Epilog Tucson, Arizona Drei Jahre später

Ein pummeliges kleines Mädchen mit kurzen braunen Haaren, brauner Haut und Streifen aus Schweiß und Puder im Gesicht stand auf der kleinen Straße und spähte zwischen den schmutziggrauen Garagen hindurch. Sie pfiff leise vor sich hin und verwob dabei zwei Variationen aus einem Klaviertrio von Mozart. Wenn man nicht genau hinsah, hätte man sie für eines der vielen spanischstämmigen Kinder halten können, die hier spielten und durch die Straßen tobten.

Ihre Eltern hatten Stella noch nie erlaubt, sich so weit von dem kleinen Haus zu entfernen, das sie ein paar hundert Meter weiter gemietet hatten. Die Straße war eine neue Welt. Sie sog leicht die Luft ein — das tat sie immer, aber nie fand sie, wonach sie suchte.

Plötzlich hörte sie die aufgeregten Stimmen spielender Kinder, und das war Verlockung genug. Über rote Betonplatten ging sie zu der verputzten Seitenwand einer kleinen Garage, stieß eine Gittertür auf und sah drei Kinder, die sich in einem winzigen Garten einen nur halb aufgepumpten Basketball zuwarfen. Die Kinder hörten auf zu spielen und starrten sie an.

»Wer bist denn du?«, fragte ein dunkelhaariges Mädchen von sieben oder acht Jahren.

»Stella«, erwiderte sie laut und deutlich. »Und wer seid ihr?«

»Wir spielen hier.«

»Darf ich mitspielen?«

»Dein Gesicht ist aber dreckig.«

»Das geht ab, guck mal.« Sie wischte sich den Puder mit dem Ärmel ab, sodass der Stoff fleischfarbene Flecken bekam. »Heiß heute, was?«

Ein etwa zehnjähriger Junge betrachtete sie prüfend. »Du hast ja Punkte«, sagte er.

»Das sind Sommersprossen«, erwiderte Stella. Ihre Mutter hatte ihr eingeschärft, dies zu sagen, falls sie gefragt würde.

»Klar kannst du mitspielen«, sagte ein zweites Mädchen, ebenfalls etwa zehn Jahre alt. Sie war groß und hatte lange, staksige Beine. »Wie alt bist’n du?«

»Drei.«

»Du siehst aber nicht aus wie drei.«

»Ich kann auch lesen und pfeifen. Hör mal zu.« Sie pfiff die beiden Melodien gleichzeitig und wartete gespannt auf die Reaktionen.

»Du lieber Gott«, sagte der Junge.

Stella war stolz, dass sie ihn verblüfft hatte. Das große, dünne Mädchen warf ihr den Ball zu. Stella fing ihn energisch auf und lächelte. »Das macht Spaß«, sagte sie, und über ihr Gesicht ging eine Welle von reizendem Beige und Gold. Der Junge starrte sie mit offenem Mund an, setzte sich hin und sah zu, wie die Mädchen zusammen auf der sommerlich trockenen Wiese spielten.

Wohin Stella auch lief, immer war sie von einem süßen Moschusduft umgeben.


Zwei Mal durchsuchte Kaye hektisch alle Zimmer und Schränke, wobei sie ständig den Namen ihrer Tochter rief. Sie hatte Stella zum Mittagsschlaf ins Bett gelegt und sich dann in einen Zeitschriftenartikel vertieft; dass das Mädchen weggegangen war, hatte sie nicht gehört. Stella war klug und würde wahrscheinlich nicht vor ein Auto laufen oder sich in andere erkennbare Gefahren begeben, aber es war ein armes Stadtviertel, und gegen Kinder wie sie gab es immer noch viele Vorurteile. Man fürchtete sich vor den Krankheiten, die manchmal im Anschluss an SHEVA Schwangerschaften auftraten.

Die Krankheiten gab es tatsächlich; uralte Retroviren tauchten wieder auf, und manchmal waren sie tödlich. Das hatte Christopher Dicken vor drei Jahren in Mexiko entdeckt, und es hätte ihn fast das Leben gekostet. Die Gefahr bestand nur in den ersten Monaten nach der Geburt, aber Mark Augustine hatte Recht gehabt. Die Geschenke der Natur hatten immer zwei Seiten.

Wenn ein Polizist Stella sah oder wenn jemand es meldete, konnte es Schwierigkeiten geben.

Kaye rief Mitch bei dem ChevroletHändler an, bei dem er jetzt — wenige Kilometer von ihrem Haus entfernt — arbeitete. Er sagte, er werde sofort nach Hause kommen.

So etwas Seltsames wie dieses kleine Mädchen hatten die Kinder noch nie gesehen. In ihrer bloßen Nähe hatten sie freundliche, angenehme Gefühle, aber sie wussten nicht warum, und es kümmerte sie auch nicht. Die Mädchen unterhielten sich über Kleidung und Musik, und Stella ahmte ein paar Sänger nach, vor allem ihr Idol Salay Sammi. Sie war eine ausgezeichnete Schauspielerin.

Der Junge stand daneben und runzelte konzentriert die Stirn.

Das jüngere Mädchen ging zum Nachbarhaus, um andere Freunde dazuzuholen, die luden wiederum andere ein, und schon bald war der ganze Garten voller Jungen und Mädchen. Sie spielten Haushalt, die Jungen spielten Polizei, und Stella lieferte neben der Geräuschkulisse noch etwas anderes: ein Lächeln, eine Stimmung, die besänftigte und zugleich Kraft gab. Ein paar Kinder sagten, sie müssten jetzt nach Hause, und Stella erklärte, es habe Spaß gemacht, sie kennen zu lernen. Sie schnupperte bei den anderen hinter den Ohren; die lachten darüber und zogen sich peinlich berührt zurück, aber niemand ärgerte sich.

Und alle waren fasziniert von den goldenen und braunen Pünktchen auf ihrem Gesicht.

Stella wirkte völlig locker und glücklich, aber sie war noch nie unter so vielen Kindern gewesen. Als zwei neunjährige Mädchen — eineiige Zwillinge — ihr zwei Fragen gleichzeitig stellten, beantwortete sie auch beide gleichzeitig. Was sie sagte, war recht gut zu verstehen; die beiden brachen in Gelächter aus und wollten wissen, wo sie das gelernt habe.

Das Stirnrunzeln des älteren Jungen verwandelte sich in Entschlossenheit. Er wusste, was er zu tun hatte.


Kaye und Mitch riefen überall auf der Straße nach ihr. Die Polizei um Hilfe zu bitten, wagten sie nicht; Arizona hatte sich am Ende ebenfalls der Ausrufung des Notstandes angeschlossen und schickte die neuartigen Kinder nach Iowa, wo sie untersucht und unterrichtet wurden.

Kaye war völlig außer sich. »Es war nur eine Minute, nur …«

»Wir finden sie schon«, sagte Mitch, aber seine Miene strafte ihn Lügen. In seinem dunkelblauen Anzug wirkte er auf der staubigen Straße zwischen den alten Häusern völlig unpassend. Der heiße Wind ließ ihren Schweiß trocknen. »Das ist einfach schrecklich«, sagte er zum tausendsten Mal. Es war eine vertraute Redewendung geworden, ein Ausdruck seiner Verbitterung. Mit Stella fühlte er sich vollständig, und Kaye vermittelte ihm ein Stück seines früheren Lebens. Aber wenn er allein war, stand ihm die Anspannung bis zum Hals, und er dachte ein ums andere Mal, wie schrecklich er alles fand.

Kaye griff nach seinem Arm und wiederholte, es tue ihr so Leid.

»Nicht deine Schuld«, erwiderte er, aber er war immer noch sehr wütend.


Das dünne Mädchen brachte Stella das Tanzen bei. Stella kannte schon viel Ballettmusik. Ihr Lieblingskomponist war Prokofjew, und die komplizierten Partituren gab sie als Mischung aus flötenden, pfeifenden und gurgelnden Geräuschen wieder. Ein kleiner blonder Junge, der noch jünger war als Stella, blieb immer in ihrer Nähe und sah sie mit großen braunen Augen interessiert an.

»Was spielen wir denn jetzt?«, fragte das große Mädchen, als sie von den Versuchen, auf den Zehenspitzen zu stehen, genug hatte.

»Ich hole das Monopoly«, erklärte ein achtjähriger Junge mit Sommersprossen der besser bekannten Art.

»Können wir auch Othemo spielen?«, fragte Stella.

Sie suchten schon seit einer Stunde. Kaye blieb kurz auf einer zerbrochenen Bürgersteigplatte stehen und lauschte. In diese Nebenstraße mündete der Weg, der hinter den Häusern entlang führte, und ihr war, als hörte sie spielende Kinder. Viele Kinder.

Zusammen mit Mitch ging sie eilig zwischen den Garagen und Bretterzäunen hindurch. Dabei versuchte sie, Stellas Stimme oder einen ihrer vielen Laute zu identifizieren.

Mitch hörte ihre Tochter als Erster. Er stieß das Gittertor auf, und sie gingen hinein.

In dem kleinen Garten wimmelten die Kinder wie Vögel an einem Futterplatz. Kaye bemerkte sofort, dass Stella nicht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand. Sie war einfach nur dabei, saß seitlich am Rand und spielte Othemo, ein Spiel mit Karten, die einen Ton von sich gaben, wenn man fest darauf drückte. Sofern die Töne zusammenpassten oder eine Melodie ergaben, musste man sie ablegen, und wer sein Blatt zuerst los war, hatte gewonnen. Es war eines von Stellas Lieblingsspielen.

Mitch stand hinter Kaye. Ihre Tochter sah sie nicht sofort, sondern plauderte fröhlich mit den Zwillingen und einem Jungen.

»Ich hole sie«, sagte Mitch.

»Warte mal.« Stella wirkte so glücklich, dass Kaye bereit war, ein paar Minuten lang das Risiko einzugehen.

Dann blickte Stella auf, erhob sich und ließ die musikalischen Karten fallen. Sie drehte den Kopf und schnupperte.

Mitch sah, wie ein anderes Kind — ein Junge — durch den Vordereingang in den Garten kam. Er war ungefähr so alt wie Stella.

Auch Kaye bemerkte ihn und erkannte ihn sofort. Sie hörten eine Frau auf Spanisch hektisch rufen; Kaye wusste genau, was sie sagte und was es bedeutete.

»Wir müssen gehen«, sagte Mitch.

»Nein«, erwiderte Kaye und hielt ihn am Arm zurück. »Nur einen Augenblick. Bitte. Sieh doch mal!«

Stella und der Junge gingen aufeinander zu. Die anderen Kinder verstummten eines nach dem anderen. Der Junge stieß leise Seufzer aus, und sein Brustkorb hob und senkte sich, als sei er gelaufen. Dann ließ er ein wenig Spucke auf seinen Ärmel fallen, rieb sich damit im Gesicht und beugte sich nach vorn, um hinter Stellas Ohr zu schnuppern. Stella schnupperte hinter seinem Ohr, und sie fassten sich an den Händen.

»Ich bin Stella Nova«, sagte Stella. »Woher kommst du?«

Der kleine Junge lächelte nur, und sein Gesicht zuckte, wie Stella es noch nie gesehen hatte. Sie merkte, wie ihr eigenes Gesicht darauf reagierte. Das Blut schoss ihr in die Haut, und sie musste laut lachen — ein entzücktes, hohes Quieken. Der Junge duftete nach so vielem — nach seiner Familie, seinem Zuhause, dem Essen, das seine Mutter kochte, seinen Katzen. Stella beobachtete sein Gesicht und verstand ein wenig von dem, was er sagte. Er war so toll, dieser kleine Junge. Die Flecken auf der Haut verfärbten sich bei beiden in rasendem Tempo und fast wie durch Zufall. Sie sah, wie in den Pupillen des Jungen farbige Punkte auftauchten, strich mit den Fingern über seine Hände und betastete seine Haut, die zitternd reagierte.

Der Junge sprach gebrochenes Englisch und Spanisch gleichzeitig. Sein Mund bewegte sich so, wie Stella es kannte: Er bildete die Laute auf beiden Seiten seiner mit einer Furche ausgestatteten Zunge. Stella konnte leidlich Spanisch und versuchte zu antworten. Daraufhin hüpfte der Junge vor Begeisterung auf und ab: Er verstand sie! Normalerweise war es für Stella frustrierend, mit anderen Leuten zu reden, aber jetzt war es noch schlimmer, denn auf einmal wusste sie, was Reden wirklich bedeuten konnte.

Dann blickte sie zur Seite und sah Kaye und Mitch.

Im gleichen Augenblick bemerkte Kaye die Frau, die im Küchenfenster stand und telefonierte. Sie sah alles andere als fröhlich aus.

»Gehen wir«, sagte Mitch. Diesmal hatte Kaye nichts dagegen.


»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte Stella, die im Kindersitz auf der Rückbank des Chevy Lumina saß. Mitch hielt sich in südlicher Richtung.

»Vielleicht nach Mexiko«, erwiderte Kaye.

»Ich will mehr Kinder wie den Jungen kennen lernen«, erklärte Stella und schmollte heftig.

Kaye schloss die Augen. Sie sah die entsetzte Mutter des Jungen vor sich, die ihn von Stella weggerissen und Kaye hässliche Blicke zugeworfen hatte — eine Mutter, die ihr eigenes Kind gleichzeitig liebte und hasste. Es bestand keine Aussicht, dass die beiden sich noch einmal treffen konnten. Und die Frau im Fenster war so verängstigt gewesen, dass sie nicht einmal herausgekommen war, um mit ihr zu reden.

»Das wirst du auch«, erwiderte Kaye verträumt. »Das war sehr schön, mit dir und dem Jungen.«

»Ich weiß«, sagte Stella. »Das war einer wie ich.«

Kaye beugte sich über die Rückenlehne des Vordersitzes und sah ihre Tochter an. Ihre Augen blieben trocken — sie hatte schon allzu lange über diese Dinge nachgedacht. Aber Mitch wischte sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

»Warum müssen wir weg?«, wollte Stella wissen.

»Es ist grausam, sie von den anderen fernzuhalten«, sagte Kaye zu Mitch.

»Was sollen wir denn tun? Sie nach Iowa verfrachten? Ich liebe meine Tochter. Ich will ihr Vater sein und sie in der Familie haben. In einer normalen Familie.«

»Ich weiß«, sagte Kaye kühl. »Ich weiß.«

»Sag mal, Kaye, gibt es viele Kinder wie den Jungen?«, fragte Stella.

»Etwa hunderttausend«, erwiderte Kaye. »Das haben wir dir doch schon erzählt.«

»Ich würde gerne mit denen allen reden.«

»Das könnte sie wahrscheinlich sogar«, sagte Kaye und warf Mitch dabei ein Lächeln zu.

»Der Junge hat mir von seiner Katze erzählt«, berichtete Stella.

»Er hat zwei kleine Kätzchen. Und die Kinder haben mich gemocht, Kaye, Mama, die haben mich wirklich gemocht.«

»Ich weiß«, sagte Kaye. »Du warst auch sehr lieb zu ihnen.«

Sie war stolz auf ihre Tochter, und gleichzeitig war ihr schwer ums Herz.

»Fahren wir doch nach Iowa, Mitch«, schlug Stella vor.

»Heute nicht, mein Häschen.«

Dieser Highway führte durch die Wüste geradewegs nach Süden.

»Keine Sirenen«, bemerkte Mitch trocken.

Stella fragte: »Haben wir es wieder mal geschafft?«

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