Auf Rok werden die Künste der Hohen Magie gelehrt, und Knaben, denen die Gabe der Zauberei angeboren ist, kommen aus allen Ländern der Erdsee hierher zur Schule. Sie werden mit den verschiedensten Arten der Zauberei vertraut gemacht, studieren Namen, Runen, Formeln und Bannsprüche, lernen, was man tun darf und was man unterlassen muß und die Gründe dafür. Und hier werden sie, nach langer Übung, wenn Geist, Verstand und Handfertigkeit Schritt halten, zum Zauberer ernannt und erhalten einen Stab als Zeichen ihrer Macht. Die wahren Zauberer kommen alle aus Rok.
Da es auf allen Inseln Zauberer und Zauberweiber gibt und die Magie den Menschen so nötig ist wie Brot und so ergötzlich wie Musik, wird die Schule der Zauberkunst mit Ehrfurcht betrachtet. Die neun Magier, die Meister der Schule, genießen das gleiche Ansehen wie die mächtigsten Prinzen des Inselreichs. Ihr Meister, der Hüter von Rok, der Erzmagier, ist keinem Menschen verpflichtet, außer dem König aller Inseln, doch selbst an diesen bindet ihn nur ein Treueeid, der aus freiwilligem Herzen gegeben wurde, denn selbst ein König ist nicht stark genug, diesen mächtigsten aller Magier an das Gemeine Recht zu ketten, wenn er sich dagegen sträuben würde. Doch selbst in den Jahrhunderten, die keinen König kannten, blieben die Erzmagier ihrem Eid treu und dienten dem Gemeinen Recht. In Rok nimmt alles, schon seit Jahrhunderten, unverändert seinen Lauf. Auf Rok, so schien es, war man sicher vor aller Unbill, hier hallte das Lachen der Jungen durch die breiten, kalten Flure des Großhauses und fand sein Echo in den Innenhöfen des Gebäudes.
Der Junge, der Arren die Schule zeigte, war ein kräftiger, untersetzter Bursche, dessen Umhang am Hals mit einer Silberbrosche geschlossen war, ein Zeichen, daß er nicht mehr Novize, sondern bereits Zauberer war und jetzt im Studium steckte, um den Stab zu erlangen. Er wurde ›Spiel‹ genannt, »denn«, so erklärte er, »meine Eltern hatten sechs Mädchen, und mein Vater sagte, das siebte Kind war ein gewagtes Spiel mit dem Schicksal.« Er war ein unterhaltsamer Geselle, schlagfertig und gescheit. Zu jeder anderen Zeit hätte Arren großen Gefallen an seinem Humor gefunden, doch heute war sein Herz zu voll. Er gab nicht viel acht auf das, was ihm Spiel erzählte. Und Spiel, der das natürliche Verlangen hatte, daß man Notiz von ihm nehme, fing an, die Geistesabwesenheit des Fremden auszunutzen. Zuerst begann er allerhand merkwürdige Dinge über die Schule zu erzählen, dann trumpfte er mit Lügen auf, und Arren sagte zu allem immer nur »Ach ja?« und »Wirklich?«, so daß Spiel begann, ihn als einen königlichen Idioten zu betrachten.
»Hier wird natürlich nicht gekocht«, sagte er, als sie an der Küche vorbeikamen, in der es laut zuging, wo riesige Kupferkessel glänzten und wo mit großen Messern geschnitten und zerkleinert wurde, und der Duft von Zwiebeln Tränen in die Augen trieb. »Das ist alles nur zum Anschauen. Wir essen im Refektorium und jeder zaubert sich herbei, was er essen will. Dann braucht man natürlich auch nachher kein Geschirr zu spülen.«
»Oh, wirklich?« meinte Arren höflich.
»Novizen, die noch keine Zauberformeln kennen, die werden natürlich sehr mager in den ersten Monaten hier, aber sie lernen schnell. Da ist zum Beispiel ein Junge aus Havnor, der dauernd versucht, gebratene Hähnchen herbeizuzaubern und immer nur Hirsebrei bekommt. Er bleibt mit seiner Formel immer am Hirsebrei hängen. Doch gestern hat er einen geräucherten Schellfisch dazubekommen.« Spiel wurde heiser vor Anstrengung, um die Leichtgläubigkeit des Gastes zu erschüttern. Er gab es schließlich auf und sagte überhaupt nichts mehr.
»Aus welchem … aus welchem Land kommt der Erzmagier?« fragte der Gast und warf nicht einen einzigen Blick auf die eindrucksvolle Galerie, durch die sie gerade schritten, deren Wände und Decke ein einziges Schnitzwerk war, das den Baum der Tausend Blätter darstellte.
»Gont«, sagte Spiel. »Er war dort Ziegenhirte.«
Als er diese einfache und wohlbekannte Tatsache vernahm, blieb der Junge aus Enlad stehen und starrte ihn ungläubig an: »Ein Ziegenhirte?«
»Auf Gont hüten die meisten Leute Ziegen, oder es sind Zauberer oder Piraten. Ich habe ja nicht gesagt, daß er jetzt Ziegenhirte ist.«
»Aber wie kann ein Ziegenhirte Erzmagier werden?«
»Auf die gleiche Art und Weise wie ein Prinz! Indem er nach Rok kommt und besser ist als alle Meister, und den Ring aus Atuan stiehlt, und zu den Dracheninseln segelt, und der größte Zauberer seit Erreth-Akbe ist — wie denn sonst?«
Sie verließen die Galerie durch die Nordtür. Die Nachmittagssonne lag warm auf den bestellten Hügeln, den Dächern von Thwil und auf der dahinterliegenden Bucht. Hier hielten sie an und redeten miteinander. Spiel sagte: »Das alles ist natürlich schon lange her. Seit er Erzmagier ist, hat er nicht viel getan. Die tun gewöhnlich wenig. Die sitzen hier auf Rok und passen auf das Gleichgewicht der Dinge auf, nehme ich an. Und er ist ja auch schon ziemlich alt.«
»Alt? Wie alt?«
»Oh, vierzig oder fünfzig.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Natürlich habe ich ihn gesehen«, erwiderte Spiel kurz angebunden. Der königliche Idiot schien auch ein königlicher Affe zu sein.
»Oft?«
»Nein. Er bleibt meist für sich. Aber als ich nach Rok kam, habe ich ihn im Brunnenhof gesehen.«
»Ich habe heute auch dort mit ihm gesprochen«, sagte Arren.
Beim Ton seiner Stimme blickte ihn Spiel an und sagte ernsthaft: »Das war vor drei Jahren. Und ich war so verschüchtert, ich habe ihn gar nicht richtig angeschaut. Ich war natürlich auch noch ziemlich jung. Aber dort drinnen ist es schwierig, klar zu sehen. Ich erinnere mich hauptsächlich noch an seine Stimme und an den plätschernden Brunnen.« Nach einer Weile fügte er hinzu: »Er hat einen gontischen Akzent.«
»Wenn ich mit Drachen in ihrer eigenen Sprache reden könnte, dann würde mir mein Akzent nichts ausmachen.«
Als er das sagte, blickte ihn Spiel wohlgefällig an und fragte: »Sind Sie hierhergekommen, um in der Schule zu bleiben?«
»Nein. Ich brachte dem Erzmagier eine Botschaft von meinem Vater.«
»Enlad gehört zu den königlichen Fürstentümern, nicht wahr?«
»Enlad, Ilien und Weg. Havnor und Ea waren es einmal, aber in beiden Ländern starb die königliche Linie aus. Ilien geht auf Gemal Seebornzurück und setzt sich über Maharion, der König aller Inseln war, fort; Weg geht auf Akamber und das Haus Scheließ zurück; und Enlad, das älteste Fürstentum, geht direkt auf Morred zurück, und setzt sich über seinen Sohn Serriadh und das Haus Enlad fort.«
Arren sagte die genealogischen Fakten mit einem abwesenden Ausdruck auf, wie ein gelehriger Schüler, dessen Gedanken anderswo sind.
»Glauben Sie, daß zu unserer Zeit noch ein König in Havnor regieren wird?«
»Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht.«
»Ich komme aus Ark, und dort denken die Leute oft daran. Jetzt, seit dem Frieden, gehören wir zum Fürstentum Ilien, wie Sie wissen. Wie lange ist das jetzt schon her? Siebzehn oder achtzehn Jahre, seit der Ring mit der Königsrune zum Königsturm in Havnor ist. Dann wurde es eine Weile besser, aber jetzt ist es schlimmer als zuvor. Es wird Zeit, daß ein König den Thron der Erdsee besteigt und unter dem Friedenszeichen regiert. Die Leute haben die Nase voll von Krieg und Raubzügen, und von Kaufleuten, die zu viel verlangen, und von Fürsten, deren Steuern zu hoch sind, und von den dauernden Streitigkeiten. Rok leitet, aber es kann nicht regieren. Die Balance liegt hier, doch die Macht sollte in eines Königs Händen liegen.«
Spiel sprach mit Überzeugung, und aller Unsinn war vergessen. Arrens Aufmerksamkeit war endlich erwacht. »Enlad ist reich, und es ist friedlich dort«, sagte er langsam. »Es hat sich nie an diesen Streitereien beteiligt. Wir hören nur, was in den anderen Ländern vor sich geht. Aber seit Maharion starb, stand der Thron in Havnor leer: achthundert Jahre sind seither vergangen! Würden die Länder einen König annehmen?«
»Wenn er als Friedenskönig kommt und mächtig ist, wenn Rok und Havnor ihn als legitim betrachten, dann ja.«
»Wurde nicht etwas prophezeit? Hatte Maharion nicht gesagt, daß der nächste König ein Magier sein wird?«
»Der Meister der Lieder kommt aus Havnor, und er interessiert sich dafür. Drei Jahre bemüht er sich schon, uns einzutrichtern, was Maharion gesagt hat. Die Worte lauten: ›Er wird Erbe meines Thrones, der das dunkle Land lebend durchschreitet und die fernen Ufer des Tages erreicht.‹«
»Also ein Magier.«
»Ja, denn nur ein Zauberer oder Magier kann das Totenreich betreten und wieder zurückkehren Aber durchschreiten können selbst Magier es nicht! Außerdem sagt man, daß es nur eine Grenze habe und auf der anderen Seite grenzenlos sei. Und was bedeutet dann die fernen Ufer des Tages? So lautet wenigstens die Prophezeiung des letzten Königs, und deswegen wird eines Tages einer geboren werden, der sie erfüllen kann. Und Rok wird ihn anerkennen, und die See- und Landmächte und alle Völker werden zu ihm strömen. Dann wird im Mittelpunkt der Welt, im Königsturm von Havnor, die Majestät wiederhergestellt, und ich würde auch dorthin kommen, und mit Herz und Hand würde ich diesem wahren König dienen und mit all meinen Künsten«, sagte Spiel, und dann lachte er und zuckte die Achseln, um bei Arren nicht den Eindruck der Gefühlsduselei zu erwecken. Doch Arren blickte ihn verständnisvoll an und dachte: »Er würde für den König das gleiche empfinden, das ich für den Erzmagier empfinde.« Laut sagte er: »Ein König würde Leute wie Sie wohl um sich haben wollen.«
Sie schwiegen, und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach, ohne sich am ändern zu stören, bis hinter ihnen aus dem Großhaus ein lauter Gong ertönte.
»Aha«, sagte Spiel, »heute gibt es Linsen und Zwiebelsuppe. Kommen Sie!«
»Ich dachte, man kocht hier nicht?« sagte Arren geistesabwesend und folgte ihm.
»Ach manchmal… aus Versehen…«
Das Essen enthielt nichts Magisches, doch viel Nahrhaftes. Nach dem Essen wanderten sie hinaus über die Felder in die blaue Dämmerung hinein.
»Das ist der Rokkogel«, sagte Spiel, als sie einen runden Hügel emporstiegen. Das taufeuchte Gras berührte ihre Beine, und drunten am Thwilbach begrüßte ein Chor kleiner Frösche die erste Frühlingswärme und die kürzer werdenden sternklaren Nächte. Der Grund hier schien geheimnisvoll zu sein, und Spiel sagte leise: »Dieser Hügel hier war der allererste, der über das Meer ragte, als das Erste Wort gesprochen wurde.«
»Und er wird als der letzte versinken, wenn alles wieder vergeht«, sagte Arren.
»Hier stehen wir also ziemlich sicher«, sagte Spiel und schüttelte die Ehrfurcht ab, die ihn überkommen hatte; doch dann rief er aufgeregt aus: »Schauen Sie! Der Hain!«
Wie ein Mondaufgang verbreitete sich ein strahlendes Licht auf der Erde, südlich des Kogels; doch der Neumond war bereits westlich hinter dem Hügel verschwunden; auch war in dieser flimmernden Helle eine Bewegung wahrnehmbar, wie windbewegte Blätter an den Ästen von Bäumen.
»Was ist das?«
»Das kommt vom Hain — die Meister müssen sich dort versammelt haben. Man sagt, daß es damals, vor fünf Jahren, als sie den Erzmagier gewählt hatten, die ganze Nacht über so hell leuchtete wie der Vollmond. Aber warum treffen sie jetzt zusammen? Ist es wegen der Botschaft, die Sie brachten?«
Spiel war aufgeregt und beunruhigt und wollte ins Großhaus zurück, um herauszufinden, was das Konzil der Meister wohl bedeuten könne. Arren folgte ihm, doch er blickte immer wieder zurück auf die seltsame strahlende Helle, bis der Hügel sie verbarg und nur noch der Neumond und die Sterne einer Frühlingsnacht zu sehen waren.
In der aus Stein gebauten Zelle, die man ihm als Schlafkammer zugewiesen hatte, lag Arren mit offenen Augen. Sein ganzes Leben lang hatte er in einem Bett unter weichen Pelzen geschlafen, selbst auf der zwanzig Ruder starken Galeere, die ihn hierhergebracht hatte, gab es mehr Komfort als dieses Lager hier bot — eine Strohmatratze auf einem Steinboden und eine alte Decke aus Filz. Aber all dies nahm der Prinz nicht wahr. »Ich befinde mich im Herzen der Welt«, dachte er. »Die Meister sind an diesem heiligen Platz versammelt. Was werden sie beschließen? Werden sie einen großen Zauber ins Werk setzen, um die Magie zu retten? Ist es wahr, daß die Zauberkraft aus der Welt verschwindet? Wird selbst Rok bedroht? Ich will hierbleiben. Ich werde nicht heimfahren. Lieber fege ich sein Zimmer aus, als Prinz in Enlad zu sein. Ob er mich als Novize behält? Aber vielleicht wird die Kunst der Magie nicht mehr gelehrt, vielleicht werden die wahren Namen der Dinge nicht mehr gelernt. Mein Vater besitzt die Macht zur Zauberkunst, doch ich nicht, vielleicht stirbt sie wirklich aus! Aber ich will ihm trotzdem nahe bleiben, auch wenn er seine Macht und Kunst verliert. Selbst wenn ich ihn nie mehr zu Gesicht bekomme; selbst wenn er kein Wort mehr mit mir spricht!« Doch seine lebhafte Phantasie riß ihn fort, und er sah sich wieder im Brunnenhof unter der Eberesche, dem Erzmagier gegenüber, doch jetzt war der Himmel dunkel, der Baum kahl, und der Brunnen schwieg, und er sprach: »Mein Gebieter, der Sturm ist gekommen, doch ich will hierbleiben und Ihnen dienen.« Und der Erzmagier lächelte ihm zu … Aber hier versagte seine Phantasie, denn er hatte kein Lächeln auf dem dunklen Gesicht gesehen.
Am Morgen erhob er sich und hatte das Gefühl, daß er am Abend zuvor noch ein Junge gewesen war, doch jetzt nicht mehr. Über Nacht war er zum Mann gereift. Er sah dem Tag mit Zuversicht entgegen. Doch als die erste Handlung von ihm verlangt wurde, stand er starr. »Der Erzmagier wünscht Sie zu sprechen, Prinz Arren«, sagte ein junger Novize, der zu seiner Tür gekommen, kurz stehen geblieben war und dann wieder davonrannte, bevor Arren Zeit hatte, sich zu fassen.
Er ging die Turmtreppe hinunter und durchquerte die Steingänge, die zum Brunnenhof führten, denn er wußte nicht, wo er sonst hingehen sollte. Im Gang traf er auf einen alten Mann, der ihm zulächelte. Tiefe Furchen zogen sich von der Nase bis hin zum Kinn. Es war derselbe, der ihm tags zuvor die Tür zum Großhaus aufgemacht hatte, als er vom Hafen heraufgestiegen war, und der von ihm verlangt hatte, daß er seinen wahren Namen sage, bevor er eintrete. »Komm mit mir!« sagte Meister Pförtner.
Die Räume und Flure in diesem Teil des Gebäudes waren ruhig und still. Keine Jungen lärmten und lachten hier, niemand rannte die Korridore entlang. Hier spürte man das hohe Alter dieses Gemäuers. Der Zauber, der in den uralten Steinen verborgen war, der sie schützte, lag fast greifbar in der Luft. In bestimmten Abständen waren Runen tief in die Wände geritzt, manche waren mit Silber eingelegt. Arren hatte die hardischen Runen von seinem Vater gelernt, doch diese hier waren ihm unbekannt, obwohl die Bedeutung mancher ihm vertraut schien, so als ob er sie schon einmal gekannt, doch inzwischen wieder vergessen hätte.
»Hier hinein, mein Junge«, sagte der Pförtner, der sich nicht um Titel kümmerte, sei es Prinz oder Fürst. Arren folgte ihm in einen langen, niederen Raum mit mächtigen Deckenbalken. Ein Feuer brannte in einem aus Stein gefügten Kamin und spiegelte sich im polierten Eichenboden; von der gegenüberliegenden Wand fiel das helle, graue Licht des Nebels durch hohe Spitzbogenfenster. Vor dem Kamin stand eine Gruppe Männer, doch unter ihnen nahm er nur einen wahr: den Erzmagier. Er hielt in seiner Bewegung inne, verbeugte sich und stand da, ohne zu reden.
»Arren, dies sind die Meister von Rok; sieben von den insgesamt neun. Der Meister der Formgebung verläßt seinen Hain nicht, und der Meister Namengeber befindet sich in seinem Turm, ungefähr zwanzig Meilen nördlich von hier. Sie alle kennen deine Botschaft. Meine Herren, dies hier ist Morreds Sohn.«
In Arren rief diese Bezeichnung keinen Stolz hervor, im Gegenteil, er war bestürzt. Gewiß, er war stolz auf seine Familie, doch sah er sich nur als einen Nachfolger seines Vaters, als einen Prinzen aus dem Hause Enlad. Morred, der Stammvater des Hauses, war schon seit 2000 Jahren tot. Seine Taten wurden in Liedern besungen, Legenden umgaben ihn, doch er, Arren, gehörte in diese gegenwärtige Welt. Es war ihm, als hätte der Erzmagier ihn als einen Sohn des Mythos, als einen Erben von Träumen vorgestellt.
Er wagte nicht, seinen Blick zu heben und die acht Magier anzusehen, er hielt seine Augen auf den mit Eisen beschlagenen Stab des Erzmagiers gerichtet und fühlte, wie ihm das Blut in den Ohren brannte.
»Kommt, frühstücken wir miteinander«, sagte der Erzmagier und führte sie an Tische, die an den Fenstern standen. Es gab Milch, saures Bier, Brot, frische Butter und Käse. Arren saß unter ihnen und aß.
Sein ganzes Leben hatte Arren unter Adligen, Großgrundbesitzern und reichen Kaufleuten verbracht. Seines Vaters Halle war immer voll gewesen von Männern, die viel besaßen, die kauften und verkauften, die viel von den Schätzen dieser Welt in ihrem Besitz hatten. Sie aßen Fleisch, tranken Wein und redeten laut; viele erregten sich beim Sprechen, viele schmeichelten seinem Vater oder anderen Männern, die ihnen eine Gunst erweisen konnten, denn alle waren auf Gewinn aus. Trotz seiner Jugend hatte Arren die menschliche Natur studiert und hatte die Verstellungen, die Scheinheiligkeiten und die Falschheit im Umgang unter den Menschen beobachtet. Noch nie hatte er unter Männern wie diesen hier geweilt. Sie aßen Brot, redeten wenig und ihre Gesichter waren ruhig. Wenn sie etwas suchten, so taten sie das nicht, um selbst dabei zu gewinnen. Und doch waren es Männer, die große Macht besaßen: auch das nahm Arren wahr.
Sperber, der Erzmagier, saß oben am Tisch und schien zuzuhören, was um ihn herum gesprochen wurde. Ihn selbst umgab Stille, und niemand sprach ihn an. Auch Arren ließ man in Ruhe, und er hatte Zeit, seine Gedanken zu sammeln. Links neben ihm saß der Pförtner, rechts von ihm saß ein grauhaariger Mann mit freundlichen Zügen, der schließlich zu ihm sprach: »Wir sind Landsleute, Prinz Arren. Ich komme aus dem Osten von Enlad, aus der Nähe des Aolwaldes.«
»In dem Wald habe ich schon gejagt«, erwiderte Arren, und sie sprachen über die Wälder und Städte der Mytheninsel, und beim Gedanken an seine Heimat wurde es Arren wohl ums Herz.
Als das Mahl beendet war, kamen sie wieder vor dem Kamin zusammen, manche saßen, anderen standen, und eine Weile blieb alles still.
Der Erzmagier sprach schließlich: »Gestern abend hielten wir ein Konzil. Wir diskutierten lange. Wir beschlossen nichts. Ich möchte jetzt, im Licht des Morgens, von Ihnen hören, ob Sie an Ihrem Urteil festhalten oder es widerrufen.«
»Daß wir nichts beschlossen haben«, sagte der Meister der Kräuterkunde, ein untersetzter, dunkelhäutiger Mann mit ruhigen Augen, »das allein ist schon ein Beschluß. Denn im Hain wird die Form gegeben. Doch wir fanden dort nichts als Argumente.«
»Weil wir ganz einfach die Form nicht sehen können«, sagte der grauhaarige Magier von Enlad, der Meister der Verwandlungen. »Wir wissen nicht genug: Gerüchte von Wathort, eine Botschaft aus Enlad. Beunruhigende Nachrichten, gewiß, die näher untersucht werden sollten. Aber eine solch riesenhafte Furcht zu erwecken, auf einer so ungenügenden Basis, scheint mir nicht ratsam. Unsere Macht ist doch nicht bedroht, nur weil ein paar Zauberer ihre Formeln vergessen haben.«
»Dem stimme ich bei«, sagte Meister Windschlüssel, ein hagerer Mann mit scharfen, weit spähenden Augen. »Haben wir denn nicht alle noch unsere Macht? Wachsen die Bäume denn nicht alle im Hain und schlagen neu aus? Und die Winde des Himmels, gehorchen die denn nicht unseren Worten? Wer fürchtet da um unsere Zauberkunst der ältesten Kunst der Menschheit?«
»Niemand«, ließ sich eine tiefe Stimme vernehmen, die dem Meister des Gebietens gehörte, einem jungen, großen Mann mit einem dunklen, edel geschnittenen Gesicht. »Kein Mensch, keine Macht kann Zauberkunst verhindern, oder die Worte der Macht zum Verstummen bringen. Denn es sind Worte des Schöpfens, und wer die zum Schweigen bringen kann, der kann die Welt zunichte machen.«
»Stimmt, und wer das tun kann, der geht nicht nach Narveduen oder Wathort«, sagte der Meister der Verwandlungen. »Der stünde hier, an den Türen von Rok, und das Ende der Welt wäre nahe! Und so weit sind wir noch nicht!«
»Und doch stimmt etwas nicht«, sprach eine Stimme, die alle aufhorchen ließ. Sie kam aus einem mächtigen Brustkorb und gehörte einer kräftigen Gestalt; schwer wie eine eichene Tonne saß sie beim Feuer, und die Stimme klang wie eine Glocke so klar und voll. Der Meister der Lieder fuhr fort: »Wo ist der König, der nach Havnor gehört? Rok liegt nicht im Herzen der Welt. Der Turm, der mit dem Schwert von Erreth-Akbe gekrönt ist, der Turm, der den Thron von Serriadh, Akamber und Maharion birgt, dieser Turm steht im Herzen der Welt! Achthundert Jahre lang schon steht er leer! Wir haben die Krone, doch fehlt uns der König, der sie trägt. Wir haben die Verlorene Rune, die Königsrune, die Friedensrune, doch haben wir Frieden? Säße ein König auf dem Thron, dann hätten wir Frieden, und Zauberer könnten selbst in den entferntesten Bereichen ungehindert ihre Künste praktizieren. Das Gleichgewicht wäre hergestellt, und alles fände seinen rechtmäßigen Platz.«
»Das stimmt«, sagte Meister Hand, ein schlanker, mittelgroßer, beweglicher Mann mit hellen Augen, die jeden in ihren Bann schlugen. »Ich stimme mit Ihnen überein, Meister Sänger. Warum wundert man sich, daß die Zauberei mißlingt, wenn alles andere aus dem Gefüge ist? Wenn die Herde wandert, wird das schwarze Schaf dann im Gehege bleiben?«
Der Pförtner mußte bei diesem Vergleich lachen, doch er sagte nichts.
»Euch allen scheint es also«, sprach der Erzmagier, »daß kein Grund zur Besorgnis vorliegt, und wenn, dann nur der, daß unsere Länder nicht regiert oder schlecht regiert werden, und daß die Künste und Hohen Wissenschaften vernachlässigt werden. Damit stimme ich überein. Im Süden ist schon fast kein friedlicher Handel mehr möglich, und von dort erreichen uns nur schlimme Gerüchte, und wer weiß etwas Zuverlässiges aus dem Westen, außer dieser Nachricht von Narveduen? Wenn Schiffe, so wie früher, ungehindert überall hinsegeln könnten und sicher zurückkämen, wenn unsere Länder in der Erdsee so eng wie früher verbunden wären, dann wüßten wir, wie es um die entfernten Gegenden steht, dann könnten wir entsprechend handeln. Und wir würden handeln! Denn wenn ein Prinz von Enlad Worte der Formgebung in einer Zauberformel spricht und sich ihres Gehaltes nicht sicher ist, und wenn der Meister Formgeber uns sagt, daß Angst an den Wurzeln nagt, doch nicht mehr sagen will, dann, meine Herren, liegt dann kein Grund zur Furcht vor? Klein ist die Wolke, die den mächtigen Sturm ankündigt.«
»Sperber, Sie konnten schon immer das Dunkle fühlen«, sagte der Pförtner. »Schon immer! Sagen Sie uns jetzt, daß Ihre Ahnungen nicht zutreffen!«
»Das kann ich nicht. Die Macht, ich fühle es, ist nicht mehr so stark. Die Kraft, Entschlüsse zu fassen, ist geschwächt. Die Sonne selbst scheint nicht mehr so stark. Es ist mir, meine Herren — es ist mir, als wären wir, die wir hier sitzen und reden, tödlich verletzt, und während wir reden und reden, fließt das Blut langsam aus unseren Adern…«
»Und Sie würden etwas unternehmen? Sie würden handeln?«
»Ja, ich würde handeln«, sagte der Erzmagier.
»Nun ja«, der Pförtner nickte. »Können Eulen den Falken am Fliegen hindern?«
»Doch wohin wollen Sie sich wenden?« fragte der Meister der Verwandlungen, und Meister Sänger antwortete: »Er sucht den König und er führt ihn auf seinen Thron.«
Der Erzmagier blickte ihn durchdringend an, doch er sagte nur: »Ich werde mich dorthin wenden, wo das Übel sitzt.«
»Gegen Süden oder Westen«, sagte der Meister Windschlüssel.
»Gegen Norden oder Osten, wenn es sein muß«, fügte der Pförtner hinzu.
»Doch Sie werden hier gebraucht«, sagte der Meister der Verwandlungen. »Anstatt sich blind auf eine Suche unter unfreundliche Völker zu begeben und fremde Meere zu befahren, wäre es nicht weiser, hierzubleiben, wo die Magie stark ist, und durch Zauberkraft allein herauszufinden, was es mit diesem Übel, dieser Störung auf sich hat?«
»Meine Kunst hilft mir nicht weiter«, sagte der Erzmagier. Ein Ton lag in seiner Stimme, der alle aufhorchen ließ, und sie blickten ihn fragend an. »Ich bin der Hüter von Rok. Ich verlasse Rok nicht leichten Herzens. Ich wünschte, daß Euer Rat und mein eigner übereinstimmten. Doch darauf kann ich jetzt nicht hoffen. Der Entschluß liegt bei mir: ich muß gehen.«
»Wir beugen uns diesem Entschluß«, sagte der Meister des Gebietens.
»Und ich gehe allein. Das Konzil von Rok besteht aus Ihnen, meine Herren, und das Konzil muß vollständig bleiben. Doch einen nehme ich mit, wenn er kommen will.« Er blickte auf Arren. »Gestern hast du mir deinen Dienst angeboten. Gestern abend sagte der Meister der Formgebung: ›Der Zufall führt keinen Menschen nach Rok. Der Zufall ist es nicht, der Morreds Sohn mit dieser Botschaft hierherbringt.‹ Er sprach kein anderes Wort mehr zu uns, den ganzen Abend lang. Und nun frage ich dich, Arren: willst du mit mir kommen?«
»Ja, mein Gebieter«, sprach Arren, und seine Kehle war trocken.
»Der Prinz, Ihr Vater, würde Sie gewiß nicht in diese Gefahr ziehen lassen«, sagte der Meister der Verwandlungen ziemlich scharf und wandte sich dann zum Erzmagier: »Der Knabe ist noch jung und in der Zauberkunst ganz unbewandert.«
»Ich habe Jahre und Formeln genug für uns beide«, antwortete der Erzmagier trocken. »Arren, was würde dein Vater dazu sagen?«
»Er würde mich ziehen lassen.«
»Woher wissen Sie das?« fragte der Meister des Gebietens.
Arren wußte nicht, wohin die Reise gehen würde, noch wann sie starten würde, noch warum er mitgehen sollte. Diese ernsten, aufrechten, gestrengen Männer verwirrten und verschüchterten ihn. Hätte er Zeit zum Überlegen gehabt, so hätte er wahrscheinlich gar nichts gesagt. Aber er hatte keine Zeit, und der Erzmagier hatte ihn gefragt: »Willst du mit mir kommen?«
»Als mich mein Vater hierher sandte, sagte er zu mir, ›Ich fürchte, daß eine dunkle Zeit in dieser Welt anbricht, eine gefährliche Zeit. Aus diesem Grunde schicke ich dich, anstelle eines anderen Boten, denn du kannst beurteilen, ob wir um die Hilfe der Insel der Weisen ansuchen, oder ob wir ihnen die Hilfe von Enlad anbieten sollen. ‹ Wenn ich also gebraucht werde, so stehe ich Ihnen zur Verfügung.«
Als er dies sagte, sah er den Erzmagier lächeln; es war ein kurzes Lächeln, doch eine tiefe Wärme lag darin. »Seht ihr wohl?« wandte der sich zu den sieben Magiern. »Könnten Alter oder Zauberkunst diese Worte verbessern?«
Arren hatte das Gefühl, daß sie ihn jetzt etwas wohlgefälliger musterten, doch sie waren noch immer am Wägen und Überlegen.
Der Meister des Gebietens sprach jetzt, und seine mißmutig zusammengezogenen Brauen bildeten eine waagerechte Linie auf seiner Stirn. »Ich kann es nicht begreifen, Erzmagier! Daß Sie gehen wollen — nun ja, fünf Jahre waren Sie hier eingesperrt! Doch bisher gingen Sie immer allein. Warum nun plötzlich in Begleitung?«
»Bis jetzt brauchte ich nie Hilfe«, sagte Sperber, und in seiner Stimme lag ein drohender oder ironischer Unterton. »Und ich habe einen passenden Gefährten gefunden.« Etwas Gefährliches ging von ihm aus, und der Meister des Gebietens stellte keine weiteren Fragen mehr, doch seine Stirn blieb gerunzelt.
Der Kräutermeister, ein dunkler Mann mit ruhigem Blick, der wie ein weiser und geduldiger Ochse aussah, erhob sich von seinem Sitz und stand wuchtig auf. »Gehen Sie«, sagte er, »und nehmen Sie den Jungen mit. Sie haben unser volles Vertrauen!«
Einer nach dem ändern gab seine Zustimmung, und einzeln oder in Paaren verließen sie den Raum, bis von den sieben nur noch der Meister des Gebietens blieb. »Sperber«, sagte er, »ich will Ihren Entschluß nicht in Frage stellen. Doch das muß ich Ihnen sagen: Wenn Sie recht haben, und das Gleichgewicht gestört ist, wenn Unheil diese Welt bedroht. Dann wird eine Reise nach Wathort, in den Westbereich, ja selbst ans Ende dieser Welt nicht weit genug sein. Dort, wo Sie hingehen müssen, können Sie Ihren Gefährten dorthin mitnehmen? Und ist es fair, ihn dorthin mitzunehmen?«
Sie standen abseits von Arren, und der Meister sprach mit gesenkter Stimme, doch der Erzmagier antwortete offen: »Ja, es ist fair.«
»Sie sagen mir nicht alles, was Sie wissen.«
»Wenn ich etwas Sicheres wüßte, dann würde ich es sagen. Aber ich weiß nichts, doch ich ahne viel.«
»Lassen Sie mich mitkommen.«
»Einer muß hierbleiben, um die Tore zu bewachen.«
»Das tut der Pförtner.«
»Nicht nur die Tore von Rok. Bleib hier! Bleib hier und schaue, ob die Sonne hell am Morgen aufgeht und paß auf, wer über die Steinmauer kommt und in welche Richtung er blickt. Eine Bresche, ein Bruch, eine Wunde ist irgendwo entstanden, und das, Thorion, das suche ich. Wenn ich nicht wiederkehre, dann geh du, vielleicht wirst du es finden. Doch warte. Ich bitte dich, warte auf mich!« Er sprach jetzt in der Ursprache, in der Sprache des Schöpfens, in der Zauberformeln gewirkt und Handlungen der Magie vollbracht werden. Sehr selten unterhält man sich in dieser Sprache, nur unter Drachen ist sie geläufig. Der Meister des Gebietens erhob keine Einwände mehr. Er verbeugte seine hohe Gestalt vor dem Erzmagier und vor Arren und verließ den Raum.
Das Feuer prasselte im Kamin. Kein anderer Laut war zu vernehmen. Der Nebel preßte sich formlos und undurchsichtig gegen die Fenster.
Der Erzmagier starrte in die Flammen. Es schien, als habe er Arren vergessen. Der Junge stand etwas abseits am Kamin und wußte nicht, ob er gehen sollte oder warten. Unentschlossen und verloren stand er da und hatte wieder das Gefühl, nur eine winzige Gestalt in einer dunklen, grenzenlosen Weite zu sein.
»Zuerst gehen wir nach Hort«, sagte Sperber unvermittelt und drehte seinen Rücken gegen das Feuer. »Dort laufen die Neuigkeiten aus dem Süden zusammen, und vielleicht finden wir einen Anhaltspunkt. Dein Schiff wartet noch in der Bucht. Sprich mit dem Kapitän. Er soll deinem Vater Nachricht geben. Ich glaube, wir sollten bald gehen. Morgen früh, bei Sonnenaufgang. Komm zu den Stufen am Bootshaus!«
»Ehrwürdiger Erzmagier, was…«, seine Stimme versagte. »Was suchen Sie?«
»Ich weiß es nicht, Arren.«
»Aber wie…«
»Aber wie kann ich es dann suchen? Das weiß ich auch nicht. Vielleicht wird es mich suchen.« Er lächelte Arren kurz an, doch sein Gesicht hatte die Farbe von Eisen im grauen Licht, das durch die Fenster fiel.
»Ehrwürdiger Magier«, sagte Arren, und seine Stimme hatte sich wieder gefangen, »es stimmt, daß ich ein ferner Nachkomme von Morred bin — wenn man einer Linie, die so alt wie diese ist, überhaupt trauen kann. Und ich rechne es mir als die höchste Ehre meines Lebens an, wenn ich Ihnen dienen kann. Es gibt nichts auf der Welt, was ich lieber täte. Doch fürchte ich, daß Sie mehr in mir sehen, als ich wirklich bin.«
»Vielleicht«, meinte der Erzmagier.
»Ich bin weder außerordentlich begabt, noch besonders geschickt. Ich kann mit dem kurzen und mit dem edlen Schwert kämpfen. Ich kann segeln. Ich kenne die höfischen und die ländlichen Tänze. Ich kann einen Streit unter Höflingen schlichten. Ich kann ringen. Mit Pfeil und Bogen kann ich nicht gut umgehen, doch ich bin gut im Netzballspiel. Ich kann singen und Harfe und Laute spielen. Und das ist alles. Mehr kann ich nicht. Wie kann ich Ihnen von Nutzen sein? Der Meister des Gebietens hatte recht…«
»Aha, du hast das also verstanden? Er ist eifersüchtig. Er pocht auf ältere Privilegien.«
»Und auf größere Künste …«
»Hättest du es lieber, wenn er mich begleiten würde und du hier bliebest?«
»Nein! Ich fürchte nur …«
»Was fürchtest du?«
Tränen traten in die Augen des Jungen. » …daß ich Sie enttäusche«, sagte er.
Der Erzmagier wandte sich wieder gegen das Feuer. »Setz dich hin, Arren«, sagte er sanft, und der Junge kam zum Feuer und setzte sich auf den steinernen Ecksitz beim Kamin. »Ich habe dich nicht als einen Zauberer oder Krieger oder als einen erfahrenen König angeschaut. Wer du wirklich bist, das weiß ich nicht, obwohl ich froh bin, daß du ein Boot segeln kannst… Was aus dir einmal wird, das weiß niemand. Doch eines ist gewiß, du bist der Sohn von Morred und Serriadh.«
Arren schwieg. Dann sagte er: »Das stimmt. Doch…« Der Erzmagier sagte nichts, und er mußte seinen Satz allein zu Ende bringen. »Doch bin ich nicht Morred. Ich bin nur Arren.«
»Bist du nicht stolz auf deine Ahnen?«
»O doch, ich bin stolz darauf — ihnen danke ich es, daß ich ein Prinz bin, es ist eine Verantwortung, derer ich mich würdig zeigen muß.«
Der Erzmagier nickte kurz. »Das meinte ich. Wer die Vergangenheit verneint, der verneint die Zukunft. Kein Mensch schafft sein eigenes Geschick: er bejaht es, oder er verneint es. Wenn die Wurzeln einer Eberesche nicht tief reichen, dann trägt sie keine Krone.« Arren blickte überrascht auf, als er das vernahm, denn sein wahrer Name war Lebannen, der wahre Name der Eberesche, und vor dem Erzmagier hatte er seinen wahren Namen nie ausgesprochen. »Deine Wurzeln reichen tief«, sagte Sperber. »Du bist stark und du brauchst Platz, um zu wachsen. Deswegen biete ich dir, anstelle einer sicheren Fahrt zurück nach Enlad, eine unsichere an, deren Ende niemand kennt. Du brauchst nicht mitzukommen. Du hast die Wahl. Aber ich biete dir die Wahl an, und ich bin der Sicherheit, der Decken und der Wände um mich herum satt.« Er brach ab und schaute spähenden Auges umher, doch von den Gegenständen um ihn herum schien er keine Notiz zu nehmen.
Arren sah die große Rastlosigkeit des Mannes und fühlte Furcht. Doch Furcht erhöht das Lebensgefühl, und sein Herz schlug höher. Er antwortete: »Ich habe gewählt, ich gehe mit Ihnen.«
Arren verließ das Großhaus, und sein Herz und seine Sinne waren erfüllt mit all dem Außergewöhnlichen, das sich zugetragen hatte. Er sagte sich, daß er glücklich sei, doch das Wort schien nicht zu passen; er sagte sich, daß ihn der Erzmagier als stark bezeichnet hatte, daß kein gewöhnliches Geschick auf ihn warte, und daß er stolz auf diese Auszeichnung sei, doch er war nicht stolz. Warum nicht? Der mächtigste Zauberer der Welt hatte zu ihm gesagt: »Morgen segeln wir an den Rand des Untergangs«, und er hatte genickt und war gefolgt, sollte er darauf nicht stolz sein? Nein, er war nicht stolz. Staunen erfüllte sein Herz.
Er schritt die steilen, engen Straßen von Thwil hinunter zu der Anlegestelle, wo der Kapitän auf ihn wartete, und er sagte zu ihm: »Morgen segle ich mit dem Erzmagier nach Wathort und in den Südbereich. Sag dem Prinzen, meinem Vater, daß ich nach Berile zurückkehre, wenn der Erzmagier mich vom Dienste wieder freigesprochen hat.«
Der Schiffskapitän schaute mißmutig drein. Er konnte sich vorstellen, wie eine derartige Botschaft vom Prinzen in Enlad entgegengenommen werden würde. »Ich muß das schriftlich von Ihnen haben, Prinz«, sagte er. Arren sah ein, daß er recht hatte und eilte — er hatte das Gefühl, daß alles sofort erledigt werden mußte — und fand ein merkwürdiges, kleines Geschäft, in dem er ein Tintenfaß, eine Feder und ein Stück weiches Papier, so dick wie Filz, erstand. Dann eilte er zurück zum Hafen und setzte sich auf die Kaimauer, um seinen Eltern zu schreiben. Der Gedanke an seine Mutter, wie sie dieses Papier in Händen halten und die Zeilen lesen würde, erweckte ihm Unbehagen. Sie war eine heitere, nachsichtige Frau, doch Arren wußte, daß er der Fels war, auf der ihr Friede ruhte, und daß sie auf seine schnelle Rückkehr wartete. Nichts gab es, das sie über diese lange Trennung trösten würde. Sein Brief war kurz und trocken. Er unterschrieb mit der Schwertrune und versiegelte ihn mit einem kleinen Tropfen Pech aus einem Faß, das in der Nähe stand. Er gab das Schreiben dem Kapitän. Dann rief er: »Warte!«, als ob das Schiff im gleichen Augenblick absegeln würde, und rannte das Kopfsteinpflaster hinauf, zurück zu dem kleinen Geschäft. Er hatte Mühe, es wiederzufinden, denn mit den Straßen von Thwil schien es nicht ganz geheuer zu sein. Es kam ihm vor, als ob sich die Straßenecken ständig veränderten und verschoben. Endlich fand er die richtige Gasse und eilte durch die roten Perlenschnüre, die den Eingang zu dem Geschäft verzierten. Als er die Tinte kaufte, hatte er auf einem Tablett mit Schmuckstücken die Brosche einer wilden Rose aus Silber gesehen. Der Name seiner Mutter war Rose. »Ich möchte das hier kaufen«, sagte er in schroffem, prinzenhaftem Ton.
»Eine sehr alte, feine Silberschmiedearbeit von der Insel O. Ich sehe, Sie wissen etwas Altes zu schätzen«, sagte der Ladenbesitzer und blickte auf den Griff — nicht auf die schmucke Lederscheide — von Arrens Schwert. »Das macht vier aus Elfenbein.«
Arren zahlte den ziemlich hohen Preis ohne zu fragen. Sein Beutel enthielt eine Menge der Elfenbeinmarken, die in den Innenländern als Geld gebraucht werden. Der Gedanke eines Geschenkes für seine Mutter machte ihn froh, und auch der Einkauf gefiel ihm. Als er den Laden verließ, ruhte seine Hand auf dem Degenknopf, und er setzte seine Füße fest, beinah etwas breitspurig, als er die Straße hinunterschritt.
Am Abend vor seiner Abreise aus Enlad hatte ihm sein Vater dieses Schwert gegeben. Er hatte es mit Ehrfurcht empfangen und seither, als sei es seine Pflicht, getragen, selbst an Bord des Schiffes war es an seiner Seite. Er war stolz auf das Gewicht an seiner Hüfte, stolz auf das Gewicht seines hohen Alters auf seiner Seele. Denn es war Serriadhs Schwert gewesen, Morreds und Elfarrans Sohn; auf der ganzen Welt gab es kein älteres, außer dem Schwert von Erreth-Akbe, das auf dem Königsturm in Havnor ragte. Serriadhs Schwert war nie zur Seite gelegt oder verwahrt worden, immer wurde es getragen, doch die Jahrhunderte konnten ihm nichts anhaben, es war ungeschwächt, denn es war mit mächtiger Zauberkraft geschmiedet worden. Man sagte, daß es seinen eigenen Willen hätte: es ließe sich nur aus der Scheide ziehen, wenn es der Verteidigung des Lebens gelte; geht es um Rache, um Gier, um Blutdurst oder einen Krieg, der um der Beute willen gefochten wird, dann könne keine Macht der Erde es aus der Scheide bringen. Von ihm, dem größten Familienschatz, hatte Arren seinen Namen erhalten: Arrendek, wie man ihn als Kind gerufen hatte, »das kleine Schwert«.
Er hatte es noch nie gebraucht, auch sein Vater und Großvater nicht, denn eine lange Zeit schon waltete Friede auf Enlad.
Doch jetzt, auf der Straße einer fremden Stadt, auf der Insel der Zauberer, fühlte sich der Griff des Schwertes seltsam an. Er paßte sich nicht richtig seiner Hand an, und er war kalt. Das Schwert selbst war schwer und hinderte ihn am Gehen. Das Staunen, das er in sich gefühlt hatte, war noch in ihm, doch es wärmte ihn nicht mehr. Er ging hinunter zur Anlegestelle und gab dem Kapitän die Brosche für seine Mutter. Er verabschiedete sich und wünschte ihm eine gute Heimfahrt. Im Umdrehen schlug er unwirsch seinen Umhang über die alte, ungefüge Waffe, das tödliche Ding, das er geerbt hatte. Er ging nicht mehr breitspurig. »Was mache ich eigentlich?« fragte er sich, als er die engen Straßen, nicht eilends jetzt, zu dem festungsartigen Bau des Großhauses, der über der Stadt aufragte, hinaufstieg. »Wie kommt es, daß ich nicht heimkehre? Warum ziehe ich aus, um etwas zu suchen, das ich nicht verstehe, mit einem Mann, den ich nicht kenne?« Doch er fand keine Antworten auf seine Fragen.