obgleich du einen Weg gefunden hast, ihm zu entgehen.«
»Das habe ich. Ich lebe. Mein Körper lebt.«
»Nicht so besonders gut«, erwiderte der Magier trocken. »Die Illusion kann zwar das Alter verbergen, doch Orm Embar ging nicht eben sorgfältig mit diesem Körper um.«
»Ich kann ihn heilen. Ich kenne die Geheimnisse des Heilens und der Jugend, und das ist keine Illusion. Wofür hältst du mich denn? Weil man dich zum Erzmagier gemacht hat, glaubst du vielleicht, daß ich nur ein Dorfzauberer bin? Ich allein unter all den Magiern habe den Weg zur Unsterblichkeit gefunden, keinem anderen ist das geglückt.«
»Vielleicht haben wir es nicht versucht«, sagte Ged.
»Ihr habt es versucht. Ihr alle. Ihr habt es versucht, und keinem ist es gelungen. Dann habt ihr weise Worte geredet vom Hinnehmen und vom Gleichgewicht der Dinge, vom Gleichgewicht des Lebens und des Todes. Worte, nichts als leere Worte — um euer Unvermögen zu vertuschen, um eure Angst vor dem Tode zu verbergen! Zeig mir den Menschen, der nicht ewig leben wollte, wenn er könnte! Ich kann es. Ich sterbe nicht. Ich tat, was du nicht tun konntest, und deswegen bin ich dein Meister, und das weißt du. Willst du wissen, wie ich es geschafft habe, Erzmagier?«
»Ja, ich würde es gerne wissen.«
Cob trat einen Schritt näher. Arren bemerkte, daß der Mann, obwohl er keine Augen hatte, sich doch nicht wie ein Blinder benahm; er schien genau zu wissen, wo Arren und Ged standen, er wußte auch, daß sie beide da waren, obgleich er kein einziges Mal den Kopf in Arrens Richtung wandte. Er mußte eine magische Kraft besitzen, die ihn sehen und erkennen ließ, wie es Erscheinungen eigen ist, die ja auch sehen und hören können; irgend etwas jedenfalls, das ihm seine Umgebung nahebrachte.
»Ich war in Paln«, sagte er zu Ged, »als du in deinem Stolz annahmst, daß du mich beschämt und mir eine Lektion erteilt hättest. Oh, du hast mir eine Lektion erteilt, ganz gewiß, aber nicht die, die du im Sinne gehabt hast! Damals habe ich mir gesagt: ›Jetzt hast du den Tod erlebt, und das genügt. Setz alles dran, um ihn nicht erleiden zu müssen. Laß die blöde Kreatur auf ihrem dumpfen Weg dahinwandern, du stehst über der Natur, du bist besser als sie.‹ Ich wollte diesen Weg nicht beschreiten, ich wollte mein Selbst nicht aufgeben. Und so entschlossen war ich, daß ich die palnische Kunde wieder zur Hand nahm, doch ich fand darin nur Andeutungen und unzusammenhängende Hinweise. Da setzte ich mich hin und schuf und wirkte meine eigene Formel — die größte Formel, die je gewirkt wurde, die größte und die letzte!«
»Und durch diese Formel fandest du den Tod.«
»Jawohl! Ich starb. Ich hatte den Mut zu sterben, um das zu finden, was ihr Feiglinge nie gewagt habt zu suchen: den Weg zurück vom Tode. Ich öffnete die Tür, die seit dem Beginn aller Zeiten geschlossen war. Und jetzt kann ich mich frei bewegen, kann hierbleiben und die Welt der Lebenden betreten, wann es mir gefällt. Unter allen Menschen bin ich der einzige, der Herr über beide Welten ist. Und die Tür, die ich geöffnet habe, steht nicht nur hier offen, sondern im Innern jedes lebenden Menschen, in der Tiefe und den unbekannten Gründen seines Seins, dort, wo wir alle eins sind im Urgrund. Die Menschen wissen das und kommen zu mir. Und die Toten, die müssen zu mir kommen, alle müssen zu mir kommen, denn ich habe die Magie eines Lebenden behalten: sie müssen über die Steinmauer klettern, wenn ich es ihnen gebiete, all die Seelen, die Fürsten, die Magier und die stolzen Frauen, hin und her, vom Leben in den Tod und wieder zurück, wie es mir gefällt. Alle sind mir Untertan, die Lebenden und die Toten, denn ich bin gestorben und wieder auferstanden!«
»Und wo treffen sie dich, Cob? Wo bist du?«
»Zwischen den Welten.«
»Aber dort ist weder Leben noch der Tod. Was ist Leben, Cob?«
»Macht.«
»Was ist Liebe?«
»Macht«, wiederholte der Blinde schwer und zog seine Schultern in die Höhe.
»Was ist Licht?«
»Dunkelheit!«
»Wie lautet dein wahrer Name?«
»Ich habe keinen.«
»Alle, die hier sind, tragen ihren wahren Namen.«
»Dann sag mir deinen!«
»Ich heiße Ged. Und du?«
Der Blinde zögerte, dann sagte er: »Cob.«
»Das war dein Umgangsname, nicht dein wahrer Name. Wo ist dein Name? Wo ist dein wahres Selbst? Hast du es in Paln gelassen, wo du gestorben bist? Viel hast du vergessen, o Herr über beide Welten! Das Licht, die Liebe und deinen wahren Namen hast du vergessen!«
»Jetzt habe ich aber deinen Namen und Macht über dich, Ged, den Erzmagier, der Erzmagier gewesen war, als er noch lebte.«
»Mein Name nutzt dir nichts«, sagte Ged. »Du hast keine Macht über mich. Ich lebe. Mein Körper liegt am Strand von Selidor unter der Sonne, auf der sich drehenden Erde. Und wenn der Körper stirbt, dann komme ich hierher, doch nur dem Namen nach, nur als Schatten. Verstehst du das? Hast du das nie begriffen, du, der die Scharen der Toten, die Schatten aus der Unterwelt zu dir heraufbefohlen hast; selbst meinem Herrn Erreth-Akbe, dem weisesten von uns allen, hast du befohlen, zu erscheinen? Hast du nie begriffen, daß er, selbst er, nur ein Schatten, nur ein Name ist? Sein Tod hat das Leben nicht vermindert, er selbst wurde nicht vermindert durch seinen Tod. Und dort, im Leben — dort ist er! Nicht hier, wo es nur Schatten und nur Staub gibt. Dort ist er, er ist Erde und Sonnenlicht, Blätter an den Bäumen, Adlerflug! Er lebt. Und alle, die sterben, leben, sie werden wiedergeboren, ihr Leben hört nicht auf, noch wird es je aufhören. Das gilt für alle, doch nicht für dich. Denn du wolltest nicht sterben. Du hast den Tod verloren und damit auch das Leben. Du wolltest dein Selbst retten. Dein Selbst! Dein unsterbliches Selbst! Wer bist du denn nun wirklich?«
»Ich bin! Mein Körper wird nicht verfaulen und sterben…«
»Ein lebender Körper leidet Schmerzen, Cob. Ein lebender Körper wird alt und stirbt. Der Tod ist der Preis, den wir für unser Leben, für alles Leben zahlen müssen.«
»Ich zahle diesen Preis nicht! Ich kann sterben und im gleichen Moment wieder leben! Ich kann nicht getötet werden, ich bin nicht sterblich. Ich allein behalte mein Selbst auf alle Ewigkeit.«
»Wer bist du denn?«
»Der Unsterbliche.«
»Sag deinen Namen!«
»Der König.«
»Nenne mich bei meinem Namen. Ich habe ihn dir gerade gesagt. Nenne mich bei meinem Namen!«
»Du bist nicht wirklich. Du hast keinen Namen. Nur ich existiere.«
»Du existierst: ohne Namen, ohne Gestalt! Du, Augenloser, du kannst das Licht des Tages nicht erschauen, du siehst das Dunkel nicht. Die Sonne, die Sterne, die grüne Erde hast du verkauft, um dein armseliges Selbst zu retten. Doch du hast kein Selbst. Du hast alles hergegeben und nichts dafür bekommen. Und jetzt versuchst du, die Welt an dich zu ziehen, das Licht und das Leben, das du verloren hast, damit du deine Leere füllen kannst. Doch sie wird leer bleiben. Alle Laute dieser Erde, alle Sterne des Himmels können diese Leere nicht füllen!«
Geds Stimme hallte ehern in dem kalten Tal unter den Bergen, und der Blinde schreckte vor ihm zurück. Er hob das Gesicht in die Höhe, und das trübe Sternenlicht fiel darauf. Er sah aus, als ob er weinte, doch er hatte keine Tränen, denn er hatte keine Augen. Sein Mund öffnete sich und schloß sich wieder, die Dunkelheit füllte ihn, doch keine Worte kamen heraus, nur ein Stöhnen. Endlich sagte er, mühsam und mit verzogenen Lippen, das eine, einzige Wort: »Leben.«
»Wenn ich könnte, würde ich dir dein Leben zurückgeben, Cob. Doch das kann ich nicht. Du bist tot. Doch kann ich dir den Tod geben.«
»Nein!« Der Blinde schrie auf: »Nein, nein!« Er krümmte sich zusammen, schluchzend, obgleich seine Augenhöhlen so trocken wie das steinige Flußbett blieben, das nur Nacht, doch kein Wasser barg. »Das kannst du nicht. Niemand kann mich befreien. Ich habe die Tür zwischen den Welten geöffnet, und ich kann sie nicht mehr schließen. Niemand kann sie schließen. Sie wird nie mehr geschlossen werden. Dorthin zieht es mich, immer zieht es mich dorthin. Ich muß durch die Tür gehen und dann wieder zurückkommen. Hierher in die Kälte, in das Schweigen und in den Staub muß ich zurückkehren. Es saugt an mir, es saugt an mir. Ich komme nicht davon los. Ich kann sie nicht zuschließen. Und am Ende wird alles Licht aus der Welt gesogen sein, und alle Flüsse werden wie der Trockene Fluß sein. Es gibt keine Macht, die stark genug ist, die Tür, die ich geöffnet habe, wieder zu schließen.«
Die Mischung von Verzweiflung und Triumph, von Furcht und Eitelkeit, die in seiner Stimme lag, hörte sich unheimlich an.
Ged fragte nur: »Wo ist sie?«
»Dort. Nicht weit. Du kannst hingehen. Aber du kannst dort nichts tun.
Du kannst sie nicht schließen. Selbst wenn du deine ganze Macht und Kraft in dieser einen Tat verbrauchen würdest, wäre es nicht genug. Nichts ist dafür genug.«
»Vielleicht«, antwortete Ged. »Du hast es aufgegeben, doch wir, wir haben es noch nicht aufgegeben. Führ uns dorthin!«
Der Augenlose hob sein Gesicht. Angst und Haß lagen darauf und kämpften miteinander. Der Haß trug den Sieg davon. »Nein, ich führe euch nicht dorthin.«
Da trat Arren hervor und befahl: »Du wirst uns dorthin führen!«
Der Blinde rührte sich nicht. Die eisige Kälte und die Dunkelheit des Totenreiches umhüllte sie und umhüllte ihre Worte.
»Wer bist du?«
»Ich heiße Lebannen.«
Ged sprach: »Du, der sich König nennt, du weißt nicht, wer das ist?«
Wiederum stand Cob, ohne sich zu rühren. Dann sprach er stammelnd: »Aber er ist tot — du bist tot. Du kannst nicht zurück. Kein Weg führt hinaus. Du bist hier gefangen.« Noch während er sprach, erlosch der schwache Lichtflimmer, und sie hörten, wie er sich von ihnen wandte und sich hastig in die Dunkelheit davonstahl. »Geben Sie mir Licht, mein Gebieter!« rief Arren, und Ged hielt seinen Stab hoch über seinen Kopf, damit das weiße Licht die uralte Dunkelheit zerbreche, und sie sahen, wie die gekrümmte Gestalt des Blinden, ohne zu zögern, sicher und hurtig, doch mit merkwürdigem Gang das Flußbett hinauf eilte, die Felsen vermeidend und die Schatten suchend. Ihm auf den Fersen folgend rannte Arren, und dahinter kam Ged.
Bald war Arren seinem Gefährten weit voraus. Das Licht wurde schwächer und war oft ganz verdeckt von den Felsen und den Windungen des Flußbettes. Doch Arren spürte Cobs Gegenwart, er hörte das Geräusch, das seine Füße verursachten, und der Abstand zwischen Arren und Cob verringerte sich, besonders, als der Weg steiler wurde. Sie kletterten eine enge Schlucht hinauf, die mit Steingeröll angefüllt war. Der Trockene Fluß wurde schmaler, je näher sie seinem Ursprung kamen, und die Ufer zu beiden Seiten wurden steiler. Felsgestein bröckelte unter ihren Füßen und Händen, denn sie mußten oft auf allen vieren kriechen. Arren spürte, wie das Flußbett sich zu einer letzten Enge verschmalerte, er machte einen Satz, packte Cob beim Arm und hielt ihn fest. Sie waren an einem Becken angelangt, das ein bis zwei Meter breit war und wohl Wasser hätte halten können, wenn es Wasser gegeben hätte. Hinter dem Becken ragte eine steile, rauhe Wand aus Fels und Schiefer empor. Und in der Wand war eine schwarze Öffnung, der Ursprung des Trockenen Flusses.
Cob versuchte nicht, sich seinem Griff zu entwinden. Er stand, ohne sich zu bewegen, während das Licht von Geds Stab immer heller auf sein Gesicht mit den leeren Augenhöhlen fiel. Der hatte es Arren zugewandt: »Hier ist der Ort, den du suchst. Siehst du ihn? Hier kannst du wiedergeboren werden. Du mußt nur mir folgen. Du wirst ewig leben. Und wir können beide zusammen Könige sein.«
Arren schaute auf die schwarze, unheimliche Öffnung, auf den Ursprung des Trockenen Flusses, auf dieses Maul aus Staub, in das die tote Seele hineinkriecht und wieder herauskommt, doch nicht um zu leben, sondern um ein Schattendasein zu führen: abscheulich schien es ihm und seine Stimme klang erstickt, er würgte, denn Übelkeit hatte ihn überfallen: »Es soll geschlossen werden!«
»Es wird geschlossen werden«, sagte Ged, der zu ihm getreten war. Und von seinen Händen und von seinem Gesicht ging ein Licht aus, als ob ein Stern in dieser endlosen Nacht auf die Erde gefallen wäre. Vor ihm gähnte die ausgetrocknete Quelle, die weitoffene Tür und hinter ihr war es hohl, wie weit und tief es ging, war nicht zu sehen. Nichts befand sich dahinter, worauf ein Licht hätte fallen können. Es war eine absolute Leere. Licht und Dunkel, Leben und Tod gab es dort nicht. Es war ein Weg, doch er führte in ein Nichts.
Ged hob die Hände hoch und begann zu sprechen. Arren hielt noch immer Cobs Arm fest. Der Blinde hatte seine freie Hand auf das Felsgestein der Wand gelegt. Beide rührten sich nicht, die Macht der Zauberformel hielt sie in ihrem Bann. Die Kunst, um die sich Ged sein ganzes Leben lang bemüht hatte, die Kraft seines jähen, starken Herzens, jetzt halfen sie ihm in seinem Ringen mit der Tür, in seinem Bemühen, sie zu schließen und die Welt zu heilen. Und dem Befehl seiner Stimme und dem Wirken seiner Hände gehorchend schoben sich die Felsen mühsam, schmerzlich zusammen, versuchten knirschend, wieder eins zu werden. Doch zur gleichen Zeit wurde das Licht, das von seinen Händen und von seinem Gesicht ausging, immer schwächer, es starb ab, und sein Stab aus Erlenholz begann zu erlöschen, bis nur noch ein ganz geringes Lichtlein verblieb, doch in diesem schwachen Licht sah Arren, daß die Tür fast geschlossen war.
Auch der Augenlose fühlte, wie die Felsen sich bewegten, fühlte, wie sie sich berührten: doch er fühlte gleichzeitig, wie Kunst und Macht geopfert wurden, wie sie gegeben wurden und erloschen, und er schrie plötzlich auf: »Nein!« und riß sich von Arren los. Er sprang nach vorne und umfing Ged mit blindem, eisernem Griff. Unter seinem Anprall wurde Ged zu Boden gerissen, und der Augenlose umschloß seine Kehle, um ihn zu erwürgen.
Arren riß Serriadhs Schwert in die Höhe, die Klinge zerschnitt pfeifend die Luft und traf den gebeugten Nacken unter dem verfilzten Haar.
Der Geist eines Lebenden hat Gewicht im Lande der Toten, und der Schatten seines Schwertes hatte eine scharfe Klinge. Das Schwert ging tief und durchschnitt Cobs Genick. Beim Licht des Schwertes spritzte schwarzes Blut in die Höhe.
Doch es hat wenig Zweck, einen Toten töten zu wollen, und Cob war ein Toter, schon seit vielen Jahren. Die Wunde schloß sich, ihr eigenes Blut aufsaugend. Der Blinde erhob sich zu seiner vollen Größe und tastete mit langen Armen nach Arren, sein Gesicht war von Wut und Haß verzerrt; es schien, als hätte er erst jetzt gemerkt, wer sein wahrer Rivale und Feind war.
So schrecklich war der Anblick dieses Mannes mit den leeren Augenhöhlen, der sich von seiner tödlichen Wunde erholte, der unfähig war zu sterben, viel schrecklicher, als es der Anblick jedes Sterbens sein konnte, daß Arren von einem unsäglichen Haß ergriffen wurde und wie ein Berserker auf Cob losging. Er hieb auf ihn ein, und Cob fiel mit gespaltenem Schädel auf die Erde, sein Gesicht von Blut überströmt, doch Arren hieb schon wieder auf ihn ein, bevor sich die Wunde schließen konnte, denn er wollte ihn erschlagen, bis er endgültig tot war…
Ged, der sich neben ihm mühsam auf seinen Knien aufgerichtet hatte, sprach nur ein einziges Wort.
Beim Klang seiner Stimme hielt Arren inne, als hätte jemand seinen Schwertarm gepackt. Auch der Blinde, der wieder dabei war, sich zu erheben, war erstarrt, Ged versuchte mühsam, auf die Füße zu kommen, bis er schwankend stand. Als er sich ganz aufgerichtet hatte, wandte er sich der Felswand zu.
»Damit seist du geschlossen!« sprach er mit klarer Stimme und schrieb mit seinem Stab in feurigen Linien eine Figur auf das Felsentor: die Rune Agnen, die Rune des Endens, die Straßen schließt und in Sargdeckel geritzt wird.
Zwischen den Felsen gab es keine Leere, keine Kluft mehr. Die Tür war geschlossen.
Der Boden des Trockenen Landes zu ihren Füßen erbebte, über den unbeweglichen, leblosen Himmel rollte der Donner und verhallte.
»Beim Wort, das am Ende aller Zeiten gesprochen werden wird, habe ich dir geboten, zu erscheinen, beim Wort, das am Beginn der Schöpfung gesprochen worden ist, löse ich deine Bande: Geh und sei frei!« Und er beugte sich zu dem Augenlosen, der auf seinen Knien vor ihm kauerte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr unter dem weißen verfilzten Haar.
Cob erhob sich. Er blickte sehenden Auges um sich, langsam und erstaunt. Er schaute Arren an, dann Ged. Er redete kein Wort, sondern blickte sie nur aus dunklen Augen an. In seinem Gesicht lag weder Wut noch Haß noch Schmerz. Langsam wandte er sich von ihnen ab, ging das Flußbett des Trockenen Flusses entlang und war bald verschwunden.
Doch das Licht in Geds Gesicht und an seinem Stab war erloschen. Er stand im Dunkeln. Als Arren zu ihm trat, hielt er sich am Arm des jungen Mannes fest. Ein trockenes Schluchzen schüttelte seinen Körper. »Es ist vollbracht«, sagte er, »es ist vollbracht.«
»Es ist vollbracht, mein Gebieter, mein geliebter Herr. Wir müssen gehen.«
»Ja. Wir müssen heimgehen.«
Ged war erschöpft. Er folgte Arren das Flußbett hinunter, stolperte und kam nur mühsam zwischen den Felsbrocken und dem Geröll vorwärts. Arren hielt sich dicht bei ihm. Als die Ufer des Trockenen Flusses weniger steil wurden und der Boden flacher, wandte sich Arren dem Weg zu, den sie gekommen waren: dem langen Hang ohne feste Umrisse, der hinauf ins Dunkel führte. Dann wandte er sich um.
Ged redete nicht. Er war auf einem Brocken erstarrter Lava zusammengesunken, völlig erschöpft, mit gesenktem Haupt.
Arren wußte, daß sie auf dem Weg, den sie gekommen waren, nicht mehr zurückkehren konnten. Es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie mußten weiter vorangehen. Sie mußten den ganzen Weg zurücklegen. Selbst zu weit ist noch nicht weit genug, dachte er. Er blickte auf die schwarzen, stillen Gipfel, die sich gegen die unbeweglichen Sterne abhoben, schrecklich in ihrer Kälte und drohend. Doch wieder vernahm er die spöttische, ironische Stimme in seinem Innern, die ihn herausforderte: »Willst du auf halbem Weg umkehren, Lebannen?«
Er ging zu Ged und sagte: »Wir müssen weitergehen, mein Gebieter.«
Ged erwiderte nichts, aber er stand auf.
»Ich glaube, wir müssen über die Berge gehen.«
»Es ist dein Weg, mein Junge«, Geds Stimme war heiser, flüsternd. »Hilf mir!«
Und so begannen sie ihren Weg in die Berge, die Hänge aus Staub und Schlacken hinauf. Arren half seinem Gefährten so gut er es vermochte. Es war stockfinster in den Schluchten und Klüften, und er mußte den Weg ertasten. Es war schwierig, Ged gleichzeitig zu stützen. Das Gehen war mühsam, es war ein fortwährendes Stolpern, doch als die Hänge steiler wurden und sie klettern mußten, wurde es noch viel schlimmer. Die Felsen waren rauh, und ihre Hände brannten, als faßten sie geschmolzenes Eisen an. Doch gleichzeitig war es kalt und wurde immer kälter, je höher sie stiegen. Es war eine Qual, diese Erde zu berühren, sie brannte wie feurige Kohlen; im Berg drinnen loderte ein Feuer. Doch die Luft, die sie umgab, war eiskalt und dunkel. Kein Laut war zu vernehmen. Kein Wind rührte sich. Die scharfen Steine zerbröckelten unter ihren Händen. Ihre Füße sanken ein. Schwarz und steil erhoben sich die Felsrücken und Felszacken vor ihnen und fielen an ihren Seiten jäh ins Dunkel ab. Hinter und unter ihnen versank das Reich der Toten. Vor und über ihnen hoben sich die Gipfel und Felsen gegen die Sterne ab. Und nichts rührte sich in dieser schwarzen Welt aus Fels und Stein, nur die zwei menschlichen Seelen.
Ged stolperte und strauchelte oft. Er war völlig erschöpft. Er atmete immer mühsamer, und wenn seine Hände die Felsen berührten, stöhnte er auf vor Schmerz. Es brach Arrens Herz, ihn leiden zu sehen. Er versuchte, ihn vor dem Hinfallen zu bewahren, doch der Weg war oft zu schmal, um nebeneinander gehen zu können, und Arren mußte vorangehen, um zu ertasten, wohin sie ihre Füße setzen konnten. Als sie endlich einen Steilhang erreichten, der hinauf zu den Sternen zu führen schien, glitt Ged aus und fiel vornüber. Er stand nicht mehr auf.
»Mein Gebieter«, sagte Arren und kniete bei ihm nieder; dann sprach er seinen Namen: »Ged!«
Er rührte sich nicht und gab keine Antwort.
Arren nahm ihn in seine Arme und trug ihn den Hang hinauf. Oben ging es ein Stück eben weiter. Arren legte seine Bürde nieder und ließ sich selbst erschöpft und ohne Hoffnung auf den Boden sinken. Dies war der höchste Punkt des Passes, der zwischen den beiden schwarzen Gipfeln lag, auf den er sich zugeschleppt hatte. Der Weg führte nicht weiter. Am Ende des ebenen Stücks Weges war ein Abgrund: jenseits davon erstreckte sich endlose Dunkelheit, und die kleinen Sterne hingen unbeweglich an einem schwarzen Himmel.
Beharrlichkeit kann stärker als Hoffnung sein und sie überdauern. Arren kroch vorwärts, als er dazu in der Lage war. Er kroch langsam, ganz langsam. Er blickte über den Rand der Dunkelheit und dort, unter ihm, ganz nahe, sah er den elfenbeinernen Strand, die hellen, bernsteinfarbenen Wellen, die heranrollten und am Strand in weißer Gischt sich brachen. Über dem Meer, hinter einem Schleier aus Gold, neigte sich die Sonne gegen den Horizont.
Arren wandte sich um gegen das Dunkel. Er ging zurück. Er hob Ged hoch, so gut er es vermochte, und ging vorwärts, bis er nicht mehr weiter konnte. Hier fanden alle Dinge ihr Ende: Durst, Schmerz und Dunkel, das Licht der Sonne und die Stimme des ewig ruhelosen Meeres.