SELIDOR

Als Arren früh am Morgen aufwachte, erblickte er im Westen die blaue Küste Selidors, die lang und flachgestreckt in der Ferne vor ihnen lag.

Im großen Saal zu Berila hingen alte Karten, die von der Zeit herrührten, als es noch Könige gab und Handelsschiffe und Forschungsexpeditionen von den Innenländern hinaus in die äußersten Bereiche segelten. Ein großes Mosaik, das sich über zwei Wände erstreckte und eine Karte des Ostens und des Westens darstellte, zierte den Thronsaal. Die Insel Enlad, in Grau und Gold ausgelegt, befand sich direkt über dem Thron. Die Karte, die er so oft in seiner Jugend betrachtet hatte, breitete sich jetzt vor seinem geistigen Auge aus. Im Norden von Enlad lag Osskil und westlich davon Ebosskil; im Süden lagen Semel und Paln. Diese vier stellten die Grenzen der Innenländer dar, dahinter erstreckte sich das helle Blaugrün einer leeren See, in die ab und zu ein winziger springender Delphin oder ein größerer Walfisch eingelassen war. Die See war leer bis zu der Ecke, wo die Nord-und Westwand zusammentrafen. Auf der westlichen Wand, gleich neben der Ecke, lag Narveduen und dahinter drei kleinere Inseln. Dann sah man wieder nichts als leere See, die sich über die ganze Wand erstreckte, bis man auf diese letzte Insel, Selidor, stieß, und dahinter hörte alles auf.

Die Umrisse dieser letzten Insel lagen in allen Einzelheiten vor seinem geistigen Auge: lang und leicht geschwungen umschloß sie eine große Bucht direkt in der Mitte, die eine schmale Ein- und Ausfahrt zu der offenen See im Osten hatte. Sie waren nicht weit genug nach Norden gesegelt, um diesen schmalen Eingang in die Bucht zu sehen. Sie näherten sich der Insel von Süden her und steuerten auf eine kleine, tiefe Bucht am südlichsten Vorgebirge zu und hier, während die Sonne vom Dunst des Morgens noch bedeckt, niedrig am Himmel stand, gingen sie an Land.

Sie hatten das Ende ihrer großen Fahrt von den Straßen von Balatran bis zu der westlichsten aller Inseln erreicht. Die Ruhe des Landes war ihnen ungewohnt, als sie — nachdem die Weitblick hoch aufs Ufer gezogen worden war — nach so langer Zeit endlich wieder auf festem Boden standen.

Ged kletterte eine langgestreckte Düne hinauf, die mit Gras bewachsen war, und deren oberster Rand, von zähen Graswurzeln festgehalten, sich über einen steilen Abgrund wölbte. Als er oben angekommen war, ließ er seinen Blick weit über Norden und Westen schweifen. Arren war noch beim Boot und zog seine Schuhe an, die er so lange nicht getragen hatte. Er nahm auch sein Schwert aus der Gerätekiste und gürtete es. Dieses Mal stiegen keine Zweifel in ihm auf, ob er das Rechte tat. Dann kletterte er hinauf zu Ged und blickte ebenfalls über das Land.

Die Dünen erstreckten sich ungefähr eine halbe Meile weit gegen das Landinnere, dann folgten Lagunen, mit Schilfrohr und Binsen dicht bestanden, und dahinter erhoben sich niedrige Hügel, die sich gelbbraun und kahl in der Ferne verloren. Selidor besaß seine eigene wilde und einsame Schönheit. Nirgends sah man die Spuren menschlicher Existenz. Kein Tier ließ sich blicken, die mit Schilf gefüllten Seen bargen keinen Vogel, keiner Wildente und keiner Möwe Schrei zerriß die Luft.

Sie gingen die Düne hinab. Der Sandhügel erstickte das Geräusch der Brandung und hielt den Wind ab. Plötzlich umgab sie Stille.

Zwischen der ersten und der nächsten Düne war ein kleines Tal, mit reinem Sand bedeckt und vom Wind geschützt; die Mittagssonne lag wärmend auf dem westlichen Hang. »Lebannen«, sagte der Magier, er nannte ihn jetzt bei seinem wahren Namen, »ich konnte heute nacht nicht schlafen, doch jetzt muß ich es nachholen. Bleib hier und wache!« Er legte sich in die Sonne, denn im Schatten war es zu kühl, hob seinen Arm schützend vor die Augen, seufzte tief und schlief ein.

Arren ließ sich neben ihm nieder. Er sah nur die weißen Hügel des kleinen Tales und auf den Rändern der Dünen das kurze Gras, das sich vor einem milchigblauen Morgenhimmel bewegte, im dem die gelbe Sonne stand. Kein Laut, nur das gedämpfte Murmeln der Brandung und ab und zu das schwache Raunen des vom Wind bewegten Grases ließ sich vernehmen.

Arren sah hoch oben etwas fliegen, das wie ein Adler aussah, doch kein Adler war. Der Vogel kreiste, dann stieß er herab und kam mit donnerndem Getöse und einem schrillen Pfeifen seiner ausgestreckten goldenen Flügel direkt auf ihn zu. Er ließ sich, mit gestreckten Klauen, auf dem Rand der Düne nieder. Der riesige Kopf hob sich schwarz und feurigglitzernd vor der Sonne ab. Der Drache kroch etwas näher, den Hang herunter, und sprach: »Agni Lebannen!«

Zwischen ihm und Ged stehend, mit gezogenem, blanken Schwert, antwortete Arren: »Orm Embar!«

Jetzt fühlte sich das Schwert ganz leicht an. Der glatte, abgenutzte Griff schmiegte sich in seine Hand: er paßte genau hinein. Die Klinge war bereitwillig, leicht und mühelos aus der Scheide geschlüpft. Die im Schwert steckende Kraft und sein hohes Alter waren auf Arrens Seite, und jetzt wußte er, wie es zu gebrauchen war. Erst jetzt war es sein Schwert.

Der Drache sprach wieder, doch Arren konnte ihn nicht verstehen. Er warf einen Blick auf seinen schlafenden Gefährten, der weder von dem Lärm noch von dem plötzlichen Wind geweckt worden war, und sagte zu dem Drachen: »Mein Gebieter ist müde, er schläft.«

Daraufhin begann Orm Embar näher zu kriechen und steuerte auf den Fuß des Hügels zu. Auf der Erde bewegte er sich schwerfällig, nicht leicht und geschmeidig wie im Flug, doch lag eine gewisse Grazie in dem langsamen, schweren Tappen seiner großen Klauen, in der kraftvollen Krümmung seines gezackten Schwanzes. Am Fuß des Hügels angekommen, faltete er seine Beine unter sich und legte sich darauf, dann hob er den Kopf und rührte sich nicht mehr. Jetzt glich er den Drachen, die sich auf den Helmen alter Krieger kunstvoll erhoben. Arren spürte, wie das gelbe Auge, nicht mehr als drei Meter entfernt, auf ihm ruhte. Er roch den leichten Brandgeruch, der ihn umgab, doch er nahm keinen Aasgeruch wahr, trocken und leicht metallisch riechend erinnerte der Drache an die See, an Salz und Sand: es war ein reiner, wilder Geruch.

Die immer höher steigende Sonne warf ihre Strahlen auf Orm Embar, und er leuchtete wie eine Statue aus Eisen und Gold.

Noch immer schlief Ged, entspannt und nahm von dem Drachen genauso wenig Notiz wie ein Bauer von seinem Hofhund.

Eine Stunde verstrich. Arren schreckte auf. Der Magier saß neben ihm.

»Bist du schon so an Drachen gewöhnt, daß du zwischen ihren Klauen einschläfst?« lachte Ged und gähnte. Dann stand er auf und sprach zu Orm Embar in der Ursprache.

Bevor der Drache sprach, gähnte auch er, vielleicht aus Müdigkeit, vielleicht, um dem Magier nicht nachzustehen, aber es war ein Anblick, den nur ganz wenige gesehen und überlebt hatten: die Reihen gelbweißer Zähne, scharf und spitz wie Schwerter, die gespaltene, feurigrote Zunge, zweimal so lang wie ein Mensch, und der rauchende Schlund tat sich vor ihnen auf.

Orm Embar sprach, Ged machte gerade den Mund auf, um zu erwidern, als beide sich nach Arren umdrehten. Sie hatten in der Stille das hohle Flüstern einer stählernen Klinge in der Scheide gehört. Arren blickte hinauf zum Rand der Düne, die sich hinter dem Kopf des Magiers erhob, und hielt sein Schwert zum Kampf bereit in der Hand.

Dort oben, von der Sonne hell beleuchtet, stand ein Mann. Er stand bewegungslos, wie aus Stein gemeißelt, nur der Saum und die Kapuze seines leichten Umhangs bewegten sich leise im Wind. Sein schwarzes Haar war lang und fiel in dichten Locken auf seine Schultern; er war breitschultrig und groß, ein gutaussehender, kraftvoller Mann. Seine Augen blickten über sie hinweg, hinaus aufs Meer. Er lächelte.

»Orm Embar kenne ich«, sagte er, »und dich kenne ich auch, obwohl du gealtert bist, Sperber, seit ich dich zum letztenmal gesehen habe. Man hat mir erzählt, daß du jetzt der Erzmagier bist. Nicht nur alt, auch berühmt bist du geworden. Und du hast einen Helfer dabei, ein Zauberlehrling zweifellos, einer von denen, die auf der Insel der Weisen weise werden wollen. Was führt euch beide hierher, so weit von Rok und seinen schützenden Wällen entfernt, die alles Dunkle von den Meistern fernhalten?«

»Ein Riß geht durch mächtigere Wälle, als es jene sind«, sagte Ged, und seinen Stab mit beiden Händen fassend, blickte er fest auf den Mann: » Doch möchten Sie uns nicht als Mensch begegnen, damit wir Sie in unserer Mitte begrüßen können, denn lange haben wir nach Ihnen gesucht.«

»Als Mensch?« wiederholte der Mann, und wiederum lächelte er. »Ist ein Körper, ist Fleisch von Bedeutung, wenn zwei Magier aufeinandertreffen? Gewiß nicht. Lassen wir Geist mit Geist sprechen, Erzmagier!«

»Ich glaube nicht, daß wir das tun können. Junge, steck dein Schwert ein. Das hier ist nur ein Senden, eine Erscheinung, nicht der wahre Mensch. Gegen das hier zu kämpfen kommt einem Kampf gegen den Wind gleich. In Havnor, als Ihr Haar noch weiß war, wurden Sie Cob genannt. Doch das war nur ein Umgangsname. Wie sollen wir Sie hier nennen, wenn wir auf Sie treffen?«

»Ihr werdet mich euren Fürsten heißen«, verkündigte die hohe Gestalt auf der Düne.

»Gut, und wie sonst noch?«

»König und Meister.«

Bei diesen Worten zischte Orm Embar laut auf, und messerscharf zerschnitt der Ton die Luft. Seine großen Augen funkelten, doch er wandte den Kopf von dem Mann ab und sank in sich zusammen, als ob ihn eine unsichtbare Macht niederdrücke.

»Und wann und wo wird die Zusammenkunft stattfinden?«

»In meinem Reich und wann es mir gefällt.«

»Gut«, sagte Ged und erhob seinen Stab in die Richtung des Mannes — und der Mann verschwand wie eine ausgelöschte Kerzenflamme.

Arren starrte. Der Drache erhob sich langsam und schwerfällig, bis er auf seinen vier gekrümmten Beinen stand, seine Schuppen klirrten, und er fletschte die Zähne. Der Magier blieb unbeweglich stehen und lehnte sich auf seinen Stab.

»Das war nur ein Senden, nur ein Gedankenbild des wirklichen Mannes, das zwar reden und hören kann, aber keine Macht hat, nur die, die ihm unsere eigene Furcht verleiht. Das Bild muß auch nicht unbedingt wahr sein, das hängt von dem ab, der es sendet. Ich nehme an, daß dieses Bild der Wahrheit nicht entspricht, daß er in Wirklichkeit nicht so aussieht.«

»Glauben Sie, daß er in der Nähe ist?«

»Ein Senden kann nicht über Wasser erfolgen, folglich ist er auf Selidor. Doch Selidor ist eine große Insel, breiter als Rok und Gont und fast so lang wie Enlad. Es kann lange dauern, bis wir ihn finden.«

Daraufhin hob der Drache zu reden an. Ged hörte ihm zu und wandte sich dann zu Arren: »Das sind die Worte des Herrschers von Selidor: ›Ich bin in mein Land zurückgekehrt und werde es nicht verlassen. Ich werde den, der nach dem Ende allen Schöpfens strebt, finden und euch dorthin bringen, damit wir ihn gemeinsam vernichten können.‹ Und habe ich dir nicht gesagt, daß ein Drache das, was er sucht, immer finden wird?«

Daraufhin ließ sich Ged wie ein Gefolgsmann, der den Treueeid leistet, auf einem Knie vor Orm Embar nieder und dankte ihm in seiner Sprache. Der Drache schnaubte nahe, und sein Atem lag heiß auf Geds gesenktem Haupt.

Orm Embar schleppte seinen schweren, schuppigen Körper die Düne hinauf und schlug kraftvoll mit seinen Flügeln. Dann schoß er wie ein Pfeil davon.

Ged klopfte den Sand von seiner Kleidung und sagte zu Arren: »Jetzt hast du mich knien sehen. Und vielleicht wirst du mich noch einmal knien sehen, bevor alles vorüber ist.«

Arren fragte nicht, was er damit meinte. Während ihres langen Beisammenseins hatte er gelernt, daß der Magier immer einen guten Grund hatte, wenn er sich zurückhielt. Doch war es ihm, als läge ein böses Omen in den Worten.

Noch einmal kletterten sie über die Düne zurück zum Strand, um nachzuschauen, ob das Boot hoch genug am Ufer lag, außerhalb des Sturmes und der Flut Reichweite. Sie nahmen ihre warmen Umhänge für die kalten Nächte und allen Proviant, der ihnen verblieben war. Ged blieb neben dem schmalen Bug stehen, der ihn so lange und so weit über fremde Meere getragen hatte; er legte seine Hand darauf, doch sagte er kein Wort, sprach keine magische Formel, um es zu schützen. Dann schlugen sie einen Weg ins Landesinnere ein, gegen die Hügel in der Ferne.

Sie wanderten den ganzen Tag hindurch, und gegen Abend schlugen sie ihr Lager in der Nähe eines Baches auf, der hinunter zu den mit Schilfrohr dicht bestandenen Seen und Sümpfen eilte. Obwohl es Hochsommer war, blies ein scharfer, kalter Wind über die endlose, landlose Wasserfläche, die sich westlich von der Insel erstreckte. Ein Nebel verdeckte den Himmel, und keine Sterne gingen hinter den Hügeln auf, die nie ein Herdfeuer oder das Licht von Fenstern gesehen hatten.

Arren wachte in der Dunkelheit auf. Ihr kleines Feuer war erloschen, doch im Westen stand der Mond und warf ein graues, nebliges Licht übers Land. Auf den Hügeln jenseits des Baches stand eine Menschenmenge, still, unbeweglich, ihre Gesichter gegen Ged und Arren gewandt. Kein Licht des Mondes spiegelte sich in ihren Augen.

Arren wagte nicht zu sprechen, doch er legte seine Hand auf Geds Arm. Der Magier bewegte sich und setzte sich auf. »Was ist los?« fragte er. Er folgte Arrens Blick und sah die stummen Gestalten.

Sie trugen, ob Mann oder Frau, die gleichen dunklen Gewänder. Ihre Gesichter waren in dem Ungewissen Licht nur undeutlich und verschwommen zu erkennen, doch kam es Arren vor, als seien unter denen, die ihm am nächsten standen, einige, die er kannte. Doch er konnte sich ihrer Namen nicht erinnern.

Ged stand auf. Der Umhang fiel von seinen Schultern. Sein Gesicht, sein Haar und sein Hemd schienen silberweiß, als ob das Licht des Mondes sich auf ihm gesammelt hätte. Er breitete die Arme zu einer weitausholenden Geste aus und sprach laut: »Oh ihr alle, die ihr gelebt habt, geht und seid frei! Ich breche die Bande, die euch halten: Anvassa mane harw pennodathe!«

Die Menschenmenge blieb noch einen Augenblick lang unbeweglich stehen. Dann wandten sie sich langsam um, gingen in das graue Dunkel hinein und waren verschwunden.

Ged ließ sich nieder. Er atmete auf. Er blickte Arren an und legte die Hand auf die Schulter des Knaben; sie fühlte sich warm und fest an. »Da gibt es nichts zu fürchten, Lebannen«, sagte er, und leicht die Achseln zuckend fügte er hinzu: »Das waren ja nur Tote.«

Arren nickte, aber seine Zähne klapperten, die Kälte war ihm bis ins Mark gedrungen. »Wie …«, begann er, aber Lippen und Kinn gehorchten seinem Willen nicht.

Ged verstand ihn. »Sie kamen auf seinen Befehl. Das ist es, was er ihnen verspricht: Leben. Und es mag sein, daß sie, seinem Befehl gehorchend, wieder erscheinen werden. Wenn er gebietet, müssen sie auf den Hügeln des Lebens wandern, obgleich sie nicht vermögen, auch nur den geringsten Grashalm unter ihren Füßen zu bewegen.«

»Ist er … ist er denn auch tot?«

Ged schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Die Toten können den Toten nicht gebieten, ins Leben zurückzukehren. Nein, er besitzt die Macht eines lebendigen Menschen, noch mehr … Doch wer geglaubt hat, ihm folgen zu können, der hat den Kürzeren gezogen. Er behält seine Macht für sich allein. Er spielt den König unter den Toten, und nicht nur unter den Toten… Doch das hier waren nur Schatten.«

»Ich weiß nicht, warum ich mich so vor ihnen gefürchtet habe«, sagte Arren beschämt.

»Du fürchtest sie, weil du den Tod fürchtest, und das tust du mit Recht: denn der Tod ist furchtbar und muß gefürchtet werden«, sagte der Magier. Er legte neues Holz auf und blies auf die Kohlen, die unter der Asche verborgen lagen. Eine kleine Flamme sprang aus den Zweigen des Reisigs empor, und Arren war dankbar für das Licht. »Und das Leben ist auch furchtbar«, sagte Ged, »und es muß gefürchtet und gepriesen werden.«

Beide lehnten sich zurück und zogen ihre Umhänge enger um sich. Sie schwiegen beide. Dann sprach Ged, und seine Stimme war ernst: »Lebannen, ich weiß nicht, wie lange er uns hier mit seiner Erscheinung und mit den Schatten narren wird. Doch du weißt, wohin er letzten Endes gehen wird.«

»In das Land des ewigen Dunkels.«

»Ja, zu ihnen.«

»Ich habe sie jetzt gesehen. Ich werde mit Ihnen gehen.«

»Ist es der Glaube an mich, der dich bewegt? Du kannst meiner Liebe gewiß sein, doch verlaß dich nicht auf meine Stärke. Ich glaube, mein Gegner ist mir gewachsen.«

»Ich werde mit Ihnen gehen.«

Darauf erwiderte Ged: »Du wirst zum Mann an den Toren des Todes.« Und danach wiederholte er das Wort oder den Namen, mit dem der Drache ihn zweimal angeredet hatte; er sagte ihn ganz leise: »Agni — Agni Lebannen.«

Sie sprachen nicht weiter miteinander, und nach einer Weile kehrte der Schlaf zurück, und sie legten sich neben das kleine, schnell niederbrennende Feuer nieder.

Am nächsten Morgen marschierten sie in nordwestlicher Richtung weiter landeinwärts. Dies war Arrens Entschluß gewesen, nicht der Geds, der gesagt hatte: »Wähle du den Weg, Junge, jeder Weg ist mir recht.« Sie beeilten sich nicht, denn sie hatten kein Ziel, sie warteten auf ein Lebenszeichen von Orm Embar. Sie folgten der niedrigsten, am weitesten vorgelagerten Hügelkette, in Sichtweite des Ozeans. Das Gras war trocken und kurzhalmig und bewegte sich unaufhörlich im Wind. Die Hügel reckten sich goldfarben rechts von ihnen empor. Links lagen die sumpfigen, salzigen Marsche der Küste und dahinter das Meer des Westens. Einmal erspähten sie, ganz weit im Süden, Schwäne. Doch sonst sahen sie keine lebendige Kreatur. Das Warten, das ziellose Wandern, das Bevorstehende, Schwere, nagten an Arren. Die Ungeduld wurde zur dumpfen Wut, und nach stundenlangem Schweigen rief er aus: »Das Land hier ist so tot wie der Tod selbst!«

»Sag das nicht!« unterbrach ihn der Magier erschrocken. Er schritt weiter voran, dann fügte er, mit veränderter Stimme, hinzu: »Schau dir das Land an! Schau dich um! Das ist dein Königreich, das Königreich des Lebens. Das hier ist deine Unsterblichkeit. Schau auf die Hügel, die sterblichen Hügel! Sie bestehen nicht in alle Ewigkeit. Die Hügel sind bedeckt mit Gras, das wächst und Nahrung zu sich nimmt, der Bach ist gefüllt mit sprudelndem Wasser … Auf der ganzen Welt, in all den Welten, in all den Zeiten gibt es keinen Bach, der einem dieser Bäche hier gleicht, die kalt aus dem verborgenen Schoß der Erde quellen, die im Licht der Sonne und in der Dunkelheit dem Meer zueilen. Tief sind die Quellen des Seins, tiefer als das Leben, tiefer als der Tod …«

Er hielt inne, doch in seinen Augen, die auf Arren und auf den sonnigen Hügeln ruhten, lag eine tiefe, wortlose, schmerzvolle Liebe. Und Arren erkannte dies, und als er es wahrnahm, sah er Ged zum erstenmal ganz so, wie er wirklich war.

»Ich finde nicht die Worte, um das auszudrücken, was ich meine«, sagte Ged unglücklich.

Doch Arren erinnerte sich an die erste Stunde im Brunnenhof, an den Mann, der am plätschernden Brunnen gekniet hatte und eine Freude, so klar wie das Wasser damals, wallte in ihm auf. Er schaute seinem Gefährten in die Augen und sagte: »Ich habe meine Liebe dem gegeben, der wert ist, sie zu besitzen. Ist das nicht das Königreich und die nie versiegende Quelle?«

»Doch, mein Junge«, sagte Ged voll Liebe und voll Schmerz.

Sie schritten schweigend weiter ihres Weges. Doch Arren sah die Welt jetzt mit den Augen seines Gefährten an, er sah die Pracht des Lebens, die sich um sie herum in diesem schweigenden, öden Land mit einer Zaubermacht, größer als jeder anderen, in jedem Halm windbewegten Grases, in jedem Schatten, jedem Stein offenbarte. Wie einer, der, auf Nimmerwiedersehen verreisend, zum letztenmal einen geliebten Ort erschaut, ihn voll und ganz und deutlich vor sich liegen sieht, wie er ihn nie zuvor geschaut hat und nie mehr schauen wird.

Zur Abendzeit erhoben sich dichtgedrängte Wolkenbänke im Westen, von den mächtigen Winden des Meeres getragen, feurig im Licht der Sonne, die rot unter dem Horizont versank. Als Arren in einem Flußtal Reisig für ihr abendliches Feuer sammelte, sah er, aufblickend, nur einige Meter weit entfernt, einen Mann in diesem roten Licht stehen. Das Gesicht des Mannes war seltsam und fremd, doch Arren erkannte ihn: es war Sopli, der Färber von Lorbanery, der tot war.

Hinter ihm erschienen andere, alle mit traurigen, starrenden Gesichtern. Sie schienen zu reden, doch Arren konnte ihre Worte nicht verstehen, er hörte nur ein Wimmern, das vom Westwind fortgetragen wurde. Manche näherten sich ihm langsam.

Arren stand, ohne sich zu rühren und schaute sie an. Sein Blick ruhte auf Sopli. Dann wandte er ihnen den Rücken zu und beugte sich, um mehr Reisig aufzuheben, obgleich seine Hände zitterten. Er legte das Reisig zu seinem Bündel und hob noch einen und noch einen Zweig auf. Dann erst richtete er sich auf und blickte zurück. Niemand war im Tal mehr zu sehen, nur das rote Licht lag noch auf dem Gras. Er kehrte zu Ged zurück und legte sein Bündel Reisig nieder, doch er erwähnte nicht, was er gesehen hatte.

Die ganze Nacht hindurch im nebligen Dunkel dieses Landes, das keine lebendige Seele barg, hörte er, aus unruhigem Schlaf erwachend, das Wimmern der toten Seelen. Er nahm seinen ganzen Willen zusammen, um es nicht zu hören, und schlief wieder ein.

Beide, Ged und er, erwachten spät, als die Sonne sich schon eine Handbreit über die Hügel erhoben hatte und durch den Nebel dringend das kalte Land mit ihrem Licht übergoß. Als sie ihr karges Morgenmahl zu sich nahmen, kam der Drache. Er kreiste über ihnen in der Luft, Feuer züngelte aus seinem Rachen, und Rauch und Funken flogen aus seinen Nüstern, seine Zähne schimmerten wie Halme aus Elfenbein in dem frühen Licht. Doch er sprach nicht, obgleich Ged ihm in seiner Sprache zurief: »Hast du ihn gefunden, Orm Embar?«

Der Drache warf den Kopf zurück und krümmte seltsam seinen Rükken, während seine messerscharfen Klauen die Luft zerfetzten. Dann flog er eilends nach Westen davon und warf, während er flog, Blicke auf sie zurück.

Ged packte seinen Stab und stampfte damit heftig auf den Boden. »Er kann nicht mehr sprechen!« sagte er. »Er kann nicht mehr sprechen! Die Worte des Schöpfens sind ihm genommen worden, er ist wie eine Schlange, wie ein zungenloser Wurm, seine Weisheit ist stumm. Doch er kann führen, und wir können folgen.« Sie schwangen ihre leichten Bündel auf die Schultern und schritten eilends über die Hügel gen Westen davon, der Richtung folgend, die Orm Embar eingeschlagen hatte.

Ohne die Geschwindigkeit ihrer Schritte verlangsamt zu haben, waren sie sechs oder mehr Meilen gegangen. Jetzt lag das Meer zu beiden Seiten, und sie gingen einen Bergrücken hinunter, der sie schließlich durch trockenes Schilfrohr, einem gewundenen Flußbett entlang an einen Strand führte, der die Farbe von Elfenbein hatte. Dies war die westlichste Landzunge und das Ende aller Länder.

Orm Embar kauerte auf diesem elfenbeinernen Sand, den Kopf gesenkt wie eine wütende Katze, sein Atem ging in feurigen Stößen. Zwischen ihm und dem langsamen, langgezogenen Brandungswellen stand etwas, das wie eine Hütte, wie eine Unterkunft aus weißgebleichtem Treibholz aussah. Doch an dieser Küste, der kein anderes Land gegenüberlag, gab es kein Treibholz. Als sie näher kamen, sah Arren, daß die primitiven Wände aus großen Knochen bestanden: aus Walfischgebein, dachte er zuerst, doch dann sah er die weißen messerscharfen Dreiecke und wußte, daß es die Gebeine eines Drachen waren.

Sie kamen an den Ort. Das Sonnenlicht, das auf dem Meer lag, glitzerte durch die Fugen der Gebeine. Über dem Eingang lag ein gewaltiger Schenkelknochen, länge r als ein ausgewachsener Mann, und auf ihm stand der Schädel eines Menschen und starrte aus hohlen Augen auf die Hügel Selidors.

Hier hielten sie an, und während sie zum Schädel hinaufblickten, trat ein Mann unter die Tür. Er trug eine Rüstung aus vergoldeter Bronze, wie man sie früher getragen hatte; sie war zerbeult von den Schlägen der Streitaxt, und die mit Edelsteinen besetzte Schwertscheide war leer. Sein Gesicht war streng, mit geschwungenen schwarzen Brauen und einer schmalen Nase; seine Augen waren dunkel, aufmerksam und tieftraurig. An seinen Armen, seiner Kehle und an seiner Seite trug er tödliche Wunden, doch kein Blut floß aus ihnen mehr heraus. Er stand aufrecht und schweigend und blickte sie unverwandt an.

Ged machte einen Schritt auf ihn zu. Eine gewisse Ähnlichkeit zwischen den beiden wurde offenbar, als sie sich gegenüberstanden.

»Du bist Erreth-Akbe«, sagte Ged. Der andere blickte ihn unverwandt an, dann nickte er einmal, doch er sprach kein Wort.

»Selbst du, selbst du mußt seinem Willen folgen.« Wut lag in Geds Stimme. »Du, unser Herr, der Beste, der Kühnste von uns allen, ruhe in Ehren und im Tode!« Und er hob seine Arme hoch, und sie mit einer ausladenden Geste wieder zusammenführend, wiederholte er die Worte, die er zu der Totenschar gesprochen hatte. Seine Hände hinterließen, ganz kurz, eine breite, helle Bahn in der Luft. Als sie verblaßte, war auch der Mann in seiner Rüstung verschwunden, und nur die Sonne lag schimmernd auf dem Sand, auf dem er gestanden hatte.

Ged schlug mit seinem Stab gegen das Haus aus Gebein, und es verschwand. Nichts blieb zurück außer einer mächtigen Rippe, die aus dem Sand emporragte.

Er wandte sich zu Orm Embar: »Ist es hier, Orm Embar? Ist das der Ort?«

Der Drache öffnete seinen Rachen weit und zischte einmal laut und scharf.

»Hier, am fernsten Ufer dieser Welt. Das ist gut!« Dann, seinen Stab aus schwarzem Erlenholz in der linken Hand haltend, öffnete er seine Arme weit zur Geste der Invokation. Er hob an zu sprechen. Und obwohl er in der Ursprache redete, verstand ihn Arren endlich, wie es alle, die diese Invokation hören, tun, denn sie hat über alle Macht. »Ich gebiete dir jetzt, mein Feind, hier vor meinen Augen als Mensch zu erscheinen, und ich binde dich mit dem Wort, das nicht gesprochen wird, bis das Ende aller Zeiten nahe ist!«

Doch dort, wo der Name des Gerufenen hätte erscheinen sollen, dort sagte Ged nur Mein Feind.

Stille trat ein. Selbst das Meer verstummte. Es kam Arren vor, als ob die Sonne schwächer und trüber schiene, obwohl sie hoch am klaren Himmel stand. Dunkle Schatten sammelten sich am Strand, der aussah, als ob ein rauchfarbenes Glas darauf läge. Direkt vor Ged war es am schwärzesten, und es war schwierig, dort etwas zu erkennen. Ein Etwas war dort erschienen, das von keinem Licht beschienen werden konnte, das keine Form und Farbe hatte.

Dann trat ein Mann daraus hervor. Es war der gleiche Mann, den sie auf der Düne gesehen hatten, schwarzhaarig und langarmig, geschmeidig und groß. In seiner Hand hielt er jetzt eine lange Klinge aus Stahl, die bis zum Griff mit Runen bedeckt war. Er neigte sie gegen Ged, während er ihm gegenübertrat. Doch der Blick seiner Augen war merkwürdig, so als sei er von der Sonne geblendet und könnte nichts sehen.

»Ich komme«, sagte er, »weil ich es will, und ich komme, wie es mir gefällt. Du, Erzmagier, kannst mir nicht gebieten. Ich bin kein Schatten. Ich lebe. Nur ich lebe! Du glaubst, du lebst, doch du stirbst, du stirbst. Weißt du, was ich in der Hand halte? Das ist der Stab des Grauen Magiers, des Magiers, der Nereger zum Schweigen gebracht hat, des Meisters meiner Kunst. Doch jetzt bin ich der Meister. Und ich habe es satt, Spiele mit dir zu spielen.« Bei diesen Worten streckte er die stählerne Klinge gegen Ged, der wie angewurzelt stand, als ob er sich nicht rühren und nicht reden könne. Arren stand einen Schritt hinter ihm, und sein ganzer Wille war darauf gerichtet, sich zu bewegen, doch er konnte nicht, er konnte nicht einmal mit der Hand nach seiner Klinge greifen, und die Stimme war ihm in der Kehle verstummt.

Doch über Ged und Arren, über ihre Köpfe hinweg, riesig und feurig, setzte mit einem Sprung der mächtige Drachen und fiel mit seinem ganzen Gewicht auf den Mann, die magische Klinge bohrte sich in ihrer vollen Länge in die schuppige Brust; der Mann wurde unter dem Gewicht des gewaltigen Leibes begraben und verbrannte.

Vom Sande sich erhebend stand der Drache wieder auf und schrie. Sein Rücken war gekrümmt, seine Flügel schlugen laut, und Feuer flog aus seinen Nüstern. Er versuchte zu fliegen, doch er konnte nicht. Giftig und eiskalt lag das Metall in seiner Brust. Er krümmte sich zusammen, und das Blut rann schwarz und dampfend aus seinem Rachen; das Feuer erlosch in seinen Nüstern, bis sie zu aschegefüllten Gruben wurden. Er legte sein mächtiges Haupt auf den Sand.

Und so verschied Orm Embar, am selben Ort, an dem sein Vorfahre Orm gefallen war, auf dem Sand, unter dem die Gebeine Orms begraben lagen.

Doch an der Stelle, wo Orm Embar seinen Feind erschlagen hatte, lag ein Scheusal, klein, ausgedörrt, wie eine Riesenspinne, die in ihrem Netz vertrocknet war. Das Ding, das da im Sande lag, war vom Atem des Drachen verbrannt, von der Wucht seiner Krallen zerschmettert worden. Doch Arren sah, wie es sich bewegte: Langsam kroch es weg von dem toten Drachen.

Ein Gesicht erhob sich vom Sande und wandte sich ihnen zu. Keine Spur der männlichen Schönheit war verblieben, zerstört, zerfallen, ein Alter zeigend, das alles Altsein überlebt hatte. Der Mund war verschwunden, die Augenhöhlen waren schon lange leer. Ged und Arren blickten endlich in das wahre Gesicht ihres Feindes.

Es wandte sich um. Die verbrannten schwarzen Arme streckten sich weit und schienen die schwarzen Schatten zu umfassen, die gleichen formlosen, immer dunkler werdenden Schatten, die das Sonnenlicht getrübt hatten. Zwischen den Armen dieses Wesens, dem Urfeind allen Schöpfens, allen Erschaffens, tat sich so etwas wie ein Tor auf, doch war auch dieses formlos und undeutlich. Dahinter lag weder der bleiche Sand noch das Meer, sondern ein langer, sich neigender Hang, der hinunter in ein grundloses Dunkel führte.

Dorthin schlich sich die zerschundene, mühsam kriechende Kreatur, doch als sie das Dunkel betrat, schien sie plötzlich zu schwellen und zu wachsen, sie bewegte sich schneller und verschwand.

»Komm, Lebannen!« sagte Ged und legte seine Rechte auf des Knaben Arm, und gemeinsam wandten sie sich ab von dem Ort und betraten das trockene Land.

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