Im Brunnenhof schimmerte die Märzensonne durch das junge Grün der Eschen und Ulmen, und das Wasser des Brunnens stieg und fiel im Spiel des Lichtes und des Schattens. Der offene Innenhof war von vier hohen Steinmauern umgeben. Dahinter befanden sich Räume und andere Innenhöfe, Durchgänge, Flure, Türme und eine wuchtige Außenmauer, die das Großhaus von Rok umgab. Diese Mauer trotzte jedem feindlichen Angriff, jedem Erdbeben und jeder Meeresflut, denn sie war nicht nur aus Stein gebaut, sondern mit mächtigen, magischen Formeln verstärkt. Denn Rok ist die Insel der Weisen, wo die Kunst der Magie gelehrt wird, und das Großhaus ist Schule und zugleich Hauptzentrum der Magie; das Herz des Hauses aber ist dieser kleine Innenhof, der tief im Innern des Gebäudekomplexes verborgen liegt, wo der Brunnen plätschert und Bäume im Regen, in der Sonne und unter den Sternen wachsen.
Der Baum neben dem Brunnen war eine kräftige Eberesche, deren Wurzeln die Marmorplatten hochgedrückt und teils aufgebrochen hatten. Ein Rasenstreif umgab den Brunnen, und helles, grünes Moos zog sich, wie Adern, durch die Sprünge im Marmor. Ein Junge saß auf einer der niedrigen Erhöhungen aus Marmor und Moos, sein Blick ruhte auf dem aufsteigenden Strahl des Brunnens. Er schien dem Mannesalter nahe zu sein, doch war er noch ein Knabe, schlank und kostbar gekleidet. Sein Gesicht war ruhig und glich einer fein ziselierten, vergoldeten Bronzemaske.
Ungefähr fünf Meter hinter ihm, unter den Bäumen auf der anderen Seite des Rasens, stand ein Mann, so schien es wenigstens. Im flimmernden Wechsel zwischen Licht und Schatten war er schwierig zu erkennen. Doch er befand sich dort, ein weißgekleideter, regungslos stehender Mann. Während der Junge auf den Strahl des Brunnens schaute, blickte der Mann auf ihn. Keine Bewegung, kein Laut war zu vernehmen, nur das Spiel der Blätter, das Spiel des Wassers und sein unaufhörlicher Gesang.
Der Mann bewegte sich vorwärts. Ein Wind raunte in der Eberesche und brachte die jungen Blätter in Bewegung. Der Junge, überrascht, sprang mit einer federnden Bewegung auf. Er drehte sich dem Mann zu und verbeugte sich vor ihm: »Ehrwürdiger Erzmagier!« sagte er.
Der Mann, eine aufrechte, kräftige, nicht allzu große Gestalt, in einen weißen Wollumhang mit Kapuze gehüllt, blieb vor ihm stehen. Über den Falten der zurückgelegten Kapuze erhob sich ein kupferbraunes Gesicht mit einer Adlernase; eine Wange zeigte die Spuren alter Narben. Die Augen blickten aufmerksam und durchdringend. Doch seine Stimme war sanft: »Im Brunnenhof sitzt es sich angenehm«, sagte er und nahm die Entschuldigung des Jungen vorweg. »Weit her bist du gekommen, und keine Rast war dir vergönnt. Setz dich wieder hin!«
Er kniete an dem weißen Rand der Brunnenschale und streckte seine Hand gegen den Kranz glitzernder Tropfen aus, die von der oberen Marmorschale fielen. Das Wasser glitt durch seine Finger. Der Junge setzte sich wieder auf die erhöhten Marmorplatten, und beide schwiegen eine Weile.
»Du bist der Sohn des Prinzen von Enlad und der Inselgruppe der Enladen«, sagte der Erzmagier. »Du bist der Erbe des Fürstenreichs von Morred. In der ganzen Erdsee gibt es kein Haus, das älter und berühmter ist als dieses. Ich sah die Obstgärten von Enlad im Frühling und die goldnen Dächer von Berila. Wie heißt du?«
»Man nennt mich Arren.«
»Das Wort ist dem Dialekt deines Landes entnommen. Was bedeutet es in der allgemeinen Sprache?«
»Schwert«, antwortete der Junge.
Der Erzmagier nickte. Wieder schwiegen sie. Dann sprach der Junge, nicht kühn, doch auch nicht schüchtern: »Ich glaubte, daß der Erzmagier alle Sprachen kennen würde.«
Der Mann schüttelte den Kopf und betrachtete den Brunnen.
»Und alle Namen…«
»Alle Namen? Nur Segoy, der das Erste Wort gesprochen und die Inseln aus der Tiefe des Meeres gehoben hat, nur er wußte alle Namen. Jedoch…« — und der helle, durchdringende Blick richtete sich wieder auf Arrens Gesicht —, »wenn es nötig wäre, deinen wahren Namen zu wissen, dann konnte ich ihn herausfinden. Doch es ist nicht nötig, ich werde dich Arren nennen, und ich bin Sperber. Erzähl mir, wie die Reise hierher war.«
»Zu lang.«
»Die See stürmte?«
»Die Winde bliesen sanft und stetig, doch bringe ich ungute Kunde, ehrwürdiger Herr!«
»Erzähle sie mir«, sagte der Erzmagier ernst, doch er sprach wie einer, der einem ungeduldigen Kind nachgibt; und während Arren redete, blickte er wieder auf den Kristallschleier der glitzernden Tropfen, der von dem oberen Becken in das untere sich ergoß, nicht um die Worte an sich vorbeigleiten zu lassen, sondern um mehr als nur die Worte des Knaben zu vernehmen.
»Sie wissen, ehrwürdiger Herr, daß mein Vater, der Prinz aus dem Hause Morred, erfahren in der Zauberkunde ist. In seiner Jugend hatte er ein Jahr hier auf Rok verbracht. Er besitzt eine gewisse Macht und weiß einiges von der Magie, doch selten nur gebraucht er seine Künste. Er ist hauptsächlich mit dem Regieren und Verwalten seines Reiches, seiner Städte, und mit dem Handelsverkehr beschäftigt. Unsere Schiffe segeln nach dem Westen, manche sogar in den Westbereich; von dort bringen sie Saphire, Ochsenhäute und Zinn. Zu Beginn des Winters kam ein Kapitän nach Berila und erzählte eine Geschichte, die meinem Vater zu Ohren kam. Er ließ den Mann zu sich kommen und hörte sich seine Geschichte an.« Der Junge sprach fließend und ohne Stocken. Er war am Hofe aufgewachsen und von gebildeten, höflichen Menschen erzogen worden. Das übersteigerte, oft hemmende Selbstbewußtsein des Jugendlichen war ihm fremd.
»Der Kapitän erzählte, daß es auf Narveduen, einer Insel, die ungefähr vierhundert Meilen westlich von uns auf unseren Schiffsrouten liegt, keine Magie mehr gibt. Zauberformeln hätten dort ihre Macht verloren, und die Worte der Zauberkunst wären dort vergessen. Mein Vater fragte, ob es daran läge, daß alle Zauberer und Zauberweiber die Insel verlassen hätten, und er sagte, daß dem nicht so sei. Es gäbe dort noch welche, die Zauberer gewesen wären, doch würden sie keine Magie mehr wirken, nicht einmal Kessel würden sie mehr flicken, noch würden sie versuchen, verlorene Nadeln zu finden. Und mein Vater fragte, sind die Leute auf Narveduen nicht besorgt darüber? Und der Kapitän sagte, nein, das sei ihnen gleichgültig. Ja, es gäbe sogar Krankheiten unter ihnen und ihre Ernte wäre schlecht gewesen, doch niemand sorge sich um die verschwundene Zauberkraft. Er sagte — ich war gegenwärtig, als er mit dem Prinzen sprach — er sagte: ›Sie kommen mir wie kranke Menschen vor, wie Leute, denen gesagt wurde, daß sie nur noch ein Jahr zu leben haben, und die sich einreden, daß das nicht wahr sei, daß sie noch ewig weiterleben würden. So leben sie dahin‹, sagte er, ›ohne sich umzuschauen.‹ Als andere Handelsschiffe zurückkehrten, bestätigten sie, was uns der Kapitän erzählt hatte, daß Narveduen ein armes Land geworden sei, daß es die Kunst der Zauberei verloren hätte. Aber all das waren nur Geschichten aus dem Außenbereich, und die sind meist merkwürdig, und nur mein Vater machte sich Gedanken darüber.
Zu Beginn des Neuen Jahres, am Lammfest, das wir in Enlad feiern, wenn die Frauen der Hirten in die Stadt kommen und die Erstgeborenen der Herde bringen, trug mein Vater dem Zauberer Wurzel auf, die Sprüche des Vermehrens und Gedeihens über die Lämmer zu sprechen. Doch Wurzel kam ganz verstört zurück in unseren Saal, legte seinen Stab vor uns nieder und sagte: ›Mein Fürst, ich kann die Worte der Formeln nicht sprechen! ‹ Mein Vater stellte ihn zur Rede, aber er wiederholte nur immer wieder: ›Ich habe die Worte und die Formgebung vergessene Daraufhin ging mein Vater selbst auf den Markt und wob die Zauberformeln, und das Fest konnte beendet werden. Aber als er am Abend zum Palast zurückkehrte, sah er düster und beunruhigt aus und sagte zu mir: ›Ich sprach die Worte, doch weiß ich nicht, ob sie wirken.‹ Und inzwischen haben wir vernommen, daß die Herden wirklich nicht gedeihen, daß manche Mutterschafe bei der Geburt sterben, und daß viele Lämmer tot geboren werden, und daß manche… mißgestaltet sind.« Die helle, ausdrucksvolle Stimme des Jungen wurde schwächer, er zuckte zusammen, als er dies sagte, und schluckte: »Ich habe einige gesehen«, sagte er. Eine Pause trat ein.
»Mein Vater glaubt, daß diese Vorkommnisse Anzeichen dafür sind, daß in dem Teil der Welt, den wir bewohnen, irgendeine böse Macht am Werke ist. Er sucht Rat bei den Weisen.«
»Daß er dich hersandte, beweist uns, wie dringend er den Rat sucht«, erwiderte der Erzmagier. »Du bist sein einziger Sohn. Und die Reise von Enlad nach Rok ist nicht unbeschwerlich. Hast du noch mehr zu erzählen?«
»Nur noch Alteweibergeschichten aus den Bergen.«
»Was sagen die alten Weiber?«
»Daß die Zukunft, die sie im Rauch und aus stehenden Gewässern lesen, nichts Gutes verheißt, und daß ihre Liebestränke fehlschlagen. Aber diese Frauen besitzen keine wahre Zaubermacht.«
»Wahrsagerei und Liebestränke bedeuten nicht viel, das stimmt. Doch was alte Frauen zu sagen haben, lohnt sich oft anzuhören. Nun, deine Botschaft wird von den Meistern hier auf Rok besprochen werden. Aber ich weiß nicht, welchen Rat sie deinem Vater erteilen werden, Arren. Denn Enlad ist nicht das erste Land, aus dem uns solche Kunde kommt.«
Die Fahrt aus dem Norden, an der großen Insel Havnor vorbei, durch das Innenmeer nach Rok, war Arrens erste große Reise gewesen. Während der vergangenen Wochen hatte er zum ersten Mal Länder gesehen, die nicht zu seiner eigenen Heimat gehörten, und er bekam einen Begriff von den Entfernungen und den Verschiedenartigkeiten, die es auf dieser Welt gab. Hinter den sonnigen Hügeln seiner Heimat hatte sich eine große Welt aufgetan, die angefüllt war mit Menschen. Er war noch nicht daran gewöhnt, dies neue Wissen zu verwerten, und es dauerte eine Weile, bis er alles verstand. »Woher denn sonst noch?« fragte er ein wenig enttäuscht, denn er hatte gehofft, prompt wieder zurücksegeln zu können, mit genauen Anweisungen zur Behebung des Übels.
»Zuerst kam sie aus dem Südbereich. Vor kurzem sogar aus dem Inselreich, aus Wathort. Man hat behauptet, daß auf Wathort keine Magie mehr geübt wird. Aber sicher ist nichts. Diese Gegend war schon immer aufrührerisch und der Piraterie hold, und wie man so sagt, das Lügen ist den Händlern des Südens angeboren. Doch die Geschichte bleibt sich immer gleich: die Quellen der Zauberkraft sind versiegt.«
»Aber hier auf Rok …«
»Wir hier auf Rok haben nichts davon verspürt. Wir sind gegen Stürme, gegen Veränderungen, gegen alle Unbill geschützt, vielleicht zu gut geschützt. Was wirst du jetzt tun, Arren?«
»Ich werde wieder nach Enlad zurücksegeln, wenn ich meinem Vater den genauen Grund des Übels mitteilen und ihm sagen kann, wie es zu beheben ist.«
Wiederum blickte ihn der Erzmagier an, und dieses Mal blickte Arren, entgegen seines sonst so höflichen Benehmens, zur Seite. Er konnte nicht sagen, warum, denn nicht die geringste Spur von Unfreundlichkeit lag in dem Blick dieser dunklen Augen. Sie schauten ihn offen, ruhig und verständnisvoll an.
Alle Leute in Enlad schauten zu seinem Vater auf, und er war der Sohn des Prinzen. Kein Mensch hatte je gewagt, ihn nur als Arren, und nicht als den Prinzen von Enlad — Sohn des regierenden Prinzen — anzusehen. Der Gedanke, daß er nun dem Blick des Erzmagiers auswich, behagte ihm nicht, doch er konnte sich nicht dazu bewegen, den Blick zu erwidern. Es schien ihm, als ob die Welt um ihn sich wiederum erweitere, und nicht nur Enlad war jetzt ganz klein und unbedeutend geworden, sondern auch er. In den Augen des Erzmagiers stellte er nur eine winzige Gestalt in der ungeheuren Weite meerumspülter Länder dar, die von der Dunkelheit bedroht wurden.
Er saß und zupfte an dem hellgrünen Moos, das zwischen den Sprüngen der Marmorplatten wuchs, und nach einer Weile hörte er seine eigene Stimme, die erst vor kurzem tiefer geworden war, sagen: »Ich werde tun, was Sie mich zu tun heißen!«
»Du hast deine Pflicht deinem Vater, nicht mir gegenüber zu erfüllen«, erwiderte der Erzmagier.
Seine Augen ruhten noch immer auf Arren, doch jetzt blickte der Junge auf. Als die Worte der Unterwerfung unter eines ändern Willen gesprochen worden waren, hatte er sich selbst vergessen. Jetzt erst erblickte er den Erzmagier, den größten Zauberer der Erdsee, den Mann, der die Schwarze Quelle von Fundar abgedämmt hatte, der den Ring von Erreth-Akbe aus den Gräbern von Atuan zurückgebracht und die tiefe Seemauer von Nepp erbaut hatte; er sah den Seefahrer, der das Meer von Astowell bis Selidor kannte, und er sah den noch einzig lebenden Drachenfürsten vor sich. Und dieser Mann kniete hier neben dem Brunnen, er war nicht sehr groß und nicht mehr jung, seine Stimme klang sanft, und seine Augen waren so tief wie die Nacht.
Arren sprang hastig aus seiner sitzenden Stellung auf und kniete sich förmlich, auf beiden Knien, vor ihm nieder. »Ehrwürdiger Herr«, stammelte er, »erlauben Sie mir, daß ich Ihnen diene!«
Seine Selbstsicherheit war verschwunden, sein Gesicht war gerötet, und seine Stimme zitterte.
An seiner Hüfte trug er ein Schwert in einer Scheide aus neuem Leder, das rote und goldene Verzierungen trug; das Schwert selbst jedoch war einfach und nicht verziert, die Griffstange aus versilberter Bronze war abgewetzt. Dieses Schwert zog er geschwind heraus und bot den Griff dar, wie es der Gefolgsmann tut, der sich seinem Prinzen unterwirft.
Der Erzmagier streckte seine Hand nicht aus, um den Schwertgriff zu erfassen. Er blickte ihn nur an und schaute dann auf Arren: »Das gehört dir, nicht mir«, sagte er, »und du bist keines Menschen Diener.«
»Aber mein Vater hat gesagt, daß ich auf Rok bleiben soll, bis ich herausgefunden habe, welche Bewandtnis es mit dem Übel auf sich hat, und vielleicht könnte ich selbst einige Künste lernen — ich kenne keine, und ich glaube nicht, daß ich Macht besitze, doch unter meinen Vorfahren gab es Magier … Vielleicht kann ich auf irgendeine Weise nützlich sein…«
»Deine Vorfahren waren Könige, bevor sie Magier wurden«, sagte der Erzmagier.
Er stand auf und kam in einigen kraftvollen, lautlosen Schritten auf Arren zu. Er nahm den Jungen bei der Hand und zog ihn hoch. »Ich danke dir für dein Angebot, das ich jetzt nicht annehmen kann, doch ist es möglich, daß ich später, nachdem wir über diese Angelegenheit beraten haben, darauf zurückkomme. Das Angebot einer großmütigen Seele darf nicht leichtfertig abgelehnt werden. Und auch das Schwert von Morreds Sohn darf nicht leichthin zur Seite geschoben werden … Geh jetzt! Der Junge, der dich hierhergebracht hat, wird dafür sorgen, daß du Essen bekommst, baden und dich ausruhen kannst. Geh!« und er schubste Arren leicht an der Schulter, eine familiäre Geste, die sich noch niemand dem jungen Prinzen gegenüber erlaubt hatte und die er keinem gestattet hätte. Doch bei der Berührung des Erzmagiers erbebte er und war glücklich, denn eine tiefe Zuneigung hatte von ihm Besitz ergriffen.
Er war kein Stubenhocker; er war gewandt beim Spiel und Waffenübung, und mit Stolz und Vergnügen hatte er Körper und Geist gestählt; er war gelehrig im Erlernen seiner Pflichten gewesen, die er als Sohn des Prinzen zu erfüllen hatte — sie waren weder leicht noch einfach —, jedoch er hatte sich noch nie für eine Sache voll eingesetzt. Alles war ihm leicht gefallen, und alles hatte er mit Leichtigkeit erledigt. Spiel war ihm alles gewesen, selbst die Liebe. Doch jetzt war die in ihm schlummernde Tiefe erwacht, nicht durch das Spiel, nicht durch einen Traum, sondern durch die Gefahr, die Ehre, die Weisheit, durch ein vernarbtes Gesicht, eine ruhige Stimme, durch eine feste dunkle Hand, die, ihrer Macht nicht eingedenk, den Eibenstab leicht hielt, an dessen Griff die Verlorene Rune der Könige, Silber auf schwarzem Holz, eingelassen war.
Der erste Schritt aus der Kindheit heraus wird mit einemmal getan, ohne vorheriges Rückwärts- oder Vorwärtsschauen, ohne Bedenken, rückhaltlos.
Die höflichen Manieren des Verabschiedens völlig vergessend, eilte Arren zur Tür, strahlend, gehorsam, ungestüm. Und Ged der Erzmagier blickte ihm nach.
Ged blieb eine Weile beim Brunnen unter der Eberesche stehen. Dann hob er sein Gesicht zum sonnenklaren Himmel empor: »Ein lichter Bote mit unheilvoller Kunde«, sprach er halblaut, zum Brunnen gewandt. Der hörte nicht zu, sondern fuhr fort, in seiner eigenen Silberstimme zu reden, und Ged hörte ihm eine Weile zu. Dann ging er auf eine andere Tür zu, die Arren nicht gesehen hatte, die nur wenigen Augen sichtbar war, ganz gleich, wie nahe sie darauf schauten, und sagte: »Meister Pförtner!«
Ein kleiner Mann unbestimmten Alters erschien. Jung war er nicht mehr, so daß man ihn als alt bezeichnen mußte, doch alt war auch nicht passend. Sein Gesicht war eingefallen und hatte die Farbe von Elfenbein angenommen. Er hatte ein anziehendes Lächeln, das lange Furchen in seine Wangen grub: »Was ist los, Ged?« fragte er.
Denn sie waren allein, und er gehörte zu den sieben Menschen auf der Welt, die des Erzmagiers wahren Namen kannten. Die anderen waren der Meister Namengeber auf Rok; und Ogion der Schweigsame, der Zauberer von Re Albi, der vor langer Zeit Ged diesen Namen auf dem Berg Gont gegeben hatte; und die Weiße Dame von Gont, Tenar mit dem Ring; und ein Dorfzauberer auf Iffisch, der Vetsch genannt wurde; und wieder auf Iffisch die Frau eines Zimmermanns, die Mutter von drei Mädchen, die der Zauberei unkundig, doch weise in anderen Dingen war, und die Jarro hieß; und schließlich, auf der anderen Seite der Erdsee, im äußersten Westen, zwei Drachen: Orm Embar und Kalessin.
»Wir müssen heute abend zusammenkommen«, sagte der Erzmagier. »Ich werde zum Formgeber gehen. Und ich werde es Kurremkarmerruk wissen lassen, damit er seine Listen zur Seite legt und seinen Schülern einen Abend freigibt und hier bei uns sein kann, wenn auch nicht körperlich. Benachrichtigst du bitte die ändern?«
»Gewiß«, erwiderte der Pförtner lächelnd und verschwand, auch der Erzmagier war verschwunden. Nur der Brunnen redete noch mit sich selbst, heiter und hurtig, ohne Pause, im Sonnenlicht des jungen Frühlings.
Irgendwo westlich vom Großhaus auf Rok, manchmal auch südlich, liegt der Immanente Hain. Auf Karten ist er nicht verzeichnet. Kein Weg führt dorthin und nur diejenigen finden ihn, die den Weg wissen. Selbst Novizen, Städter und Bauern können den Hain sehen, aber immer nur aus der Entfernung: eine Gruppe hoher Bäume, deren grüne Blätter selbst im Frühling golden flimmern. Daraus schlössen sie — die Novizen, Städter und Bauern — daß der Hain in geheimnisvoller Weise beweglich sei. Doch darin täuschen sie sich, denn der Hain ändert seinen Ort niemals. Seine Wurzeln sind die Wurzeln des Seins. Die Welt um ihn herum ist beweglich.
Ged verließ das Großhaus und schritt über die Felder. Er nahm seinen weißen Umhang ab, denn die Sonne stand im Zenit. Ein Bauer, der am braunen Hang pflügte, hob grüßend die Hand. Ged erwiderte den Gruß. Kleine Vögel hoben sich jubilierend in die Luft. Das Funkenkraut war am Erblühen in den Furchen und entlang dem Wege. Hoch am Himmel kreiste ein Falke in weitem Bogen. Ged schaute kurz hinauf und hob wieder grüßend die Hand. Der Vogel schoß pfeilschnell herunter und ließ sich mit gelben Krallen auf dem angebotenen Handgelenk nieder. Es war kein Sperber, sondern ein großer Enderfalke, heimisch auf Rok, dessen Gefieder braun-weiß gemustert war. Er blickte mit einem runden, hellgoldnen Auge von der Seite her auf den Erzmagier, dann klappte er seinen gekrümmten Schnabel zu und blickte Ged von vorne an, mit beiden runden, hellgoldnen Augen. »Furchtlos«, sagte der Erzmagier in der Sprache des Schöpfens.
Der große Vogel hielt sich fest und schlug mit seinen Schwingen. Er blickte unentwegt auf Ged.
»Erhebe dich wieder, Bruder!«
Weit oben am Hügel, unter dem klaren Himmel, stand der Bauer. Er hatte mit seiner Arbeit innegehalten. Im vergangenen Herbst hatte er einmal beobachtet, wie ein wilder Falke sich auf das Gelenk des Erzmagiers niedergelassen hatte und im nächsten Augenblick war der Erzmagier nicht mehr zu sehen gewesen, und zwei Falken stiegen hoch in den Himmel.
Dieses Mal trennten sie sich: der Vogel schwang sich in die Luft, der Mann ging weiter über die schlammigen Felder.
Er erreichte den Pfad, der zum Immanenten Hain führte, ein Pfad, der immer gerade verläuft, gleichgültig, wie Zeit und Welt sich ändern. Ihm folgend gelangte er bald in den Schatten der Bäume.
Die Stämme mancher Bäume waren enorm. Wer sie sah, glaubte nicht mehr, daß der Hain sich von Ort zu Ort bewegte. Sie sahen aus wie Türme, die, grau an Jahren, schon seit unvordenklichen Zeiten stehen; ihre Wurzeln waren den Wurzeln der Berge gleich. Doch unter den Allerältesten gab es manche, deren Laub spärlich und deren Äste schwach waren. Die Bäume waren nicht unsterblich. Unter den Riesen gab es junge, kräftige Bäume, mit dichtbelaubten, hellgrünen Kronen, und Schößlinge, zarte, belaubte Stengel, nicht größer als ein Kind.
Der Grund unter den Bäumen war weich und federnd, ein dunkler, durch die verwesten Blätter vieler Jahre fruchtbarer Boden. Farne und andere Waldpflanzen gediehen hier, doch nur eine Art von Bäumen wuchs hier, für die es keinen Namen in der hardischen Sprache der Erdsee gab. Die Luft unter den Bäumen war frisch und roch nach Erde; sie rief den Geschmack frischen Quellwassers im Mund hervor.
In einer Lichtung, die vor Jahren durch den Sturz eines riesenhaften Baumes geschaffen wurde, traf Ged auf den Meister der Formgebung, der selten diesen Hain verließ. Sein Haar war blond wie Weizen; er war kein Mann aus dem Inselreich. Seitdem der Ring von Erreth-Akbe wieder heil war, unternahmen die Bewohner von Kargad keine Raubzüge mehr. Sie hatten Frieden und gewisse Handelsabkommen mit den Innenländern abgeschlossen, doch war es kein freundlicher Menschenschlag, sie hielten sich fern. Nur hin und wieder, getrieben von Abenteuerlust oder dem Verlangen, die Zauberkunst zu erlernen, kamen junge Krieger oder Kaufmannssöhne nach dem Westen. So hatte es sich auch mit dem Meister der Formgebung zugetragen. An einem regnerischen Morgen, zehn Jahre waren seither verflossen, stand ein schwertgegürteter, junger Wilder, mit rotem Federbusch auf dem Helm, vor der Tür des Großhauses auf Rok und sprach zu Meister Pförtner in befehlendem, fehlerhaften Hardisch: »Ich komme, um zu lernen!« Und heute stand er im grüngoldnen Licht unter den Bäumen, ein großer, schlanker Mann, mit hellem, langem Haar und seltsamen grünen Augen: Meister der Formgebung.
Es war möglich, daß auch er Geds wahren Namen kannte. Doch selbst wenn er ihn wußte, gebraucht hatte er ihn noch nie. Sie begrüßten sich schweigend.
»Was betrachtest du?« fragte der Erzmagier, und der andere antwortete: »Eine Spinne.«
Zwischen zwei großen Grashalmen der Lichtung hatte die Spinne ein Netz gesponnen, eine Spirale, die kunstvoll an ihren Stützen befestigt war. Das Sonnenlicht fing sich in den feinen Silberfäden. In der Mitte wartete die Spinne, ein schwarzgrauer Fleck, nicht größer als eine Pupille.
»Auch sie ist eine Formgeberin«, meinte Ged und schaute auf das zarte Gewebe.
»Was ist das Böse?« fragte der junge Mann.
Das runde Netz mit seinem schwarzen Mittelpunkt schien sie beide zu beobachten.
»Ein Netz, von Menschen gewoben«, antwortete Ged.
In diesem Wald sang keine Vogelstimme. Es war still und jetzt in der Mittagszeit auch heiß. Um sie herum standen Bäume und lagerten Schatten.
»Aus Narveduen und Enlad kam uns Kunde: die Botschaft ist die gleiche.«
»Südlich und südwestlich; nördlich und nordwestlich«, sagte der Formgeber, und seine Augen ruhten auf dem runden Netz.
»Wir kommen heute abend hier zusammen. Dies hier ist der beste Ort, um Rat zu suchen.«
»Ich habe keinen Rat.« Der Formgeber blickte Ged fest an, seine grünlichen Augen waren kalt. »Ich habe Angst«, sagte er. »Die Angst ist da; die Angst sitzt an den Wurzeln.«
»Gewiß«, sagte Ged. »Wir müssen in die tiefsten Quellen schauen, glaube ich. Zu lange erfreuten wir uns des Sonnenlichtes, wir wärmten uns in dem Frieden, den der geheilte Ring gebracht hat. Unbedeutende Dinge nur haben wir vollbracht, wir fischten im seichten Wasser. Heute abend müssen wir die Tiefe befragen.« Und er ließ den Formgeber zurück, versunken in der Betrachtung einer Spinne im sonnigen Gras.
Am Rande des Haines, wo die Zweige der Bäume überhängen und gewöhnlichen Grund beschatten, ließ sich Ged nieder und lehnte seinen Rücken an eine mächtige Wurzel. Sein Stab lag quer auf seinen Knien. Er schloß die Augen, als ob er schliefe, doch sein Geist wanderte über die Felder und Hügel von Rok nach Norden, bis an das meerumwogte, gischtbesprühte Vorgebirge, wo der Einsame Turm stand.
»Kurremkarmerruk«, sagte er im Geist, und der Meister Namengeber blickte von dem dicken Buch auf, aus dem er seinen Schülern die wahren Namen von Wurzeln, Krautern, Blüten, Samen und Blättern vorgelesen hatte und erwiderte: »Ich bin hier, mein Gebieter.«
Dann hörte der große, hagere, alte Mann, dessen weißes Haar unter der schwarzen Kapuze verborgen war, zu, und die Schüler im Turmzimmer blickten von ihren Schreibtafeln auf und warfen sich erstaunte Blicke zu.
»Ich werde kommen«, sagte Kurremkarmerruk und, sich wieder über das Buch beugend, sprach er: »Das Blütenblatt des Moly hat einen Namen, und zwar heißt es lebera, und ebenso das Kelchblatt, und zwar heißt es Partonath, und der Stengel, und das Blatt und die Wurzel haben ihre eigenen Namen…«
Doch Erzmagier Ged, der all die Namen des Moly kannte, rief seinen Geistboten wieder zurück; er hielt seine Augen geschlossen, streckte seine Beine bequem aus und schlief in dem von bebenden Blätterschatten durchbrochenen Sonnenlicht bald ein.