Breit und träge glitt der Columbia River wie plattgewalzte polierte Jade zwischen den schwarzen Basaltwänden dahin.
Mitch bog von der Staatsstraße 14 ab, fuhr einen knappen Kilometer auf einem Erd- und Schotterweg zwischen Buschwerk und kleinen Bäumen hindurch und kam schließlich an ein verbogenes, rostiges Metallschild mit der Aufschrift EISENHÖHLE.
Nur wenige Meter vom Rand der Schlucht entfernt glänzten zwei alte Aluminiumwohnwagen in der Sonne. Um sie herum standen hölzerne Bänke und Tische, auf denen sich Jutesäcke und Grabwerkzeuge stapelten. Er parkte den Wagen am Straßenrand.
An seinem FilzStetson zerrte ein kühler Wind. Er griff mit einer Hand nach dem Hut, ging vom Auto zu der Felskante und blickte fünfzehn Meter tief auf Eileen Rippers Lager hinab.
Aus der Tür des am nächsten stehenden Wohnwagens trat eine kleine, junge Frau mit blonden Haaren, ausgefransten, verblichenen Jeans und einer braunen Lederjacke. In der feuchten Luft am Fluss stieg ihm sofort ihr Duft in die Nase: Opium, Trouble oder ein ähnliches Parfüm. Sie hatte eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit Tilde.
Die Frau blieb unter dem Vordach des Wagens stehen, trat dann vor und schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne.
»Mitch Rafelson?«, fragte sie.
»Genau der. Ist Eileen da unten?«
»Ja. Wissen Sie, es löst sich alles auf.«
»Seit wann?«
»Seit drei Tagen. Eileen hat sich wirklich Mühe gegeben, ihre Position zu vertreten, aber langfristig hat es nicht viel genützt.«
Mitch grinste verständnisvoll. »Das kenne ich«, sagte er.
»Die Frau von den Fünf Stämmen hat vorgestern ihre Sachen gepackt. Deshalb fand Eileen es jetzt in Ordnung, dass Sie herkommen. Es spielt niemand mehr verrückt, wenn Sie auftauchen.«
»Schön, wenn man so beliebt ist«, sagte Mitch und tippte sich an den Hut.
Die Frau lächelte. »Eileen ist am Boden zerstört. Machen Sie ihr ein bisschen Mut. Für mich sind Sie ein Held. Außer was diese Mumien angeht, vielleicht.«
»Wo ist sie?«
»Gleich unterhalb der Höhle.«
Oliver Merton saß im Schatten des größten Zeltdaches auf einem Klappstuhl. Er war etwa dreißig, hatte leuchtend rote Haare, eine kurze Himmelfahrtsnase und ein breites, blasses Gesicht, das jetzt den Ausdruck völliger, fast fanatischer Konzentration zeigte. Während er mit den beiden Zeigefingern die Tastatur seines Laptops bearbeitete, zog er die Lippen zurück.
Adler-Suchsystem, dachte Mitch, ein Autodidakt im Tippen. Prüfend betrachtete er die Kleidung des Mannes, die an einer Grabungsstätte eindeutig deplatziert wirkte: Tweedhose, rote Hosenträger, weißes LeinenBusinesshemd mit gestreiftem Kragen.
Merton blickte erst auf, als Mitch schon fast unter dem Zeltdach stand.
»Mitchell Rafelson! Wie schön!« Merton schob den Computer auf den Tisch, sprang auf und streckte ihm die Hand hin. »Verdammt düster hier. Eileen ist oben an der Böschung bei den Grabungen. Sie will Ihnen sicher guten Tag sagen. Gehen wir?«
Die sechs anderen Mitarbeiter, alles junge Praktikanten oder Doktoranden, blickten neugierig auf, als die beiden Männer an ihnen vorübergingen. Merton kletterte vor Mitch über die natürlichen Terrassen, die der Fluss in Jahrhunderten der Erosion geschaffen hatte. Zwanzig Meter unterhalb der Klippe, wo die alte, moderige Höhle eine frei liegende Basaltschicht unterbrach, machten sie eine Pause. Oberhalb des zutage tretenden Gesteins und östlich davon war eine verwitterte Gesteinsschicht abgestürzt; die großen Brocken verteilten sich über den ganzen Abhang bis zum Flussufer.
Eileen Ripper stand am Westrand des Abhanges vor einer mit Pfosten markierten Reihe exakt gegrabener, quadratischer Gruben, die mit einem topometrischen Gitternetz aus Drähten und Seilen versehen waren. Sie war Ende vierzig, klein und dunkel, mit tief liegenden, schwarzen Augen und einer schmalen Nase; auffällig schön waren ihre üppigen Lippen, die einen reizvollen Kontrast zu dem kurzen, ungebändigten Schopf aus graumelierten Haaren bildeten.
Auf Mertons Ruf hin drehte sie sich um. Sie lächelte aber nicht und rief auch nicht zurück, sondern setzte eine entschlossene Miene auf, stieg behutsam die Böschung hinunter und streckte Mitch die Hand hin. Er schüttelte sie energisch.
»Gestern früh sind die Radiokarbonbefunde gekommen«, sagte sie. »Sie sind dreizehntausend Jahre alt, plusminus fünfhundert … und wenn sie viel Lachs gegessen haben, sind sie zwölftausendfünfhundert Jahre alt. Aber die Leute von den Fünf Stämmen behaupten, die westliche Wissenschaft würde sie ihrer letzten Würde berauben. Ich dachte, ich könnte vernünftig mit ihnen reden.«
»Zumindest hast du dir Mühe gegeben«, sagte Mitch.
»Ich muss mich entschuldigen, dass ich dich so hart verurteilt habe, Mitch. Ich habe lange die Nerven behalten, obwohl es schon kleinere Anzeichen für Schwierigkeiten gab, und dann kommt diese Frau, Sue Champion … ich dachte, wir wären Freundinnen.
Sie berät die Stämme. Gestern kam sie hier mit zwei Männern an.
Die Männer waren so … so blasiert, Mitch. Wie kleine Jungen, von denen einer höher pissen kann als der andere. Und dann sagen sie mir, ich würde Befunde fälschen, um meine Lügen zu begründen. Sie sagen, sie hätten Recht und Gesetz auf ihrer Seite.
Unser alter Fluch, das NAGPRA.«
Die Abkürzung bedeutete Native American Graves Protection and Repatriation Act — Gesetz zum Schutz und zur Repatriierung der Gräber amerikanischer Ureinwohner. Mitch war mit seinen Vorschriften in allen Einzelheiten vertraut.
Merton stand auf der rutschigen Böschung, versuchte, nicht abzugleiten, und ließ kleine, scharfe Blicke zwischen ihnen hin- und herwandern.
»Was für Befunde hast du denn gefälscht?«, fragte Mitch leichthin.
»Mach’ keine Witze.« Aber Rippers Gesicht entspannte sich, und sie hielt Mitchs Hand zwischen den ihren. »Wir haben Kollagen aus den Knochen entnommen und nach Portland geschickt.
Dort haben sie eine DNAAnalyse gemacht. Unsere Knochen gehören zu einer anderen Population. Mit den heutigen Indianern sind sie überhaupt nicht verwandt, und zu der Mumie von Spirit Cave besteht nur eine entfernte Beziehung. Weiße, wenn wir diesen ungenauen Ausdruck verwenden wollen. Aber wohl nicht nordisch. Eher Ainu, glaube ich.«
»Das ist ja von historischer Bedeutung, Eileen«, sagte Mitch.
»Großartig. Herzlichen Glückwunsch!«
Nachdem Ripper einmal zu reden angefangen hatte, konnte sie offenbar nicht mehr aufhören. Sie gingen den Pfad hinunter zu den Zelten. »Wir können sie nicht einmal ansatzweise mit den heutigen Rassen vergleichen. Deshalb ist es so empörend! Wir lassen zu, dass unsere verdrehten Vorstellungen von Rasse und Identität die Wahrheit vernebeln. Die Bevölkerungsgruppen waren damals völlig anders. Aber die heutigen Indianer stammen nicht von den Menschen ab, zu denen unsere Skelette gehören. Vielleicht standen sie in Konkurrenz zu den Vorfahren der Indianer und haben verloren.«
»Die Indianer haben gewonnen?«, fragte Merton. »Darüber müssten sie sich doch eigentlich freuen.«
»Sie glauben, ich wollte sie politisch auseinander dividieren. Wie es wirklich war, interessiert sie nicht. Sie wollen ihre eigene kleine Traumwelt und scheißen auf die Wahrheit.«
»Wem sagst du das?«, fragte Mitch.
Ripper lächelte unter den Tränen der Enttäuschung und Erschöpfung. »Man hat den Fünf Stämmen geraten, sie sollten sich an das Bundesgericht in Seattle wenden, um die Skelette zu bekommen.«
»Wo sind die Knochen jetzt?«
»In Portland. Wir haben sie auf der Stelle verpackt und gestern abtransportiert.«
»Über die Staatsgrenze?«, fragte Mitch. »Das ist Kidnapping.«
»Besser als herumzusitzen und auf eine Horde Anwälte zu warten.« Sie schüttelte den Kopf, und Mitch legte ihr den Arm um die Schultern. »Ich wollte doch alles richtig machen, Mitch.« Sie wischte sich mit der staubigen Hand über die Wange, sodass Schmutzstreifen zurückblieben, und presste ein Lachen heraus.
»Jetzt sind sogar die Wikinger sauer auf uns!«
Die Wikinger — eine kleine Gruppe von Männern meist mittleren Alters, die sich selbst »Nordische Verehrer Odins in der Neuen Welt« nannten — waren Jahre zuvor auch zu Mitch gekommen, um ihre Zeremonien abzuhalten. Sie hatten gehofft, er könne ihre Behauptung beweisen, wonach Entdecker aus dem Norden vor Jahrtausenden große Teile Nordamerikas besiedelt hatten. Mitch mit seinem Hang zur Philosophie hatte ihnen gestattet, über den noch in der Erde liegenden Knochen des Pasco-Menschen ein Ritual zu feiern, aber letztlich musste er sie enttäuschen. Der Pasco-Menschen war in Wirklichkeit durch und durch Indianer, ein enger Verwandter der Südlichen Nadene.
Auch nachdem Ripper ihre Skelette untersucht hatte, waren die OdinVerehrer enttäuscht wieder abgezogen. In einer Welt, in der die Selbstgerechtigkeit leicht Risse erhalten konnte, wollte niemand gern die Wahrheit hören.
Als das Tageslicht schwand, brachte Merton eine Flasche Sekt, vakuumverpackten Lachs, frisches Brot und Käse zum Vorschein.
Ein paar von Rippers Studenten schichteten ein großes Lagerfeuer auf, das am Ufer knackte und knisterte, als Mitch und Eileen auf ihre gegenseitige Verrücktheit tranken.
»Woher haben Sie das Essen?«, fragte Ripper, als Merton die abgeschabten Plastikteller aus dem Lager auf dem rohen Kiefernholztisch unter dem größten Zeltdach verteilte.
»Vom Flughafen«, sagte Merton. »Der einzige Ort, an dem ich schnell etwas besorgen konnte. Brot, Käse, Fisch, Wein … was will man mehr? Allerdings könnte ich ein gutes Glas Bier gebrauchen.«
»Ich habe Coors im Wohnwagen«, erklärte ein stämmiger Praktikant mit schütterem Haar.
»Gräberfrühstück«, sagte Mitch zustimmend.
»Verschonen Sie mich damit«, erwiderte Merton. »Und bitte entschuldigen Sie, wenn ich überall nachgraben will. Jeder hat etwas zu berichten.« Ripper reichte ihm einen Plastikbecher mit Sekt. »Über Rasse und Zeit und Wanderungsbewegungen und was es heißt, ein Mensch zu sein. Wer möchte als Erster?«
Mitch wusste, dass er nur ein paar Sekunden schweigen musste, damit Ripper den Anfang machte. Als sie über die drei Skelette und die Lokalpolitik sprach, machte Merton sich Notizen. Eineinhalb Stunden später wurde es empfindlich kalt, und sie rückten näher ans Feuer.
»Die AltaiStämme haben etwas dagegen, dass Russen ihre Toten ausgraben«, sagte Merton. »Überall setzen sich die eingeborenen Volksgruppen zur Wehr. Ein Schlag auf die Finger der unterdrückerischen Kolonialherren. Glauben Sie, dass die Sprecher der Neandertaler schon dabei sind, in Innsbruck ihre Wachtposten aufzustellen?«
»Niemand will ein Neandertaler sein«, warf Mitch trocken ein, »außer mir.« Er wandte sich zu Eileen. »Ich habe von ihnen geträumt. Von meiner kleinen Kernfamilie.«
»Wirklich?« Eileen beugte sich verblüfft nach vorn.
»Ich habe geträumt, dass ihr Volk auf einem großen Floß auf einem See gelebt hat.«
»Vor fünfzehntausend Jahren?«, fragte Merton und hob eine Augenbraue.
Mitch hörte aus dem Tonfall des Journalisten etwas heraus und sah ihn argwöhnisch an. »Vermuten Sie das,«, fragte er, »oder haben die dort eine Datierung?«
»Keine, die sie an die Öffentlichkeit bringen«, sagte Merton und rümpfte die Nase. »Aber ich habe einen Kontaktmann an der Universität … und der sagt, sie hätten sich definitiv auf fünfzehntausend Jahre geeinigt. Das heißt« — er lächelte Ripper an — »wenn sie nicht gerade sehr viel Fisch gegessen haben.«
»Was sonst noch?«
Merton gestikulierte dramatisch. »Boxkämpfe«, sagte er. »Wütende Streitereien hinter verschlossenen Türen. Ihre Mumien widersprechen allem, was man bisher in Anthropologie und Archäologie wusste. Ein paar in der Arbeitsgruppe behaupten, sie seien keine Neandertaler im strengen Sinn; ein Wissenschaftler bezeichnet sie als neue Unterart Homo sapiens alpinensis. Ein anderer schwört Stein und Bein, sie seien grazile, späte Neandertaler, die in großen Gruppen lebten, allmählich weniger stämmig und robust wurden und mehr wie Sie und ich aussahen. Und was den Säugling angeht, suchen sie verzweifelt nach einer Ausrede.«
Mitch senkte den Kopf. Sie empfinden es nicht so wie ich. Sie wissen es nicht so wie ich. Dann lehnte er sich zurück und verdrängte seine Gefühle. Er musste sich ein gewisses Maß an Objektivität bewahren.
Merton wandte sich an Mitch. »Haben Sie das Baby gesehen?«
Mettons Augen verengten sich, als Mitch sich ruckartig in seinem Stuhl aufrichtete. »Nicht genau«, sagte er. »Ich habe nur gedacht, als sie sagten, es sei ein Jetztmenschenkind, dass …«
»Könnte es sein, dass die Neandertalermerkmale in den Zügen eines Säuglings noch nicht ausgeprägt sind?«, wollte Merton wissen.
»Nein«, sagte Mitch und fügte augenzwinkernd hinzu: »Jedenfalls glaube ich es nicht.«
»Das glaube ich auch nicht«, stimmte Ripper zu. Die Studenten waren eng herangerückt, um nichts zu verpassen. Das Feuer knackte, zischte und streckte lange gelbe Arme aus, die nach dem kalten, lautlosen Himmel griffen. Der Fluss klatschte auf die Uferkiesel, es klang so, als lecke ein mechanischer Spielzeughund an einer Hand. Mitch spürte, wie der Sekt ihn nach der langen, anstrengenden Autofahrt allmählich beruhigte.
»Nun ja, es mag wenig plausibel klingen, aber es ist immer noch einfacher als einen genetischen Zusammenhang zu bestreiten«, sagte Merton. »Die Leute in Innsbruck müssen mehr oder weniger einräumen, dass die Frau und der Säugling verwandt sind. Aber es sind recht schwer wiegende Anomalien vorhanden, die niemand erklären kann. Ich hatte gehofft, Mitchell würde mir die Erleuchtung verschaffen.«
Es blieb Mitch erspart, Unkenntnis vorzutäuschen, denn vom oberen Rand der Klippe hörte man die kräftige Stimme einer Frau.
»Eileen? Bist du da? Hier ist Sue Champion.«
»Mist«, sagte Ripper, »ich dachte, sie wäre längst wieder in Kumash.« Sie legte die Hände um den Mund und rief nach oben:
»Wir sind hier unten, Sue, und schon halb betrunken. Willst du zu uns kommen?«
Ein Student lief mit einer Taschenlampe den schmalen Weg die Klippe hinauf. Sue Champion kam hinter ihm herunter zum Zelt.
»Hübsches Feuer«, bemerkte sie. Die schlanke, fast schon dünne und über einen Meter achtzig große Frau, deren lange schwarze Haare in einem Zopf über die Schulter ihrer braunen Cordjacke fielen, wirkte klug, chic und ein wenig befangen. Sie schien gern zu lächeln, aber jetzt war ihr Gesicht von Müdigkeit gezeichnet.
Mitch blickte zu Ripper hinüber und sah das Unbehagen in ihrem Gesichtsausdruck.
»Ich bin hier, um zu sagen, dass es mir Leid tut«, erklärte Champion.
»Es tut uns allen Leid«, erwiderte Ripper.
»Seid ihr den ganzen Abend hier draußen gewesen? Es ist kalt.«
»Wir sind pflichtbewusst.«
Champion umrundete das Zeltdach und trat nahe ans Feuer.
»Mein Büro hat deinen Anruf wegen der Testergebnisse entgegengenommen. Der Vorsitzende des Treuhändergremiums nimmt dir den Befund nicht ab.«
»Daran kann ich nichts ändern«, sagte Ripper. »Warum bis du plötzlich abgehauen und hast mir deinen Anwalt auf den Hals gehetzt? Ich dachte, wir hätten eine Abmachung — im Falle, dass es sich um Indianer handelt, wollten wir eine grundlegende Untersuchung mit einem Minimum an Eingriffen vornehmen und sie anschließend den Fünf Stämmen übergeben.«
»Wir haben in unserer Wachsamkeit nachgelassen. Nach dem Durcheinander wegen des Pasco-Menschen waren wir erschöpft.
Es war falsch.« Wieder sah sie Mitch an. »Ich kenne Sie.«
»Mitch Rafelson«, sagte er und hielt ihr die Hand hin.
Champion nahm sie nicht. »Sie haben uns ganz schön auf Trab gehalten, Mitch Rafelson.«
»Das gleiche Gefühl habe ich auch«, sagte Mitch.
Champion zuckte die Achseln. »Unsere Leute haben entgegen ihren tiefsten Empfindungen nachgegeben. Wir fühlten uns überfahren. Wir brauchen die Leute in Olympia, und das letzte Mal haben wir sie verärgert. Die Treuhänder haben mich hierher geschickt, weil ich eine Ausbildung in Anthropologie habe. Ich habe meine Sache nicht besonders gut gemacht. Jetzt sind alle sauer.«
»Können wir noch irgendetwas außergerichtlich tun?«, fragte Ripper.
»Der Vorsitzende hat mir gesagt, Wissen sei es nicht wert, dass man dafür die Toten stört. Du hättest den Schmerz bei der Versammlung sehen sollen, als ich die Untersuchungen beschrieben habe.«
»Ich dachte, wir hätten das ganze Verfahren erklärt«, sagte Ripper.
»Überall stört ihr die Toten. Wir fordern nur, dass ihr unsere Toten in Ruhe lasst.«
Die Frauen starrten einander traurig an.
»Es sind nicht eure Toten, Sue«, sagte Ripper mit Tränen in den Augen. »Sie gehören nicht zu eurem Volk.«
»Der Rat ist der Ansicht, dass das NAGPRA trotzdem gilt.«
Ripper hob die Hand. »Dann können wir nichts anderes tun, als noch mehr Geld für Anwälte auszugeben.«
»Nein. Diesmal gewinnt ihr«, sagte Champion. »Wir haben jetzt andere Sorgen. Viele unserer jungen Mütter haben die Herodes-Grippe.« Sie fuhr mit einer Hand über das Zeltdach. »Manche von uns dachten, es würde sich auf die großen Städte beschränken, auf die Weißen, aber wir haben uns geirrt.«
Im flackernden Feuerschein funkelten Menons Augen wie zudringliche kleine Kameralinsen.
»Das tut mir Leid, Sue«, sagte Ripper. »Meine Schwester hat auch die Herodes-Grippe.« Sie stand auf und legte Champion die Hand auf die Schulter. »Bleib’ noch ein bisschen. Wir haben heißen Kaffee und Kakao.«
»Nein, danke. Der Rückweg ist weit. Wir werden uns eine Zeit lang nicht mit den Toten aufhalten können. Wir müssen uns um die Lebenden kümmern.« In ihren Gesichtszügen ging eine kleine Veränderung vor. »Manche, die zuhören können, zum Beispiel mein Vater und meine Großmutter — die sagen, du hättest etwas Interessantes herausgefunden.«
»Grüße sie von mir, Sue«, sagte Ripper.
Champion musterte Mitch von oben bis unten. »Menschen kommen und gehen. Wir alle kommen und gehen. Anthropologen wissen das.«
»Allerdings«, sagte Mitch.
»Es den anderen zu erklären, wird schwierig werden«, sagte Champion. »Ich werde euch mitteilen, welche Entscheidungen unsere Leute wegen der Krankheit getroffen haben und ob sie ein Mittel dagegen kennen. Vielleicht können wir deiner Schwester helfen.«
»Danke«, sagte Ripper.
Champion sah sich in der Runde unter dem Zeltdach um, nickte energisch und zeigte dann mit ein paar kleineren Kopfbewegungen an, dass sie alles gesagt hatte und gehen wollte. Von dem stämmigen Praktikanten mit der Taschenlampe begleitet, stieg sie den Pfad zum Klippenrand hoch.
»Außergewöhnlich«, sagte Merton, dessen Augen immer noch funkelten. »Großartige Einsichten. Vielleicht sogar die Weisheit der eingeborenen Volksgruppen.«
»Nehmen Sie es nicht zu wörtlich«, sagte Ripper. »Sue ist ein lieber Mensch, aber was eigentlich los ist, weiß sie ebenso wenig wie meine Schwester.« Dann wandte sie sich zu Mitch. »Du liebe Güte, du siehst krank aus«, sagte sie.
Mitch fühlte sich tatsächlich ein wenig mulmig.
»Den gleichen Gesichtsausdruck habe ich bei Kabinettsmitgliedern gesehen«, warf Merton leise ein. »So sehen sie aus, wenn sie mit allzu vielen Geheimnissen vollgestopft sind.«
Kaye nahm ihre kleine Tasche vom Rücksitz des Taxis und zog ihre Kreditkarte durch das Lesegerät auf der Fahrerseite. Dann verrenkte sie sich den Hals, um Uptown Helix zu betrachten, das neueste Wohnhochhaus von Baltimore — dreißig Stockwerke, aufgetürmt über zwei breiten Vierecken mit Läden und Theatern, und alles im Schatten des BromoSeltzer Tower.
Auf dem Bürgersteig lagen Matschbrocken, Reste des morgendlichen Schneegestöbers. Kaye schien es, als würde der Winter ewig dauern.
Cross hatte ihr gesagt, die Wohnung in der zwanzigsten Etage sei vollständig möbliert, man werde ihre Habseligkeiten hinüberbringen, im Kühlschrank und in der Speisekammer werde sie etwas zu essen vorfinden, und unten habe sie in mehreren Restaurants ein Stammgästekonto: alles, was sie sich wünschte und brauchte, ein Zuhause nur drei Blocks von der AmericolFirmenzentrale entfernt.
Kaye meldete sich beim Pförtner der Bewohnerlobby an. Er lächelte, wie Diener reiche Leute anlächeln, und gab ihr einen Umschlag mit dem Schlüssel. »Es gehört mir nicht«, sagte sie.
»Geht mich nicht das Geringste an, Ma’am«, erwiderte er mit der gleichen fröhlichen Unterwürfigkeit.
Während sie mit dem eleganten Aufzug aus Stahl und Glas von der Halle mit den Geschäften zu den Wohnetagen hinauf fuhr, trommelte sie mit den Fingern auf den Haltegriff. Sie war allein in der Kabine. Ich bin beschützt, ich bin versorgt, ich bin mit einer Besprechung nach der anderen beschäftigt, ich habe keine Zeit zum Nachdenken. Ich frage mich, wer ich eigentlich noch bin.
Sie bezweifelte, dass ein Wissenschaftler sich schon einmal so hektisch gefühlt hatte wie sie. Durch die Unterhaltung mit Christopher Dicken an den CDC war sie auf ein Seitengleis geraten, das mit der eigentlichen Entwicklung einer SHEVATherapie recht wenig zu tun hatte. Hundert verschiedene Aspekte der Forschungsarbeiten, die sie seit ihrer Doktorandenzeit geleistet hatte, waren plötzlich an die Oberfläche ihres Denkens gestiegen, wirbelten durcheinander wie die Schwimmer in einem Wasserballett und bildeten wunderbare Muster. Diese Muster hatten nichts mit Krankheit und Tod zu tun, aber sehr viel mit den Kreisläufen des menschlichen Lebens — oder überhaupt jeden Lebens.
Ihr blieben nur knapp zwei Wochen: Dann würden Cross’ Wissenschaftler den ersten potenziellen Impfstoff vorstellen, einen von — nach der letzten Zählung — zwölf, die im ganzen Land bei Americol und anderswo entwickelt wurden. Kaye hatte unterschätzt, wie schnell man bei Americol arbeiten konnte — und sie hatte überschätzt, inwieweit man sie auf dem Laufenden halten würde.
Noch immer bin ich nichts als eine Galionsfigur, dachte sie.
In der Zwischenzeit musste sie herausfinden, was sich eigentlich abspielte — was SHEVA tatsächlich war. Was mit Mrs. Hamilton und den anderen Frauen in der NIHKlinik letztlich geschehen würde.
Auf der zwanzigsten Etage stieg sie aus, fand die Wohnung Nummer 2011, steckte den elektronischen Schlüssel ins Schloss und öffnete die schwere Tür. Zur Begrüßung wehte ihr ein Schwall sauberer, kühler Luft entgegen, die nach neuen Teppichen und Farbe, aber auch nach etwas BlumigSüßem roch. Sanfte Musik setzte ein: Debussy — an den Namen des Stückes konnte sie sich nicht erinnern, aber es gefiel ihr sehr.
Auf dem niedrigen Regal im Flur stand ein üppiger Strauß in einer Kristallvase: mehrere Dutzend gelbe Rosen.
Die Wohnung, ausgestattet mit eleganten hölzernen Accessoires, hübsch mit zwei Sofas und einem Sessel in Wildleder und altgoldenem Stoff möbliert, wirkte hell und heiter. Debussy inbegriffen.
Sie ließ die Tasche auf eine Couch fallen und ging in die Küche.
Edelstahlkühlschrank, Herd, Geschirrspülmaschine, Arbeitsplatten aus grauem Granit mit rosa Marmoreinfassung, teure, edelsteinartige Niedervoltlampen, die den Raum mit kleinen, diamantenen Leuchtfeuern füllten …
»Verdammt noch mal, Marge«, sagte Kaye halblaut. Sie brachte die Tasche ins Schlafzimmer, zog den Reißverschluss auf, holte Röcke, Blusen und ein Kostüm heraus, öffnete den Kleiderschrank und starrte die Garderobe an. Hätte sie nicht schon zwei von Marges attraktiven jungen Begleitern kennen gelernt, sie wäre jetzt sicher gewesen, dass ihre Chefin nicht nur beruflich ein Auge auf sie geworfen hatte. Schnell sah sie die Kostüme, Blazer, Seidenund Leinenblusen durch, und dann fiel ihr Blick nach unten auf das Schuhgestell: mindestens acht Paare für alle Gelegenheiten — sogar Wanderstiefel. Jetzt reichte es ihr.
Kaye setzte sich auf die Bettkante und gab ein tiefes, zitterndes Seufzen von sich. Irgendwie wuchs ihr gesellschaftlich und wissenschaftlich alles über den Kopf. Sie wandte sich um und sah die WhistlerReproduktionen über der Ahornkommode, die wunderschön in messingbeschlagenes Ebenholz gerahmte orientalische Schriftrolle, die über dem Bett hing.
»Kleines Luxusweibchen in der großen Stadt.« Sie spürte, wie ihr Gesicht sich vor Ärger verzog.
Das Handy in ihrer Handtasche klingelte. Sie sprang auf, ging ins Wohnzimmer, holte es heraus, meldete sich.
»Kaye, hier ist Judith.«
»Du hattest Recht«, sagte Kaye unvermittelt.
»Wie bitte?«
»Du hattest Recht.«
»Ich habe immer Recht, meine Liebe. Das weißt du doch.« Judith machte eine wirkungsvolle Pause, und jetzt wusste Kaye, dass sie etwas Wichtiges zu sagen hatte. »Du hast mich nach Transposonaktivität in meinen SHEVAinfizierten Leberzellen gefragt.«
Kaye spürte, wie ihr Rückgrat steif wurde. Das war der Schuss ins gar nicht so Dunkle, den sie zwei Tage nach ihrem Gespräch mit Dicken abgefeuert hatte. Sie hatte über den Lehrbüchern gebrütet und sich bei einem Dutzend Artikel aus sechs verschiedenen Fachzeitschriften erholt. Sie war ihre Notizbücher durchgegangen, in denen sie kleine, verrückte Augenblicksspekulationen festgehalten hatte.
Sie und Saul hatten zu den Biologen gehört, nach deren Vermutung die Transposons — bewegliche DNAAbschnitte im Genom — weit mehr sind als nur egoistische Gene. In einem Notizbuch hatte sie volle zwölf Seiten über die Möglichkeit geschrieben, dass es sich in Wirklichkeit um sehr wichtige Regulatoren des Phänotyps handelt, die nicht egoistisch, sondern altruistisch sind und unter bestimmten Umständen den Weg weisen könnten, auf dem Proteine zu lebendem Gewebe werden. Die vielleicht den Weg, auf dem Proteine eine lebende Pflanze oder ein Tier entstehen lassen, verändern. Retrotransposons ähnelten stark den Retroviren — und waren deshalb die genetische Verbindung zu SHEVA.
Zusammen konnten sie durchaus die Gehilfen der Evolution sein.
»Kaye?«
»Augenblick«, sagte Kaye, »lass’ mich erstmal tief Luft holen.«
»Das solltest du wirklich tun, liebe ehemalige Studentin Kaye Lang. Die Transposonaktivität in unseren SHEVAinfizierten Leberzellen ist geringfügig erhöht. Sie treiben sich herum, ohne dass Wirkungen zu erkennen wären. Das ist interessant. Aber wir haben uns nicht auf die Leberzellen beschränkt, sondern im Auftrag der Taskforce auch embryonale Stammzellen untersucht.«
Embryonale Stammzellen können sich zu jedem beliebigen Gewebe entwickeln, ganz ähnlich wie die ersten Zellen, die sich in einem Fetus vermehren.
»Wir haben sie sozusagen veranlasst, sich wie befruchtete menschliche Eizellen zu verhalten«, sagte Kushner. »Sie können nicht zu Feten heranwachsen, aber bitte sag’ der FDA trotzdem nichts davon. Seit SHEVA hüpfen die Transposons darin herum wie Käfer auf einem heißen Rost. Sie sind in mindestens zwanzig Chromosomen aktiv. Wäre es eine zufällige Durchmischung, müsste die Zelle sterben. Aber die Zelle überlebt. Sie ist gesund wie immer.«
»Ist es eine gesteuerte Aktivität?«
»Sie wird durch irgendeinen Teil von SHEVA ausgelöst. Ich vermute, durch etwas im LPG — dem großen Proteinkomplex. Die Zelle reagiert, als wäre sie außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt.«
»Was bedeutet das deiner Meinung nach, Judith?«
»SHEVA hat etwas mit uns vor. Es will unser Genom verändern, vielleicht ganz grundlegend.«
»Aber warum?« Kaye grinste erwartungsvoll. Sie war überzeugt, dass Judith den unausweichlichen Zusammenhang herstellen würde.
»Harmlos kann eine solche Aktivität nicht sein, Kaye.« Kayes Lächeln fiel in sich zusammen. »Aber die Zelle überlebt.«
»Ja«, sagte Kushner, »aber die Babys nicht, soweit wir bisher wissen. Es sind zu viele Veränderungen auf einmal. Ich warte schon seit Jahren darauf, dass die Natur auf unsere ganze Umweltscheiße reagiert, dass sie uns sagt, wir sollten mit Überbevölkerung und Ressourcenausbeutung Schluss machen, wir sollten den Mund halten und keinen Unsinn mehr anrichten und einfach sterben. Apoptose auf der Ebene der Spezies. Ich denke, das hier könnte die letzte Warnung sein — ein echter Artenkiller.«
»Du gibst das auch an Augustine weiter?«
»Nicht direkt, aber es wird ihm klar werden.« Kaye warf kurz einen verblüfften Blick auf das Telefon, bedankte sich bei Judith und sagte, sie würde später zurückrufen. Ihre Hände zitterten.
Also keine Evolution. Mutter Natur hatte ihr Urteil gesprochen: Die Menschen waren eine bösartige Wucherung, ein Krebsgeschwür.
Einen schrecklichen Augenblick lang erschien dieser Gedanke sinnvoller als alles, worüber sie mit Dicken gesprochen hatte. Aber wie stand es dann mit den neuen Babys, mit den Kindern aus den Eizellen, die von den Zwischentöchtern abgegeben wurden? Waren sie genetisch geschädigt, sodass sie zwar scheinbar gesund geboren wurden, aber bald darauf starben? Oder würden sie wie die Zwischentöchter einfach schon im ersten Schwangerschaftsdrittel abgestoßen werden?
Kaye blickte durch die breiten, bis zum Boden reichenden Fenster auf die Stadt Baltimore. Auf den feuchten Dächern und auf dem Straßenasphalt glitzerte die Sonne des späten Vormittags. Sie malte sich aus, wie jede Schwangerschaft zu einer ebenso vergeblichen zweiten Schwangerschaft führte, wie Gebärmütter endlos mit entsetzlich entstellten Feten im ersten Schwangerschaftsdrittel blockiert waren.
Die Fortpflanzung der Menschen kommt zum Stillstand.
Wenn Judith Kushner Recht hatte, war dies das Totengeläut für die ganze Menschheit.
Marge Cross stand, vom Publikum aus gesehen, links auf dem Podium; Kaye saß in einer Reihe mit sechs Wissenschaftlern und war bereit, Fragen über die öffentliche Erklärung zu beantworten.
Der Saal war mit vierhundertfünfzig Journalisten bis auf den letzten Platz besetzt. Laura Nilson, die PRChefin von Americol für den Osten der USA, eine junge, ehrgeizige Schwarze, zupfte am Saum ihrer eleganten, olivfarbenen Kostümjacke und nahm dann die Fragen entgegen.
Als Erster war der Medizin- und Wissenschaftsreporter von CNN an der Reihe. »Ich würde meine Frage gern unmittelbar an Dr. Jackson richten.«
Robert Jackson, Leiter des SHEVAImpfstoffprojekts bei Americol, hob die Hand.
»Dr. Jackson, wenn dieses Virus so viele Millionen Jahre für seine Evolution gebraucht hat, wie kann Americol dann schon nach dreimonatiger Forschung die Erprobung eines Impfstoffes ankündigen? Sind Sie klüger als Mutter Natur?«
Für kurze Zeit erhob sich im Saal eine Mischung aus Gelächter und geflüsterten Kommentaren. Man konnte die Spannung mit den Händen greifen. Die meisten jungen Frauen trugen Gesichtsmasken, obwohl sich diese Vorsichtsmaßnahme als unwirksam erwiesen hatte. Andere lutschten besondere PfefferminzKnoblauchpastillen, die angeblich die Ansteckung mit SHEVA verhindern sollten. Der charakteristische Geruch drang bis zu Kaye auf die Bühne.
Jackson ging zum Mikrofon. Der Fünfzigjährige sah aus wie ein rüstiger Rockmusiker: auf eine lässige Art attraktiv, mit oberflächlich gebügeltem Anzug und einer ungebändigten Frisur, die an den Schläfen grau wurde.
»Wir haben mit unseren Arbeiten schon einige Jahre vor der Herodes-Grippe begonnen«, sagte er. »Für die HERVSequenzen haben wir uns schon immer interessiert, denn wie Sie schon angedeutet haben, steckt darin eine ganze Menge Klugheit.« Er legte eine wirkungsvolle Pause ein, gönnte dem Publikum ein leichtes Lächeln und zeigte so seine Stärke, indem er Bewunderung für den Feind bekundete. »Vor allem aber haben wir in den letzten zwanzig Jahren gelernt, auf welche Weise die meisten Krankheiten ihr schmutziges Werk tun, wie die Erreger aufgebaut sind, wo man sie packen kann. Wir haben leere SHEVAPartikel konstruiert, die Versagerquote des Retrovirus damit auf hundert Prozent gesteigert und ein ungefährliches Antigen hergestellt. Aber streng genommen sind die Partikel nicht leer. Wir beladen sie mit einem Ribozym, einer Ribonucleinsäure mit Enzymaktivität. Das Ribozym dockt innerhalb der infizierten Zelle an mehrere noch nicht zusammengefügte Bruchstücke der SHEVARNA an und spaltet sie. SHEVA wird also zum Transportsystem für Moleküle, die seine eigene krankheitserzeugende Aktivität hemmen.«
»Sir …«, versuchte der CNN-Reporter zu unterbrechen. »Ich bin mit der Antwort auf Ihre Frage noch nicht fertig«, sagte Jackson. »Sie war nämlich wirklich gut.« Das Publikum kicherte. »Bisher hatten wir das Problem, dass der menschliche Organismus kaum auf das SHEVAAntigen anspricht. Den Durchbruch haben wir erzielt, als wir herausfanden, wie wir die Immunantwort verstärken können. Dazu heften wir Glycoproteine anderer Krankheitserreger an, gegen die der Organismus automatisch eine starke Abwehrreaktion in Gang setzt.«
Der CNN-Reporter wollte eine weitere Frage anschließen, aber Nilson war schon beim Nächsten auf ihrer langen Liste. Der junge Korrespondent der OnlineRedaktion von SciTrax erhob sich.
»Noch einmal an Dr. Jackson. Wissen Sie, warum wir so anfällig für SHEVA sind?«
»Nicht alle Menschen sind anfällig. Bei Männern beobachten wir eine starke Immunreaktion auf SHEVAPartikel, die sie nicht selbst erzeugen. Das ist der Grund für den Verlauf der Herodes-Grippe bei Männern — eine kurze Angelegenheit von etwa achtundvierzig Stunden, wenn überhaupt. Frauen dagegen sind fast durchweg anfällig für die Infektion.«
»Ja, aber warum gerade Frauen?«
»Wir gehen davon aus, dass SHEVA eine unglaublich langfristige Strategie verfolgt, in der Größenordnung von Jahrtausenden.
Es dürfte das erste bekannte Virus sein, das sich mit seiner eigenen Fortpflanzung nicht auf das Wachstum von Individuen stützt, sondern auf die Zunahme von Populationen. Eine starke Immunantwort auszulösen, würde seinen Zielen entgegenstehen, und deshalb taucht SHEVA nur dann auf, wenn eine Population unter Stress zu stehen scheint oder wenn ein anderer Auslöser hinzukommt, den wir noch nicht kennen.«
Als Nächster war der Wissenschaftskorrespondent der New York Times an der Reihe. »Dr. Pong und Dr. Subramanian, Sie haben sich auf die Erforschung der Herodes-Grippe in Südostasien spezialisiert, wo bisher über mehr als hunderttausend Fälle berichtet wurde. In Indonesien hat es sogar schon Unruhen gegeben. Letzte Woche kursierte ein Gerücht, wonach es sich um ein anderes Provirus handelt …«
»Völlig falsch«, sagte Subramanian mit einem höflichen Lächeln.
»SHEVA ist bemerkenswert einheitlich. Darf ich Sie ein wenig korrigieren? Als Provirus bezeichnet man VirusDNA, die in das genetische Material des Menschen eingebaut ist. Sobald sie ausgeprägt wird, handelt es sich einfach um ein Virus oder Retrovirus, in diesem Fall allerdings um ein sehr interessantes.«
Kaye war erstaunt, dass Subramanian sich ausschließlich auf die wissenschaftliche Seite konzentrierte; ihr klang das herausstechende, Besorgnis erregende Wort »Unruhen« in den Ohren.
»Ja, aber meine nächste Frage lautet: Warum entsteht bei Männern eine starke Immunantwort gegen die Viren anderer Männer, aber nicht gegen ihre eigenen, wenn die Glycoproteine der Virushülle, die Antigene, so einfach und unveränderlich sind, wie Sie in Ihrer Pressemitteilung behaupten?«
»Eine sehr gute Frage«, erwiderte Dr. Pong. »Haben wir Zeit für ein ganztägiges Seminar?«
Schwaches Gelächter. Pong fuhr fort: »Nach unserer derzeitigen Kenntnis beginnt die Reaktion beim Mann, nachdem das Virus in die Zelle eingedrungen ist. Mindestens ein Gen von SHEVA enthält kleine Abweichungen oder Mutationen, die zur Produktion von Antigenen an der Oberfläche bestimmter Zellen führen, bevor die eigentliche Immunreaktion einsetzt, und damit stellt sich der Organismus darauf ein …«
Kaye hörte nur mit halber Aufmerksamkeit zu. Immer wieder musste sie an Mrs. Hamilton und die anderen Frauen in der NIHKlinik denken. Abschaltung der menschlichen Fortpflanzung. Auf jeden Fehlschlag würden heftige Reaktionen folgen; auf den Wissenschaftlern ruhte eine gewaltige, ständig zunehmende Last.
»Oliver Merton vom Economist. Frage an Dr. Lang.« Kaye blickte auf und sah einen jungen, rothaarigen Mann im Tweedjackett, der das drahtlose Mikrofon in der Hand hatte. »Nachdem jetzt alle Gene auf den verschiedenen Chromosomen, die SHEVA codieren, von Mr. Richard Bragg patentiert wurden …« Merton sah auf seine Notizen. »Aus Berkeley, Kalifornien, Patent Nummer 8.564.094, erteilt von der USBehörde für Patente und Warenzeichen am 27.
Februar, also gerade gestern — wie will eine Firma da noch einen Impfstoff entwickeln, ohne Lizenzgebühren zu bezahlen?«
Nilson beugte sich zum Mikrofon auf dem Podium. »Ein solches Patent gibt es nicht, Mr. Merton.«
»Oh doch«, erwiderte Merton mit einem nervösen Zucken um die Nase, »und ich hatte gehofft, Dr. Lang könnte die Verbindungen zwischen ihrem verstorbenen Mann und Richard Bragg erläutern, ebenso wie die Frage, ob das zu ihrer derzeitigen Stellung bei Americol und den CDC passt.«
Kaye war wie vor den Kopf gestoßen und brachte kein Wort heraus.
Merton, voller Stolz auf die Verwirrung, die er gestiftet hatte, grinste.
Kaye ging hinter Jackson in den grünen Salon, gefolgt von Pong, Subramanian und den anderen Wissenschaftlern. Cross saß mit ernster Miene mitten auf einem großen blauen Sofa. Im Halbkreis um die Couch standen vier ihrer Staranwälte.
»Was zum Teufel hat das zu bedeuten?«, wollte Jackson wissen, wobei er mit einer weit ausholenden Armbewegung in Richtung des Podiums deutete.
»Der kleine Kläffer da draußen hat Recht«, sagte Cross. »Richard Bragg hat irgendjemanden beim Patentamt davon überzeugt, dass er die SHEVAGene früher als alle anderen sequenziert hatte. Den Patentantrag hat er schon letztes Jahr eingereicht.«
Kaye nahm das Fax mit dem Patent von Cross. Auf der Liste der Erfinder stand Saul Madsen; zu den Begünstigten gehörten EcoBacter und AKS Industries — die Firma, die EcoBacter aufgekauft und liquidiert hatte.
»Kaye, sagen Sie es mir jetzt, und bitte ehrlich«, sagte Cross.
»Haben Sie davon gewusst?«
»Nichts«, erwiderte Kaye. »Marge, ich weiß überhaupt nicht, was ich sagen soll. Ich habe Genorte ermittelt, aber ich habe die Gene nicht sequenziert. Saul hat den Namen Richard Bragg nie erwähnt.«
»Was bedeutet das für unsere Arbeit?«, tobte Jackson. »Lang, wie konnten Sie über so etwas nicht Bescheid wissen?«
»Wir sind damit noch nicht fertig«, sagte Cross. »Harold?« Sie sah den ihr am nächsten stehenden grauhaarigen Mann mit seinem makellosen Nadelstreifenanzug an.
»Wir werden es anfechten und uns dabei auf Genetron gegen Amgen berufen, ›Zufallspatente auf Retrogene im Mausgenom‹«, sagte der Anwalt. »Geben Sie uns einen Tag, dann haben wir ein Dutzend weitere Begründungen für die Aufhebung.« Er wandte sich an Kaye und fragte: »Bekommt AKS oder irgendeine Tochterfirma Bundesmittel?«
»EcoBacter hatte eine kleine staatliche Subvention beantragt«, erwiderte Kaye. »Sie wurde auch bewilligt, aber nie ausgezahlt.«
»Wir könnten die NIH veranlassen, sich auf das BayhDoleGesetz zu berufen. Danach stehen dem Staat Patentrechte für alle mit Steuergeldern unterstützten Projekte zu«, grübelte der Anwalt erfreut.
»Und was ist, wenn wir damit nicht durchkommen?«, unterbrach ihn Cross mit tiefer, drohender Stimme.
»Möglicherweise können wir nachweisen, dass Ms. Lang ein Interesse an dem Patent hat. Gesetzwidrige Übergehung eines Ersterfinders.«
Cross schlug mit der Faust auf die Sofakissen. »Also sind wir optimistisch«, sagte sie. »Kaye, meine Liebe, Sie sehen aus wie der Ochs vorm Berg.«
Kaye hob abwehrend die Hände. »Marge, ich schwöre Ihnen, ich habe nichts …«
»Ich möchte gerne wissen, warum meine eigenen Leute das nicht ausgegraben haben. Ich muss sofort mit Augustine und Shawbeck reden.« Sie wandte sich an die Anwälte. »Seht mal nach, wo Bragg sonst noch die Finger drin hatte. Eine Katastrophe kommt selten allein.«
»Das war eine sehr kurze Reise«, sagte Dicken und warf sowohl den Ausdruck eines Berichts als auch eine Diskette auf Augustines Schreibtisch. »Die WHOLeute in Afrika haben mir gesagt, sie würden die Sache auf ihre Weise handhaben, schönen Dank. Sie sagen, man könne hier nicht mit der gleichen Kooperation rechnen wie bei früheren Untersuchungen. Angeblich haben sie in ganz Afrika nur hundertfünfzig bestätigte Fälle, und deshalb sehen sie keinen Anlass zur Panik. Immerhin waren sie so freundlich, mir ein paar Gewebeproben zu geben. Ich habe sie von Kapstadt hergeschickt.«
»Sind schon angekommen«, sagte Augustine. »Seltsam. Wenn wir ihren Zahlen glauben, ist Afrika viel weniger betroffen als Asien, Europa oder Nordamerika.« Er sah besorgt aus — nicht wütend, sondern traurig. Dicken hatte Augustine noch nie so mitgenommen erlebt.
»Wohin führt das alles, Christopher?«
»Der Impfstoff?«, fragte Dicken.
»Ich meine Sie, mich, die Taskforce. Bis Ende Mai haben wir allein in Nordamerika über eine Million infizierte Frauen. Der Sicherheitsberater des Präsidenten hat Soziologen zu sich bestellt, die ihm sagen sollen, wie die Öffentlichkeit reagieren wird. Der Druck wird von Woche zu Woche größer. Ich komme gerade von einer Besprechung mit der Leiterin der Gesundheitsbehörde und dem Vizepräsidenten. Nur der Vize, Christopher. Für den Präsidenten ist die Taskforce zur Belastung geworden. Kaye Langs kleiner Skandal kam vollkommen unerwartet. Das einzig Lustige daran war, dass Marge Cross im Zimmer herumgeeiert ist wie ein entgleister Güterzug. In der Presse werden wir runtergemacht — inkompetente Stümperei in einem Zeitalter der Wunder, das ist der allgemeine Tenor.«
»Kein Wunder«, sagte Dicken und setzte sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch.
»Sie kennen Lang besser als ich, Christopher. Wie konnte sie das zulassen?«
»Ich hatte den Eindruck, die NIH können das Patent rückgängig machen. Irgendeine Formalie, die Unmöglichkeit, eine natürliche Ressource auszubeuten.«
»Ja — aber mittlerweile lässt dieser Idiot Bragg uns aussehen wie richtige Esel. War Lang so dumm und hat jedes Papier unterschrieben, das ihr Mann ihr unter die Nase gehalten hat?«
»Sie hat unterschrieben?«
»Sie hat unterschrieben«, sagte Augustine. »Das ist sonnenklar.
Sie hat die Kontrolle über alle Entdeckungen, die sich auf das ursprüngliche endogene menschliche Retrovirus stützen, an Saul Madsen und beliebige Partner übertragen.«
»Die Partner sind nicht festgelegt?«
»Die sind nicht festgelegt.«
»Dann hat sie sich eigentlich nicht strafbar gemacht, oder?«, fragte Dicken.
»Ich arbeite nicht gern mit Idioten. Sie ist mir ganz buchstäblich mit Americol in die Quere gekommen, und jetzt macht sie die Taskforce lächerlich. Wen wundert es da noch, dass der Präsident mich nicht empfängt?«
»Das ist doch nur vorübergehend.« Dicken kaute an einem Fingernagel, hörte aber damit auf, als Augustine aufblickte.
»Cross sagt, wir sollen mit der Erprobung weitermachen und Braggs Klage auf uns zukommen lassen. Der Meinung bin ich auch. Aber unsere Beziehung zu Lang werde ich vorläufig begraben.«
»Sie könnte immer noch nützlich sein.«
»Dann soll sie sich anonym nützlich machen.«
»Heißt das, ich soll mich von ihr fernhalten?«
»Nein«, sagte Augustine. »Geben Sie ihr das Gefühl, dass zwischen Ihnen alles in Butter ist. Dass sie gebraucht und auf dem Laufenden gehalten wird. Ich will nicht, dass sie sich an die Presse wendet — außer um sich über die Behandlung durch Cross zu beklagen. Und jetzt … die nächste kleine Unerfreulichkeit.«
Augustine griff in seine Schreibtischschublade und holte ein glänzendes Schwarzweißfoto heraus. »Ich tue so etwas nicht gern, Christopher, aber ich sehe ein, warum es getan wird.«
»Was?« Dicken fühlte sich wie ein kleiner Junge, der gleich ausgeschimpft werden soll.
»Shawbeck hat das FBI beauftragt, unsere wichtigsten Leute zu überwachen.«
Dicken beugte sich nach vorn. Er hatte schon seit langem den Instinkt des Beamten entwickelt, der seine Reaktionen im Zaum halten muss. »Warum?«
»Weil davon die Rede ist, den nationalen Notstand auszurufen und das Kriegsrecht zu verhängen. Die Entscheidung ist bisher nicht gefallen … Es kann noch Monate dauern … Aber unter diesen Umständen müssen wir alle eine blütenweiße Weste haben.
Wir sind die heilenden Engel, Christopher. Die Öffentlichkeit verlässt sich auf uns. Fehler sind nicht erlaubt.«
Augustine gab ihm das Foto. Es zeigte ihn vor »Jessies Puma« in Washington, D. C. »Wenn man Sie erkannt hätte, wäre es sehr peinlich geworden.«
Dicken errötete vor schlechtem Gewissen und Wut gleichermaßen. »Ich war da mal, vor Monaten«, sagte er. »Ich bin eine Viertelstunde dringeblieben und dann wieder gegangen.«
»Sie sind mit einem Mädchen ins Hinterzimmer gegangen«, erwiderte Augustine.
»Sie hatte eine Gesichtsmaske auf und hat mich wie einen Aussätzigen behandelt!«, sagte Dicken mit mehr Erregung, als er beabsichtigt hatte. Sein Instinkt schmolz dahin. »Ich mochte sie nicht mal anfassen.«
»Ich mag diesen Mist genauso wenig wie Sie, Christopher«, sagte Augustine unbewegt, »aber das ist nur der Anfang. Wir müssen uns alle auf eine ganz schön heftige öffentliche Durchleuchtung gefasst machen.«
»Dann werde ich also observiert und überwacht, Mark? Das FBI wird mich nach meinem Adressbuch fragen?«
Augustine glaubte darauf keine Antwort geben zu müssen.
Dicken stand auf und warf das Foto auf den Schreibtisch. »Und was kommt als Nächstes? Soll ich Ihnen die Namen von allen Personen sagen, mit denen ich mich treffe, und was ich mit ihnen tue?«
»Ja«, sagte Augustine leise.
Dicken hielt mitten in seinem Redeschwall inne und spürte, dass die Wut ihn verließ wie ein leichtes Rülpsen. Die Folgerungen waren so umfassend und bedrohlich, dass er plötzlich nichts anderes mehr empfand als nackte Angst.
»Der Impfstoff hat frühestens in vier Monaten die klinische Prüfung hinter sich, selbst im beschleunigten Verfahren für Notfälle.
Shawbeck und der Vizepräsident tragen heute Abend im Weißen Haus eine neue Politik vor. Wir werden Quarantäne empfehlen.
Und um das durchzusetzen, müssen wir höchstwahrscheinlich eine Art Kriegsrecht verhängen.«
Dicken setzte sich wieder. »Unglaublich«, sagte er.
»Sagen Sie nicht, Sie hätten noch nicht daran gedacht«, erwiderte Augustine. Sein Gesicht war grau vor Anspannung.
»Diese Art von Fantasie habe ich nicht«, antwortete Dicken bitter.
Augustine drehte sich um und sah aus dem Fenster. »Bald ist Frühling. Veronika, der Lenz ist da und so. Genau der richtige Zeitpunkt, um die Geschlechtertrennung anzuordnen. Alle Frauen im gebärfähigen Alter, alle Männer. Das Finanzministerium kann sich damit amüsieren, die Verringerung des Bruttoinlandsproduktes auszurechnen, die so etwas bringt.«
Einen langen Augenblick saßen sie sich schweigend gegenüber.
»Warum sind Sie mit Kaye Lang in die Offensive gegangen?«, fragte Dicken.
»Weil ich weiß, woran ich mit ihr bin. Das andere … Berufen Sie sich nicht auf mich, Christopher. Ich sehe ein, dass es notwendig ist, aber verdammt noch mal, ich habe keine Ahnung, wie wir es politisch überleben sollen.« Er holte ein anderes Foto aus der Schublade und hielt es so, dass Dicken es sehen konnte. Es zeigte einen Mann und eine Frau vor einem alten Sandsteinhaus auf einer Veranda, auf der nur eine einzige Deckenlampe brannte. Die beiden küssten sich. Das Gesicht des Mannes war nicht zu erkennen, aber er war wie Augustine gekleidet und hatte auch seine Statur.
»Nur damit Sie nicht so ein schlechtes Gewissen haben. Sie ist mit einem gerade gewählten Kongressabgeordneten verheiratet«, sagte Augustine. »Wir haben Schluss gemacht. Es ist Zeit, dass wir alle erwachsen werden.«
Dicken stand vor der Zentrale der Taskforce im Gebäude 51 und fühlte sich ein wenig krank. Kriegsrecht. Geschlechtertrennung.
Er zog die Schultern ein und ging zum Parkplatz; dabei mied er die Fugen im Straßenpflaster.
Im Auto fand er auf dem Handy eine Nachricht vor. Er wählte und rief sie ab. Eine unbekannte Stimme versuchte, eine echte Abneigung gegen aufgezeichnete Nachrichten zu überwinden, und sagte nach mehreren ungeschickten Versuchen schließlich, sie hätten gemeinsame Bekannte — um zwei oder drei Ecken — und möglicherweise auch gemeinsame Interessen.
»Mein Name ist Mitch Rafelson. Ich bin zurzeit in Seattle, aber ich will bald an die Ostküste fliegen und mich mit mehreren Leuten treffen. Wenn Sie sich für … frühere Vorfälle mit SHEVA interessieren, für Beispiele aus sehr alter Zeit, nehmen Sie bitte mit mir Kontakt auf.«
Dicken schloss die Augen und schüttelte den Kopf. Unglaublich.
Es war, als wüssten alle über seine abwegige Hypothese Bescheid.
Er notierte sich die Telefonnummer auf einem kleinen Block und starrte sie spöttisch an. Der Name des Mannes kam ihm bekannt vor. Er hielt ihn noch einmal auf dem Notizblock fest.
Dann kurbelte er das Fenster herunter und sog tief die frische Luft ein. Es wurde immer wärmer, und die Wolken über Bethesda lösten sich auf. Der Winter würde bald vorüber sein.
Gegen besseres Wissen, gegen jede Vernunft, tippte er Kaye Langs Nummer ein. Sie war nicht zu Hause.
»Ich hoffe, du kannst gut mit den großen Mädchen tanzen«, murmelte Dicken für sich und ließ das Auto an. »Und Cross ist nun wirklich ein sehr großes Mädchen.«
Der Anwalt hieß Charles Wothering. Er sprach reines BostonEnglisch, war mit zerknitterter Eleganz gekleidet und trug eine grob gestrickte Wollmütze sowie einen langen, dunkelroten Schal.
Kaye bot ihm Kaffee an, den er auch nahm.
»Sehr hübsch«, meinte er und sah sich in der Wohnung um. »Sie haben Geschmack.«
»Marge hat es mir eingerichtet«, erwiderte Kaye.
Wothering lächelte. »Marge hat innenarchitektonisch überhaupt keinen Geschmack. Aber Geld wirkt manchmal Wunder, finden Sie nicht?«
»Keine Ausflüchte«, sagte Kaye freundlich. »Warum hat sie Sie hergeschickt? Um … unsere Vereinbarungen zu ergänzen?«
»Keineswegs«, sagte Wothering. »Ihre Eltern sind doch tot, oder?«
»Ja.«
»Ich bin nur ein mittelmäßiger Anwalt, Ms. Lang — darf ich Kaye sagen?«
Kaye nickte.
»Mittelmäßig, was das Juristische angeht, aber Marge schätzt mich wegen meiner Menschenkenntnis. Ob Sie es glauben oder nicht: Marge kann Menschen nicht gut einschätzen. Viel Kraftmeierei, aber mehrere gescheiterte Ehen — ich habe vor langer Zeit mitgeholfen, das auseinander zu dröseln und so zu erledigen, dass sie nie wieder etwas davon zu hören bekam. Sie ist der Ansicht, Sie könnten meine Hilfe brauchen.«
»Wieso?«, fragte Kaye.
Wothering setzte sich auf das Sofa und nahm drei Löffel Zucker aus der Schale auf dem Serviertablett. Sorgfältig rührte er um.
»Haben Sie Saul Madsen geliebt?«
»Ja.«
»Und wie fühlen Sie sich jetzt?«
Kaye dachte darüber nach, wich dabei aber Wotherings stetigem Blick nicht aus. »Jetzt ist mir klar, wie viel Saul mir verheimlicht hat, nur damit wir unseren gemeinsamen Traum weiterträumen können.«
»Wie viel hat Saul geistig zu Ihrer Arbeit beigetragen?«
»Kommt darauf an, welche Arbeit Sie meinen.«
»Ihre Arbeiten mit den endogenen Retroviren.«
»Nur wenig. Das war nicht sein Spezialgebiet.«
»Was war denn sein Spezialgebiet?«
»Er hat sich gern mit der Hefe verglichen.«
»Wie bitte?«
»Er hat das Ferment beigesteuert. Von mir stammte der Zucker.«
Wothering lachte. »Hat er Sie angeregt, intellektuell meine ich?«
»Er hat mich herausgefordert.«
»Wie ein Lehrer, wie ein Vater oder … wie ein Partner?«
»Wie ein Partner«, erwiderte Kaye. »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen, Mr. Wothering.«
»Sie haben sich mit Marge verbündet, weil Sie sich nicht befähigt fühlten, allein mit Augustine und seinen Leuten zurecht zu kommen, stimmt’s?«
Kaye starrte ihn an.
Wothering hob eine seiner buschigen Augenbrauen.
»Nicht ganz«, erwiderte sie. Ihre Augen brannten, weil sie nicht zwinkerte. Wothering blinzelte um so häufiger und setzte die Kaffeetasse ab.
»Ich will es kurz machen. Marge hat mich hergeschickt, damit ich Sie auf jede nur erdenkliche Weise von Saul Madsen löse. Ich brauche Ihre Genehmigung, um EcoBacter, AKS und Ihre Verträge mit der Taskforce gründlich zu durchleuchten.«
»Ist das nötig? Ich habe jetzt sicher keine Leichen mehr im Keller, Mr. Wothering.«
»Wir können nicht vorsichtig genug sein, Kaye. Sie wissen doch, dass die ganze Sache sehr ernst wird. Jede Peinlichkeit kann schwere politische Auswirkungen haben.«
»Ich weiß«, sagte Kaye. »Ich habe ja schon gesagt, dass es mir Leid tut.«
Wothering streckte die Hand aus, machte ein besänftigendes Gesicht und strich mit den Fingern durch die Luft. Zu anderen Zeiten hätte er ihr mit väterlichem Gesicht über das Knie gestrichen. »Wir werden das in Ordnung bringen«. Seine Augen nahmen einen harten Ausdruck an. »Ich möchte Ihr wachsendes persönliches Verantwortungsgefühl nicht durch die automatische persönliche Betreuung eines guten Anwalts verdrängen«, sagte er.
»Sie sind eine erwachsene Frau, Kaye. Allerdings werde ich die Fäden entwirren, und dann … schneide ich sie durch. Dann sind Sie niemandem mehr etwas schuldig.«
Kaye biss sich auf die Lippen. »Ich möchte etwas klar stellen, Mr. Wothering. Mein Mann war krank. Er war psychisch krank.
Was er getan oder nicht getan hat, wirft kein schlechtes Licht auf mich — und auch nicht auf ihn. Er hat sich bemüht, sein inneres Gleichgewicht aufrecht zu halten, mit seinem Leben und seiner Arbeit klarzukommen.«
»Ich verstehe, Ms. Lang.«
»Saul war mir auf seine Weise eine große Hilfe, aber ich wende mich gegen die unausgesprochene Annahme, ich könne nicht selbst meine Frau stehen.«
»Eine solche Annahme lag nicht in meiner Absicht.«
»Na gut«, sagte Kaye, als ob sie sich durch ein kompliziertes Minenfeld der Reizbarkeit tastete, das als Wut zu explodieren drohte.
»Ich muss nur eines wissen: Hält Marge Cross mich noch für nützlich?«
Wothering lächelte und legte den Kopf auf eine Art schief, mit der er geschickt ihre Verwirrung zur Kenntnis nahm und gleichzeitig die Notwendigkeit ausdrückte, seine Tätigkeit fortzusetzen.
»Marge gibt nie mehr, als sie nimmt, das werden Sie sicher schon bald erfahren. Können Sie mir diesen Impfstoff erklären, Kaye?«
»Es ist eine kombinierte Antigenhülle, die ein maßgeschneidertes Ribozym trägt. Ribonucleinsäure mit Enzymeigenschaften. Es heftet sich an einen Teil des genetischen Codes von SHEVA und spaltet ihn. Bricht ihm das Genick. Das Virus kann sich nicht mehr vermehren.«
Wothering schüttelte verblüfft den Kopf. »Wissenschaftlich großartig«, sagte er, »aber für die meisten Menschen unverständlich. Was glauben Sie, wie wird Marge die Frauen auf der ganzen Welt dazu bringen, es anzuwenden?«
»Reklame und Öffentlichkeitsarbeit, nehme ich an. Sie sagt, sie wolle es praktisch verschenken.«
»Wem werden die Patientinnen vertrauen, Kaye? Sie sind eine intelligente Frau, die von ihrem Mann getäuscht und im Unklaren gelassen wurde. Frauen spüren diese Ungerechtigkeit im Bauch.
Glauben Sie mir, Marge wird alles tun, damit Sie im Team bleiben. Ihre Story wird immer besser.«
Schweißgebadet und mit einem Schrei fuhr Mitch im Bett hoch.
Die Worte sprudelten in gutturalem Blubbern aus ihm heraus, obwohl ihm klar wurde, dass er wach war. Er saß, die Beine noch in den Laken verheddert, auf einer Seite der Matratze und zitterte.
»Verrückt«, sagte er. »Ich bin verrückt. Verrückt auf das da.« Er hatte wieder von den Neandertalern geträumt. Dieses Mal hatte er immer wieder den Blickwinkel des Mannes eingenommen — eine flüchtige Art der Freiheit, die ihn sofort in ganz eindeutige, unerfreuliche Gefühle gestürzt hatte — und sich dann wieder darüber erhoben, um ein Sammelsurium von Ereignissen zu beobachten.
Am Rand des Dorfes hatte sich eine Menschenmenge gebildet — diesmal nicht auf einem See, sondern auf einer Lichtung, die von dichtem Urwald umgeben war. Sie hatten spitze, im Feuer gehärtete Stöcke in Richtung der Frau geschwungen, und sogar an ihren Namen konnte er sich fast noch erinnern — Naliaa oder Mali.
»Jean Auel, ich komme«, murmelte er, während er seine Füße aus dem Gewurstel der Bettdecken befreite. »Mowgli vom Stamm der Steine rettet seine Frau. Du lieber Gott.«
Er ging in die Küche und holte sich ein Glas Wasser. Er hatte mit einem Virus zu kämpfen — nicht mit SHEVA, sondern mit einer Erkältung, da war er sich angesichts seines derzeitigen SingleDaseins ziemlich sicher. Sein Mund war trocken und geschwollen, und die Nase lief. Die Erkältung hatte er sich eine Woche zuvor auf seinem Ausflug zur Eisenhöhle geholt. Vielleicht hatte Merton ihn angesteckt. Er hatte den britischen Journalisten zum Flughafen gebracht, weil er nach Maryland wollte. Das Wasser schmeckte entsetzlich, aber es reinigte den Mund. Er blickte zum Broadway und dem Postamt, beide jetzt fast menschenleer.
Ein spätwinterlicher Schneesturm fegte kleine kristallene Flocken über die Straßen, und das orangefarbene Licht der NatriumdampfStraßenlampen verwandelte den aufgehäuften Schnee in Berge aus Gold.
»Sie vertreiben uns vom See und aus dem Dorf«, murmelte er.
»Wir müssen selbst für uns sorgen. Ein paar Hitzköpfe wollten uns verfolgen und uns vielleicht umbringen. Wir …«
Er schauderte. Die Gefühle waren so unmittelbar und echt, dass er sie nicht einfach abschütteln konnte. Angst, Wut, und noch etwas anderes … eine Art hilfloser Liebe. Er spürte sein Gesicht.
Von ihren Gesichtern hatte sich eine Art Haut gelöst, kleine Masken. Das Schandmal für ihr Verbrechen.
»Liebe Shirley MacLaine«, sagte er und drückte die Stirn gegen das kühle Glas der Fensterscheibe, »ich bin das Medium für Höhlenmenschen, die nicht in Höhlen leben. Hast du einen Rat für mich?«
Er blickte auf die Uhr am Videorecorder, der wackelig auf dem kleinen Fernseher stand. Es war fünf Uhr morgens. In Atlanta musste es acht sein. Er würde es noch einmal mit dieser Telefonnummer versuchen; anschließend würde er sich mit seinem reparierten Laptop einwählen und eine EMail schicken.
Er betrachtete sich im Badezimmerspiegel. Wirre Haare, ein verschwitztes, fettiges Gesicht, Zweitagebart, ein geripptes TShirt und Unterhose. »Ein richtiger Landstreicher«, sagte er.
Dann fing er wieder einmal mit dem Großreinemachen an: Er schnäuzte sich die Nase und putzte seine Zähne.
Um drei Uhr morgens war Christopher Dicken wieder in seinem kleinen Haus am Rand von Atlanta. Bis zwei hatte er in seinem Büro bei den CDC gearbeitet und für Augustine ein paar Unterlagen über die Ausbreitung von SHEVA in Afrika vorbereitet. Jetzt lag er schon seit einer Stunde wach und fragte sich, wie die Welt wohl in einem halben Jahr aussehen würde. Schließlich schlief er ein, aber dann weckte ihn, scheinbar nur wenige Augenblicke später, das Summen seines Handys. Er setzte sich in dem breiten Bett auf, das früher seinen Eltern gehört hatte, wusste für kurze Zeit nicht, wo er eigentlich war, gelangte dann zu dem Schluss, dass er sich nicht im Hilton Kapstadt befand, und schaltete das Licht ein.
Durch die Rollläden fiel bereits das Morgenlicht. Er schaffte es, beim vierten Läuten das Handy aus der Manteltasche im Schrank zu ziehen und sich zu melden.
»Ist da Dr. Christopher Dicken?«
»Christopher, jaaa …« Er sah auf die Uhr. Es war Viertel nach acht. Er hatte nur zwei Stunden geschlafen und fühlte sich mit Sicherheit schlechter, als wenn er sich überhaupt nicht hingelegt hätte.
»Mein Name ist Mitch Rafelson.«
Dieses Mal erinnerte sich Dicken an den Namen und seinen Zusammenhang. »Ach, tatsächlich?«, sagte er. »Wo sind Sie, Mr.
Rafelson?«
»In Seattle.«
»Dann ist es bei Ihnen ja noch früher. Ich muss noch ein bisschen schlafen.«
»Augenblick bitte«, sagte Mitch. »Tut mir Leid, wenn ich Sie geweckt habe. Ist meine Nachricht angekommen?«
»Ich habe irgendeine Nachricht bekommen«, erwiderte Dicken.
»Wir müssen miteinander reden.«
»Hören Sie, wenn Sie Mitch Rafelson sind, ich meine der Mitch Rafelson, muss ich mit Ihnen ungefähr so dringend reden wie mit …« Er wollte einen witzigen Vergleich anstellen, aber sein Geist spielte nicht mit. »Ich muss nicht mit Ihnen sprechen.«
»Das war deutlich … Aber bitte hören Sie trotzdem zu. Sie waren auf der ganzen Welt hinter SHEVA her, stimmt’s?«
»Ja«, sagte Dicken und gähnte. »Wenn ich daran denke, kann ich kaum schlafen.«
»Mir geht es genauso«, sagte Mitch. »Ihre Leichen im Kaukasus waren im SHEVATest positiv. Meine Mumien … aus den Alpen … die Mumien in Innsbruck sind ebenfalls SHEVApositiv.«
Dicken drückte das Handy dichter ans Ohr. »Woher wissen Sie das?«
»Ich habe Laborbefunde von der University of Washington. Ich muss Ihnen zeigen, was ich weiß, Ihnen und allen anderen, die der Sache gegenüber aufgeschlossen sind.«
»In der Sache ist niemand aufgeschlossen«, erwiderte Dicken.
»Woher haben Sie meine Telefonnummer?«
»Dr. Wendell Packer.«
»Kenne ich Packer?«
»Sie arbeiten mit einer Bekannten von ihm zusammen. Renée Sondak.«
Dicken kratzte sich mit dem Fingernagel an einem Schneidezahn und überlegte sehr ernsthaft, ob er auflegen sollte. Sein Handy benutzte zwar die digitale Verschlüsselung, aber wer es darauf anlegte, konnte das Gespräch mithören. Der Gedanke ließ ihn vor Wut erröten. Alles geriet außer Kontrolle. Niemand hatte mehr den Überblick, und das würde auch nicht besser werden, wenn er nur so tat, als ob er mitspielte.
»Ich bin ziemlich allein«, sagte Mitch in das Schweigen hinein, »und ich brauche jemanden, der mir sagt, dass ich nicht völlig verrückt bin.«
»Ja«, erwiderte Dicken, »das Gefühl kenne ich.« Er verzog das Gesicht und stampfte mit dem Fuß auf den Boden, weil er wusste, dass diese Sache ihm noch mehr Schwierigkeiten bereiten würde als alle Windmühlen, gegen die er bisher gekämpft hatte. Dann sagte er: »Sprechen Sie weiter, Mitch.«
Der Name der internationalen Tagung, der in schwarzen Kunststoffbuchstaben auf der Ankündigungstafel des Konferenzzentrums stand, verursachte bei Dicken einen kurzen Schauer der Erregung — kurz und dringend notwendig. Was die gute alte Arbeitszufriedenheit betraf: Da hatte ihn in den letzten Monaten kaum etwas sonderlich stimuliert, aber der Titel der Konferenz schaffte es mühelos:
KONTROLLE DER VIRALEN UMWELT:
NEUE WEGE ZUR BEKÄMPFUNG VON VIRUSERKRANKUNGEN
Der Titel war weder übertrieben optimistisch, noch entbehrte er jeder Grundlage. In ein paar Jahren würde die Welt vielleicht keinen Virusjäger wie Christopher Dicken mehr brauchen.
Nur standen sie alle vor dem gleichen Problem: In Zeiten der Krankheit können ein paar Jahre sehr lang sein.
Dicken trat aus dem Schatten des Vordaches über dem Eingang und genoss die strahlende Sonne auf dem Bürgersteig. So warmes Wetter hatte er seit Kapstadt nicht mehr erlebt, und es gab ihm einen heftigen Energieschub. In Atlanta wurde es endlich warm, aber den Osten hatte die Kälte noch fest im Griff — in den Straßen von Baltimore und Bethesda lag Schnee.
Mark Augustine war schon da; er wohnte im Gästehaus der Regierung, weit weg von der Mehrzahl der fünftausend erwarteten Teilnehmer, von denen die meisten die Hotels am Meer füllten.
Dicken hatte seine Tagungsunterlagen — ein dickes, spiralgebundenes Buch mit einer BegleitDVDROM — bereits heute Morgen in Empfang genommen, um sich einen ersten Eindruck vom Ablauf zu verschaffen.
Morgen früh sollte Marge Cross einen Vortrag über Grundsätzliches halten. Dicken würde an fünf Podiumsdiskussionen teilnehmen, von denen zwei sich mit SHEVA befassten. Kaye Lang sollte in einer davon sowie in sieben weiteren ebenfalls anwesend sein und außerdem im Plenum der Forschungsgruppe zur weltweiten Ausrottung der Retroviren, die im Rahmen der Konferenz tagte, einen Vortrag halten.
Die Presse pries den RibozymImpfstoff von Americol bereits als wichtigen Durchbruch. In der PetriSchale machte er einen guten, ja sogar sehr guten Eindruck, aber die Erprobung an Menschen hatte noch nicht einmal begonnen. Augustine wurde von Shawbeck stark unter Druck gesetzt, Shawbeck stand unter starkem Druck der Regierung, und alle fassten Cross nur mit spitzen Fingern an.
Dicken spürte, dass acht verschiedene Katastrophen in der Luft lagen.
Von Mitch Rafelson hatte er schon seit ein paar Tagen nichts mehr gehört, aber er nahm an, dass der Anthropologe bereits eingetroffen war. Sie hatten sich noch nicht persönlich kennen gelernt, aber die Verschwörung lief. Kaye hatte sich bereit erklärt, heute Abend oder morgen zu ihnen zu stoßen und mit ihnen zu reden, je nachdem, wann Cross’ Leute sie nach einer Reihe von PublicRelationsInterviews freigeben würden.
Sie mussten einen Ort abseits aller neugierigen Blicke finden.
Dicken war der Ansicht, dass man sich dazu am besten ins Zentrum des Geschehens begab, und hatte zu diesem Zweck eine zweite Tasche mit leerem Tagungsanhänger und Programmheft mitgebracht — nur »Gast der CDC« stand darauf.
Kaye ging durch die belebte Halle und ließ die Blicke nervös von einem Gesicht zum anderen wandern. Sie fühlte sich wie eine Spionin in einem schlechten Film, die ihre wahren Gefühle und erst recht ihre Ansichten verbergen muss — allerdings wusste sie im Augenblick auch selbst kaum, was sie denken sollte. Sie war fast den ganzen Nachmittag oben in der Suite — oder besser gesagt der Etage — von Marge Cross gewesen und hatte sich mit männlichen und weiblichen Abgesandten der hundertprozentigen Tochterfirmen, Professoren der University of California in San Diego und dem Bürgermeister der Stadt getroffen.
Marge hatte sie beiseite genommen und ihr für das Ende der Tagung noch wichtigere Persönlichkeiten in Aussicht gestellt.
»Immer schön locker bleiben und strahlen«, hatte sie gesagt. »Lassen Sie sich von der Tagung nicht zermürben.«
Kaye fühlte sich wie eine Schaufensterpuppe. Es war ihr alles andere als angenehm.
Um halb sechs fuhr sie mit dem Aufzug ins Erdgeschoss und stieg in den Pendelbus zum Eröffnungsempfang. Die von Americol gesponserte Veranstaltung fand im Zoo von San Diego statt.
Als sie vor dem Zooeingang aus dem Bus stieg, sog sie den Duft von Jasmin und die erdige Feuchte der abendlichen Rasenbewässerung ein. Vor dem Kassenhäuschen stand eine lange Schlange. Sie stellte sich an einem Seiteneingang an und zeigte dem Wächter ihre Einladung.
Vor dem Eingang marschierten vier schwarz gekleidete Frauen mit Transparenten auf und ab. Auf einem der Spruchbänder stand: UNSER KÖRPER, UNSER SCHICKSAL: RETTET UNSERE KINDER.
Drinnen herrschte warmes, magisches Zwielicht. Kaye hatte seit über einem Jahr nichts gehabt, was man als Urlaub hätte bezeichnen können; beim letzten Mal war Saul noch dabei gewesen. Seitdem hatte es nur Arbeit und Kummer gegeben, manchmal auch beides zusammen.
Eine Mitarbeiterin des Zoos übernahm eine Gruppe der AmericolGäste und machte mit ihnen eine kurze Besichtigungsrunde.
Kaye betrachtete kurz die rosa Flamingos, die durch ihren Teich wateten. Sie bewunderte vier hundertjährige Gelbhaubenkakadus, darunter Ramses, das derzeitige Maskottchen des Zoos, der die abziehenden Massen der Tagesbesucher mit schläfriger Gleichgültigkeit betrachtete. Anschließend brachte die Führerin alle zu einem Pavillon in einem von Palmen umgebenen Hof.
Dort spielte eine mittelmäßige Band beliebte Hits aus den Vierzigerjahren, während die Besucher sich Essen auf Pappteller luden und an den Tischen Platz nahmen.
Kaye blieb an einem Büffettisch mit Obst und Gemüse stehen, nahm sich eine großzügige Portion Käse mit Cherrytomaten, Blumenkohl und eingelegten Champignons und bestellte sich an der nicht gesponserten Bar ein Glas Weißwein.
Als sie das Geld für den Wein aus dem Portemonnaie nahm, bemerkte sie aus dem Augenwinkel Christopher Dicken. Er hatte einen großen, schäbig aussehenden Mann im Schlepptau, der eine Jeansjacke und verblichene graue Jeans anhatte und eine abgeschabte Ledertasche unter dem Arm trug. Kaye holte tief Luft, verstaute das Wechselgeld und wandte sich gerade rechtzeitig um, sodass sie Dickens verschwörerischen Blick auffangen konnte. Zur Antwort legte sie den Kopf verstohlen ein wenig schief.
Kaye musste kichern, als Dicken seinen Begleiter am Ärmel zupfte. Wie zufällig schlenderten sie aus dem geschlossenen Innenhof hinaus. Der Zoo war fast leer. »Ich fühle mich richtig gemein«, sagte sie. Sie hatte immer noch ihr Weinglas in der Hand, aber es war ihr gelungen, den Teller loszuwerden. »Was glauben wir eigentlich, was wir hier tun?«
Mitchs Lächeln wirkte wenig überzeugend. Seine Augen, jungenhaft und traurig zugleich, verwirrten sie. Der kleinere, stämmige Dicken wirkte direkter und zugänglicher, und deshalb konzentrierte sie sich auf ihn. Er hatte eine Einkaufstüte dabei und zog daraus schwungvoll einen zusammengefalteten Plan des größten Zoos der Welt hervor.
»Wahrscheinlich sind wir hier, um die Menschheit zu retten«, sagte Dicken. »Da sind kleine Gemeinheiten gerechtfertigt.«
»Mist«, sagte Kaye, »ich dachte, es wäre etwas Vernünftigeres.
Ob uns hier jemand hört?«
Dicken machte eine ausladende Handbewegung in Richtung des im spanischen Stil mit Rundbögen erbauten Reptilienhauses, als schwenke er einen Zauberstab. Auf dem Zoogelände befanden sich nur noch ein paar versprengte Touristen. »Die Luft ist rein«, sagte er.
»Ich meine es ernst, Christopher«, gab Kaye zu bedenken.
»Wenn das FBI die Komodowarane verwanzt oder seine Leute in Hawaiihemden steckt, sind wir erledigt. Mehr kann ich nicht tun.«
Die Brüllaffen quittierten das Schwinden des Tageslichts mit lautem Geschrei. Mitch führte sie auf einem asphaltierten Weg durch einen tropischen Regenwald. Der Weg war von niedrigen Lampen erleuchtet, und über ihnen sprühten die Düsen der Luftbefeuchter. Die angenehme Umgebung tat ihnen allen gut, und keiner wollte den Zauber brechen.
Für Kaye schien Mitch nur aus Armen und Beinen zu bestehen.
Er war der Männertyp, der nicht in geschlossene Räume passt.
Sein Schweigen beunruhigte sie. Er drehte sich um und sah sie mit seinen ruhigen, grünen Augen an. Seine Schuhe fielen ihr auf: Wanderstiefel mit ziemlich abgenutzten dicken Profilsohlen.
Sie lächelte linkisch, und Mitch lächelte zurück.
»Ich bewege mich hier außerhalb meines Reviers«, sagte er.
»Wenn jemand hier das Gespräch beginnen sollte, dann Sie, Ms.
Lang.«
»Aber Sie sind derjenige, der die Erleuchtung hatte«, wandte Dicken ein.
»Wie viel Zeit haben wir?«, fragte Mitch.
»Ich habe heute Abend nichts mehr vor«, erwiderte Kaye. »Bei Marge müssen wir erst morgen früh um acht antreten. Americol gibt ein großes Frühstück.«
Sie fuhren mit der Rolltreppe in eine Schlucht hinunter und blieben an einem Käfig mit zwei schottischen Wildkatzen stehen.
Die wie Haustiere wirkenden gestreiften Katzen wanderten herum und knurrten leise in die Dämmerung.
»Ich bin hier der seltsame Vogel«, sagte Mitch. »Von Mikrobiologie verstehe ich kaum etwas, es reicht knapp, damit ich zurecht komme. Ich bin über etwas Tolles gestolpert, und es hätte um ein Haar mein Leben ruiniert. Ich habe einen schlechten Ruf und bin bekanntermaßen exzentrisch, ein doppelter Verlierer im Wissenschaftsspiel. Wenn Sie klug sind, lassen Sie sich nicht einmal mit mir sehen.«
»Erstaunlich ehrlich«, erwiderte Dicken und hob die Hand.
»Jetzt bin ich dran. Ich habe Krankheiten um die halbe Welt verfolgt. Ich habe ein Gespür dafür, wie sie sich verbreiten, wie sie sich verhalten, wie sie funktionieren. Fast von Anfang an hatte ich den Eindruck, dass ich hinter etwas Neuem her bin. Und bis vor kurzem habe ich versucht, ein Doppelleben zu führen, zwei widersprüchliche Dinge zu glauben. Jetzt kann ich nicht mehr.«
Kaye trank ihr Weinglas in einem Zug leer. »Das klingt, als würden wir ein ZwölfPunkteProgramm abarbeiten«, sagte sie.
»Na gut. Jetzt bin ich an der Reihe. Ich bin eine schüchterne kleine Wissenschaftlerin, die sich aus den ganzen schmutzigen Einzelheiten heraushalten möchte. Deshalb hänge ich mich an jemanden, der mir einen Platz zum Arbeiten gibt und mich beschützt … und jetzt ist es an der Zeit, dass ich selbstständig werde und meine eigenen Entscheidungen treffe. Zeit, erwachsen zu werden.«
»Halleluja«, rief Mitch. »Nur zu, Schwester«, fügte Dicken hinzu. Sie blickte auf und wollte wütend werden, aber die beiden lächelten sie genau auf die richtige Weise an, und zum ersten Mal seit vielen Monaten — seit den letzten schönen Zeiten mit Saul — hatte sie das Gefühl, unter Freunden zu sein.
Dicken griff in die Einkaufstüte und brachte eine Flasche Merlot zum Vorschein. »Die Zoowächter könnten uns einsperren«, sagte er, »aber das hier ist noch unsere geringste Sünde. Manches, was gesagt werden muss, bringen wir vielleicht nur richtig betrunken heraus.«
»Ich nehme an, Sie beide haben Ihre Gedanken schon ausgetauscht«, sagte Mitch zu Kaye, während Dicken den Wein einschenkte. »Ich habe so viel wie irgend möglich gelesen, um fit zu sein, aber ich liege immer noch weit zurück.«
»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Kaye. Jetzt, wo sie ein wenig lockerer waren, wühlte die Art, wie Mitch Rafelson sie ansah — direkt, ehrlich, prüfend, ohne dass es besonders auffiel —, in ihr etwas auf, das sie fast für abgestorben gehalten hatte.
»Erzählen Sie doch erst mal, wie Sie sich kennen gelernt haben«, schlug Mitch vor.
»In Georgien«, sagte Kaye.
»Dem Geburtsort des Weines«, fügte Dicken hinzu.
»Wir haben ein Massengrab besichtigt«, sagte Kaye. »Allerdings nicht gemeinsam. Schwangere Frauen und ihre Ehemänner.«
»Kindstötung«, sagte Mitch, und sein Blick verlor plötzlich an Schärfe. »Warum?«
Sie setzten sich an einen Kunststofftisch neben einem geschlossenen Erfrischungsstand tief im Schatten der Schlucht. Im Gebüsch neben dem Asphaltweg hackten rote und braune Hühner.
Eine Raubkatze fletschte in ihrem Käfig die Zähne und knurrte, sodass das Echo schaurig widerhallte.
Mitch holte einen Aktendeckel aus seiner Ledertasche und legte die Papiere ordentlich auf den Kunststofftisch. »Hier fließt alles zusammen.« Er legte eine Hand auf die beiden Blätter zu seiner Rechten. »Das sind die Analysen der University of Washington.
Wendell Packer hat mir erlaubt, sie Ihnen zu zeigen. Aber wenn jemand es ausposaunt, sitzen wir alle ganz schön im Schlamassel.«
»Was für Analysen?«, fragte Kaye.
»Die Genetik der Mumien von Innsbruck. Zwei Sätze von Befunden über die Gewebeproben, aus zwei verschiedenen Labors an der University of Washington. Ich habe Wendell Packer Proben von den beiden Erwachsenen gegeben. Und wie sich dann herausstellte, hatten die Leute in Innsbruck schon Proben an Maria Konig in demselben Institut geschickt. Wendell konnte die Ergebnisse vergleichen.«
»Und was haben sie festgestellt?«, wollte Kaye wissen. »Die drei Leichen waren tatsächlich eine Familie. Mutter, Vater, Tochter.
Aber das wusste ich schon — ich habe alle drei in der Höhle in den Alpen gesehen.«
Kaye runzelte verwundert die Stirn. »Ich kann mich an die Geschichte erinnern. Sie sind auf den Wunsch von zwei Bekannten hin in die Höhle gegangen … haben die Fundstätte beschädigt … und die Frau, die bei Ihnen war, hat das Kind im Rucksack mitgenommen?«
Mitch blickte mit angespannten Kiefermuskeln zur Seite. »Ich kann Ihnen erzählen, wie es wirklich war«, sagte er.
»Schon gut«, sagte Kaye, plötzlich misstrauisch geworden.
»Nur zur Klarstellung«, beharrte Mitch. »Wenn wir weitermachen wollen, müssen wir einander trauen.«
»Dann erzählen Sie weiter«, sagte Kaye.
Mitch schilderte die Ereignisse in Kurzform. »Es war ein einziges Durcheinander«, schloss er.
Dicken sah die beiden mit verschränkten Armen aufmerksam an.
Kaye nutzte die Pause und überflog die auf dem Tisch ausgebreiteten Analyseergebnisse. Dabei achtete sie darauf, dass die Papiere keine Flecken von altem Ketchup bekamen. Sie studierte die Radiokarbondatierung, den Vergleich der genetischen Marker und schließlich Packers positiven SHEVANachweis.
»Packer behauptet, SHEVA habe sich in den letzten fünfzehntausend Jahren kaum verändert«, sagte Mitch. »Er findet das erstaunlich, wenn es nur DNASchrott ist.«
»Schrott ist es wohl kaum«, erwiderte Kaye. »Die Gene sind seit bis zu dreißig Millionen Jahren gleich geblieben. Sie werden ständig aufgefrischt, überprüft, konserviert … eingeschlossen im dicht gepackten Chromatin, geschützt von einer Isolierschicht … es muss so sein.«
»Wenn Sie beide Nachsicht mit mir haben, sage ich Ihnen, was ich glaube«, sagte Mitch mit einem Hauch von Wagemut und Schüchternheit, den Kaye verwirrend und zugleich reizvoll fand.
»Nur zu«, sagte sie.
»Es war ein Fall von Unterartenbildung. Nichts Extremes. Kleiner Anstoß in Richtung einer neuen Varietät. Ein Säugling des modernen Typus, zur Welt gebracht von Neandertalern im Spätstadium.«
»Eher wie wir«, warf Kaye ein.
»Richtig. Vor ein paar Wochen war ein Journalist namens Oliver Merton im Staat Washington. Er recherchiert wegen der Mumien und hat mir erzählt, es habe an der Universität Innsbruck heftigen Streit gegeben …« Mitch blickte auf und sah, wie überrascht Kaye war.
»Oliver Merton?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn. »Im Auftrag von Nature?«
»Damals beim Economist«, erwiderte Mitch.
Kaye wandte sich zu Dicken. »Derselbe?«
»Allerdings. Er macht Wissenschaftsjournalismus und ein bisschen politische Berichterstattung. Hat ein oder zwei Bücher geschrieben.« Er erklärte es Mitch: »Merton hat auf einer Pressekonferenz in Baltimore ganz schön Staub aufgewirbelt. Er ist ziemlich tief in die Beziehungen zwischen Americol, den CDC und der ganzen SHEVAFrage eingedrungen.«
»Vielleicht sind das zwei verschiedene Geschichten«, meinte Mitch.
»Eigentlich muss es so ein, oder?«, fragte Kaye und blickte zwischen den beiden Männern hin und her. »Die Einzigen, die einen Zusammenhang hergestellt haben, sind doch wir, stimmt’s?«
»Da wäre ich mir nicht so sicher«, sagte Dicken. »Weiter, Mitch.
Nehmen wir mal an, dass es einen Zusammenhang gibt, und zanken wir uns nicht über Außenstehende. Worüber haben sie in Innsbruck gestritten?«
»Merton sagt, sie hätten die Verwandtschaft zwischen dem Säugling und den Erwachsenen nachgewiesen — das bestätigt auch Packer.«
»Es ist schon witzig«, sagte Dicken. »Die UN haben auch die Proben aus Gordi an Konigs Labor geschickt.«
»Die Anthropologen in Innsbruck sind ziemlich konservativ«, fuhr Mitch fort. »Und dann stoßen ausgerechnet sie auf den ersten direkten Beleg für Artbildung bei Menschen …« Er schüttelte mitfühlend den Kopf. »Ich an ihrer Stelle hätte Angst. Die geltende Lehre verändert sich nicht nur — sie geht regelrecht in die Brüche.
Ohne Gradualismus keine moderne darwinistische Synthese.«
»So radikal brauchen wir gar nicht zu werden«, sagte Dicken.
»Zunächst einmal wird schon seit langem viel über Unterbrechungen bei den Fossilfunden geredet — Jahrmillionen langer Stillstand, dann plötzlicher Wandel.«
»Wandel im Laufe von einer Million oder hunderttausend Jahren, in manchen Fällen vielleicht auch nur zehntausend«, sagte Mitch.
»Aber nicht über Nacht. Die Folgerungen sind für jeden Wissenschaftler verdammt beängstigend. Aber genetische Marker lügen nicht. Und die Eltern des Kindes hatten SHEVA im Gewebe.«
»Hm«, sagte Kaye. Die Brüllaffen legten wieder los und füllten die Nachtluft mit stetigem, melodischem Schreien.
»Die Frau wurde durch einen spitzen Gegenstand verwundet, vielleicht durch eine Speerspitze«, sagte Dicken.
»Richtig«, erwiderte Mitch, »und das führte dazu, dass das fast ausgereifte Kind entweder tot oder so gut wie tot geboren wurde.
Kurz danach starb die Mutter, und der Vater …« Seine Stimme versagte. »Entschuldigung. Es fällt mir nicht leicht, darüber zu reden.«
»Sie haben Mitleid mit ihnen«, sagte Kaye.
Mitch nickte. »Ich habe ihretwegen schon seltsame Träume gehabt.«
»Außersinnliche Wahrnehmung?«, fragte Kaye.
»Das glaube ich nicht. Mein Geist arbeitet einfach so — er fügt die Dinge zusammen.«
»Sie glauben, die beiden wurden von ihrem Stamm ausgestoßen?«, fragte Dicken. »Verfolgt?«
»Irgendjemand wollte die Frau umbringen«, erwiderte Mitch.
»Der Mann ist bei ihr geblieben und hat versucht, sie zu retten.
Sie waren anders. Mit ihren Gesichtern stimmte etwas nicht. Kleine Hautlappen um Augen und Nase, fast wie Masken.«
»Sie haben sich gehäutet? Ich meine, als sie noch am Leben waren?«, fragte Kaye, und ihre Schultern schüttelten sich.
»Um die Augen, im Gesicht.«
»Die Leichen bei Gordi«, sagte Kaye.
»Was ist damit?«, fragte Dicken.
»Manche von ihnen hatten kleine Masken auf, wie aus Leder.
Ich dachte, es wäre vielleicht … ein seltsames Verwesungsprodukt.
Aber ich habe so etwas sonst noch nie gesehen.«
»Wir greifen vor«, bemerkte Dicken. »Bleiben wir erst mal bei Mitchs Beweisen.«
»Das ist alles«, erwiderte Mitch. »So große physiologische Veränderungen, dass das Kind in eine andere Unterart gehört, und alles auf einmal. In einer einzigen Generation.«
»Das gleiche muss sich schon vor Ihren Mumien hunderttausend Jahre lang abgespielt haben«, sagte Dicken. »Immerhin lebten Neandertaler doch mit oder neben den Populationen der Jetztmenschen.«
»Ich denke schon«, bestätigte Mitch.
»Glauben Sie, dass die Geburt eine Anomalie war?«, fragte Kaye.
Mitch sah sie mehrere Sekunden lang an und erwiderte dann:
»Nein.«
»Wäre es dann eine vernünftige Schlussfolgerung, dass Sie nichts Einzigartiges, sondern etwas durchaus Repräsentatives gefunden haben?«
»Schon möglich.«
Kaye hob aufgebracht die Hände.
»Sehen Sie«, erklärte Mitch, »mein Gespür ist konservativ. Ich habe Mitleid mit den Leuten in Innsbruck, wirklich! Das Ganze ist seltsam und kommt völlig unerwartet.«
»Haben wir bei den Fossilfunden einen glatten, allmählichen Übergang von den Neandertalern zu den CromagnonMenschen?«, fragte Dicken.
»Nein, aber wir kennen mehrere Stadien. Bei Fossilfunden sind die Übergänge meistens alles andere als glatt.«
»Und … das liegt daran, dass man nicht alle erforderlichen Exemplare findet, stimmt’s?«
»Richtig«, erwiderte Mitch, »aber ein paar Paläontologen liegen schon seit langem mit den Gradualisten im Streit.«
»Weil sie keine bruchlosen Übergänge finden, sondern Sprünge«, fügte Kaye hinzu. »Und zwar auch dann, wenn die Fossilfunde besser sind als bei Menschen oder großen Tieren.«
Nachdenklich nahmen sie einen Schluck aus den Gläsern.
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Mitch. »Die Mumien hatten SHEVA. Wir haben SHEVA.«
»Jetzt wird es kompliziert«, sagte Kaye. »Wer will als Erster?«
»Schreiben wir mal auf, was sich unserer Meinung nach zurzeit abspielt.« Mitch griff in seine Tasche und brachte drei Schreibblöcke mit Kugelschreibern zum Vorschein. Er verteilte sie auf dem Tisch.
»Wie die Schulkinder?«, fragte Dicken.
»Mitch hat Recht. Machen wir es ruhig«, sagte Kaye.
Dicken zog eine zweite Flasche Wein aus der Einkaufstüte und entkorkte sie.
Kaye hielt die Kappe ihres Schreibstiftes zwischen den Lippen.
Seit zehn oder fünfzehn Minuten schrieben sie, blätterten die Seiten der Blöcke um und stellten Fragen. Allmählich wurde es eisig kalt.
»Die Party ist bald zu Ende«, sagte sie.
»Keine Sorge«, erwiderte Mitch, »wir sind ja bei Ihnen.«
Sie lächelte wehmütig. »Zwei halb betrunkene Männer, denen vor lauter Theorien schwindelig ist?«
»Genau«, sagte Mitch.
Kaye hatte sich bemüht, ihn nicht anzusehen. Was sie empfand, war weder wissenschaftlicher noch beruflicher Natur. Ihre Gedanken niederzuschreiben, war nicht einfach. So hatte sie noch nie gearbeitet, nicht einmal mit Saul; sie hatten gemeinsame Notizbücher geführt, aber keiner hatte die unfertigen Notizen des anderen gesehen.
Durch den Wein war sie etwas lockerer geworden; die Anspannung war zum Teil gewichen, aber der Klarheit ihrer Gedanken diente es nicht. Sie kam nicht mehr weiter. Bisher hatte sie geschrieben:
Populationen als riesige Netzwerke aus Einheiten, die untereinander sowohl konkurrieren als auch kooperieren, und das manchmal sogar gleichzeitig. Alle möglichen Indizien für Kommunikation zwischen den Individuen in Populationen. Bäume kommunizieren durch chemische Substanzen. Menschen nutzen die Pheromone.
Bakterien tauschen Plasmide und lysogene Phagen aus.
Kaye sah zu Dicken hinüber, der ununterbrochen schrieb und ganze Absätze durchstrich. Er erschien etwas zu umständlich, ja, aber offensichtlich stark, motiviert und gebildet; attraktive Eigenschaften.
Als Nächstes schrieb sie:
Jedes Ökosystem ist ein Netzwerk aus Arten, die kooperieren und konkurrieren. Pheromone und andere Substanzen können Artgrenzen überwinden. Ein solches Netzwerk kann die gleichen Merkmale haben wie ein Gehirn; das menschliche Gehirn ist ein Netzwerk aus Neuronen. In jedem ausreichend komplizierten, funktionsfähigen Neuronennetzwerk ist kreatives Denken möglich.
»Sehen wir uns mal an, was wir bisher haben«, sagte Mitch. Sie tauschten die Notizblöcke aus. Kay las, was Mitch geschrieben hatte:
Signalmoleküle und Viren tragen Informationen von Mensch zu Mensch. Ein einzelner Mensch sammelt die Information als Lebenserfahrung; aber handelt es sich um eine lamarckistische Evolution?
»Ich glaube, dieser Netzwerkkram macht das Ganze noch verwirrender«, sagte Mitch.
Jetzt las Kaye die Aufzeichnungen von Dicken. »Alles in der Natur funktioniert so«, sagte sie. Dicken hatte den größten Teil der Seite durchgestrichen. Geblieben war:
War mein Leben lang hinter Krankheiten her; SHEVA verursacht komplizierte biologische Veränderungen, ganz anders als alle Erreger, die man bisher kennt. Warum? Was hat es davon? Was ist sein Ziel? Wie sieht das Ergebnis aus? Wenn es alle zehntausend oder hunderttausend Jahre wieder auftaucht, wie können wir dann behaupten, es sei überhaupt ein eigenständiges organisches Gebilde und nichts anderes als ein Krankheitserreger?
»Wer kauft uns ab, dass alles in der Natur wie die Neuronen im Gehirn funktioniert?«, fragte Mitch.
»Es beantwortet Ihre Frage«, erwiderte Kaye. »Haben wir es mit einer lamarckistischen Evolution zu tun, also mit der Vererbung von Merkmalen, die ein Individuum erworben hat? Nein. Es ist das Ergebnis komplexer Wechselwirkungen in einem Netzwerk, aus denen Gedanken als emergente Eigenschaften erwachsen.«
Mitch schüttelte den Kopf. »Emergente Eigenschaften verwirren mich.«
Kaye sah ihn einen Augenblick lang an. Sie fühlte sich herausgefordert und war zugleich verärgert. »Wir brauchen weder Selbstwahrnehmung noch bewusstes Denken zu postulieren. Auch ohne so etwas kann ein strukturiertes Netzwerk auf seine Umwelt ansprechen und Urteile darüber abgeben, wie seine einzelnen Knoten aussehen sollten«, sagte sie.
»Klingt für mich immer noch nach einem Deus ex machina«, erwiderte Mitch mit mürrischem Gesicht.
»Sehen Sie, Bäume geben chemische Signale ab, wenn sie von Käfern angegriffen werden. Die Signale locken andere Insekten an, und die fressen die angreifenden Käfer. Der Baum ruft sozusagen den Kammerjäger. Das Prinzip funktioniert auf allen Ebenen — im Ökosystem, in einer Spezies, sogar in einer Gesellschaft. Jedes Lebewesen ist ein Netzwerk aus einzelnen Zellen. Jede Spezies ist ein Netzwerk aus einzelnen Lebewesen. Jedes Ökosystem ist ein Netzwerk aus Arten. Alle interagieren und kommunizieren auf diese oder jene Art miteinander — durch Konkurrenz, RäuberBeuteBeziehungen, Kooperation. Alle diese Wechselbeziehungen ähneln den Neurotransmittern, die im Gehirn die Synapsen überwinden, oder den Ameisen, die in ihrem Staat kommunizieren.
Auf der Grundlage solcher Interaktionen ändert der ganze Ameisenstaat sein Verhalten. Bei uns ist es genauso, und die Grundlage sind dabei die Wechselwirkungen zwischen den Neuronen. Das Gleiche gilt für die übrige Natur, und zwar von ganz oben bis ganz unten. Alles hängt mit allem zusammen.«
Sie merkte, dass Mitch es ihr nicht abnahm. »Wir müssen eine Methode beschreiben«, sagte Dicken. Er blickte Kaye mit einem schwachen, wissenden Lächeln an. »Machen Sie es einfach. Sie sind hier die Vordenkerin.«
»Was teilt denn beim unterbrochenen Gleichgewicht die Schläge aus?«, fragte sie, immer noch gereizt wegen Mitchs Beschränktheit.
»Na gut. Wenn es eine Art Geist gibt, wo ist dann das Gedächtnis?«, wollte Mitch wissen. »Etwas, das die Information für das nächste Menschenmodell speichert, bevor sie auf das Fortpflanzungssystem losgelassen wird?«
»Auf welchen Reiz hin?«, mischte Dicken sich ein. »Warum wird überhaupt Information gesammelt? Was ist der Auslöser? Welcher Mechanismus setzt es in Gang?«
»Wir greifen vor«, sagte Kaye mit einem Seufzen. »Zunächst einmal mag ich das Wort ›Mechanismus‹ nicht.«
»Na gut, dann … Organ, Organon, magischer Baumeister«, sagte Mitch. »Wir wissen doch, wovon wir hier reden. Irgendeine Speicherung von Erinnerungen im Genom. Alle Nachrichten müssen aufbewahrt werden, bis sie aktiviert werden.«
»Geschieht das in den Keimbahnzellen? Den Geschlechtszellen, Eizelle und Samenzelle?«, fragte Dicken.
»Das müssten Sie eher wissen«, erwiderte Mitch. »Ich glaube nicht«, sagte Kaye. »Irgendetwas wandelt bei jeder Mutter eine einzige Eizelle ab, sodass sie zu einer Zwischentochter wird, aber das, was den neuen Phänotyp erzeugt, dürfte im Eierstock der Tochter liegen. Die anderen Eizellen der Mutter bleiben außen vor. Sie werden nicht abgewandelt, sondern geschützt.«
»Für den Fall, dass die neue Konstruktion, der neue Phänotyp ein Fehlschlag ist«, sagte Dicken mit zustimmendem Nicken. »Na gut. Eine beiseite gelegte Erinnerung, über Jahrtausende hinweg aktualisiert durch … hypothetische Abwandlungen, die irgendwie maßgeschneidert werden, und zwar von …« Er schüttelte den Kopf. »Jetzt komme ich durcheinander.«
»Jedes einzelne Lebewesen nimmt seine Umwelt wahr und reagiert darauf«, sagte Kaye. »Die Substanzen und anderen Signale, die die Individuen austauschen, sorgen für Schwankungen der inneren chemischen Verhältnisse. Die wiederum wirken sich auf das Genom aus, und zwar insbesondere auf die beweglichen Elemente eines genetischen Gedächtnisses, das Gruppen hypothetischer Veränderungen speichert und aktualisiert.« Sie gestikulierte, als könne sie damit besser erklären oder überzeugen. »Jungs, das ist mir völlig klar. Warum seht ihr es nicht? Der Rückkopplungskreislauf ist geschlossen: Umweltveränderungen sorgen für Stress bei den Lebewesen — in diesem Fall bei den Menschen. Die verschiedenen Arten von Stress verändern das Gleichgewicht der stressassoziierten Substanzen im Organismus. Die beiseite gelegten Erinnerungen reagieren, und bewegliche Elemente wandern nach einem Evolutionsalgorithmus, der sich über Millionen oder sogar Milliarden von Jahren hinweg durchgesetzt hat. Ein genetischer Computer entscheidet, welches der beste Phänotyp für die neuen Bedingungen ist, die den Stress verursachen. Die Folge sind kleine Abwandlungen der Individuen, Prototypen; wenn sich bei denen der Stress verringert, wenn ihre Nachkommen gesund und zahlreich sind, werden die Abwandlungen beibehalten. Aber hin und wieder, wenn ein Umweltproblem sich nicht lösen lässt … wie beispielsweise der langfristige soziale Stress bei den Menschen … kommt es zu einer größeren Verschiebung. Endogene Retroviren werden exprimiert, transportieren ein Signal, koordinieren die Aktivierung ganz bestimmter Elemente in dem genetischen Gedächtnisspeicher. Und siehe da, das Gleichgewicht ist unterbrochen.«
Mitch zwickte sich am Nasenrücken. »Du lieber Gott«, sagte er.
Dicken runzelte heftig die Stirn. »Das ist so radikal, dass ich es nicht alles auf einmal schlucken kann.«
»Wir haben Belege für jeden einzelnen Schritt auf dem Weg«, sagte Kaye mit heiserer Stimme und nahm noch einen großen Schluck Merlot.
»Aber wie wird es vererbt? Dazu muss es in den Geschlechtszellen sein. Irgendetwas muss für Hunderte oder Tausende von Generationen von den Eltern auf die Kinder übergehen, bevor es aktiviert wird.«
»Vielleicht ist es gezippt, komprimiert in einer Art Kurzschrift«, sagte Mitch.
Kaye war verblüfft. Sie sah Mitch mit einem kleinen Schauder des Staunens an. »Das klingt so verrückt, dass es schon genial ist.
Wie überlappende Gene, nur raffinierter. Versteckt in den Sequenzwiederholungen.«
»Es muss nicht die vollständigen Anweisungen für den neuen Phänotyp enthalten …«, sagte Dicken.
»Sondern nur für die Teile, die sich verändern sollen«, fügte Kaye hinzu. »Sie wissen doch, zwischen Mensch und Schimpanse besteht im Genom nur ein Unterschied von vielleicht zwei Prozent.«
»Aber die Chromosomenzahl ist anders«, warf Mitch ein, »und das ist letztlich ein großer Unterschied.«
Dicken runzelte wieder die Stirn und fasste sich mit der Hand an den Kopf. »Du liebe Güte, das geht aber wirklich in die Tiefe.«
»Es ist zehn Uhr«, sagte Mitch und zeigte auf einen Wachmann, der mitten auf dem Weg durch die Schlucht ging und offensichtlich auf sie zukam.
Dicken warf die leeren Flaschen in einen Abfallbehälter und kam an den Tisch zurück. »Wir können es uns nicht leisten, jetzt aufzuhören. Wer weiß schon, wann wir uns wieder treffen können.«
Mitch studierte Kayes Notizen. »Jetzt wird mir klar, worum es Ihnen mit den Umweltveränderungen geht, die einzelne Menschen unter Stress setzen. Kehren wir noch einmal zu Christophers Frage zurück. Was löst das Signal, die Veränderung aus? Krankheiten? Natürliche Feinde?«
»In unserem Fall die Überbevölkerung«, sagte Kaye.
»Komplizierte gesellschaftliche Bedingungen. Konkurrenz um Arbeitsplätze«, fügte Dicken hinzu.
»Hallo, Sie da«, rief der Wachmann, als er näher kam. »Gehören Sie zu der AmericolParty?«
»Wie kommen Sie darauf?«, fragte Dicken.
»Sie dürfen hier draußen nicht rumlaufen.«
Während sie zurückgingen, schüttelte Mitch zweifelnd den Kopf.
Er würde ihnen jetzt keine Pause gönnen — es war eine wirklich schwierige Frage. »Veränderungen spielen sich in der Regel an den Rändern einer Population ab, wo die Ressourcen knapp sind und harte Konkurrenz herrscht. Und nicht in der Mitte, wo es gemütlich zugeht.«
»Für Menschen gibt es keine ›Ränder‹, keine Grenzen mehr«, sagte Kaye. »Wir besiedeln die ganze Erde. Aber wir stehen ständig unter Stress, nur weil keiner hinter seinem Nachbarn zurückstehen will.«
»Es herrscht ständig Krieg«, sagte Dicken, plötzlich nachdenklich geworden. »Die ersten HerodesEpidemien dürfte es kurz nach dem Zweiten Weltkrieg gegeben haben. Die Belastung durch eine gesellschaftliche Katastrophe, eine Gesellschaft, die entsetzlich gescheitert ist. Die Menschen müssen sich ändern, sonst …«
»Wer sagt das? Was sagt das?«, fragte Mitch und schlug sich mit der Hand auf die Hüfte.
»Unser biologischer Computer auf Speziesebene«, erwiderte Kaye.
»Da haben wir es wieder — das Computernetzwerk«, meinte Mitch zweifelnd.
»DER MÄCHTIGE HEXENMEISTER IN UNSEREN GENEN«, stimmte Kaye mit tiefer, voller Ansagestimme an. Und dann, mit erhobenem Finger: »Der Herr und Meister des Genoms.«
Mitch grinste und zeigte seinerseits mit dem Finger auf sie. »Das werden sie sagen, und dann werden sie uns auslachen und zum Teufel jagen.«
»Aus dem ganzen verdammten Zoo werden sie uns jagen«, sagte Dicken.
»Das verursacht aber Stress«, fügte Kaye affektiert hinzu. »Konzentration bitte«, beharrte Dicken. »Scheiß drauf«, erwiderte Kaye.
»Fahren wir ins Hotel und machen wir die nächste Flasche auf.«
Sie schwang die Arme und drehte eine Pirouette. Verdammt, dachte sie, ich gebe an. He Jungs, seht mich an, ich bin zu haben.
»Aber nur zur Belohnung«, sagte Dicken. »Wenn der Bus weg ist, müssen wir ein Taxi nehmen. Kaye … was stimmt denn mit dem Zentrum nicht? Was ist in der Mitte der menschlichen Population nicht in Ordnung?«
Sie ließ die Arme sinken. »Jedes Jahr immer mehr Menschen …« Dann hielt sie inne, und ihre Miene wurde hart. »Die Konkurrenz ist so stark.« Sauls Gesicht. Der böse Saul, der verliert und sich nicht damit abfindet, und der gute Saul, begeistert wie ein Kind, aber dennoch unauslöschlich gebrandmarkt: Du wirst verlieren. Es gibt stärkere, klügere Wölfe als dich. Die beiden Männer warteten auf sie.
Sie gingen in Richtung des Ausganges. Kaye wischte sich schnell über die Augen und sagte mit möglichst fester Stimme: »Früher kamen ein, oder zwei oder drei Leute auf eine großartige, welterschütternde Idee oder Erfindung.« Ihre Stimme gewann an Kraft; jetzt spürte sie Widerwillen oder sogar Wut zu Sauls Gunsten.
»Darwin und Wallace. Einstein. Heute gibt es für jede Aufgabe hundert Genies, tausend Leute, die darum kämpfen, die Festungsmauer niederzureißen. Wenn das schon in der Wissenschaft, in den höheren Sphären schlecht ist, wie ist es dann erst in den Niederungen? Endlose, boshafte Konkurrenz. Zu vieles, was man lernen muss. Zu große Bandbreite der verstopften Kommunikationskanäle. Wir können nicht schnell genug zuhören. Wir müssen uns ständig nach der Decke strecken.«
»Was ist daran anders, als wenn man gegen einen Höhlenbären oder ein Mammut kämpft?«, fragte Mitch. »Oder wenn man zusieht, wie die eigenen Kinder an Pest sterben?«
»Vielleicht führt das zu unterschiedlichen Arten von Stress, sodass unterschiedliche Signalsubstanzen betroffen sind. Wir haben es schon lange aufgegeben, neue Klauen oder Reißzähne hervorzubringen. Wir sind soziale Wesen. Alle wichtigen Veränderungen zielen auf Kommunikation und gesellschaftliche Anpassung.«
»Zu viele Veränderungen«, sagte Mitch nachdenklich. »Keiner tut es gern, aber wir müssen uns der Konkurrenz stellen, sonst sitzen wir am Ende auf der Straße.«
Sie standen vor dem Ausgang und lauschten den Grillen. Drinnen im Zoo krächzte ein Papagei. Das Geräusch war über den ganzen BaiboaPark hinweg zu hören.
»Vielfalt«, murmelte Kaye. »Übermäßiger Stress könnte ein Anzeichen für eine bevorstehende Katastrophe sein. Das zwanzigste Jahrhundert war eine einzige lange, hektische, ausgedehnte Katastrophe. Es muss eine größere Veränderung geschehen, etwas, das im Genom abgespeichert ist, muss aktiviert werden, ehe die Menschheit untergeht.«
»Also keine Krankheit, sondern eine Weiterentwicklung«, sagte Mitch.
Kaye sah ihn wieder mit dem gleichen kurzen Schaudern an.
»Genau. Jeder kann in Stunden oder höchstens Tagen überall hin reisen. Was in einer Umgebung ausgelöst wird, verbreitet sich plötzlich über die ganze Welt. Der Hexenmeister wird mit Signalen überhäuft.« Sie streckte noch einmal die Arme aus, zurückhaltender diesmal, aber alles andere als nüchtern. Sie wusste, dass Mitch sie ansah, und Dicken beobachtete sie alle beide.
Dicken ließ den Blick über die Straße neben dem großen Zooparkplatz schweifen und suchte nach einem Taxi. Er sah einen Wagen etwa dreißig Meter entfernt wenden und streckte die Hand aus. Das Taxi fuhr auf den Standstreifen.
Sie stiegen ein. Dicken setzte sich auf den Beifahrersitz. Während der Fahrt drehte er sich um und sagte: »Na gut, irgendein Abschnitt in unserer DNA baut also geduldig ein Modell für den nächsten Menschentyp. Woher bekommt er seine Ideen, seine Anregungen? Wer flüstert ›längere Beine, ein größerer Gehirnschädel, braune Augen sind dieses Jahr am besten‹? Wer sagt uns, was schön und was hässlich ist?«
Kaye sprudelte los. »Die Chromosomen bedienen sich einer genetischen Grammatik, die in die DNA eingebaut ist, einer Art SpeziesBauplan höherer Ordnung. Der Hexenmeister weiß, was er sagen darf, damit es für den Phänotyp des Lebewesens einen Sinn ergibt. Zu dem Hexenmeister gehört auch ein genetischer Redakteur, eine Grammatikprüfung. Der bremst die meisten unsinnigen Mutationen, ehe sie überhaupt in Betracht gezogen werden.«
»Jetzt spekulieren wir aber wild ins Blaue«, sagte Mitch, »und bei jedem Nahkampf werden sie uns in der ersten Minute abschießen.« Er streckte die Hände wie Tragflächen in die Luft, bis der Taxifahrer nervös wurde, und ließ die linke Hand dann dramatisch aufs Knie fallen, sodass die Finger einknickten. »Peng«, sagte er.
Der Taxifahrer sah sie neugierig an. »Ihr seid wohl Biologen?«, fragte er.
»Doktoranden an der Universität des Lebens«, erwiderte Dicken.
»Kapiert«, erklärte der Fahrer feierlich.
»Jetzt haben wir uns die verdient.« Dicken holte die dritte Weinflasche aus dem Beutel und zog sein Schweizer Armeemesser heraus.
»He, nicht hier im Wagen«, sagte der Fahrer schroff, »es sei denn, ich mache Feierabend und ihr gebt mir was ab.«
Sie lachten. »Also im Hotel«, sagte Dicken.
»Dann bin ich völlig betrunken«, meinte Kaye und schüttelte den Kopf, sodass die Haare neben die Augen fielen.
»Wir feiern eine Orgie«, sagte Dicken und errötete ein wenig.
»Eine intellektuelle Orgie natürlich«, fügte er verlegen hinzu.
»Ich bin kaputt«, sagte Mitch, »und Kaye hat Kehlkopfentzündung.«
Sie gab ein leises Krächzen von sich und grinste.
Der Fahrer hielt vor dem Serrano Hotel unmittelbar südwestlich des Kongresszentrums und ließ sie aussteigen.
»Das geht auf mich«, sagte Dicken und bezahlte. »Genau wie der Wein.«
»Na gut«, erwiderte Mitch, »danke.«
»Wir müssen irgendein Fazit ziehen«, sagte Kaye. »Eine Vorhersage treffen.«
Mitch gähnte und streckte sich. »Tut mir Leid. Ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen.«
Kaye sah ihn unter ihrer Ponyfrisur an: die schmalen Hüften, die eng an den Schenkeln anliegenden Jeans, das eckige, zerfurchte Gesicht mit den zusammengewachsenen Brauen. Nicht gerade gutaussehend auf die makellos schöne Art, aber sie spürte ihre eigene Chemie, ein leises, atemberaubendes Pochen in der Leistengegend, und das kümmerte sich wenig um so etwas. Das erste Anzeichen, dass der Winter zu Ende ging.
»Ich meine es ernst«, sagte sie. »Christopher?«
»Es liegt doch auf der Hand, oder?«, erklärte Dicken. »Wir sagen, die Zwischentöchter sind nicht krank, sondern ein noch nie da gewesenes Entwicklungsstadium.«
»Und was bedeutet das?«, wollte Kaye wissen.
»Es bedeutet, dass die sekundären Babys, die aus dem zweiten Stadium, gesund und lebensfähig sind. Und anders, vielleicht nur ein bisschen.«
»Das wäre ja erstaunlich«, sagte Kaye. »Und was sonst noch?«
»Bitte, es reicht«, warf Mitch ein. »Wir werden es heute Abend nicht zu Ende bringen.«
»Schade«, sagte Kaye.
Mitch lächelte sie an. Sie streckte ihm die Hand hin, und er schüttelte sie. Mitchs Handfläche war trocken wie Leder und rau durch die Hornschwielen vom jahrelangen Graben. Als er in ihre Nähe kam, weiteten sich seine Nasenöffnungen, und sie hätte schwören können, dass auch seine Pupillen größer wurden.
Dicken war immer noch rötlich im Gesicht. Seine Worte hörten sich ein wenig verwaschen an. »Wir haben noch keinen Schlachtplan«, sagte er. »Wenn es ein Bericht werden soll, müssen wir alle Belege zusammenhaben — und ich meine wirklich alle.«
»Rechnen Sie damit«, sagte Mitch. »Sie haben meine Telefonnummer.«
»Ich nicht«, sagte Kaye.
»Christopher gibt sie Ihnen«, erwiderte Mitch. »Ich bin noch ein paar Tage in der Nähe. Sagen Sie Bescheid, wann Sie Zeit haben.«
»Machen wir«, sagte Dicken.
»Wir rufen an«, fügte Kaye hinzu, während sie mit Dicken zu den Glastüren ging.
»Interessanter Bursche«, bemerkte Dicken, als sie im Aufzug standen.
Kaye stimmte mit leichtem Nicken zu. Dicken betrachtete sie ein wenig besorgt.
»Scheint intelligent zu sein«, fuhr er fort. »Wie konnte er bloß so in Schwierigkeiten geraten?«
In ihrem Zimmer ging Kaye unter die heiße Dusche und kroch dann, erschöpft und mehr als beschwipst, ins Bett. Ihr Körper war glücklich. Sie zog sich Laken und Decke über den Kopf und wälzte sich auf die Seite. Im nächsten Augenblick war sie eingeschlafen.
Kaye hatte sich gerade das Gesicht gewaschen und pfiff durch das tropfende Wasser, als in ihrem Zimmer das Telefon klingelte. Sie tupfte sich das Gesicht ab und griff zum Hörer.
»Kaye? Hier ist Mitch.«
»Ich kann mich an Sie erinnern«, sagte sie beiläufig — nicht zu beiläufig, hoffte sie.
»Ich fliege morgen nach Norden. Haben Sie heute Vormittag Zeit für ein Treffen?«
Sie war auf der Konferenz so mit Vorträgen und Podiumsdiskussionen beschäftigt gewesen, dass sie kaum dazu gekommen war, über den Abend im Zoo nachzudenken. Jede Nacht war sie völlig erschöpft ins Bett gefallen. Judith Kushner hatte Recht gehabt: Marge Cross beanspruchte jede Sekunde ihres Lebens.
»Das wäre schön«, sagte sie vorsichtig. Er erwähnte Christopher nicht. »Wo?«
»Ich wohne im Holiday Inn. Das Serrano hat eine nette kleine Kaffeebar. Ich könnte einen kleinen Spaziergang machen, und dann treffen wir uns dort.«
»Ich habe erst in einer Stunde einen Termin«, erwiderte Kaye.
»Also in zehn Minuten da unten?«
»Ich beeile mich«, sagte Mitch. »Wir sehen uns in der Lobby.«
Sie legte die Kleidung für den Tag heraus — ein gepflegtes blaues Leinenkostüm aus der stets geschmackvollen MargeCrossKollektion — und überlegte, ob sie den leichten Spannungskopfschmerz mit ein paar Tylenol bekämpfen sollte, als sie durch das Doppelfenster gedämpfte Schreie hörte. Sie achtete zunächst nicht weiter darauf und griff zu dem Tagungsprogramm, das auf dem Bett lag. Während sie es zum Tisch trug und in ihrer Handtasche nach dem Namensschildchen für das Revers kramte, war sie ihres unmelodischen Pfeifens überdrüssig. Sie ging wieder um das Bett herum, nahm die Fernbedienung und schaltete den Fernseher ein.
Das kleine Hotelgerät sorgte für die notwendige Geräuschkulisse. Werbung für Tampons und Haarfestiger. Sie hatte den Kopf voller anderer Dinge — die Abschlussveranstaltung, ihr Auftritt auf dem Podium mit Marge Cross und Mark Augustine.
Mitch.
Als sie nach einem schönen Paar Nylonstrümpfe suchte, hörte sie, wie eine Frau sagte: »… erste Kind ausgetragen. Um es allen unseren Zuschauern deutlich zu sagen: Heute Morgen hat eine nicht namentlich bekannte Frau in Mexico City das erste wissenschaftlich anerkannte Herodes Baby der zweiten Stufe zur Welt gebracht. Live aus …«
Plötzlich zuckte Kaye zusammen: Es klang nach berstendem Metall und splitterndem Glas. Sie zog den dünnen Fenstervorhang zur Seite und blickte nach Norden. Auf dem West Harbor Drive drängte sich vor dem Serrano Hotel und dem Kongresszentrum eine dichte Menschenmenge, eine kompakte, fließende Masse, die sich über Gehwege, Rasen und Freiflächen ergoss und Autos, Hoteltransporter und Pendelbusse verschlang. Der von diesen Menschen verursachte Lärm klang selbst durch die doppelten Scheiben ungewöhnlich: Es war ein tiefes, raues Rumoren, wie bei einem Erdbeben. Über der Menge flatterten weiße Vierecke, grüne Bänder bogen und wellten sich: Transparente und Plakate. Von hier oben im zehnten Stock konnte sie die Aufschriften nicht lesen.
»… offensichtlich tot geboren«, fuhr die Fernsehsprecherin fort.
»Wir werden Sie über die neuesten Entwicklungen …«
Wieder klingelte ihr Telefon. Sie nahm den Hörer ab und zog am Kabel, damit es bis zum Fenster reichte. Sie konnte den Blick nicht von dem lebenden Strom vor ihrem Hotel wenden. Da unten wurden Autos umgeworfen; sie lagen auf dem Dach, und als die Menge sich vorwärts schob, hörte sie wieder, wie Glas zu Bruch ging.
»Ms. Lang, hier ist Stan Thorne, der Sicherheitschef von Marge Cross. Kommen Sie bitte hier zu uns in die zwanzigste Etage, ins Penthouse.«
Die brodelnde Masse unten brüllte mit einer einzigen Stimme, es klang, als schreie ein Tier.
»Nehmen Sie den Expressaufzug«, sagte Thorne, »und wenn der blockiert ist, nehmen Sie die Treppe. Kommen Sie jetzt sofort rauf.«
»Ich bin gleich da«, sagte Kaye.
Sie zog sich die Schuhe an.
»Heute Morgen, in Mexico City …«
Noch bevor sie den Aufzug betrat, wurde ihr ganz flau im Magen.
Mit hängenden Schultern, die Hände in die Hosentaschen vergraben, stand Mitch gegenüber dem Kongresszentrum auf der anderen Straßenseite und versuchte, so unbeteiligt und anonym wie möglich zu wirken.
Die Menge suchte nach Wissenschaftlern, Behördenvertretern und allen, die mit der Tagung zu tun hatten, stürzte sich auf sie, schwenkte Spruchbänder und schrie sie an.
Er hatte das Namensschild abgenommen, das Dicken ihm gegeben hatte; mit seinen verwaschenen Jeans, dem sonnengebräunten Gesicht und den wirren, dunkelblonden Haaren sah er so ganz anders aus als die unglückseligen, blasshäutigen Wissenschaftler und Pharmareferenten.
Die Demonstranten waren vorwiegend Frauen; alle Hautfarben und Größen waren vertreten, aber fast alle waren jung, zwischen achtzehn und vierzig. Es schien, als hätten sie jeden Sinn für Disziplin verloren. Ungezügelter Zorn machte sich breit.
Mitch erschrak, aber im Augenblick bewegte sich die Menge nach Süden, und er konnte sich frei bewegen. Mit schnellen, steifen Schritten lief er vom Harbor Drive die Rampe einer Tiefgarage hinunter; er sprang über eine Mauer und stand auf einmal in einer schmalen Grünanlage zwischen den Hochhaushotels.
Eher aus Bestürzung als wegen der körperlichen Anstrengung schnappte er nach Luft, Menschenansammlungen hatte er immer schon verabscheut. Er stapfte zwischen dem Eiskraut hindurch, kletterte über eine weitere Mauer und ließ sich auf den Betonboden eines Parkhauses hinunterfallen. Ein paar Frauen sahen ihn verblüfft an und liefen dann unbeholfen zu ihren Autos. Eine von ihnen trug ein herabhängendes, mitgenommenes Spruchband. Als es vorüberflatterte, las Mitch die Worte: UNSER KÖRPER — UNSER SCHICKSAL.
Nervtötendes Sirenengeheul hallte in der Garage wider. Mitch hatte gerade die Tür zum Fahrstuhlschacht aufgestoßen, als drei uniformierte Wachleute die Treppe heruntergestürmt kamen. Sie bogen mit gezogener Pistole um die Ecke und starrten ihn an.
Mitch hob die Hände und hoffte, dass er unschuldig wirkte. Sie fluchten und schlossen die gläsernen Doppeltüren ab. »Rauf da!«, fuhr der eine ihn an.
Die Wächter unmittelbar hinter sich, stieg er die Treppe hinauf.
Von der Hotelhalle aus konnte er den West Harbor Drive überblicken. Er sah, wie kleine Gitterwagen der Polizei die Menge umkreisten und sich langsam auf sie zu bewegten. Mit gepressten, wütenden Stimmen schrien die Frauen im Chor, es klang, als breche sich eine Welle. Auf dem Dach eines Fahrzeugs drehten sich Wasserwerfer wie Antennen am Kopf eines Käfers.
Die Glastüren der Lobby öffneten und schlossen sich, weil immer wieder Gäste dem Personal ihre Schlüssel zeigten und eingelassen wurden. Mitch ging zu dem Innenhof in der Mitte der Halle und spürte frische Luft vorüberstreichen. Ein scharfer Gestank fiel ihm auf: der Geruch von Angst und Wut, aber auch noch etwas anderes, Stechendes, wie Hundepisse auf einem heißen Bürgersteig.
Es ließ ihm die Haare zu Berge stehen. Der Gestank des Pöbels.
Dicken und Kaye trafen sich in der Penthouseetage. Ein Mann im dunkelblauen Anzug hielt ihnen die Tür auf und prüfte ihre Namensschilder. In seinem Ohrhörer schnatterten dünne Stimmen.
»Sie sind schon unten in der Lobby«, sagte Dicken zu ihr. »Die spielen völlig verrückt.«
»Aber warum?«, fragte Kaye verstört.
»Mexico City.«
»Aber wieso die Krawalle?«
Ein Mann rief: »Wo ist Kaye Lang?«
»Hier!« Kaye streckte die Hand in die Höhe.
Sie drängten sich durch eine Reihe verwirrter, plappernder Männer und Frauen. Kaye sah eine Frau im Badeanzug, die lachte und ein großes weißes Frotteehandtuch festhielt. Ein Mann im Hotelbademantel saß mit angezogenen Beinen auf einem Sessel und blickte sich nervös um. Hinter ihnen rief der Wachmann: »Ist sie die Letzte?«
»Alles klar!«, antwortete ein anderer. Kaye hatte keine Ahnung gehabt, dass Marge Cross so viele Sicherheitsleute im Hotel hatte — nach ihrer Schätzung waren es zwanzig. Einige hatten Waffen umgehängt.
Dann hörte sie Cross mit schriller Stimme brüllen.
»Um Himmels willen, es ist nur eine Horde Frauen! Nur eine Horde ängstlicher Frauen.«
Dicken griff nach Kayes Arm. Cross’ Privatsekretär Bob Cavanaugh, ein schlanker Mann von fünfunddreißig oder vierzig Jahren mit schütteren blonden Haaren, hielt sie beide fest und dirigierte sie durch die letzte Sicherheitskette in Cross’ Zimmer. Sie lag, noch im Seidenpyjama, auf dem Bett und verfolgte das hauseigene Fernsehprogramm. Cavanaugh legte ihr einen Baumwollschal mit Fransen um die Schultern. Der Ausschnitt auf dem Bildschirm schwankte hin und her. Nach Kayes Schätzung musste sich die Kamera im dritten oder vierten Stock befinden.
Die Polizeifahrzeuge setzten die Wasserwerfer ein und drängten die Masse der Frauen die Straße entlang vom Eingang des Kongresszentrums weg. »Die mähen sie um!«, rief Cross verärgert.
»Sie haben die Tagungsräume verwüstet«, sagte der Sekretär.
»Mit einer solchen Reaktion haben wir wirklich nicht gerechnet«, erklärte Stan Thorne, die dicken Arme über seinem ansehnlichen Bauch verschränkt.
»Nein«, sagte Cross mit leise flötender Stimme. »Und warum nicht, verdammt noch mal? Ich habe immer gesagt, die Sache geht an die Nieren. Na, und das ist die Antwort aus dem Bauch! Es ist eine gottverdammte Katastrophe!«
»Sie haben nicht einmal Forderungen gestellt«, bemerkte eine schlanke Frau im grünen Kostüm.
»Was wollen sie denn um Himmels Willen erreichen?«, fragte ein anderer, den Kaye nicht sehen konnte.
»Wir sollen einen dicken Schuss vor den Bug bekommen«, schimpfte Cross. »Es hat die Gesellschaft kalt erwischt. Sie wollen, dass schnell, ganz schnell etwas geschieht, und scheißen auf das Verfahren.«
»Möglicherweise brauchen wir jetzt genau das«, warf ein kleiner, schmaler Mann ein. Kaye kannte ihn: Lewis Jansen, Marketingleiter der Pharmaabteilung von Americol.
»Was Sie nicht sagen!«, schrie Cross. »Kaye Lang, ich brauche Sie.«
»Hier«, sagte Kaye und trat vor.
»Gut! Frank, Sandra, Sie bringen Kaye auf den Bildschirm, sobald sie die Straße frei gemacht haben. Wer ist dafür zuständig?«
Eine ältere Frau im Bademantel, die einen AluminiumAktenkoffer bei sich hatte, zählte aus dem Gedächtnis die Namen der örtlichen Fernsehmoderatoren und ihrer Mitarbeiter auf.
»Lewis, lassen Sie Ihre Leute ein paar Punkte ausarbeiten, über die sie reden kann.«
»Meine Leute sind in einem anderen Hotel.«
»Dann rufen Sie sie an! Sagen Sie den Leuten, wir arbeiten so schnell wir können, aber wir dürfen uns mit dem Impfstoff nicht zu sehr beeilen, sonst schaden wir der Bevölkerung — ach Mist, sagt ihnen alles, was wir unten auf der Tagung besprochen haben.
Wann werden die Leute endlich lernen, mal in Ruhe zuzuhören?
Funktioniert das Telefon nicht?«
Kaye fragte sich, ob Mitch wohl in die Krawalle geraten war und ob es ihm gut ging.
Mark Augustine kam ins Zimmer. Langsam wurde es eng. Die Luft war stickig und warm. Augustine nickte in Dickens Richtung und lächelte Kaye freundlich zu. Er wirkte ruhig und konzentriert, aber irgendetwas in seinem Blick strafte die Fassade Lügen.
»Sehr gut!«, dröhnte Cross. »Dann haben wir die Bande ja zusammen. Mark, was ist los?«
»Richard Bragg ist vor zwei Stunden in Berkeley erschossen worden«, sagte Augustine. »Er war mit seinem Hund spazieren.«
Augustine legte den Kopf schief, presste die Lippen zusammen und warf Kaye einen gequälten Blick zu.
»Bragg?«, fragte jemand.
»Der Idiot mit dem Patent«, erwiderte ein anderer.
Cross erhob sich vom Bett und wandte sich an Augustine. »Hat es etwas mit der Nachricht über das Baby zu tun?«
»Das könnte man annehmen. Irgendjemand in dem Krankenhaus in Mexico City hat es ausgeplaudert. La Prensa berichtet, das Baby sei schwer missgebildet gewesen. Heute Morgen um sechs kam es auf allen Kanälen.«
Kaye wandte sich zu Dicken. »Tot geboren«, sagte er.
Augustine zeigte zum Fenster. »Das wäre eine Erklärung für den Aufruhr. Es sollte eigentlich eine friedliche Demonstration werden.«
»Dann also los«, sagte Cross aufgeräumt. »Es gibt eine Menge zu tun.«
Als sie zum Aufzug gingen, sah Dicken niedergeschlagen aus.
Halblaut sagte er zu Kaye: »Den Zoo vergessen wir besser.«
»Unsere Unterhaltung?«
»Es war voreilig. Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, wo man sich aus dem Fenster hängen sollte.«
Mitch ging die trümmerübersäte Straße entlang. Unter seinen Stiefelsohlen knirschten Glasscherben. Die gelben Markierungsbänder von Polizeiabsperrungen zogen sich um die Haupteingänge des Kongresszentrums und dreier Hotels. Umgekippte Autos waren wie Geschenke mit gelben Bändern umwickelt. Auf Fahrbahn und Bürgersteigen lagen Spruchbänder und Transparente. Immer noch roch es nach Tränengas und Rauch. Polizeibeamte in hautengen, dunkelgrünen Hosen und Khakihemden sowie Nationalgardisten im Tarnanzug säumten mit verschränkten Armen die Straße, während städtische Beamte aus Kleinbussen stiegen und den Schaden besichtigten. Die wenigen nichtoffiziellen Zaungäste wurden von Polizisten mit dunkler Brille lautlosbedrohlich beobachtet.
Mitch hatte versucht, wieder in sein Zimmer im Holiday Inn zu gelangen, aber irgendwelche unglückseligen Angestellte des Hotels hatten ihn im Auftrag der Polizei abgewiesen. Sein Gepäck — eine Reisetasche — stand noch in seinem Zimmer, aber die Aktentasche hatte er bei sich, und nur die war ihm wirklich wichtig. Er hatte Nachrichten für Kaye und Dicken hinterlassen, aber es gab keine feste Stelle, an der sie ihn zurückrufen konnten.
Die Tagung war offenbar zu Ende. Die Hotelgaragen spuckten Dutzende von Autos aus, und ein paar Häuserblocks weiter südlich warteten lange Reihen von Taxis auf Fahrgäste mit Rollenkoffern.
Mitch konnte seine eigenen Gefühle nicht genau dingfest machen. Wut, Adrenalinstöße, eine bittere Welle der klammheimlichen Freude über die Schäden — typische Begleiterscheinungen, wenn man dem gewalttätigen Mob so nahe ist. Scham, die einzige dünne Schutzschicht über dem Furnier der Gesellschaft; seit der Nachricht von dem toten Baby auch Schuldgefühle, weil er vielleicht so falsch gelegen hatte. Und inmitten dieser aufblitzenden Emotionen empfand Mitch am stechendsten ein scheußliches Gefühl des Vertriebenseins. Einsamkeit.
Was er an diesem Morgen und Nachmittag am meisten bedauerte, war das verpasste Frühstück mit Kaye Lang.
Sie hatte in der Nachtluft so gut geduftet. Kein Parfüm, frisch gewaschene Haare, glatte Haut, der Atem mit dem Geruch nach Wein, aber nicht unangenehm, sondern blumig. Der Blick ein wenig benommen, ihr Abschiedsgruß herzlich und erschöpft.
Mit einer Deutlichkeit, die eher Erinnerung als Fantasie war, konnte er sich ausmalen, wie er neben ihr in einem Hotelbett lag.
Erinnerungen an die Zukunft.
In seiner Jackentasche tastete er nach den Flugtickets, die er immer bei sich trug.
Dicken und Kaye stellten einen Rettungsanker dar, einen neuen Sinn in seinem Leben. Irgendwie hatte er Zweifel, ob Dicken etwas für die Fortsetzung dieser Beziehung tun würde. Dicken war ihm nicht unsympathisch; der Virusjäger erschien ihm ehrlich und scharfsinnig. Mitch hätte gerne mit ihm zusammengearbeitet und ihn besser kennen gelernt, aber das konnte er sich überhaupt nicht vorstellen. Man mochte es Instinkt nennen, aber eher war es eine auf die Zukunft gerichtete Erinnerung an …
… Rivalität.
Er setzte sich auf eine niedrige Betonmauer gegenüber dem SerranoHotel und hielt seine Aktentasche mit beiden Pranken fest.
Er versuchte, sich jene Geduld zu eigen zu machen, mit der er auch die langen, umständlichen Grabungen in der Gesellschaft unzufriedener Postdocs überstanden hatte.
Plötzlich sah er eine Frau im blauen Kostüm aus der Lobby des Serrano kommen. Sie blieb im Schatten kurz stehen und sprach mit den beiden Türstehern und einem Polizisten. Es war Kaye.
Mitch ging langsam über die Straße und ging um einen Toyota mit eingeschlagenen Scheiben herum. Kaye sah ihn und winkte.
Sie trafen sich auf dem freien Platz vor dem Hotel. Kaye hatte Ringe unter den Augen.
»Das war ja schrecklich«, sagte sie.
»Ich war hier draußen und habe alles gesehen«, erwiderte Mitch.
»Wir schalten jetzt einen Gang rauf. Ich mache ein paar Fernsehinterviews, und dann fliegen wir wieder nach Washington. Es muss eine Untersuchung geben.«
»Und alles nur wegen dieses ersten Babys?«
Kaye nickte. »Vor einer Stunde haben wir Näheres erfahren. Die NIH haben eine Frau überwacht, die sich vor einem Jahr die Herodes-Grippe zugezogen hatte. Sie bekam die Fehlgeburt mit der Zwischentochter, und einen Monat später war sie wieder schwanger. Das Baby brachte sie einen Monat zu früh zur Welt, und es ist tot. Schwere Fehlbildungen. Anscheinend Zyklozephalie.«
»Du liebe Güte«, sagte Mitch.
»Augustine und Cross … nun ja, darüber darf ich nicht reden.
Aber es sieht so aus, als müssten wir alle Planungen umschmeißen und vielleicht sogar für die Erprobung am Menschen einen verkürzten Zeitplan aufstellen. Der Kongress schreit Zeter und Mordio und zeigt mit dem Finger auf alle und jeden. Es ist ein riesiger Schlamassel.«
»Klar. Was können wir tun?«
»Wir?« Kaye schüttelte den Kopf. »Was wir im Zoo besprochen haben, erscheint jetzt nicht mehr besonders sinnvoll.«
»Warum nicht?«, fragte Mitch und schluckte.
»Dicken hat eine Kehrtwendung gemacht.«
»Was für eine Kehrtwendung?«
»Er ist völlig fertig und glaubt, wir lägen ganz und gar daneben.«
Mitch legte den Kopf auf die Seite und runzelte die Stirn. »Das sehe ich nicht so.«
»Vielleicht geht es dabei mehr um Politik als um Wissenschaft.«
»Aber wo bleibt dann die Wissenschaft?«, wandte Mitch ein.
»Soll eine einzige Frühgeburt, ein einziges fehlgebildetes Baby …«
»… uns mundtot machen?«, vollendete Kaye seinen Satz. »Vermutlich schon. Ich weiß es nicht.« Sie ließ den Blick über die Straße schweifen.
»Gehen noch andere Schwangerschaften dem Ende entgegen?«, wollte Mitch wissen.
»Erst in ein paar Monaten«, erwiderte Kaye. »Die meisten Eltern haben sich zur Abtreibung entschlossen.«
»Das wusste ich nicht.«
»Es wird nicht viel darüber geredet. Die beteiligten Institutionen nennen keine Namen. Sie können sich ja sicher vorstellen, dass es viele Gegner auf den Plan rufen würde.«
»Was halten Sie davon?«
Kaye legte sich die Hand auf das Herz und dann auf die Magengegend. »Ich fühle mich, als hätte mir jemand einen Tiefschlag versetzt. Ich brauche Zeit, um über alles nachzudenken und noch ein paar Untersuchungen anzustellen. Übrigens habe ich Dicken gefragt, aber er hat mir Ihre Telefonnummer nicht gegeben.«
Mitch lächelte viel sagend.
»Was ist?«, fragte Kaye ein wenig irritiert.
»Nichts.«
»Hier ist meine Nummer in Baltimore«, sagte sie und gab ihm eine Visitenkarte. »Rufen Sie mich in ein paar Tagen an.«
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft.
Dann drehte sie sich um und ging wieder ins Hotel. Über die Schulter rief sie ihm zu: »Ich meine, was ich sage. Rufen Sie an!«
Kaye wurde in einem unauffälligen braunen Pontiac ohne Behördennummernschilder aus dem Flughafen von Baltimore geschleust. Sie hatte drei Stunden in Fernsehstudios und sechs Stunden im Flugzeug hinter sich; ihre Haut fühlte sich an wie glasiert.
Zwei Mitarbeiter des Secret Service saßen höflich schweigend mit im Wagen, der eine auf dem Vordersitz, der andere neben ihr auf der Rückbank. Zwischen Kaye und dem Geheimdienstmann saß Farrah Tighe, die Assistentin, die man ihr gerade zugeteilt hatte. Tighe, ein paar Jahre jünger als Kaye, hatte zurückgekämmte blonde Haare, ein angenehmes, breites Gesicht, leuchtend blaue Augen und breite Hüften, die ihre Mitfahrer unter den beengten Verhältnissen auf eine harte Probe stellten.
»Noch vier Stunden, bis Sie mit Mark Augustine zusammentreffen«, bemerkte Tighe.
Kaye nickte. In Gedanken war sie ganz woanders.
»Sie haben um ein Treffen mit zwei bei den NIH einquartierten Müttern gebeten. Ich weiß nicht genau, ob wir diesen Termin heute noch unterbringen können.«
»Bringen Sie ihn unter«, sagte Kaye mit Nachdruck. »Bitte!«
Tighe sah sie ernst an.
»Bringen Sie mich zuallererst zur Klinik.«
»Wir haben noch zwei Fernsehinterviews …«
»Sagen Sie ab«, entgegnete Kaye. »Ich will mich mit Mrs. Hamilton unterhalten.«
Durch die langen Korridore ging Kaye vom Parkplatz zu den Aufzügen des Gebäudes Nummer 10.
Auf der Fahrt vom Flughafen zum NIH Gelände hatte Tighe sie über die Ereignisse des vergangenen Tages unterrichtet. Richard Bragg war beim Verlassen seines Hauses in Berkeley sieben Mal in Rumpf und Kopf geschossen worden und noch am Tatort gestorben. Man hatte zwei Verdächtige festgenommen, beide männlich, beide Ehepartner von Frauen, die mit HerodesBabys im ersten Stadium schwanger waren. Man hatte die Männer ein paar Häuserblocks entfernt aufgegriffen. Sie waren betrunken, und in ihrem Auto hatten sich die leeren Bierdosen gehäuft.
Daraufhin hatte sich auf Anordnung des Präsidenten der Secret Service eingeschaltet, um wichtige Mitglieder der Taskforce zu schützen.
Die Mutter des ersten in Nordamerika geborenen Säuglings im zweiten Stadium — sie war als Mrs. C. bekannt — befand sich immer noch in einem Krankenhaus in Mexico City. Sie war aus Litauen nach Mexiko ausgewandert; zwischen 1990 und hatte sie bei einem Unterstützungsfonds für Aserbaidschan gearbeitet. Derzeit stand sie unter Schock; erste medizinische Berichte sprachen von einem akuten Schuppenekzem im Gesicht.
Das tote Kind war von Mexico City nach Atlanta geschickt worden; es sollte morgen früh eintreffen.
Luella Hamilton hatte gerade ein leichtes Mittagessen eingenommen. Sie saß auf einem Sessel am Fenster, das auf einen kleinen Garten und die fensterlose Ecke eines anderen Gebäudes hinausging.
Das Zimmer teilte sie mit einer anderen Mutter, die sich gerade ein Stück den Flur entlang in einem Untersuchungszimmer befand. Insgesamt nahmen jetzt acht Mütter an der Studie der Taskforce teil.
Als Kaye hereinkam, sagte Mrs. Hamilton: »Ich habe mein Kind verloren«. Kaye ging um das Bett herum und nahm sie in den Arm. Mrs. Hamilton erwiderte die Umarmung herzlich und mit einem kleinen Stöhnen.
Tighe war mit verschränkten Armen neben der Tür stehen geblieben.
»Sie ist nachts auf einmal rausgerutscht.« Mrs. Hamilton hielt den Blick unverwandt auf Kaye gerichtet. »Ich habe es kaum gemerkt. Meine Beine waren nass, und da war nur ganz wenig Blut.
Sie hatten einen Monitor auf meinem Bauch angebracht, und auf einmal fing der an zu piepsen. Ich bin aufgewacht, und plötzlich waren die Schwestern da und haben ein Sauerstoffzelt aufgebaut.
Sie haben es mir nicht gezeigt. Eine Geistliche kam, Reverend Acherley von meiner Kirche, sie war gleich für mich da, das war doch nett von ihr, finden Sie nicht?«
»Es tut mir sehr Leid«, sagte Kaye.
»Die Geistliche hat mir von einer anderen Frau in Mexico City erzählt, von dem zweiten Baby …«
Kaye schüttelte mitfühlend den Kopf.
»Kaye, ich habe solche Angst!«
»Es tut mir Leid, dass ich nicht hier sein konnte. Ich war in San Diego und hatte keine Ahnung, dass Sie es abgestoßen haben.«
»Na ja, schließlich sind Sie ja nicht meine Ärztin, stimmt’s?«
»Ich habe viel an Sie gedacht. Auch an die anderen«, sagte Kaye, »aber vor allem an Sie.«
»Jaja, ich bin eine starke schwarze Frau, und wir machen Eindruck.« Mrs. Hamilton lächelte nicht, als sie das sagte. Ihre Miene war verzerrt, und die Hautfarbe erinnerte fast an eine Olive. »Ich habe am Telefon mit meinem Mann gesprochen. Er kommt heute, und wir dürfen uns sehen, aber nur durch eine Glasscheibe. Sie haben mir versprochen, wenn das Baby geboren ist, lassen sie mich gehen. Aber jetzt sagen sie, dass sie mich hier behalten wollen. Sie sagen, ich würde wieder schwanger werden. Sie wissen, dass es so kommt. Mein eigenes kleines Jesuskind. Was soll die Welt mit Millionen von kleinen Jesuskindern anfangen?« Sie fing zu weinen an. »Ich bin nicht mit meinem Mann zusammengewesen und auch mit keinem anderen. Ich schwöre es!«
Kaye drückte ihre Hand. »Es ist wirklich schwierig«, sagte sie.
»Ich will ja mithelfen, aber meine Familie, die macht wirklich viel durch«, erwiderte Mrs. Hamilton. »Mein Mann wird fast verrückt, Kaye. Die könnten es uns wirklich ein bisschen leichter machen.«
Sie starrte aus dem Fenster, hielt Kayes Hand immer noch fest und schwenkte sie dann leicht hin und her, als lausche sie auf irgendeine innere Musik. »Sie hatten doch Zeit zum Nachdenken.
Sagen Sie mal, was ist eigentlich los?«
Kaye richtete den Blick starr auf Mrs. Hamilton und überlegte, was sie antworten sollte. Schließlich sagte sie: »Das versuchen wir immer noch herauszufinden. Es ist eine schwere Bürde, die uns da auferlegt ist.«
»Von Gott auferlegt?«, fragte Mrs. Hamilton.
»Von innen auferlegt«, erwiderte Kaye.
»Wenn es uns von Gott auferlegt ist, werden alle kleinen Jesuskinder sterben, außer einem«, sagte Mrs. Hamilton. »Da habe ich keine großen Chancen.«
»Ich finde mich widerlich«, sagte Kaye, während Tighe sie zu Dr. Liptons Arbeitszimmer brachte.
»Warum?«
»Weil ich nicht da war.«
»Sie können doch nicht überall sein.«
Lipton war in einer Besprechung, konnte sie aber lange genug unterbrechen, um mit Kaye zu reden. Sie gingen in einen Nebenraum, der mit Aktenschränken und einem Computer vollgestopft war.
»Wir haben gestern Abend Ultraschall gemacht und den Hormonspiegel überprüft. Sie war fast hysterisch. Die Fehlgeburt hat ihr wenig bis gar keine Schmerzen verursacht. Ich glaube, sie wollte, dass es stärker weh tut. Es war ein klassischer HerodesFetus.«
Lipton hielt eine Reihe Fotos hoch. »Wenn das eine Krankheit ist, dann eine verdammt gut organisierte«, sagte sie. »Die Pseudoplazenta unterscheidet sich kaum von einer normalen Plazenta, nur ist sie stark verkleinert. Aber bei der Fruchtblase sieht es anders aus.« Lipton wies auf einen Fortsatz auf einer Seite der eingeschrumpften Fruchtblase, die mit dem Fetus ausgestoßen worden war. »Ich weiß nicht, wie Sie es nennen würden, aber ich halte es für einen kleinen Eileiter.«
»Und die anderen Frauen in der Studie?«
»Bei zweien dürfte die Abstoßung in den nächsten Tagen stattfinden, bei den übrigen im Laufe der nächsten zwei Wochen. Ich habe Geistliche, einen Rabbiner und mehrere Psychiater geholt, und auch ihre Bekannten — aber nur wenn es Frauen sind. Die Mütter sind zutiefst unglücklich. Was nicht verwunderlich ist.
Aber sie haben sich bereit erklärt, weiter an dem Projekt teilzunehmen.«
»Kein Kontakt mit Männern?«
»Kein männliches Wesen, das die Pubertät hinter sich hat«, erklärte Lipton. »Auf Anordnung von Mark Augustine, Mitunterzeichner Frank Shawbeck. Manche Familien sind die Behandlung leid. Ich kann es ihnen nicht verdenken.«
»Sind auch reiche Frauen hier?«, fragte Kaye trocken.
»Nein«, erwiderte Lipton und lachte lustlos. »Was hatten Sie denn gedacht?«
»Sind Sie verheiratet, Dr. Lipton?«, fragte Kaye.
»Vor einem halben Jahr geschieden. Und Sie?«
»Witwe.«
»Da haben wir ja Glück gehabt«, sagte Lipton.
Tighe zeigte auf ihre Armbanduhr. Lipton blickte zwischen den beiden hin und her. Dann sagte sie scharf: »Tut mir Leid, dass ich Sie aufgehalten habe. Meine Leute warten auch auf mich.«
Kaye hielt die Fotos von der Pseudoplazenta und der Fruchtblase hoch. »Was meinen Sie damit, wenn Sie sagen, es sei eine schrecklich gut organisierte Krankheit?«
Lipton stützte sich auf einen Aktenschrank. »Ich hatte mit Tumoren und offenen Stellen zu tun, mit Beulen und Warzen und den ganzen anderen schrecklichen Dingen, die Krankheiten in unserem Körper anrichten können. Sicher, auch da gibt es Strukturen. Durch Neuorganisation der Durchblutung werden Zellen unterwandert. Gier auf Nährstoffe. Aber diese Fruchtblase ist ein stark spezialisiertes Organ, und sie ist ganz anders als alles, was ich bisher untersucht habe.«
»Sie ist also nach Ihrer Ansicht kein Produkt einer Krankheit?«
»Das habe ich nicht gesagt. Die Folgen sind Fehlbildungen, Schmerzen, Leid und Fehlgeburten. Das Kind in Mexiko …« Lipton schüttelte den Kopf. »Ich will meine Zeit nicht damit vergeuden, es als etwas anderes zu beschreiben. Es ist eine neue Krankheit, und zwar eine teuflisch erfindungsreiche, mehr nicht.«
Dicken stieg die flache Auffahrt des Parkhauses am Clifton Way hoch und warf einen kurzen Blick auf den klaren Himmel, an dem niedrige, dicke Schäfchenwolken hingen. In der frischen kühlen Luft würde er hoffentlich schnell wieder einen klaren Kopf bekommen.
Am Abend zuvor war er aus Atlanta zurückgekehrt. Er hatte eine Flasche Jack Daniels gekauft, sich in sein Haus verkrochen und bis vier Uhr morgens getrunken. Auf dem Weg vom Wohnzimmer ins Bad war er über einen Stapel Lehrbücher gestolpert, mit der Schulter gegen eine Wand gerannt und der Länge nach hingefallen. Schulter und Bein waren voller blauer Flecken und schmerzten, aber er konnte gehen und war überzeugt, dass er kein Krankenhaus aufsuchen musste.
Aber sein Arm hing noch halb gebeugt herab, und sein Gesicht war grau. Der Kopf schmerzte vom Whisky. Innerlich fühlte er sich entsetzlich — verwirrt und verärgert über alles und jedes, vor allem aber über sich selbst.
Die Erinnerung an die geistige Jam Session im Zoo von San Diego quälte ihn wie ein Wundbrand. Dieser rücksichtslose Mitch Rafelson, der kaum etwas Handfestes beitrug, aber ständig das Gespräch zu bestimmen schien, wobei er ihre unausgegorenen Theorien infrage stellte und sie gleichzeitig anstachelte! Und dann noch Kaye Lang, liebenswürdiger, als er sie je erlebt hatte, fast strahlend und mit dem für sie typischen, unvergleichlichen Ausdruck verblüffter Konzentration. Kaye Lang, deren Interesse an ihm, Dicken, nicht über das Berufliche hinausging, verdammt noch mal!
Rafelson hatte ihn eindeutig ausgestochen. Wieder einmal kam er in den Augen einer Frau, an der ihm etwas lag, erst an zweiter Stelle. Und das, obwohl er während seines ganzen Erwachsenenlebens dem Schlimmsten die Stirn geboten hatte, mit dem die Erde einen Menschen — einen Mann — konfrontieren kann.
Aber was, zum Teufel, lag schon daran? Welche Bedeutung hatte sein männliches Selbstbewusstsein, sein Sexualleben angesichts der Herodes-Grippe?
Er bog um die Ecke in die Clifton Road und blieb einen Augenblick lang verwirrt stehen. Der Parkwächter hatte etwas von einer Mahnwache gesagt, aber keinen Hinweis auf ihre Größenordnung gegeben.
Die Straße zwischen dem kleinen, baumbestandenen Platz vor dem roten Backsteinportal des Gebäudes 1 der American Cancer Society und dem Emory Hotel jenseits der Clifton Road war voller Demonstranten. Manche standen auf den Beeten mit dunkelroten Azaleen; zum Haupteingang hatten sie einen schmalen Durchgang offen gelassen, aber sie versperrten das Besucherzentrum und die Cafeteria. Zu Dutzenden saßen sie mit geschlossenen Augen um die Säule mit der Büste der Hygieia und wiegten sich wie im stummen Gebet von einer Seite zur anderen.
Nach Dickens Schätzung waren es mindestens zweitausend Männer, Frauen und Kinder, die als Mahnwache auf irgendetwas warteten — auf Rettung oder zumindest auf die Nachricht, dass die Welt nicht untergehen werde. Viele Frauen und nicht wenige Männer trugen immer noch die orangefarbenen oder dunkelroten Masken, von denen ein halbes Dutzend windiger Herstellerfirmen behaupteten, sie könnten alle Viren, einschließlich SHEVA, abhalten.
Die Organisatoren der Mahnwache — als Protestaktion wurde sie nicht bezeichnet — gingen mit Kühlboxen und Pappbechern zwischen ihren Leuten hin und her und verteilten Flugblätter, Ratschläge und Anweisungen. Die Teilnehmer der eigentlichen Mahnwache sprachen kein einziges Wort.
Dicken ging durch die Menge zum Eingang des Gebäudes 1.
Obwohl er die Situation als gefährlich empfand, fühlte er sich von ihnen angezogen. Er wollte wissen, was das Fußvolk dachte und fühlte — die Menschen an der vordersten Front.
Durch die Menge und um sie herum bewegten sich langsam die Kameraleute; manche gingen auch energischer die Gassen entlang, die Kamera auf Hüfthöhe, um Unmittelbarkeit zu suggerieren.
Später hoben sie die Kameras auf die Schultern, um einen Überblick zu vermitteln und die Größenverhältnisse zu zeigen.
»Du lieber Gott, was haben Sie denn gemacht?«, fragte Jane Salter, als Dicken ihr in dem langen Flur zu seinem Büro begegnete. Sie trug einen Aktenkoffer und einen Arm voller Aktenvorgänge, die in grünen Mappen steckten.
»Nur ein kleiner Unfall«, erwiderte Dicken. »Ich bin hingefallen.
Haben Sie gesehen, was draußen los ist?«
»Allerdings. Mir ist es kalt über den Rücken gelaufen.« Sie ging hinter ihm her und blieb in der offenen Tür stehen. Dicken sah sie über die Schulter an, zog den alten Drehstuhl heran und nahm Platz. Er sah wie ein enttäuschter kleiner Junge aus.
»Fertig wegen Mrs. C.?«, wollte Salter wissen. Mit der Ecke eines Aktendeckels schob sie eine braune Haarsträhne zurück. Die Strähne fiel wieder nach vorn, aber jetzt achtete sie nicht mehr darauf.
»Vermutlich«, sagte Dicken.
Salter bückte sich, setzte den Aktenkoffer ab und trat dann vor, um die Papiere auf seinen Tisch zu legen. »Tom Scarry hat das Baby jetzt«, sagte sie. »Es wurde in Mexico City obduziert. Ich nehme an, die haben gründliche Arbeit geleistet. Er macht alles noch einmal, nur um sicher zu gehen.«
»Haben Sie es gesehen?«
»Nur eine Videoaufnahme von dem Augenblick, als sie es im Gebäude 15 aus der Eisbox genommen haben.«
»Ein Monster?«
»Aber hallo«, sagte Salter, »ein richtiges Ungetüm.«
»Wem die Stunde schlägt«, erwiderte Dicken.
»Mir war eigentlich nie klar, wie Sie zu der ganzen Sache stehen, Christopher«, erklärte Salter und lehnte sich gegen den Türrahmen. »Es scheint, als wären Sie überrascht, dass es eine so heimtückische Krankheit ist. Dabei wussten wir das doch von Anfang an, oder?«
Dicken schüttelte den Kopf. »Ich bin schon so lange hinter Krankheiten her … Diesmal ist es anscheinend anders.«
»Wie? Mitleid erregender?«
»Jane, ich war gestern Abend betrunken. Ich bin zu Hause gestürzt und habe mir die Schulter angeknackst. Ich fühle mich grässlich.«
»Ein Besäufnis? Das klingt eher nach Liebeskummer und nicht nach einer Fehldiagnose.«
Dicken verzog das Gesicht. »Was wollen Sie mit den ganzen Sachen?«, fragte er und deutete mit dem linken Zeigefinger auf die Akten.
»Ich bringe Material rüber zum neuen Annahmelabor. Sie haben noch vier Seziertische bekommen. Wir stellen Personal und Verfahrensvorschriften zusammen, damit wir rund um die Uhr unter L3-Bedingungen obduzieren können. Verantwortlich ist Dr. Sharp. Ich assistiere der Gruppe, die Nerven- und EpithelUntersuchungen macht. Unter anderem halte ich ihre Aufzeichnungen auf dem neuesten Stand.«
»Könnten Sie mich unterrichten, wenn Sie etwas Besonderes finden?«
»Ich weiß ja nicht einmal, warum Sie eigentlich hier sind, Christopher. Als Sie mit Augustine weggegangen sind, haben Sie hoch über uns geschwebt.«
»Mir fehlt die vorderste Front. Die Stelle, an der neue Nachrichten zuerst eintreffen.« Er seufzte. »Ich bin immer noch hinter Viren her, Jane. Jetzt bin ich zurückgekommen, um ein paar alte Artikel durchzusehen. Vielleicht ist mir ja etwas Entscheidendes entgangen.«
Jane lächelte. »Na ja, heute Morgen habe ich gehört, Mrs. C. hätte Genitalherpes gehabt. Irgendwie ist er schon in einem frühen Entwicklungsstadium auf das Baby C. übergegangen. Es war von Hautschäden übersät.«
Dicken blickte überrascht auf. »Herpes? Das hat bisher noch niemand berichtet.«
»Ich habe ja gesagt, es war ein Ungetüm«, erwiderte Jane. Herpes — das veränderte möglicherweise die Deutung des gesamten Vorganges. Wie konnte das Kind sich den Genitalherpes zuziehen, während es geschützt im Mutterleib lag? Normalerweise wurde die Krankheit über den Geburtskanal von der Mutter auf das Kind übertragen.
Dicken war ernsthaft beunruhigt.
Dr. Denby kam am Büro vorüber, lächelte kurz, machte dann kehrt und schaute durch die offene Tür herein. Er war Spezialist für Bakterienwachstum, ein kleiner, kahlköpfiger Mann mit dem Gesicht eines Engels, elegantem, pflaumenblauem Hemd und roter Krawatte. »Jane? Weißt du schon, dass sie die Cafeteria von außen blockiert haben? Hallo, Christopher.«
»Ich habe es gehört. Beeindruckend«, erwiderte Jane. »Jetzt haben sie etwas anderes vor. Sehen wir es uns an?«
»Nicht wenn es mit Gewalt zu tun hat«, sagte Salter mit einem Schaudern.
»Das ist ja gerade das Gruselige. Es ist friedlich und völlig still!
Wie eine Tanzgruppe ohne Kapelle.«
Dicken kam mit. Sie nahmen den Aufzug und die Treppe zur Vorderseite des Gebäudes. Gemeinsam mit anderen Angestellten und Ärzten gingen sie in die Eingangshalle, in der Schautafeln zur Geschichte der CDC aufgestellt waren. Draußen bewegte sich die Menge in strikter Ordnung. Die Anführer riefen Anweisungen durch Megafone.
Die Hände in die Hüften gestemmt, betrachtete ein Sicherheitsbeamter die Menge durch das Fenster. »Sehen Sie sich das an«, sagte er.
»Was?«, fragte Jane.
»Sie teilen sich, Männlein und Weiblein. Spalten sich auf«, sagte er mit verwirrten Blick.
Die Spruchbänder hingen so, dass sie von der Eingangshalle aus und durch die zahlreichen draußen aufgereihten Kameras deutlich zu erkennen waren. Eines wurde von leichtem Wind gebläht. Auf zwei gebauschten Tüchern konnte Dicken die Aufschrift lesen: MACHT FREIWILLIG MIT. TRENNT EUCH. RETTET EIN KIND.
So wie sich das Rote Meer vor Moses geteilt hatte, teilte sich jetzt die Menge im Angesicht ihrer Führer: Frauen und Kinder wichen auf die eine Seite, Männer auf die andere. Die Frauen sahen grimmig entschlossen aus. Die Männer wirkten trübsinnig und verschüchtert.
»Du lieber Gott«, sagte der Wachmann. »Ich soll also meine Frau verlassen?«
Dicken fühlte sich, als sei er unter eine Dampfwalze geraten. Er ging wieder in sein Büro und rief in Bethesda an. Augustine war noch nicht da. Und Kaye Lang besichtigte gerade das Magnuson Clinical Center.
Augustines Sekretärin fügte hinzu, auf dem NIH Gelände seien ebenfalls mehrere tausend Demonstranten. »Machen Sie mal den Fernseher an«, sagte sie. »Die marschieren im ganzen Land.«
Augustine fuhr auf der Old Georgetown Road rund um das NIH Gelände zur Lincoln Street und steuerte einen provisorischen Angestelltenparkplatz in der Nähe der TaskforceZentrale an. Erst vor zwei Wochen hatte man der Taskforce auf Wunsch der Leiterin der Gesundheitsbehörde ein neues Gebäude zugewiesen. Die Demonstranten wussten offensichtlich nichts von dem Wechsel: Sie marschierten nach wie vor zu dem früheren Sitz der Gruppe im Gebäude 10.
Augustine ging schnell durch das wärmende Sonnenlicht zum Eingang im Erdgeschoss. NIHSicherheitsbeamte und die neu eingestellten privaten Wachleute standen vor dem Haus und unterhielten sich leise. Sie hatten ein paar hundert Meter weiter kleine Menschenansammlungen ausgemacht.
»Keine Sorge, Mr. Augustine«, sagte der Sicherheitschef des Gebäudes, als Mark sich mit seiner IDKarte Zutritt zum Haupteingang verschaffte. »Heute Nachmittag kommt die Nationalgarde.«
»Na wunderbar.« Augustine biss die Zähne zusammen und drückte den Aufzugsknopf. In seinem neuen Büro bemühten sich drei Assistenten und seine persönliche Sekretärin, die mütterliche und sehr tüchtige Mrs. Florence Leighton, um die Wiederherstellung der Computernetzverbindung zu den übrigen NIH.
»Was stimmt denn da nicht? Sabotage?«, fragte Augustine ein wenig ungehalten.
»Nein«, erwiderte Mrs. Leighton und drückte ihm einen Stapel Ausdrucke in die Hand. »Dummheit. Der Server hat sich entschlossen, uns nicht zu erkennen.«
Augustine knallte die Bürotür zu, zog seinen Drehstuhl zu sich heran und warf die Papiere auf den Schreibtisch. Das Telefon piepte. Er griff nach dem Hörer und drückte auf den Knopf.
»Fünf Minuten keine Störung bitte, Florence, damit ich meine Gedanken ordnen kann«, bettelte er.
»Es ist Kennealy im Auftrag des Vizepräsidenten, Mark«, sagte Mrs. Leighton.
»Das hat mir gerade noch gefehlt. Stellen Sie durch.«
Zuerst war Tom Kennealy am Apparat, der Leiter der technischen Kommunikation beim Vizepräsidenten — eine weitere neue Position, die man erst vor einer Woche geschaffen hatte; er fragte Augustine, ob man ihn schon über das Ausmaß der Proteste unterrichtet habe.
»Ich sehe es aus meinem Fenster«, erwiderte er.
»Nach der letzten Zählung stehen sie vor vierhundertsiebzig Krankenhäusern.«
»Ein Hoch auf das Internet«, erwiderte Augustine.
»Vier Demonstrationen sind aus dem Ruder gelaufen, den Aufruhr von San Diego nicht mitgerechnet. Der Vizepräsident ist sehr besorgt, Mark.«
»Sagen Sie ihm, dass ich mehr als nur besorgt bin. Es ist die schlechteste Nachricht, die ich mir vorstellen kann — ein totes, bis zum Ende ausgetragenes Herodes Baby.«
»Was ist mit der HerpesGeschichte?«
»Alles Quatsch. Mit Herpes steckt ein Kind sich erst bei der Geburt an. Die haben in Mexico City sicher keine Vorsichtsmaßnahmen getroffen.«
»Da haben wir etwas anderes gehört. Vielleicht können wir sie damit ein bisschen beruhigen? Dass es ein krankes Kind war?«
»Klar ist es krank, Tom. Wir müssen uns hier auf die Herodes-Grippe konzentrieren.«
»Na gut. Ich habe den Vizepräsidenten unterrichtet. Hier ist er, Mark.«
Der Vizepräsident kam an den Apparat. Augustine dämpfte seinen Tonfall und begrüßte ihn in aller Ruhe. Der Vizepräsident sagte, man habe für die NIH militärische Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, und das Gleiche gelte für die CDC und die fünf Forschungszentren der Taskforce. Was das bedeutete, konnte Augustine sich lebhaft ausmalen: Stacheldraht, Polizeihunde, Blendgranaten und Tränengas. Eine großartige Atmosphäre für heikle Forschungsarbeiten.
»Herr Vizepräsident, bitte vertreiben Sie sie nicht vom Gelände«, sagte Augustine. »Lassen Sie sie bleiben und protestieren.«
»Der Präsident hat vor einer Stunde die Anweisung erteilt. Warum sollten wir sie ändern?«
»Weil es so aussieht, als würden sie nur Dampf ablassen. Es ist nicht wie in San Diego. Ich möchte mich hier auf dem Campus mit den Anführern treffen.«
»Mark, Sie sind kein ausgebildeter Verhandlungsführer«, warf der Vizepräsident ein.
»Nein, aber ich bin tausendmal besser als eine Kette von Soldaten in Kampfanzügen.«
»Das fällt in die Zuständigkeit des NIHDirektors.«
»Wer verhandelt denn nun, Sir?«
»Der Direktor und der Stabschef treffen mit den Anführern des Protestes zusammen. Wir dürfen uns mit unseren Bemühungen nicht verzetteln und müssen mit einer Stimme sprechen, Mark.
Kommen Sie also nicht auf die Idee, selbst ’rauszugehen und mit ihnen zu reden.«
»Und was ist, wenn es noch ein totes Baby gibt, Sir? Das erste ist wie aus dem Nichts aufgetaucht — wir haben erst vor sechs Tagen erfahren, dass es unterwegs war. Wir haben versucht, eine Arbeitsgruppe zur Unterstützung hinzuschicken, aber das Krankenhaus hat abgelehnt.«
»Sie haben Ihnen die Leiche geschickt. Das spricht doch für Kooperationsbereitschaft. Soweit ich von Tom gehört habe, hätte niemand es retten können.«
»Nein, aber wir hätten es früher erfahren sollen, dann hätten wir auch unsere Pressemitteilungen koordinieren können.«
»Lassen Sie das nicht zum Zankapfel werden, Mark.«
»Sir, bei allem gebührenden Respekt, aber die internationale Bürokratie bringt uns noch um. Deshalb sind diese Proteste ja auch so gefährlich. Man wird uns die Schuld zuweisen, ob wir etwas dafür können oder nicht — ehrlich gesagt, ist mir jetzt schon ganz schlecht. Ich kann nicht für etwas die Verantwortung übernehmen, auf das ich keinen Einfluss habe!«
»Wir sind jetzt auf Ihren Einfluss angewiesen, Mark.« Der Vizepräsident drückte sich wohlüberlegt aus.
»Tut mir Leid. Ich weiß, Sir. Unsere Verbindungen zu Americol verursachen alle möglichen Probleme. Den Impfstoff anzukündigen … nach meiner Ansicht völlig verfrüht …«
»Der gleichen Meinung ist auch Tom, ebenso wie ich selbst.«
Und was ist mit dem Präsidenten? dachte er. »Ich weiß es zu schätzen, aber die Katze ist aus dem Sack. Nach Auskunft meiner Leute besteht eine Wahrscheinlichkeit von fünfzig zu fünfzig, dass die präklinischen Tests fehlschlagen. Das Ribozym ist bedrückend vielseitig. Es hat offensichtlich eine Affinität zu dreizehn oder vierzehn verschiedenen MessengerRNAs. Folglich kann es passieren, dass wir SHEVA aufhalten, uns dafür aber Myelinabbau einhandeln … Multiple Sklerose, um Gottes Willen!«
»Ms. Cross berichtet, sie hätten es verbessert, es sei jetzt viel spezifischer. Sie hat mir persönlich versichert, die Gefahr der MS habe nie bestanden. Das sei nur ein Gerücht gewesen.«
»Welche Form lässt die FDA testen, Sir? Der Papierkrieg wird wohl wieder von vorn losgehen …«
»Die FDA handhabt es in diesem Fall ganz locker.«
»Ich würde gerne eine Arbeitsgruppe für die Evaluierung ins Leben rufen. Die NIH haben die Leute, wir die Einrichtungen.«
»Dafür ist keine Zeit, Mark.«
Augustine schloss die Augen und rieb sich die Stirn. Er spürte, wie sein Gesicht puterrot wurde. »Ich hoffe, wir haben gute Karten gezogen«, sagte er leise. Das Herz schlug ihm bis zum Hals.
»Der Präsident gibt heute Abend bekannt, dass die Tests beschleunigt werden«, erklärte der Vizepräsident. »Wenn die präklinischen Tests erfolgreich verlaufen, werden wir in einem Monat mit der Erprobung an Menschen beginnen.«
»Dem könnte ich nicht zustimmen.«
»Robert Jackson sagt, sie schaffen es. Die Entscheidung ist gefallen. Es wird geschehen.«
»Hat der Präsident mit Frank darüber gesprochen? Oder mit der Leiterin des Gesundheitswesens?«
»Sie halten ständige Verbindung.«
»Bitte sorgen Sie dafür, dass der Präsident auch mich anruft, Sir.« Augustine war nicht gern in der Position des Bittstellers.
Hätte der Präsident geschickter taktiert, wäre er von sich aus darauf gekommen.
»Erledige ich, Mark. Und was Ihre Reaktion angeht … Befolgen Sie bitte, was die Leitung der NIH sagt: keine Spaltung, keine Aufteilung, verstanden?«
»Ich bin kein Meuterer, Herr Vizepräsident«, sagte Augustine.
»Wir sprechen uns bald wieder, Mark«, erwiderte der Vizepräsident.
Dann war Kennealy wieder in der Leitung. Er klang missmutig.
»Die Soldaten steigen jetzt in die Truppentransporter, Mark. Bleiben Sie einen Augenblick dran.« Er deckte den Hörer mit der Hand ab. »Der Vizepräsident ist aus dem Zimmer. Du lieber Gott, Mark, was haben Sie gemacht? Haben Sie ihn angemeckert?«
»Ich habe gesagt, der Präsident soll mich anrufen«, erwiderte Augustine.
»Na, das ist ja wirklich ein feiner Ratschlag«, bemerkte Kennealy trocken.
»Könnte mir bitte jemand mitteilen, wenn wir von einem weiteren Baby außerhalb des Landes erfahren?«, schimpfte Augustine.
»Oder innerhalb? Könnte das Außenministerium sich bitte täglich mit meinem Büro abstimmen? Ich hoffe, ich kämpfe hier nicht gegen Windmühlenflügel, Tom.«
»Bitte sprechen Sie nie wieder in dieser Weise mit dem Vizepräsidenten«, erwiderte Kennealy und legte auf.
Augustine drückte die Ruftaste. »Florence, ich muss einen Brief und eine Aktennotiz schreiben. Ist Dicken in der Nähe? Und wo ist Lang?«
»Dr. Dicken ist in Atlanta, Kaye Lang befindet sich auf dem Gelände. Ich nehme an, in der Klinik. Sie haben in zehn Minuten eine Besprechung mit ihr.«
Augustine öffnete seine Schreibtischschublade und nahm einen Notizblock heraus. Er hatte darauf die einunddreißig Befehlsebenen über sich skizziert, dreißig zwischen ihm und dem Präsidenten — es war bei ihm so etwas wie eine Besessenheit. Er strich fünf davon energisch durch, dann sechs, arbeitete sich bis zu zehn Namen und Diensträngen vor und zerriss das Blatt schließlich. Wenn es hart auf hart kommt, dachte er, kann ich mit ein wenig sorgfältiger Planung vermutlich zehn Befehlsebenen übergehen, vielleicht auch zwanzig.
Aber erst einmal musste er sich aus dem Fenster hängen, ihnen seinen Bericht und die zugehörige Aktennotiz schicken und dafür sorgen, dass alle die Unterlagen auf dem Schreibtisch hatten, ehe der Mist sich überall verbreitete.
Sehr weit würde er sich allerdings nicht vorwagen. Noch ehe irgendein Schleimer aus dem Weißen Haus — vielleicht Kennealy, der scharf auf eine Beförderung war — dem Präsidenten flüstern konnte, Augustine habe keinen Teamgeist, würde ganz sicher ein weiteres Ereignis die Aufmerksamkeit auf sich lenken.
Ein sehr schlimmes Ereignis.
Sich in Arbeit vergraben — das war das Einzige, woran Kaye jetzt denken konnte. Alle anderen Möglichkeiten waren ihr durch das Chaos von Gedanken und Gefühlen versperrt. Während sie die Klinik verließ und draußen hastig an den Tapeziertischen vorüberging, auf denen vietnamesische und koreanische Händler Toilettenartikel und Modeschmuck feilboten, überflog sie die Termine in ihrem Kalender. Sie hakte die Besprechungen und Anrufe ab — zuerst Augustine, dann zehn Minuten im Gebäude 15, wo sie Robert Jackson nach den RibozymBindungsstellen fragen wollte, anschließend in den Gebäuden 5 und 6 eine Gegenkontrolle bei zwei Wissenschaftlern der NIH, die ihr bei der Suche nach weiteren, SHEVA-ähnlichen HERVs halfen; und schließlich Besprechungen mit einem halben Dutzend weiterer Forscher, erfasst auf der Liste derjenigen, deren Meinungen sie sicherheitshalber einholen wollte.
Auf halbem Weg zwischen der Klinik und dem TaskforceZentrum summte ihr Handy. Sie holte es aus der Handtasche.
»Kaye, hier ist Christopher.«
»Ich habe jetzt überhaupt keine Zeit, und außerdem fühle ich mich beschissen«, blaffte sie ihn an. »Erzählen Sie mir etwas, das mir angenehmere Gefühle bereitet.«
»Wenn es Sie tröstet, ich fühle mich auch beschissen. Gestern Abend war ich betrunken, und draußen vor dem Haus stehen Demonstranten.«
»Die sind hier auch.«
»Aber hören Sie mal zu, Kaye. Wir haben den Säugling C jetzt in der Pathologie. Es wurde mindestens einen Monat zu früh geboren.«
»Es? Das Es hatte doch ein Geschlecht, oder?«
»Er. Er ist innen und außen voller Herpesläsionen. Er war im Mutterleib nicht gegen Herpes geschützt — SHEVA erzeugt in der Plazentaschranke eine Art Öffnung für opportunistische Herpesviren.«
»Dann stecken also beide unter einer Decke — alles dient nur dazu, Tod und Zerstörung zu verbreiten. Na wunderbar.«
»Nein«, sagte Dicken, »aber darüber möchte ich nicht am Telefon sprechen. Ich komme morgen rüber zu den NIH.«
»Geben Sie mir einen Anhaltspunkt, Christophen Ich möchte nicht noch einmal eine Nacht wie die beiden letzten erleben.«
»Säugling C. wäre vermutlich nicht gestorben, wenn seine Mutter sich keinen Herpes zugezogen hätte. Es dürfte sich um zwei verschiedene Paar Schuhe handeln.«
Kaye, immer noch auf dem Bürgersteig, schloss kurz die Augen.
Dann sah sie sich nach Farrah Tighe um; sie war wohl ganz in Gedanken entgegen den Anweisungen ohne ihre Begleiterin hinausgegangen. Bestimmt suchte Tighe schon hektisch nach ihr.
»Selbst wenn es so ist, wer hört uns denn jetzt noch zu?«
»Von den acht Frauen in der Klinik hat keine einzige Herpes oder HIV. Ich habe Lipton angerufen und es überprüft. Sie sind ausgezeichnete Paradefälle.«
»Aber die sind erst in zehn Monaten so weit«, erwiderte Kaye, »vorausgesetzt, die EinMonatsRegel gilt auch bei ihnen.«
»Ich weiß. Aber wir werden mit Sicherheit noch andere finden.
Wir müssen uns noch einmal unterhalten — und zwar ernsthaft.«
»Ich habe morgen den ganzen Tag Besprechungen, und anschließend bin ich im AmericolLabor.«
»Dann heute Abend. Oder zählt die Wahrheit inzwischen nicht mehr?«
»Halten Sie mir keine Vorträge über die Wahrheit, verdammt noch mal«, sagte Kaye. Auf dem Center Drive sah sie die Lastwagen der Nationalgarde entlangfahren. Die Demonstranten waren bisher am Nordende geblieben; von ihrem Standort an einem niedrigen, grasbewachsenen Hügel aus konnte sie die Transparente sehen. Dickens nächste Worte entgingen ihr — so fasziniert war sie von der Menschenmenge, die sich dort in der Ferne bewegte.
»… möchte ich Ihrer Idee eine faire Chance geben«, sagte Dicken. »Der große Proteinkomplex kann für ein einfaches Virus nicht von Nutzen sein — wozu ist er also gut?«
»Für SHEVAs Funktion als Übermittlerin«, erwiderte Kaye in sanftem Ton, halb träumend, halb abwesend. »SHEVA ist Darwins Sender, Darwins Stimme.«
»Wie bitte?«
»Haben Sie die Nachgeburten von HerodesFeten des ersten Stadiums gesehen? Ganz besondere Fruchtblasen … äußerst raffinierte, und alles andere als krank.«
»Wie gesagt, ich möchte weiter daran arbeiten. Überzeugen Sie mich, Kaye. Du lieber Gott, wenn es bei diesem Säugling C. nur Zufall war …«
Von der Nordseite des Geländes her war dreimal ein kurzes leises Knallen zu hören, so, als ballere jemand mit einer Spielzeugpistole herum. Kaye hörte, wie durch die Menschenmenge ein bestürztes Stöhnen ging, gleich darauf war in der Ferne durchdringendes Geschrei zu hören.
»Ich muss jetzt Schluss machen, Christopher.« Sie klappte das kleine Plastiktelefon zu und lief los. Die Menge, knapp fünfhundert Meter entfernt, löste sich auf: Menschen wichen zurück und verteilten sich entlang der Straßen, auf den Parkplätzen, zwischen den Backsteingebäuden. Weiteres Knallen war nicht zu hören. Sie verlangsamte zu Schritttempo und wägte die Gefahr ab; dann rannte sie erneut los. Sie musste Gewissheit haben. In ihrem Leben gab es zu viel Ungeklärtes. Zu vieles, das in der Luft hing. Zu vieles, das sie passiv hingenommen hatte — bei Saul, bei allem und jedem.
Fünfzehn Meter vor ihr kam ein stämmiger Mann im braunen Anzug aus einem Seiteneingang des Gebäudes gestürzt; seine Arme und Beine bewegten sich wie Windmühlenflügel. Mit dem hoch aufwehenden Mantel, der über ein bauschiges weißes Hemd fiel, sah er eigentlich lächerlich aus, aber er kam wie der Teufel in Menschengestalt auf sie zugestürmt.
Einen Augenblick lang war sie beunruhigt und drehte ab, um ihm aus dem Weg zu gehen.
»Verdammt noch mal, Dr. Lang!«, rief er. »Bleiben Sie stehen!
Halt!«
Widerwillig und außer Atem verlangsamte sie ihre Schritte. Der Mann im braunen Anzug holte sie ein und zeigte seine Erkennungsmarke vor. Er war vom Secret Service und hieß Benson — mehr bekam sie nicht mit, bevor er das Etui zuklappte und wieder einsteckte. »Was um alles in der Welt tun Sie hier? Wo ist Tighe?«, fragte er mit puterrotem Gesicht und Schweiß auf den aknenarbigen Wangen.
»Sie brauchen Hilfe«, sagte sie. »Sie ist drinnen im …«
»Das sind Schüsse. Sie bleiben hier, und wenn ich Sie eigenhändig festhalten muss. Verdammt, Tighe sollte Sie doch nicht allein nach draußen lassen.«
Im gleichen Augenblick stieß Tighe im Laufschritt zu ihnen. Ihr Gesicht war rot vor Wut. Hastig und erregt flüsterte sie mit Benson, dann stellte sie sich neben Kaye. Benson setzte sich in schnellem Trab in Richtung der versprengten Demonstrantengruppen in Bewegung. Kaye ging weiter, allerdings langsamer. »Bleiben Sie stehen, Ms. Lang«, sagte Tighe. »Da ist jemand erschossen worden!«
»Benson kümmert sich darum!«, sagte Tighe nachdrücklich und stellte sich zwischen Kaye und die Menge.
Kaye blickte ihrer Begleiterin über die Schulter. Drüben schlugen Männer und Frauen die Hände vors Gesicht und weinten. Sie sah liegen gelassene Spruchbänder und schlaffe Transparente. Die Menge lief ziellos durcheinander.
Soldaten der Nationalgarde in Tarnanzügen, die Maschinengewehre im Anschlag, bezogen entlang der nächstgelegenen Straße zwischen den Backsteingebäuden Stellung.
Ein Wagen des hauseigenen Sicherheitsdienstes fuhr zwischen zwei hohen Eichen hindurch über den Rasen. Kaye erkannte weitere Uniformierte; manche sprachen in Handys oder WalkieTalkies.
Dann bemerkte sie den einzelnen Mann in der Mitte. Er hatte die Arme ausgestreckt, als wolle er fliegen. Neben ihm lag eine Frau starr und steif im Gras. Benson und ein Sicherheitsbeamter kamen gleichzeitig bei den beiden an. Benson stieß mit dem Fuß einen schwarzen Gegenstand über die Wiese: eine Pistole. Der Wachmann zog seine Waffe heraus und trieb den flatternden Mann energisch zurück.
Benson kniete sich neben die Frau, fühlte ihr am Hals den Puls, blickte erst auf und dann um sich. Seine Miene sagte alles. Dann sah er Kaye an und formte mit den Lippen nachdrücklich die Worte Treten Sie zurück.
»Das war doch gar nicht mein Baby!«, schrie der aufgeregte Mann. Der dürre Weiße mit kurzen, wirren blonden Haaren war Ende zwanzig und trug ein schwarzes TShirt; die schwarzen Jeans hingen tief auf den Hüften. Er warf den Kopf vor und zurück, als setzten ihm Fliegen zu. »Sie hat mich herkommen lassen. Verdammt noch mal, sie hat mich regelrecht dazu gezwungen! Das war nicht mein Baby!«
Der Mann zog sich tänzelnd von dem Sicherheitsbeamten zurück und zuckte dabei wie eine Marionette. »Ich kann diese Scheiße nicht mehr ertragen! DIESE SCHEISSE MUSS SOFORT AUFHÖREN!«
Kaye sah die verletzte Frau an. Selbst aus zwanzig Metern Entfernung konnte sie sehen, wie das Blut am Bauch die Bluse durchtränkte, wie die blicklosen Augen wie in vergeblicher Hoffnung zum Himmel starrten.
Tighe, Benson, der flatternde Mann, die Soldaten, die Wachleute, die Menschenmenge — Kaye nahm nichts mehr wahr.
Sie sah nur noch eines: die Frau.
Cross kam auf Krücken in Americols Kasino für leitende Angestellte. Ihr junger Pfleger zog einen Stuhl heran, und sie ließ sich mit einem erleichterten Schnaufen darauf fallen.
Der Pfleger ging. Bis auf Cross, Kaye, Laura Nilson und Robert Jackson war der Raum jetzt leer.
»Wie ist denn das passiert, Marge?«, fragte Jackson.
»Ich bin nicht angeschossen worden«, verkündete sie fröhlich, »sondern nur in der Badewanne ausgerutscht. Mein schlimmster Feind war ich immer selbst. Ich bin eine ungeschickte Kuh. Wie ist der Stand der Dinge, Laura?«
Nilson — Kaye hatte sie seit der katastrophalen Pressekonferenz über den Impfstoff nicht mehr gesehen — trug ein elegantes, aber strenges dreiteiliges Kostüm. »Die Überraschung der Woche ist RU-486«, sagte sie. »Die Frauen benutzen es — und zwar in großen Mengen. Die Franzosen haben eine Lösung vorgeschlagen.
Wir haben mit ihnen gesprochen, aber sie sagen, sie wollten ihr Angebot unmittelbar der WHO und der Taskforce unterbreiten, sie hätten humanitäre Absichten und seien nicht an Geschäftsverbindungen interessiert.«
Marge rief den Kellner, bestellte Wein und wischte sich die Stirn mit der Serviette ab, die sie anschließend auf ihrem Schoß ausbreitete. »Wie edelmütig«, sinnierte sie. »Die werden den Bedarf der ganzen Welt decken, und das ohne neue Kosten für Forschung und Entwicklung. Robert, funktioniert das?«
Jackson nahm einen Palmtop zur Hand und stocherte sich mit einem Stift durch seine Notizen. »Die Taskforce verfügt über unbestätigte Berichte, wonach RU-486 zur Abtreibung der eingenisteten Eizelle des zweiten Stadiums führt. Über das erste Stadium bisher kein Wort. Alles Einzelfallberichte. Hinterhofforschung.«
»Abtreibungspillen waren nie nach meinem Geschmack«, bemerkte Cross. Zum Kellner sagte sie: »Ich nehme den italienischen Salat mit Vinaigrette und eine Tasse Kaffee.«
Kaye bestellte ein ClubSandwich, obwohl sie, gelinde gesagt, keinen Hunger hatte. Sie fühlte, wie sich ein Gewitter zusammenbraute — es war das unangenehme Bewusstsein, dass sie sich in einer gefährlichen Stimmung befand. Immer noch war sie wie betäubt von der Schießerei, die sie zwei Tage zuvor an den NIH miterlebt hatte.
»Laura, du siehst aber gar nicht glücklich aus«, sagte Cross mit einem Seitenblick auf Kaye. Sie würde sich Kayes Klagen bis zum Schluss aufsparen.
»Ein Erdbeben nach dem anderen«, erwiderte Nilson. »Aber wenigstens musste ich nicht miterleben, was Kaye durchgemacht hat.«
»Schrecklich«, stimmte Cross zu. »Es ist ein ganzes Fass voller Würmer. Aber was für Würmer sind es?«
»Wir haben eigene Umfragen in Auftrag gegeben. Psychologische Profile, kulturelle Profile, quer durch den Gemüsegarten. Ich habe jeden Pfennig ausgegeben, den Sie mir zur Verfügung gestellt haben, Marge.«
»Zur Absicherung«, sagte Cross, und Jackson warf gleichzeitig ein: »Beängstigend.«
»Ja, nun ja, man könnte davon noch eine PerkinElmerMaschine kaufen, mehr nicht«, sagte Nilson abwehrend. »Sechzig Prozent der verheirateten oder sonst wie betroffenen Männer unter den Befragten glauben den Presseberichten nicht. Sie sind überzeugt, dass eine Frau Sex haben muss, um zum zweiten Mal schwanger zu werden. Wir stoßen da auf eine Mauer der Ablehnung und des Leugnens, sogar bei den Frauen. Vierzig Prozent aller verheirateten oder anderweitig betroffenen Frauen sagen, sie würden einen HerodesFetus abtreiben.«
»Das erzählen sie in den Umfragen«, murmelte Cross. »Sie würden sicher in großer Zahl den Weg des geringsten Widerstandes gehen. RU-486 hat sich bewährt, und seine Wirkung ist erwiesen.
Es könnte zum Hausmittel der Verzweifelten werden.«
»Aber es ist kein vorbeugendes Mittel«, sagte Jackson nervös.
»Von denen, die keine Abtreibungspille nehmen würden, sagt über die Hälfte, die Regierung wolle dem ganzen Land und vielleicht der ganzen Welt die allgemeine Abtreibung aufzwingen«, erklärte Nilson. »Wer den Namen ›Herodes-Grippe‹ auch erfunden hat, er hat die Situation mit Sicherheit noch verschärft.«
»Der stammt von Augustine«, sagte Cross. »Marge, uns steht eine große gesellschaftliche Katastrophe bevor: Unwissen in Verbindung mit Sex und toten Babys. Wenn viele SHEVAinfizierte Frauen mit ihren Partnern keinen Sex mehr haben — und dennoch schwanger werden —, werden wir nach Aussagen unserer Sozialwissenschaftler noch mehr Gewalt in der Ehe erleben, und die Zahl der Abtreibungen wird auch bei normalen Schwangerschaften gewaltig ansteigen.«
»Es gibt noch andere Möglichkeiten«, warf Kaye ein. »Die Folgen habe ich mit eigenen Augen gesehen.«
»Weiter«, forderte Cross sie auf.
»Die Fälle in den Neunzigerjahren im Kaukasus. Massenmord.«
»Auch mit denen habe ich mich befasst«, sagte Nilson eifrig und blätterte in ihren Notizen. »Eigentlich wissen wir bis heute nicht viel darüber. SHEVA ist in der örtlichen Bevölkerung aufgetaucht …«
Kaye unterbrach sie. »Es ist viel zu kompliziert, als dass irgendjemand von uns es begreifen könnte«, sagte sie mit versagender Stimme. »Wir haben es hier nicht mit einem Krankheitsprofil zu tun, sondern mit der horizontalen Übertragung genetischer Anweisungen, und die Folge ist eine Übergangsphase.«
»Noch mal bitte. Ich verstehe nicht ganz«, sagte Nilson.
»SHEVA ist kein Krankheitserreger.«
»Quatsch«, erklärte Jackson erstaunt. Marge brachte ihn mit einer warnenden Handbewegung zum Schweigen.
»Wir ziehen immer noch Mauern um das Thema, aber jetzt halte ich es nicht mehr aus, Marge. Die Taskforce hat diese Möglichkeit von Anfang an geleugnet.«
»Ich weiß nicht, was da geleugnet wird«, entgegnete Cross, »Bitte in Kurzform, Kaye.«
»Wir sehen ein Virus, sogar eines, das aus uns selbst kommt, und nehmen an, es sei eine Krankheit. Wir betrachten alles unter Krankheitsgesichtspunkten.«
»Ich habe noch nie ein Virus kennen gelernt, das keine Probleme verursacht, Kaye«, sagte Jackson mit zusammengekniffenen Augen. Wenn er sie warnen wollte, dass sie sich auf sehr dünnes Eis begab, verfehlte er diesmal seine Wirkung.
»Wir haben die Wahrheit ständig vor Augen, aber sie passt nicht zu unseren primitiven Vorstellungen von der Wirkungsweise der Natur.«
»Primitiv?«, sagte Jackson. »Erzählen Sie das mal dem Pockenvirus.«
»Wenn uns das hier in dreißig Jahren zugestoßen wäre«, beharrte Kaye, »wären wir vielleicht darauf vorbereitet gewesen — aber bisher benehmen wir uns wie dumme kleine Kinder. Wie Kinder, die das richtige Leben noch nicht kennen gelernt haben.«
»Was übersehen wir denn?«, fragte Cross geduldig.
Jackson trommelte mit den Fingern auf den Tisch. »Darüber wurde schon diskutiert.«
»Worüber?«, wollte Cross wissen.
»Aber in keinem ernst zu nehmenden Forum«, sagte Kaye.
»Worüber bitte?«
»Kaye will uns sagen, SHEVA sei Teil einer größeren biologischen Umstrukturierung. Transposons, die herumhüpfen und den Phänotyp beeinflussen. So lautet das Gerücht bei den Eingeweihten, die Kayes Artikel gelesen haben.«
»Und das bedeutet?«
Jackson schnitt eine Grimasse. »Ich greife mal ein wenig vor.
Wenn wir zulassen, dass die neuen Babys geboren werden, wachsen sie alle zu großköpfigen Übermenschen heran. Wunderkinder mit blonden Haaren, blauen Augen und übersinnlichen Fähigkeiten. Die bringen uns dann um und übernehmen die Macht auf der Erde.«
Wie vor den Kopf gestoßen und den Tränen nahe, starrte Kaye zu Jackson hinüber. Er lächelte halb entschuldigend, halb in diebischer Freude darüber, dass er jede Diskussion abgewürgt hatte. »Es ist Zeitvergeudung«, sagte er. »Und wir haben keine Zeit zu vergeuden.«
Nilson betrachtete Kaye mit vorsichtigem Mitgefühl. Marge hob den Kopf und starrte zur Decke. »Kann mir bitte mal jemand erklären, in was ich da reingetappt bin?«
»In den reinen Mist«, sagte Jackson halblaut und zog seine Serviette zurecht.
Der Kellner brachte das Essen.
Nilson legte ihre Hand auf die von Kaye. »Haben Sie Nachsicht mit uns, Kaye. Robert ist manchmal sehr direkt.«
»Ich habe mit meiner eigenen Verwirrung zu kämpfen, nicht mit Roberts unhöflichem Abwehrverhalten«, sagte Kaye. »Marge, ich bin in den Grundlagen der modernen Biologie ausgebildet. Ich habe mich mit der strengen Interpretation von Daten befasst, aber ich bin auch mitten in dem größten vorstellbaren Gärbottich groß geworden. Das hier ist die feste Grundmauer der modernen Biologie, sorgfältig aufgebaut, Stein auf Stein …« Sie deutete mit ausgestreckter Hand die Mauer an. »Und das hier ist die Flutwelle namens Genetik. Wir sind dabei, die Produktionsanlagen der lebenden Zellen zu kartieren. Und müssen dabei feststellen, dass die Natur nicht nur voller Überraschungen steckt, sondern sich auch erschreckend unorthodox verhält. Die Natur kümmert sich einen feuchten Kehricht darum, was wir denken oder wie unsere Lehrmeinungen aussehen.«
»Alles gut und schön«, sagte Jackson, »aber in der Wissenschaft geht es um die Frage, wie wir unsere Arbeit organisieren und Zeitvergeudung vermeiden.«
»Robert, wir führen hier eine Diskussion«, ermahnte ihn Cross.
»Ich kann mich nicht für das entschuldigen, was nach meinem innersten Gefühl wahr ist«, beharrte Kaye. »Bevor ich lüge, gebe ich lieber alles auf.«
»Bewundernswert«, meinte Jackson. »›Und sie bewegt sich doch‹, ist es das, liebe Kaye?«
»Robert, seien Sie nicht so gemein«, sagte Nilson.
»Ich bin in der Minderheit, meine Damen« , erwiderte Jackson, schob angewidert seinen Stuhl zurück und drapierte die Servierte auf seinem Teller. Er stand aber nicht auf, sondern verschränkte die Arme und legte den Kopf schief, als wollte er Kaye ermutigen — oder herausfordern —, fortzufahren.
»Wir benehmen uns wie Kinder, die noch nicht einmal wissen, wie man Babys macht«, sagte Kaye. »Wir erleben eine andere Art der Schwangerschaft. Neu ist sie nicht — das Gleiche hat es schon viele Male gegeben. Es ist Evolution, aber sie verläuft nicht allmählich, sondern zielgerichtet, kurzfristig, plötzlich, und ich habe keine Ahnung, was für Kinder dabei herauskommen. Ungeheuer werden es aber nicht sein, und sie werden ihre Eltern nicht auffressen.«
Jackson hob den Arm wie ein Schuljunge im Unterricht. »Wenn uns jetzt ein schnell arbeitender Oberingenieur in der Hand hat, wenn Gott jetzt unsere Evolution lenkt, ist es meines Erachtens an der Zeit, ein paar kosmische Anwälte zu beauftragen. Es ist ein Kunstfehler der schlimmsten Sorte. Der Säugling C war totaler Pfusch.«
»Das war Herpes«, erwiderte Kaye.
»So funktioniert Herpes nicht«, entgegnete Jackson. »Das wissen Sie so gut wie ich.«
»SHEVA macht die Feten besonders anfällig für eine Virusinfektion. Es ist ein Fehler, ein natürlicher Fehler.«
»Dafür haben wir keine Belege. Belege, Ms. Lang!«
»Die CDC …«, setzte Kaye an.
»Säugling C war eine sekundäre HerodesFehlbildung und hatte nebenbei noch Herpes«, sagte Jackson. »Ehrlich gesagt, meine Damen, für mich ist die Sache klar. Wir sind alle erschöpft. Ich für mein Teil bin jedenfalls fix und fertig.« Er stand auf, verbeugte sich hastig und stolzierte aus dem Restaurant.
Marge stocherte mit ihrer Gabel im Salat. »Es klingt ein bisschen nach einer Begriffsverwirrung. Ich werde eine Besprechung ansetzen. Wir werden uns Ihre Argumente im Einzelnen anhören«, sagte sie. »Und ich werde Robert bitten, seine eigenen Fachleute mitzubringen.«
»Ich glaube, von den Fachleuten würde mir kaum jemand offen zustimmen«, erwiderte Kaye. »Jedenfalls jetzt noch nicht. Dazu ist die Atmosphäre zu aufgeladen.«
»Was die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit angeht, so ist es von allergrößter Bedeutung«, sagte Nilson nachdenklich.
»Wieso?«, wollte Cross wissen.
»Wenn irgendeine Gruppe oder Glaubensrichtung oder Firma zu dem Schluss gelangt, dass Kaye Recht hat, werden wir uns damit auseinander setzen müssen.«
Kaye fühlte sich plötzlich sehr schutzlos, sehr verletzlich.
Cross spießte mit der Gabel einen Käsestreifen auf und betrachtete ihn genau. »Wenn die Herodes-Grippe keine Krankheit ist, weiß ich nicht, wie wir damit umgehen sollen. Dann bedrängt uns auf der einen Seite ein natürlicher Vorgang, auf der anderen Seite eine unwissende, entsetzte Öffentlichkeit. Und wir sitzen genau dazwischen in der Falle. Das bedeutet schreckliche politische Maßnahmen und wirtschaftliche Albträume.«
Kaye bekam einen trockenen Mund. Ihr fiel keine Antwort ein.
Es stimmte.
»Wenn es keine Experten gibt, die Sie unterstützen«, sagte Cross nachdenklich und führte den Käse zum Mund, »woher nehmen Sie dann Ihre Überzeugung?«
»Ich werde die Belege erläutern, die Theorie«, erwiderte Kaye.
»Allein?«
»Vermutlich werde ich noch ein paar Leute finden.«
»Wie viele?«
»Vier oder fünf.«
Cross kaute. »Jackson ist ein Flegel, aber hochintelligent. Er ist ein anerkannter Experte, und viele hundert andere würden sich seiner Sichtweise anschließen.«
»Viele tausend«, sagte Kaye, die sich um einen ruhigen Tonfall bemühte. »Auf der anderen Seite stehen nur ich und ein paar Spinner.«
Cross drohte ihr mit dem Finger. »Sie sind keine Spinnerin, meine Liebe. Laura, eine von unseren Firmen hat doch vor ein paar Jahren eine Pille für den Morgen danach entwickelt.«
»Das war in den Neunzigerjahren.«
»Warum haben wir das Projekt aufgegeben?«
»Politik und Haftungsfragen.«
»Wir hatten doch schon einen Namen dafür — wie haben wir es genannt?«
»Irgendein Witzbold hat es auf RUPentium getauft«, erwiderte Nilson.
»Soweit ich mich erinnere, ist die Erprobung gut verlaufen«, sagte Marge. »Ich nehme doch an, dass wir die Formeln und Substanzproben noch haben?«
»Ich habe mich heute Nachmittag darum gekümmert«, erwiderte Nilson. »Wir könnten die Sache wieder aufnehmen und in ein paar Monaten mit der Großproduktion beginnen.«
Kaye krallte sich über ihrem Schoß am Tischtuch fest. Früher hatte sie leidenschaftlich für das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung gekämpft. Jetzt fand sie sich in ihren widersprüchlichen Gefühlen nicht mehr zurecht.
»Nichts gegen Roberts Arbeit«, sagte Cross, »aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Erprobung des Impfstoffs fehlschlägt, ist größer als fünfzig Prozent. Und diese Äußerung behalten Sie für sich, meine Damen!«
»Unsere Computermodelle sagen immer noch voraus, dass als Nebenwirkung des Ribozymbestandteils MS auftreten kann«, sagte Kaye. »Wird Americol die Abtreibung als Alternative empfehlen?«
»Nicht nur wir«, sagte Cross. »Das Entscheidende an der Evolution ist das Überleben. Wir stehen jetzt mitten in einem Minenfeld, und wenn sich irgendwo ein Ausweg eröffnet, werde ich den sicher nicht übergehen.«
Dicken nahm den Anruf im Geräteraum neben dem Hauptannahme- und Obduktionslabor entgegen. Während ein junger Computertechniker ihm das Telefon entgegenhielt, zog er die Latexhandschuhe aus. Der Techniker sollte gerade eine streikende alte Workstation zum Laufen bringen, mit der die Obduktionsbefunde festgehalten und die Gewebeproben auf ihrem Weg durch die übrigen Labors dokumentiert wurden. Er starrte Dicken, der einen grünen Kittel und eine Chirurgenmaske trug, ein wenig besorgt an.
»Nichts, das Sie anstecken könnte«, erklärte Dicken, während er den Hörer nahm. »Dicken hier. Ich stecke gerade bis zu den Ellenbogen in einer Sache.«
»Christopher, hier ist Kaye.«
»Hallihallo, Kaye.« Er wollte sie nicht abwimmeln; sie hörte sich zwar bedrückt an, aber für Dicken war es ein beunruhigendes Vergnügen, ihre Stimme zu hören, ganz gleich, wie der Tonfall war.
»Ich habe die Sache diesmal wirklich gründlich vermasselt«, sagte Kaye.
»Wie kommt’s?« Dicken winkte Scarry zu, der sich noch im pathologischen Labor befand. Scarry schwenkte ungeduldig die Arme.
»Ich bin mit Robert Jackson zusammengerasselt … in einer Unterhaltung mit ihm und Marge. Ich konnte mich einfach nicht mehr zurückhalten und habe ihnen gesagt, was ich denke.«
»Oh«, antwortete Dicken und verzog das Gesicht. »Wie haben sie reagiert?«
»Jackson hat es lächerlich gemacht und mich dann mit Verachtung gestraft.«
»Arroganter Idiot«, sagte Dicken. »Dafür habe ich ihn schon immer gehalten.«
»Er sagt, wir brauchen, was Herpes betrifft, Belege.«
»Genau die suchen Scarry und ich gerade. Wir haben hier ein Unfallopfer im Labor. Eine Prostituierte aus Washington, D. C. und schwanger. Test auf Herpes labialis positiv, ebenso auf Hepatitis A, HIV und SHEVA. Kein schönes Leben.«
Der junge Techniker packte missmutig sein Werkzeug zusammen und verließ den Raum.
»Marge will den Franzosen mit der Pille danach Paroli bieten.«
»Mist«, sagte Dicken.
»Wir müssen uns beeilen.«
»Ich weiß nicht, wie schnell wir vorankommen. Tote junge Frauen mit der richtigen Krankheitsmischung kommen nicht jeden Tag von der Straße hereingeflogen.«
»Ich glaube, Jackson lässt sich auch durch noch so viele Befunde nicht überzeugen. Ich bin bald mit meinem Latein am Ende, Christopher.«
»Ich hoffe, Jackson geht nicht zu Augustine. Wir sind noch nicht so weit, und meinetwegen ist Mark jetzt schon dünnhäutig.
Kaye, Scarry tanzt hier schon im Labor herum. Ich muss weitermachen. Halten Sie die Ohren steif. Und rufen Sie mich an.«
»Haben Sie mit Mitch gesprochen?«
»Nein«, sagte Dicken wahrheitsgemäß, allerdings war es nicht die ganze Wahrheit. »Rufen Sie mich später im Büro an. Kaye — ich bin immer für Sie da. Ich tue alles, um Sie zu unterstützen.
Das meine ich ehrlich.«
»Danke, Christopher.«
Dicken legte auf und blieb einen Augenblick lang stehen. Er fühlte sich wie ein Dummkopf. Mit solchen Empfindungen war er noch nie gut zurechtgekommen. Die Arbeit war sein Ein und Alles geworden, weil andere wichtige Dinge zu schmerzlich waren.
»Nicht sonderlich geschickt in solchen Dingen, wie?«, sagte er leise zu sich selbst.
Scarry klopfte verärgert an die Glasscheibe zwischen Labor und Geräteraum.
Dicken schob die Gesichtsmaske hoch und zog ein Paar neue Latexhandschuhe an.
Mitch stand mit den Händen in den Hosentaschen im Eingangsbereich des Appartementhauses. Er hatte sich heute Morgen vor dem langen Spiegel im Gemeinschaftswaschraum des YMCA sehr sorgfältig rasiert, und erst vor einer Woche hatte er sich beim Friseur die Haare stylen — oder eher bändigen — lassen.
Seine Jeans waren ganz neu. Er hatte in seinem Koffer gewühlt und einen schwarzen Blazer hervorgekramt. Seit über einem Jahr war er nicht mehr darauf aus gewesen, mit seiner Kleidung Eindruck zu schinden, aber jetzt wollte er genau das; er konnte kaum noch an etwas anderes denken als an Kaye Lang.
Der Pförtner war keineswegs beeindruckt. Er stützte sich auf seinen Tresen und beobachtete Mitch aus den Augenwinkeln. Als das Telefon in der Pförtnerloge klingelte, nahm er ab.
»Gehen Sie rauf«, sagte er gleich darauf und deutete in Richtung des Aufzuges. »Zwanzigster Stock, 2011. Melden Sie sich oben beim Wachmann. Harter Brocken.«
Mitch bedankte sich und betrat den Aufzug. Als die Tür sich schloss, fragte er sich einen ängstlichen Augenblick lang, was er eigentlich vorhatte. Emotionale Verwicklungen waren das Letzte, was er in dem ganzen Durcheinander gebrauchen konnte. Aber wenn es um Frauen ging, wurde Mitch von geheimen Kräften gesteuert, die ihm weder ihre eigentlichen Ziele noch ihre kurzfristigen Pläne offen legen wollten. Diese geheimen Kräfte hatten ihm schon eine Menge Kummer bereitet.
Er schloss die Augen, atmete tief durch und schickte sich in die nächsten Stunden, komme was da wolle.
Als er den Aufzug im zwanzigsten Stock verließ, sah er Kaye, die sich mit einem Mann im grauen Anzug unterhielt. Er hatte kurze dunkle Haare, ein breites Gesicht und eine Hakennase. Der Mann hatte Mitch schon entdeckt, bevor dieser die beiden gesehen hatte.
Kaye lächelte Mitch an. »Kommen Sie. Die Luft ist rein. Das hier ist Karl Benson.«
»Sehr erfreut«, sagte Mitch.
Der Mann nickte, verschränkte die Arme und trat zurück, um Mitch durchzulassen, schnüffelte dabei allerdings wie ein Hund, der eine Fährte aufnehmen will.
»Marge Cross bekommt jede Woche ungefähr dreißig Morddrohungen«, sagte Kaye, während sie Mitch in die Wohnung führte. »Bei mir waren es drei seit dem Vorfall an den NIH.«
»Langsam wird die Sache ernst«, erwiderte Mitch.
»Ich hatte seit dem Durcheinander mit RU-486 unheimlich viel zu tun«, erklärte Kaye.
Mitch hob die buschigen Brauen. »Die Abtreibungspille?«
»Hat Christopher es Ihnen nicht erzählt?«
»Chris hat kein einziges Mal zurückgerufen.«
»Ach?« Dicken hatte ihr also nicht die ganze Wahrheit gesagt.
Das fand Kaye interessant. »Vielleicht liegt es daran, dass Sie ihn Chris nennen.«
»Nicht von Angesicht zu Angesicht«, bemerkte Mitch ernüchtert und grinste. »Wie gesagt, ich bin völlig ahnungslos.«
»RU-486 beendet die sekundäre SHEVASchwangerschaft, wenn es rechtzeitig angewandt wird.« Sie beobachtete seine Reaktion. »Sie sind damit nicht einverstanden?«
»Unter den gegebenen Umständen erscheint es mir falsch.«
Mitch besah sich die schlichte, elegante Einrichtung und die Druckgrafiken.
Kaye schloss die Tür. »Abtreibung allgemein … oder in diesem besonderen Fall?«
»In diesem Fall.« Mitch spürte ihre Anspannung. Einen Augenblick lang kam es ihm so vor, als unterziehe sie ihn einer schnellen Prüfung.
»Americol wird eine eigene Abtreibungspille auf den Markt bringen. Wenn es eine Krankheit ist, sind wir kurz davor, sie zum Stillstand zu bringen«, sagte Kaye.
Mitch schlenderte zu dem großen Fenster, steckte die Hände in die Taschen und sah Kaye über die Schulter an. »Und dabei helfen Sie ihnen?«
»Nein. Ich hoffe, ich kann ein paar entscheidende Leute davon überzeugen, dass wir andere Prioritäten setzen sollten. Ich glaube nicht, dass es mir gelingt, aber ich muss es versuchen. Jedenfalls bin ich froh, dass Sie hier sind. Vielleicht ist es ein Zeichen, dass ich von jetzt an mehr Glück habe. Was führt Sie nach Baltimore?«
Mitch nahm die Hände aus den Taschen. »Ich bin kein gutes Omen. Ich kann mir kaum die Reisekosten leisten. Mein Vater hat mir ein bisschen Geld gegeben. Ich liege meinen Eltern schon seit langem auf der Tasche.«
»Fahren Sie noch woanders hin?«
»Nur Baltimore.«
»Oh.« Kaye stand einen großen Schritt hinter ihm. Er konnte das Spiegelbild ihres beigen Kostüms in der Fensterscheibe erkennen, aber nicht ihr Gesicht.
»Na ja, das stimmt nicht ganz. Ich fahre nach New York, zur State University. Ein Bekannter aus Oregon hat mir dort einen Termin für ein Vorstellungsgespräch verschafft. Ich würde gern unterrichten und im Sommer im Freiland arbeiten. Vielleicht kann ich an der anderen Küste von vorn anfangen.«
»Ich war schon mal an der State University of New York, aber ich fürchte, heute kenne ich dort niemanden mehr. Jedenfalls niemanden mit Einfluss. Nehmen Sie doch Platz.« Kaye machte eine Bewegung in Richtung der Couch und des Sessels. »Wasser?
Saft?«
»Wasser, bitte.«
Während sie in die Küche ging, schnupperte Mitch an den Blumen auf der Etagere — Rosen, Lilien und Schleierkraut. Dann umrundete er das Sofa und ließ sich an einem Ende nieder. Für seine langen Beine schien nirgendwo Platz zu sein. Er faltete die Hände über dem Knie.
»Ich kann nicht einfach schreien, Krach schlagen und aufhören«, sagte Kaye. »Das bin ich den Leuten schuldig, mit denen ich zusammenarbeite.«
»Verstehe. Wie geht es mit dem Impfstoff voran?«
»Wir sind mitten in den vorklinischen Versuchen. Wir haben auch ein paar schnelle klinische Studien in Großbritannien und Japan durchgeführt, aber mit denen bin ich nicht sehr zufrieden.
Jackson — er leitet das Impfstoffprojekt — will mich aus seiner Abteilung drängen.«
»Warum?«
»Weil ich vor drei Tagen beim Essen kein Blatt vor den Mund genommen habe. Marge Cross kann unsere Theorie nicht gebrauchen. Passt nicht zur Lehrmeinung. Ist nicht zu belegen.«
»Gespür für kritische Masse.«
Kaye brachte ihm ein Glas Wasser. »Wie bitte?«
»Darauf bin ich beim Lesen zufällig gestoßen. Wenn genügend Bakterien vorhanden sind, ändern sie ihr Verhalten und agieren koordiniert. Vielleicht ist es bei uns genauso. Die kritische Menge von Wissenschaftlern ist nicht vorhanden.«
»Vielleicht«, sagte Kaye. Wieder einmal stand sie nur einen Schritt von ihm entfernt. »Bei Americol arbeite ich die meiste Zeit in den Labors für HERV- und Genomforschung. Wir wollen herausfinden, ob noch andere endogene Viren außer SHEVA sich ausprägen können und wenn ja, unter welchen Bedingungen. Es wundert mich ein bisschen, dass Christopher …«
Mitch blickte auf und unterbrach sie. »Ich bin nach Baltimore gekommen, weil ich Sie … weil ich dich sehen wollte«, erklärte er.
»Oh«, erwiderte Kaye leise.
»Ich muss immer noch an den Abend im Zoo denken.«
»Der kommt mir jetzt ziemlich unwirklich vor.«
»Mir nicht.«
»Ich glaube, Marge will mich für die Pressekonferenzen von der Besetzungsliste streichen«, sagte Kaye in dem widersinnigen Versuch, das Thema zu wechseln — oder vielleicht wollte sie auch nur wissen, ob er den Themenwechsel zulassen würde. »Sie will mich aus der Rolle der Sprecherin verdrängen. Ich werde einige Zeit brauchen, um ihr Vertrauen zurückzugewinnen. Ehrlich gesagt, bin ich ganz froh, dass ich nicht mehr so im Blick der Öffentlichkeit stehe. Es wird ein …«
Er unterbrach sie. »In San Diego hast du bei mir eine ziemliche Wirkung hinterlassen.«
»Wie schön«, sagte Kaye und wandte sich halb um, als wolle sie weglaufen. Sie lief aber nicht, sondern ging um den Tisch herum und blieb auf der anderen Seite, wieder nur einen Schritt von ihm entfernt, stehen.
»Pheromone«, sagte Mitch und stellte sich in voller Größe neben sie. »Ich lege großen Wert darauf, wie jemand riecht. Du trägst kein Parfüm.«
»Ich trage nie eines«, erwiderte Kaye.
»Das hast du auch nicht nötig.«
»Schluss jetzt«, sagte Kaye und trat erneut einen Schritt zurück.
Sie hob die Hände und sah ihn mit zusammengekniffenen Lippen durchdringend an. »Ich bin zurzeit leicht zu verwirren, und ich muss meine Gedanken zusammenhalten.«
»Du musst dich entspannen«, sagte Mitch.
»Deine Nähe ist alles andere als entspannend.«
»Du weißt nicht genau, was du willst.«
»Mit Sicherheit weiß ich nicht genau, was ich mit dir will.«
Er streckte die Hand aus. »Willst du erst mal an meiner Hand riechen?«
Kaye lachte.
Mitch schnupperte an seiner Handfläche. »Seife. Taxitüren. Ich habe seit Jahren kein Loch mehr gebuddelt. Die Schwielen werden immer weicher. Ich bin arbeitslos, habe Schulden und stehe in dem Ruf, ein verrückter, moralisch verkommener Fiesling zu sein.«
»Sei nicht so streng mit dir. Ich habe deine Artikel und ein paar alte Zeitungsberichte gelesen. Du machst anderen nichts vor, und du lügst nicht. Dir liegt an der Wahrheit.«
»Ich fühle mich geschmeichelt«, erwiderte Mitch.
»Und du bringst mich durcheinander. Ich weiß nicht, was ich von dir halten soll. Du bist ganz anders als mein Mann.«
»Ist das gut?«, fragte Mitch.
Kaye sah ihn prüfend an. »Bisher schon.«
»Es wäre üblich, die Sache langsam angehen zu lassen. Gehst du mit mir essen?«
»Zahlt jeder selbst?«
»Es geht auf meine Spesenrechnung«, sagte Mitch sarkastisch.
»Karl müsste mitkommen. Er muss mit dem Restaurant einverstanden sein. Meistens esse ich hier oben oder in der Kantine von Americol.«
»Belauscht Karl deine Gespräche?«
»Nein.«
»Der Pförtner sagt, er sei ein harter Brocken.«
»Ich bin immer noch eine Art Gefangene«, sagte Kaye. »Es gefällt mir zwar nicht, aber so ist es nun einmal. Essen wir lieber hier. Später, wenn der Regen aufgehört hat, können wir zum Dachgarten hinaufgehen. Ich habe ein paar wirklich gute Vorspeisen im Gefrierschrank. Die stammen aus einem Laden unten in der Einkaufspassage. Ein Beutel Salat ist auch noch da. Ich kann gut kochen, wenn ich Zeit habe, aber das war schon lange nicht mehr der Fall.« Sie ging wieder in die Küche.
Mitch folgte ihr und betrachtete dabei die übrigen Bilder an den Wänden, die weniger auffälligen in den billigen Rahmen, die sie vermutlich selbst zur Einrichtung beigesteuert hatte. Kleine Drucke von Maxfield Parrish, Edmund Dulac und Arthur Rackham; Familienfotos. Bilder ihres verstorbenen Mannes konnte er nirgendwo entdecken. Vielleicht hatte sie die im Schlafzimmer.
»Irgendwann möchte ich gern mal für dich kochen«, sagte Mitch. »Mit einem Campingkocher kann ich ganz gut umgehen.«
»Wein? Zum Essen?«
»Den kann ich jetzt brauchen«, sagte Mitch. »Ich bin ganz schön nervös.«
»Ich auch«, erwiderte Kaye und hielt die Hände vor sich, um es ihm zu zeigen. Sie zitterten. »Hast du auf alle Frauen so eine Wirkung?«
»Nie.«
»Unsinn. Du riechst gut.«
Jetzt lag kein ganzer Schritt mehr zwischen ihnen. Mitch schloss die Lücke, berührte ihr Kinn, hob es an. Küsste sie sanft.
Sie wich ein paar Zentimeter zurück, fasste sein Kinn mit Daumen und Zeigefinger, zog es hinunter und küsste ihn heftiger.
»Ich glaube, mit dir kann man gut herumalbern«, sagte sie. Bei Saul hatte sie nie genau gewusst, wie er reagieren würde. Sie hatte lernen müssen, ihr Verhaltensrepertoire einzuschränken.
»Nur zu.«
»Du wirkst stark«, sagte sie, berührte die Falten in seinem sonnengebräunten Gesicht und die vorzeitigen Krähenfüße. Mitch hatte ein junges Gesicht und leuchtende Augen, aber eine kluge, erfahrene Haut.
»Ich bin ein Verrückter, aber einer mit einer gewissen Stärke.«
»Die Welt dreht sich weiter, ohne dass sich unsere Instinkte jemals ändern«, sagte Kaye, während ihr alles vor den Augen verschwamm. »Dafür können wir nichts.« Ein Teil von ihr, der sich lange nicht zu Wort gemeldet hatte, mochte dieses Gesicht sehr gern.
Mitch tippte sich an die Stirn. »Hörst du es? Von ganz tief da drinnen?«
»Ich glaube schon.« Kaye entschloss sich zu kokettieren. »Wie rieche ich?«
Mitch beugte sich zwischen ihre Haare. Als seine Nase ihr Ohr berührte, keuchte sie leise. »Sauber und lebendig, wie ein Strand bei Regen«, sagte er.
»Du riechst wie ein Löwe«, erwiderte Kaye. Er strich ihr über die Lippen und legte das Ohr an ihre Schläfe, als wollte er lauschen.
»Was hörst du da?«, fragte sie.
»Dass du Hunger hast«, sagte er und lächelte — ein breites TausendWattKleinejungenlächeln.
Es kam so offensichtlich spontan, dass Kaye seine Lippen verwundert mit dem Finger berührte, ehe sein Gesicht wieder jenes gewinnende, letztlich aber unverbindliche, lässige Grinsen annehmen konnte, das ihm zum Selbstschutz diente. Sie trat einen Schritt zurück. »Stimmt. Essen. Zuerst den Wein, bitte.« Sie öffnete den Kühlschrank und drückte ihm eine Flasche Semillon blanc in die Hand.
Mitch zog ein Schweizer Armeemesser aus der Hosentasche, klappte den Korkenzieher heraus und entfernte mit einem Ruck den Korken. »Während der Grabungen trinken wir Bier. Wein trinken wir erst, wenn wir fertig sind«, sagte er und schenkte ihr ein Glas ein.
»Was für Bier?«
»Coors, Budweiser, alles was nicht zu schwer ist.«
»Alle Männer, die ich bisher kannte, mochten lieber Ale oder Microbrew.«
»Aber nicht in der Sonne«, erwiderte Mitch.
»Wo bist du abgestiegen?«
»Im YMCA.«
»Ich habe noch nie einen Mann gekannt, der im YMCA übernachtet hat.«
»Es ist gar nicht so schlecht.«
Sie nippte an dem Wein, feuchtete sich die Lippen an, rückte näher zu ihm, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn. Er schmeckte den noch ein wenig kühlen Wein auf ihrer Zunge.
»Bleib hier«, sagte sie.
»Was wird der harte Brocken davon halten?«
Sie schüttelte den Kopf, küsste ihn noch einmal, und er, immer noch Glas und Flasche in der Hand, umarmte sie. Ein wenig Wein schwappte auf ihr Kostüm. Er drehte sich um und stellte das Glas auf die Küchentheke, dann auch die Flasche.
»Ich weiß nicht, wo ich aufhören soll«, sagte sie.
»Ich auch nicht«, erwiderte Mitch, »aber ich kann trotzdem aufpassen.«
»So sind die Zeiten nun mal, oder?«, sagte Kaye bedauernd und zerrte ihm das Hemd aus der Hose.
Kaye war weder die schönste nackte Frau, die Mitch je gesehen hatte, noch die lebhafteste im Bett. Beides traf sicher auf Tilde zu, die trotz ihrer Distanziertheit sehr aufregend gewesen war. Bei Kaye fiel ihm vor allem auf, dass er alles an ihr akzeptierte: die kleinen, leicht hängenden Brüste, den schmalen Brustkorb, die breiten Hüften, die dicht behaarte Scham, die langen Beine —schöner als die von Tilde, dachte er — und ihren steten, forschenden Blick, als er in sie eindrang. Ihr Duft füllte seine Nase, seinen Kopf aus, bis er das Gefühl hatte, in einem warmen Meer zu treiben, das ihn trug und ihm die Lust verdoppelte, die er so lange entbehrt hatte. Durch das Kondom spürte er nur wenig, aber das machten alle anderen Sinne wett, und schließlich war es die Berührung ihrer Brüste, ihrer kirschkernharten Nippel, die bei ihm die Welle steigen und sich brechen ließ. Immer noch bewegte er sich in ihr, gab instinktiv die letzten Reste des Ergusses ab, da sah sie ihn plötzlich entgeistert an, wand sich unter ihm, kniff die Augen zu und schrie: »Stoß zu, Mann, stoß zu, stoß zu!«
Bis zu diesem Augenblick war sie fast still gewesen, und er sah sie überrascht an. Sie wandte das Gesicht ab und zog ihn an sich, zog ihn nach unten, umschlang ihn mit den Beinen und rieb sich heftig an ihm. Er wollte sich zurückziehen, bevor das Kondom auslief, aber sie bewegte sich immer weiter, und er gab nach, bis sie, diesmal mit aufgerissenen Augen, einen kleinen Schrei ausstieß, das Gesicht wie vor heftiger Lust oder Schmerzen verzerrt.
Dann erschlafften ihre Züge, ihr Körper entspannte sich, und sie schloss die Augen. Mitch löste sich von ihr und sah nach: Das Kondom hatte gehalten. Er nahm es ab, verknotete es energisch und ließ es über die Bettkante fallen, um es später zu entsorgen.
»Ich kann jetzt nicht reden«, flüsterte Kaye.
Mitch blieb neben ihr liegen und genoss den Duft ihrer vereinten Körpersäfte. Er war wunschlos glücklich — zum ersten Mal seit Jahren.
»Was für ein Gefühl war das, ein Neandertaler zu sein?«, fragte Kaye. Draußen wurde es dunkler. Bis auf das entfernte Rauschen des Verkehrs, das gedämpft zu ihnen heraufdrang, war es still in der Wohnung.
Mitch stützte sich auf den Ellenbogen. »Darüber haben wir doch schon gesprochen.«
Kaye lag, von der Taille aufwärts nackt, auf dem Rücken. Sie hatte das Laken bis zum Nabel hochgezogen und lauschte auf etwas, das viel weiter entfernt war als der Verkehr.
»In San Diego«, sagte sie, »ich weiß. Wir haben uns über ihre Masken unterhalten. Über den Mann, der bei ihr geblieben ist.
Du hast gesagt, er müsse sie wohl sehr geliebt haben.«
»Stimmt«, sagte Mitch.
»Er muss ein seltenes Exemplar gewesen sein. Etwas Besonderes.
Im Fall der Frau auf dem NIH Gelände wollte ihr Freund nicht glauben, dass es sein Kind war.« Ihre Worte sprudelten jetzt immer schneller. »Laura Nilson, die PRLeiterin von Americol, hat uns gesagt, die meisten Männer wollten nicht glauben, dass es ihr Kind ist. Die meisten Frauen werden vermutlich lieber abtreiben als das Risiko einzugehen. Deshalb empfehlen sie demnächst die Pille für den Morgen danach. Wenn es Probleme mit dem Impfstoff gibt, können sie es damit immer noch aufhalten.«
Mitch verzog das Gesicht, als mache ihm das Thema zu schaffen. »Können wir das nicht eine Zeit lang vergessen?«
»Nein«, sagte Kaye. »Ich halte es nicht mehr aus. Wir werden alle Erstgeborenen hinmetzeln wie der Pharao in Ägypten. Wenn wir dabei bleiben, werden wir nie wissen, wie die nächste Generation aussieht. Sie werden alle tot sein. Willst du das?«
»Nein«, erwiderte Mitch, »aber das heißt nicht, dass ich weniger Angst hätte als jeder andere.« Er schüttelte den Kopf. »Ich frage mich, was ich wohl getan hätte, wenn ich der Mann gewesen wäre, damals vor fünfzehntausend Jahren. Sie wurden sicher aus dem Stamm ausgeschlossen. Vielleicht sind sie auch weggelaufen. Oder sie sind einfach nur spazieren gegangen, und sie wurde verwundet, als eine Horde die beiden überfiel.«
»Glaubst du das?«
»Nein. Ich weiß es wirklich nicht. Ich bin kein Mensch, der übersinnliche Wahrnehmungen oder telepathische Fähigkeiten hat.«
»Ich verderbe dir die Laune, stimmt’s?«
»Mmmh hmmm«, erwiderte er.
»Unser Leben gehört uns nicht«, sagte Kaye. Sie ließ einen Finger um seine Brustwarzen kreisen und strich durch die steifen Haare auf seiner Brust. »Aber wir können uns für kurze Zeit mit einer Schutzmauer umgeben. Bleibst du heute Nacht hier?«
Mitch küsste sie auf die Stirn, dann auf die Nase und die Wangen. »Die Unterbringung ist hier viel angenehmer als im YMCA.«
»Komm näher«, sagte Kaye.
»Viel näher geht nicht mehr.«
»Versuchs mal.«
Zitternd lag Kaye Lang im Dunkeln. Sie war sicher, dass Mitch schlief, aber um sich zu überzeugen, tippte sie ihm leicht auf den Rücken. Er bewegte sich, reagierte aber nicht. Er fühlte sich wohl.
Wohl bei ihr.
Ein solches Risiko war sie noch nie eingegangen; seit ihren ersten Jungenfreundschaften hatte sie immer auf Zuverlässigkeit und — so hoffte sie — Sicherheit geachtet; sie hatte sich einen sicheren Hafen schaffen wollen, einen Hafen, in dem sie ihrer Arbeit nachgehen und ihren eigenen Ideen folgen konnte, ohne dass die Außenwelt ihr mehr als irgend nötig in die Quere kam.
Ihre größte Errungenschaft war die Ehe mit Saul gewesen. Alles sprach für ihn: Alter, Erfahrung, Geld, Geschäftstüchtigkeit — das jedenfalls hatte sie geglaubt. Dass sie jetzt derart ins andere Extrem verfiel, war ganz offensichtlich eine Überreaktion. Sie fragte sich, wie es wohl weitergehen würde.
Wenn Mitch am nächsten Morgen aufwachte, einfach sagen, es sei ein Fehler gewesen?
Beängstigender Gedanke. Sie fürchtete nicht etwa, er werde ihr wehtun; er war so sanft, wie ein Mann nur sein konnte, und ließ so gar keine Anzeichen für den Hader mit sich selbst erkennen, der Saul so zugesetzt hatte.
Mitch sah nicht so gut aus wie Saul.
Andererseits war Mitch völlig aufrichtig und ehrlich.
Er hatte sich um sie bemüht, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie ihn verführt hatte. Und ganz sicher hatte sie nicht den Eindruck, dass er ihr etwas aufgezwungen hatte.
»Was um Himmels Willen tust du hier eigentlich?«, murmelte sie in der Dunkelheit. Sie sprach mit ihrem anderen Ich, mit der starrköpfigen Kaye, die ihr so selten sagte, was eigentlich los war.
Sie stand auf, zog den Morgenmantel an, ging zum Schreibtisch im Wohnzimmer und zog die mittlere Schublade heraus, in der sie ihre Kontoauszüge aufbewahrte.
Den Erlös aus dem Verkauf des Hauses und das Guthaben beim Pensionsfonds zusammengerechnet, besaß sie sechshunderttausend Dollar. Wenn sie bei Americol und der Taskforce kündigte, konnte sie davon unter bescheidenen, aber angenehmen Bedingungen jahrelang leben.
Ein paar Minuten lang addierte sie auf einem Zettel ihre Ausgaben: Notgroschen, Aufwendungen für Lebensmittel, monatliche Zahlungen. Dann richtete sie sich in ihrem Stuhl auf. »Das ist doch dummes Zeug«, sagte sie. »Was habe ich eigentlich vor?«
Und ihr starrköpfiges, verborgenes Ich fügte hinzu: »Was ist eigentlich mit dir los?«
Sie würde Mitch morgen nicht sagen, er solle verschwinden. Sie fühlte sich wohl mit ihm. In seiner Nähe wurde sie innerlich ruhiger, Ängste und Sorgen bedrückten sie weniger. Er schien zu wissen, was er tat. Vielleicht wusste er es wirklich. Vielleicht war es die Welt, die so verrückt war, die Fallen stellte, Stolperdrähte spannte und die Menschen zu üblen Entscheidungen zwang.
Sie tippte mit dem Kugelschreiber auf das Papier, riss noch ein Blatt vom Block. Ihre Finger führten den Stift fast automatisch, ohne dass sie dabei bewusst dachte, und skizzierten eine Reihe offener Leseraster auf den Chromosomen 18 und 20, die vermutlich mit den SHEVAGenen verwandt waren; man hatte sie früher als potenzielle HERVs betrachtet, aber es hatte sich herausgestellt, dass sie nicht die typischen Merkmale von Retrovirusfragmenten besaßen.
Sie musste sich diese Loci, diese verstreuten Bruchstücke genauer ansehen und herausfinden, ob sie möglicherweise zusammenpassten und exprimiert werden konnten. Das Projekt schob sie schon seit einiger Zeit vor sich her; morgen war der richtige Zeitpunkt.
Bevor sie sich für irgendetwas einsetzte, brauchte sie Munition.
Eine Rüstung.
Sie ging wieder ins Schlafzimmer. Mitch schien zu träumen.
Fasziniert legte sie sich, ohne ein Geräusch zu machen, neben ihn.
Vom Gipfel der schneebedeckten Anhöhe aus konnte der Mann die Schamanen und ihre Helfer erkennen, die ihn und sein Weib verfolgten. Dass sie beide Spuren im Schnee hinterließen, war nicht zu vermeiden, aber selbst im Gras der Niederungen und im Wald hatten die Kundigen ihre Fährte nicht verloren.
Der Mann hatte sein Weib, das mit dem Kind schwer und langsam war, hier heraufgebracht, weil er mit ihr in ein anderes Tal hinüberwechseln wollte, in dem er als Kind schon einmal gewesen war.
Er sah sich nach den Gestalten um, die nur wenige hundert Schritte hinter ihnen waren. Dann blickte er auf die vor ihm liegenden Klippen und Felsspitzen, die ihm wie zahllose umgestürzte Feuersteine vorkamen. Er hatte die Orientierung verloren, konnte sich nicht mehr an den Weg ins andere Tal erinnern. Die Frau sagte jetzt kaum noch etwas. Das Gesicht, das er früher einmal mit so viel Hingabe angesehen hatte, war hinter der Maske verborgen.
Der Mann war von großer Bitterkeit erfüllt. Hier oben sogen sich die Grassohlen der dünnen Schuhe mit Schneewasser voll.
Die Kälte kroch an den Waden hoch, stieg bis zu den Knien hinauf und ließ sie schmerzen. Obwohl er das Fell nach innen gewendet hatte, schnitt ihm der Wind in die Haut und beraubte ihn seiner Kraft, nahm ihm den Atem.
Die Frau trottete weiter. Wenn er sie im Stich ließ, konnte er davonkommen, das wusste er. Und dieses Wissen machte ihn noch wütender. Er hasste den Schnee, die Schamanen, die Berge; er hasste sogar sich selbst. Aber er brachte es nicht übers Herz, sein Weib zu hassen. Sie hatte das Blut an den Schenkeln, den Verlust ertragen und vor ihm geheim gehalten, um ihm keine Schande zu machen; sie hatte ihr Gesicht mit Lehm beschmiert, um die Male zu verdecken; und als sie es nicht mehr verbergen konnte, hatte sie, um ihn zu retten, angeboten, sich der Großen Mutter am Grashang im Tal zu opfern. Aber die Große Mutter hatte ihr Opfer abgewiesen; da war sie wehklagend und schluchzend zu ihm zurückgekommen, denn sie konnte sich nicht selbst das Leben nehmen.
Auch sein eigenes Gesicht trug die Male. Das wunderte und ärgerte ihn.
Die Schamanen und Schwestern der Großen Mutter, der Mutter der Ziegen und der Mutter des Grases, die Schneefrau, Leopard, der Laute Mörder, Schanker, der Sanfte Mörder, und Regen, der Weinende Vater, hatten sich zur kälteren Jahreszeit versammelt und ihre Entscheidung quälend langsam getroffen; Wochen hatten sie dazu gebraucht. In dieser Zeit waren die anderen — diejenigen, welche die Male trugen — in ihren Hütten geblieben.
Der Mann hatte sich zur Flucht entschlossen. Er konnte sich nicht dazu durchringen, den Schamanen und Schwestern zu vertrauen.
Als sie flohen, hatten sie die Schreie vernommen. Die Schamanen und Schwestern hatten begonnen, die Mütter und Väter mit den Malen zu töten.
Dass Flachgesichter gezeugt wurden, wussten alle. Die Frauen konnten es verbergen, ihre Männer konnten es verbergen, aber alle wussten es. Wer flachgesichtige Kinder austrug, machte die Sache nur schlimmer.
Nur die Schwestern der Götter und Göttinnen waren reinerbig und gebaren niemals Flachgesichter, denn sie bildeten die jungen Männer des Stammes aus. Sie hatten viele Männer.
Er hätte sein Weib den Schamanen als Schwester geben sollen, hätte zulassen sollen, dass auch sie die Jungen unterrichtete, aber sie hatte nur ihn gewollt.
Der Mann hasste die Berge, den Schnee, das Weglaufen. Er trottete weiter, packte das Weib grob am Arm, schob sie auf der Suche nach einem Versteck um einen Felsen herum. Er sah nicht genau hin, so erfüllt war er von jener neuen Erkenntnis, dass die Mütter und Väter des Himmels und die Geisterwelt ringsum entweder mit Blindheit geschlagen waren oder bloße Erfindungen darstellten.
Er war allein, sein Weib war allein. Kein Stamm, keine Menschen, keine Helfer. Nicht einmal die Langhaare und Nassaugen, die erschreckendsten und gefährlichsten der toten Besucher, kümmerten sich um sie. Allmählich glaubte er, dass keiner der toten Besucher real war.
Die drei Männer überraschten ihn. Er sah sie erst, als sie aus einer Spalte im Berg stiegen und ihre Spieße auf sein Weib richteten. Er kannte sie, gehörte aber nicht mehr zu ihnen. Der eine war ein Bruder gewesen, der andere ein Wolfsvater. Jetzt waren sie nichts davon, und er fragte sich sogar, wie er sie überhaupt erkannt hatte.
Bevor sie weglaufen konnten, stieß einer einen im Feuer gehärteten Spieß in den dicken Bauch der Frau. Sie fuhr herum, griff mit ihren tastenden Händen unter das Fell und schrie auf. Er hatte Steine in der Hand und warf sie, packte den Spieß des einen Mannes und stieß blind zu, traf einen von ihnen ins Auge und vertrieb sie. Sie winselten und kläfften wie junge Hunde.
Er richtete einen Schrei gen Himmel, hielt sein Weib fest, während sie um Atem rang, nahm sie auf den Arm und schleppte sie immer höher. Mit Händen und Blicken gab sie ihm zu verstehen, dass ihre Zeit trotz Blut und Schmerzen gekommen war. Das Neue kündigte sich an.
Er blickte nach oben und suchte nach einem Versteck, wo er das Neue kommen sehen konnte. Da war so viel Blut, mehr als er jemals gesehen hatte, außer bei Tieren. Während er weiter ging und die Frau trug, blickte er sich um. Die Schamanen und alle anderen verfolgten sie nicht mehr.
Mitch schrie auf und schlug unter der Decke um sich. Er strampelte mit den Beinen, seine Hände krallten sich ins Laken, Vorhänge und Mobiliar verwirrten ihn. Einen Augenblick lang wusste er nicht, wo er war.
Kaye saß neben ihm und umarmte ihn.
»Hast du geträumt?«, fragte sie und streichelte seine Schulter.
»Oh ja. Du lieber Gott. Keinen Psychokram. Keine Zeitreise. Er hatte kein Feuerholz bei sich. Aber in der Höhle haben sie damals Feuer gemacht. Auch mit den Masken stimmte etwas nicht. Aber es hat sich ziemlich echt angefühlt.«
Kaye schob ihn ins Bett zurück, strich seine verschwitzten Haare glatt, berührte seine stoppelige Wange. Mitch entschuldigte sich dafür, dass er sie geweckt habe.
»Ich war schon wach«, sagte sie.
»Blöde Methode, Eindruck auf dich zu machen«, murmelte er.
»Du brauchst keinen Eindruck auf mich zu machen«, erwiderte Kaye. »Möchtest du darüber reden?«
»Nein«, antwortete er. »Es war schließlich nur ein Traum.«
Dicken stieß die Tür des Dodge auf und stieg aus. Dr. Denise Lipton gab ihm ein Namensschild. Er hielt sich angesichts der blendenden Sonne die Hand über die Augen und blickte nach oben zu dem kleinen Schild an der nackten Betonwand der Klinik: VIRGINIA CHATHAM WOMEN’S HEALTH AND FAMILY CENTER.
Ein Gesicht spähte kurz durch das winzige Drahtglasfenster in der schweren blauen Eisentür. Die Sprechanlage knackte, und Lipton nannte ihren Namen sowie ihre Kontaktperson im Krankenhaus.
Die Tür öffnete sich.
Im Eingang stand, die dicken Beine breit aufgepflanzt, Dr. Henrietta Paskow. Ihr wadenlanger grauer Rock und die weiße Bluse betonten ihre kraftvolle, stämmige Schlichtheit und ließen sie älter aussehen als sie tatsächlich war. »Danke, dass Sie gekommen sind, Denise. Wir hatten sehr viel zu tun.«
Durch den gelbweiß gestrichenen Korridor, an acht Wartezimmern vorbei, folgten sie ihr zu einem kleinen Büro im hinteren Bereich. Hinter dem einfachen Holzschreibtisch hingen messinggerahmte Bilder einer großen Familie mit kleinen Kindern an der Wand.
Lipton setzte sich auf einen Metallklappstuhl. Dicken blieb stehen. Paskow schob zwei Kisten mit Aktenordnern in ihre Richtung.
»Seit dem Säugling C hatten wir dreißig«, erklärte sie. »Dreizehn Mal Abrasio, siebzehn mit Pille danach. Die Pille wirkt in den ersten fünf Wochen nach der Abstoßung des Primärfetus.« Dicken blätterte in den Fallberichten. Sie waren einfach und prägnant und trugen Anmerkungen der behandelnden Ärzte und Krankenschwestern.
»Schwere Komplikationen hat es nicht gegeben«, sagte Paskow.
»Das Laminagewebe schützt gegen die Auswaschung mit Salzwasser. Aber gegen Ende der fünften Woche löst es sich, und dann ist die Schwangerschaft offenbar Risiken ausgesetzt.«
»Wie viele Anfragen bisher?«, fragte Lipton. »Wir hatten sechshundert Beratungstermine. Fast alle Frauen waren zwischen zwanzig und vierzig und lebten mit einem Mann zusammen, verheiratet oder auch nicht. Die Hälfte haben wir an andere Kliniken überwiesen. Es ist eine deutliche Zunahme.« Dicken legte die Ordner mit der Vorderseite nach unten auf den Schreibtisch.
Paskow sah ihn prüfend an. »Sie billigen das nicht, Mr. Dicken?«
»Ich bin nicht hier, um es zu billigen oder zu missbilligen.
Dr. Lipton und ich führen Befragungen durch, weil wir wissen wollen, ob unsere Zahlen wirklich realistisch sind.«
»Die Herodes-Grippe wird eine ganze Generation dezimieren«, bemerkte Paskow. »Ein Drittel der Frauen, die zu uns kommen, sind noch nicht einmal SHEVApositiv und hatten keine Fehlgeburt. Trotzdem wollen sie jetzt das Baby wegmachen lassen und dann erst mal ein paar Jahre abwarten. Wir machen hier ein Bombengeschäft mit Geburtenkontrolle. Unsere Aufklärungsgruppen sind überfüllt. Wir haben im oberen Stockwerk einen dritten und vierten Seminarraum eingerichtet. Die Männer kommen mit ihren Ehefrauen und Freundinnen. Das ist vielleicht das einzig Gute an der Sache. Die Männer haben Schuldgefühle.«
»Es besteht kein Anlass, jede Schwangerschaft abzubrechen«, sagte Lipton. »Der SHEVATest ist sehr zuverlässig.«
»Das sagen wir ihnen auch, aber es kümmert sie nicht«, erwiderte Paskow. »Sie haben Angst und trauen uns nicht zu, dass wir über den Ablauf Bescheid wissen. Gleichzeitig stehen draußen jeden Dienstag und Donnerstag zehn bis fünfzehn selbsternannte Lebensschützer und schreien, die Herodes-Grippe sei ein Mythos der gottlosen Humanisten. Es gebe gar keine Krankheit, und wir würden nur sinnlos hübsche Babys ermorden. Angeblich ist es eine weltweite Verschwörung. Sie werden immer lauter, und sie haben schreckliche Angst. Das Jahrtausend ist noch jung.«
Paskow hatte wichtige Statistiken kopiert und gab Lipton die Blätter.
»Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben«, sagte Dicken.
»Mr. Dicken«, rief Paskow ihnen nach, »ein Impfstoff würde den Menschen viel Kummer ersparen.«
Lipton brachte Dicken zu seinem Auto. Eine schwarze Frau zwischen dreißig und vierzig ging hinter ihnen her und blieb an der blauen Tür stehen. Obwohl es warm war, hatte sie sich in einen langen Wollmantel gehüllt. Sie war mindestens im sechsten Monat.
»Für heute habe ich genug«, sagte Lipton, die ganz blass im Gesicht war. »Ich fahre zurück zu den CDC.«
»Ich muss noch ein paar Gewebeproben mitnehmen«, antwortete Dicken.
Lipton legte eine Hand auf die Autotür und erklärte: »Wir müssen es den Frauen in unserer Klinik sagen. Geschlechtskrankheiten hat keine von ihnen gehabt, aber alle hatten Windpocken und eine auch Hepatitis B.«
»Wir haben keine Anhaltspunkte, dass Windpocken zu Problemen führen«, erwiderte Dicken.
»Es ist ein Herpesvirus. Ihre Laborbefunde sind besorgniserregend, Christopher.«
»Sie sind noch nicht vollständig. Du lieber Gott, fast jeder hat irgendwann einmal Windpocken, Pfeiffersches Drüsenfieber oder Erkältungsbläschen gehabt. Sicher sind wir bisher nur bei Genitalherpes, Hepatitis und möglicherweise AIDS.«
»Trotzdem muss ich es ihnen sagen«, antwortete sie und knallte seine Autotür entschlossen zu. »Das hat mit Ethik zu tun, Christopher.«
»Ja, ja«, erwiderte Dicken. Er löste die Handbremse und ließ den Wagen an. Aber plötzlich zog er ein angewidertes Gesicht, schaltete den Motor wieder aus und legte die Ellenbogen auf die Kante des offenen Fensters. Er versuchte zu entscheiden, was er in den nächsten Wochen am besten mit seiner Zeit anfangen sollte.
In den Labors lief nicht alles nach Plan. Bei der Analyse der Gewebeproben von Feten und Plazenten aus Frankreich und Japan hatte sich eine Anfälligkeit für alle möglichen Herpesinfektionen gezeigt. Von den hundertzehn bisher untersuchten sekundären Feten hatte kein einziger die Geburt überlebt.
Es war an der Zeit, einen Entschluss zu fassen. Die Gesundheitspolitik befand sich in einem kritischen Zustand. Entscheidungen und Empfehlungen standen an, und die Politiker würden auf die Empfehlungen so reagieren müssen, dass sie es einer zutiefst gespaltenen Wählerschaft erklären konnten.
Wahrscheinlich würde es ihm nicht gelingen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Und derzeit schien die Wahrheit bemerkenswert weit entfernt zu sein. Wie konnte man etwas so Wichtiges wie ein bedeutsames Evolutionsereignis so erfolgreich aufs Abstellgleis schieben?
Auf dem Beifahrersitz hatte er einen Haufen Briefe seiner Dienststelle in Atlanta gestapelt. Sie auf dem Flug zu lesen, hatte er keine Zeit gehabt. Er zog einen Umschlag heraus und fluchte halblaut. Wie kam es, dass er ihn nicht sofort gesehen hatte?
Briefmarke und Handschrift zeigten es überdeutlich: Er war von Dr. Leonid Sugashvili aus Tiflis in Georgien.
Er riss den Umschlag auf. Ein kleines Schwarzweißfoto auf Hochglanzpapier fiel ihm in den Schoß. Er betrachtete es aus der Nähe: stehende Gestalten vor einem baufälligen Holzhaus, zwei Frauen in Kleidern, ein Mann im Overall. Sie wirkten schmächtig und vielleicht auch geschwächt, aber genau konnte man es nicht sagen. Die Gesichter waren verschwommen.
Dicken entfaltete den Begleitbrief.
Lieber Dr. Christopher Dicken,
dieses Foto wurde mir aus Atzharis AR geschickt, das Sie wahrscheinlich Adscharien nennen. Es wurde vor zehn Jahren in der Nähe von Batumi aufgenommen. Vermutlich handelt es sich um Überlebende der Säuberungsaktionen, für die Sie sich so stark interessiert haben. Es ist wenig darauf zu sehen. Angeblich sind die Betreffenden noch am Leben. Manche Leute sagen, sie seien in Wirklichkeit mit einem UFO gekommen, aber das glaube ich nicht.
Ich werde nach ihnen suchen und Sie zu gegebener Zeit unterrichten. Geldmittel sind äußerst knapp. Ich wüsste Unterstützung durch Ihre Organisation, das NCID, sehr zu schätzen. Ich danke Ihnen für Ihr Interesse. Meines Erachtens sind sie keine »abartigen Schneemenschen«, sondern völlig echt! Das CDCBüro in Tiflis habe ich nicht informiert. Man hat mir gesagt, Sie seien derjenige, dem ich vertrauen könne.
Mit den besten Grüßen
Dicken sah sich das Foto noch einmal genau an. Keinerlei Anhaltspunkte. Phantome.
Der Tod reitet auf einem bleichen Pferd, schlitzt links und rechts die Kinder auf, dachte er. Und ich muss mich mit Spinnern und geldgierigen komischen Käuzen herumschlagen.
Während Kaye duschte, rief Mitch bei sich zu Hause in Seattle an.
Er tippte den Code des Anrufbeantworters ein und rief die Nachrichten ab: zwei Anrufe von seinem Vater, einer von einem Mann, der seinen Namen nicht nannte, und einer von Oliver Merton aus London. Mitch schrieb sich gerade die Telefonnummer auf, als Kaye, locker in ein Handtuch gehüllt, aus dem Bad kam.
»Es macht dir Spaß, mich zu provozieren«, sagte er. Sie trocknete sich mit einem zweiten Handtuch die kurzen Haare ab und betrachtete ihn dabei mit einer taxierenden Stetigkeit, die ihn nervös machte.
»Wer war das?«
»Ich habe meinen Anrufbeantworter abgefragt.«
»Alte Freundinnen?«
»Mein Vater, dann jemand, den ich nicht kenne — ein Mann —, und Oliver Merton.«
Kaye hob die Brauen. »Eine alte Freundin hätte ich besser gefunden.«
»Mmhmm. Er fragt, ob ich mit ihm nach Beresford im Staat New York fahren will. Er möchte mich jemand Interessantem vorstellen.«
»Einem Neandertaler?«
»Er sagt, er könne mir Spesen und Unterkunft bezahlen.«
»Klingt ja großartig«, sagte Kaye.
»Noch habe ich nicht zugesagt. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was er vorhat.«
»Er kennt sich in meiner Branche ziemlich gut aus.«
»Komm doch mit«, sagte Mitch, aber sein Blick ließ erkennen, dass er genau wüsste, wie unrealistisch seine Hoffnung war.
»Ich habe hier zu tun, und zwar noch lange«, erwiderte sie. »Aber ich werde dich vermissen, wenn du fährst.«
»Ich könnte ihn ja anrufen und fragen, was er da im Hinterkopf hat.«
»Na gut«, sagte Kaye. »Tu’ das, ich mache uns inzwischen zwei Schalen Cornflakes.«
Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Verbindung zustande kam. Das tiefe Summen eines englischen Telefons wurde schnell von einer atemlosen Stimme unterbrochen: »Verdammter Mist, es ist spät und ich habe zu tun. Wer ist da?«
»Mitch Rafelson.«
»Ach so. Entschuldigung, ich ziehe mir nur etwas an. Ich telefoniere nicht gern halbnackt.«
»Halb!«, rief eine verärgerte Frauenstimme im Hintergrund.
»Sag ihnen, ich bin bald deine Frau, und du bist ganz nackt.«
»Psst.« Lauter, den Telefonhörer halb abgedeckt, rief Merton der Frau zu: »Nur das Nötigste. Ich gehe nach nebenan.« Dann zog er die Hand vom Hörer und hielt ihn näher an den Mund. »Wir müssen unter vier Augen miteinander reden, Mitchell.«
»Ich rufe aus Baltimore an.«
»Wie weit ist das von Bethesda weg?«
»Ein ganzes Stück.«
»Halten die NIH Sie noch auf dem Laufenden?«
»Nein.«
»Und Marge Cross? Ähh … Kaye Lang?«
Mitch zuckte zusammen. Merton hatte einen geradezu gespenstischen Instinkt. »Ich bin nur ein kleiner Anthropologe, Oliver.«
»Schon gut. Es ist niemand im Zimmer, ich kann es Ihnen erzählen. In Innsbruck hat sich die Lage erheblich zugespitzt. Dort werden nicht mehr nur Boxkämpfe ausgetragen. Die können sich nicht mehr riechen. Sie haben sich zerstritten, und einer der wichtigsten Beteiligten möchte mit Ihnen reden.«
»Wer?«
»Er sagt, er habe eigentlich von Anfang an mit Ihnen sympathisiert. Angeblich hat er Sie angerufen und Ihnen gesagt, dass sie die Höhle gefunden haben.«
Mitch fiel der Anrufer wieder ein. »Er hat keinen Namen genannt.«
»Das wird er auch jetzt nicht tun. Aber er meint es ehrlich, er ist eine wichtige Person, und er will reden. Ich wäre gern dabei.«
»Klingt nach einem politischen Schachzug«, sagte Mitch.
»Meines Erachtens will er ein paar Gerüchte streuen und dann auf die Wirkungen warten. Er will, dass das Treffen nicht in Innsbruck oder Wien, sondern in New York stattfindet. In der Wohnung eines Bekannten in Beresford. Kennen Sie dort irgendjemanden?«
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Mitch.
»Er hat mir noch nicht gesagt, was er sich eigentlich überlegt hat, aber ich kann ein paar Glieder zusammensetzen, und die ergeben eine ganz hübsche Kette.«
»Ich denke darüber nach und rufe Sie in ein paar Minuten noch mal an.«
Merton schien nicht sehr erbaut von dem Gedanken, auch nur kurze Zeit zu warten.
»Nur ein paar Minuten«, versicherte Mitch und legte auf. Kaye kam mit zwei vollen Schalen und einem Krug Milch auf einem Tablett aus der Küche. Sie hatte einen wadenlangen schwarzen Morgenmantel angelegt, der von einer roten Kordel zusammengehalten wurde. Er ließ ihre Beine sehen, und wenn sie sich nach vorn beugte, offenbarte er auch sehr hübsch eine Brust. »Reiscrispies oder Honigpops?«
»Honigpops, bitte.«
»Und?«
Mitch lächelte. »Könnte ich doch tausend Jahre lang mit dir frühstücken!«
Kaye sah verwirrt und erfreut zugleich aus. Sie stellte das Tablett auf dem Couchtisch ab und strich sich den Morgenmantel über den Hüften glatt. Dabei bewegte sie sich mit einer linkischen Befangenheit, die Mitch höchst liebenswert erschien. »Du weißt, was ich hören will«, sagte sie.
Mitch zog sie zärtlich neben sich auf die Couch. »Merton sagt, in Innsbruck hat es Krach gegeben, eine Spaltung. Ein wichtiges Mitglied der Arbeitsgruppe möchte mit mir reden. Merton will über die Mumien einen großen Artikel schreiben.«
»Er interessiert sich für die gleichen Dinge wie wir«, sagte Kaye nachdenklich. »Er glaubt, dass sich etwas Wichtiges abspielt. Und er verfolgt jeden Aspekt, von mir bis nach Innsbruck.«
»Daran habe ich keinen Zweifel«, sagte Mitch.
»Ist er intelligent?«
»Durchaus. Vielleicht sogar sehr intelligent. Ich weiß es nicht; ich war nur ein paar Stunden mit ihm zusammen.«
»Dann solltest du fahren, damit du erfährst, was er weiß. Übrigens liegt es näher bei Albany.«
»Stimmt. Normalerweise würde ich meine kleine Tasche packen und mich in den nächsten Zug setzen.«
Kaye goss Milch in ihre Schale. »Aber?«
»Ich kann nicht einfach lieben und dann weglaufen. Die nächsten Wochen möchte ich mit dir verbringen, und zwar ohne Unterbrechung. Nie von deiner Seite weichen.« Er streckte den Hals und kratzte sich. Kaye half ihm dabei. »Klingt nach Klette«, sagte er.
»Ich will, dass du wie eine Klette an mir hängst«, sagte sie. »Mir ist sehr danach, dich zu vereinnahmen und zu beschützen.«
»Ich kann Merton anrufen und absagen.«
»Das wirst du nicht tun.« Sie küsste ihn heftig und biss ihm in die Lippe. »Du wirst sicher Erstaunliches zu berichten haben. Ich habe letzte Nacht viel nachgedacht, und jetzt liegt jede Menge ganz gezielter Arbeit vor mir. Wenn ich damit fertig bin, habe ich dir wahrscheinlich Erstaunliches zu berichten, Mitch.«
Augustine joggte forsch parallel zur Capitol Mall auf dem Fußweg unter den Kirschbäumen, die gerade ihre letzten Blütenblätter fallen ließen. In stetigem Trab folgte ihm ein Sicherheitsbeamter im dunkelblauen Anzug, der sich hin und wieder kurz umwandte, um den Weg hinter ihnen zu überblicken.
Dicken wartete mit den Händen in den Jackentaschen, bis Augustine herangekommen war. Eine Stunde zuvor war er von Bethesda hierher gefahren und hatte dabei tapfer den Berufsverkehr durchgestanden, jenes schleichende Übel, gegen das er eine fast wütende Abneigung hegte. Augustine hielt neben ihm an und lief weiter auf der Stelle, wobei er die Arme ausstreckte.
»Guten Morgen, Christopher«, sagte er. »Sie sollten auch öfter joggen.«
»Ich bin gerne dick«, erwiderte Dicken; sein Gesicht nahm Farbe an.
»Niemand ist gerne dick.«
»Na ja, dann bin ich eben nicht dick. Was sind wir heute, Mark?
Geheimagenten? Informanten?« Er fragte sich, warum man ihm noch keinen Leibwächter zugeteilt hatte. Es musste wohl daran liegen, dass er noch keine Person des öffentlichen Lebens war.
»Blöde Fachleute für Schadensbegrenzung«, sagte Augustine.
»Ein Mann namens Mitchell Rafelson ist über Nacht bei der lieben Ms. Kaye Lang in ihrer hübschen Wohnung in Baltimore geblieben.«
Dicken erbleichte.
»Sie sind mit den beiden im Zoo von San Diego herumgelaufen.
Haben ihm Zutritt zu der geschlossenen Gesellschaft bei Americol verschafft. Alles sehr gesellig. Haben Sie die beiden miteinander bekannt gemacht, Christopher?«
»Sozusagen.« Dicken war selbst überrascht, wie mies er sich fühlte.
»Das war unklug. Kennen Sie seine Vergangenheit?«, fragte Augustine spitz. »Der Leichenräuber aus den Alpen? Der Mann ist ein Spinner.«
»Ich dachte, er könnte nützlich sein.«
»Wessen Ansicht sollte er in dem ganzen Durcheinander unterstützen?«
»Eine durchaus vertretbare Ansicht«, erwiderte Dicken unbestimmt und blickte zur Seite. Es war ein kühler, angenehmer Morgen, und auf der Mall waren eine ganze Reihe Jogger unterwegs, die sich an der frischen Luft ein wenig bewegen wollten, bevor sie sich in ihren Behördenbüros einigelten.
»Die Sache stinkt. Das Ganze sieht nach einem Ablenkungsmanöver aus, mit dem sich die Stoßrichtung des ganzen Projekts verändert, und das macht mir Sorgen.«
»Wir waren zu einer Sichtweise gelangt, Mark. Zu einer durchaus vertretbaren Sichtweise.«
»Marge Cross hat mir erzählt, es würde über Evolution geredet«, sagte Augustine.
»Kaye hat eine Begründung zusammengebastelt, in der Evolution vorkommt«, bestätigte Dicken. »Sie hat alles in ihren Artikeln vorausgesagt — und Mitch Rafelson hat ebenfalls ein bisschen in dieser Richtung geforscht.«
»Marge ist überzeugt, dass es schlimme Folgen hat, wenn diese Theorie an die Öffentlichkeit gelangt«, sagte Augustine. Er hörte mit den windmühlenartigen Armbewegungen auf und machte Dehnübungen für den Hals: Eine Hand griff nach dem anderen Oberarm und übte Zug aus; gleichzeitig blickte er an dem gestreckten Arm entlang, den er so weit wie möglich nach hinten zog. »Es gibt keinen Anlass, es so weit kommen zu lassen. Ich werde der Sache sofort ein Ende machen. Heute morgen habe ich einen Vorabdruck aus dem PaulEhrlichInstitut in Deutschland bekommen. Dort haben sie mutierte Formen von SHEVA gefunden. Und zwar mehrere. Krankheitserreger mutieren, Christopher.
Wir müssen die Impfstofferprobung einstellen und wieder ganz von vorn anfangen. Das lenkt alle Hoffnungen in eine wirklich üble Richtung. Einen solchen Aufruhr werde ich beruflich nicht überleben.«
Dicken sah zu, wie Augustine auf der Stelle tänzelte und von einem Fuß auf den anderen hüpfte. Schließlich blieb er stehen und holte tief Luft. »Morgen werden auf der Mall wahrscheinlich zwanzig- oder dreißigtausend Menschen demonstrieren. Irgendjemand hat einen Bericht der Taskforce über die Befunde mit RU-486 durchsickern lassen.«
Dicken spürte, wie sich in ihm etwas zusammenkrampfte, wie es in seinem Inneren einen kleinen Knall gab wegen der Enttäuschung über Kaye auf der einen Seite und seine bisherige Arbeit auf der anderen. Er hatte seine Zeit völlig vergeudet. Wie er mit seiner Theorie einen Boten erklären sollte, der mutiert und damit seine Botschaft verändert, konnte er nicht erkennen. Kein biologisches System würde seinen Nachrichtenübermittlungsmechanismen eine solche Kontrolle erlauben.
Er hatte Unrecht gehabt. Kaye Lang hatte Unrecht gehabt.
Der Leibwächter zeigte auf seine Armbanduhr, aber Augustine verzog das Gesicht und schüttelte genervt den Kopf.
»Erzählen Sie mir mehr darüber, Christopher«, sagte er, »dann überlege ich mir, ob ich Sie diese blöde Arbeit weitermachen lasse.«
Mit unerschütterlichem Selbstvertrauen ging Kaye zu Fuß von ihrer Wohnung zu Americol. Sie blickte am BromoSeltzer Tower empor — er wurde so genannt, weil früher eine riesige blaue Arzneiflasche auf seinem Dach gestanden hatte. Heute war nur noch der Name übrig; die Flasche hatte man schon vor Jahrzehnten entfernt.
Mitch ging ihr nicht aus dem Kopf, aber seltsamerweise war er keine Ablenkung. Ihre Gedanken waren sehr konzentriert, und sie hatte jetzt eine viel klarere Vorstellung von dem, was sie suchte.
Während sie die Fußwege zwischen den Gebäuden entlangging, freute sie sich über das Spiel von Sonne und Schatten. Es war ein so schöner Tag, dass sie den stets gegenwärtigen Benson fast vergessen konnte. Er begleitete sie wie immer zur Laboretage und blieb dann zwischen Aufzug und Treppe stehen, sodass niemand seinem prüfenden Blick entgehen konnte.
Kaye betrat ihr Labor und hängte Handtasche und Mantel an ein Trockengestell für Glasgeräte. Im Nachbarraum werteten fünf ihrer sechs Assistentinnen die Elektrophoresegele der letzten Nacht aus. Sie war froh, ein wenig allein zu sein.
Sie setzte sich an ihren kleinen Schreibtisch und holte sich das AmericolIntranet auf den Bildschirm. Ein paar Sekunden später hatte sie sich von der Eröffnungsseite zum firmeneigenen HumanGenomProjekt durchgeklickt. Es war eine hervorragend aufgebaute Datenbank, in der man leicht recherchieren konnte; wichtige Gene waren benannt, ihre Funktionen waren gekennzeichnet und wurden in allen Einzelheiten erläutert.
Kaye tippte ihr Passwort ein. In ihren ursprünglichen Arbeiten hatte sie sieben Gene dingfest gemacht, die als Kandidaten für Expression und Zusammenbau vollständiger, infektiöser HERVPartikel infrage kamen. Diejenigen, die sie am wahrscheinlichsten für funktionsfähig gehalten hatte, standen, wie sich inzwischen herausgestellt hatte, tatsächlich mit SHEVA in Zusammenhang — zum Glück, hätte sie eigentlich denken müssen. In den paar Monaten, seit sie bei Americol war, hatte sie die sechs anderen Kandidaten eingehender untersucht, und nun wollte sie eine Liste mit mehreren tausend weiteren, möglicherweise interessanten Genen in Angriff nehmen.
Kaye galt als Expertin, aber in der riesigen Welt der menschlichen DNA kannte sie eigentlich nur ein paar baufällige, scheinbar aufgegebene Baracken in mehreren kleinen, fast vergessenen Städten. Die HERVGene waren angeblich Fossilien, verstreute Bruchstücke in DNAAbschnitten, die noch nicht einmal eine Million Basenpaare lang waren. Auf derart geringe Entfernungen können Gene aber ziemlich leicht rekombinieren — das heißt von einer Stelle an eine andere springen. Die DNA ist ständig im Umbruch — Gene wechseln ihre Position und bilden in der DNA kleine Knoten oder Blasen, die sich verdoppeln, eine Reihe sich drehender und windender, immer wieder anders angeordneter Ketten; die Gründe konnte sich eigentlich niemand vollständig ausmalen. Dennoch war SHEVA über Jahrmillionen hinweg erstaunlich stabil geblieben. Die Veränderungen, nach denen sie suchte, würden geringfügig und zugleich höchst bedeutsam sein.
Wenn sie Recht hatte, würde sie ein großes wissenschaftliches Lehrgebäude umstoßen, die Reputation vieler Fachleute beschädigen und die biologische Auseinandersetzung des einundzwanzigsten Jahrhunderts vom Zaun brechen, ja sogar einen regelrechten Krieg. Und dabei wollte sie nicht zu einem der ersten Opfer werden, nur weil sie in halbfertiger Rüstung auf dem Schlachtfeld erschienen war. Über die Ursachen nur zu spekulieren, reichte nicht aus. Ungewöhnliche Behauptungen erfordern ungewöhnliche Belege.
Geduldig und in der Hoffnung, es werde frühestens in einer Stunde jemand anderes ins Labor kommen, verglich sie noch einmal die bei SHEVA gefundenen Sequenzen mit denen der sechs anderen Kandidaten. Dieses Mal befasste sie sich eingehend mit den Transkriptionsfaktoren, die die Expression des großen Proteinkomplexes in Gang setzten. Seit gestern wusste sie, dass es damit etwas auf sich haben musste, aber erst nach mehrmaliger Überprüfung der Sequenzen fand sie es heraus: Vier der Kandidaten trugen ähnliche Faktoren, die sich aber alle geringfügig unterschieden.
Sie sog tief die Luft ein. Einen Augenblick lang war ihr, als stünde sie am Rand einer hohen Klippe. Die Transkriptionsfaktoren waren sicher spezifisch für verschiedene Varianten des großen Proteinkomplexes, der demnach von mehreren Genen codiert wurde.
Es gab mehrere DarwinViren.
In der Vorwoche hatte Kaye möglichst genaue Sequenzen von über hundert Genen auf mehreren Chromosomen angefordert.
Der Leiter der GenomArbeitsgruppe hatte ihr versprochen, sie bis heute Morgen zur Verfügung zu stellen. Er hatte gute Arbeit geleistet: Schon mit bloßem Auge sah sie interessante Ähnlichkeiten.
Aber für eine derartige Datenfülle reichte das bloße Auge nicht aus. Mit einem hauseigenen Softwarepaket namens METABLAST suchte sie nach DNAAbschnitten, die in ihrer Sequenz ungefähr zu dem bekannten Gen für den großen Proteinkomplex auf dem Chromosom 21 homolog waren. Sie beantragte und erhielt für drei Minuten den größten Teil der Rechenleistung auf dem Großrechner der Firma.
Als die Analyse abgeschlossen war, hatte Kaye die gesuchten Übereinstimmungen gefunden — und darüber hinaus mehrere hundert andere, alle versteckt in dem so genannten DNASchrott, alle mit geringfügigen Unterschieden, mit anderen Anweisungen, die jeweils andere biologische Strategien eröffneten.
Die Gene für den großen Proteinkomplex waren auf allen zweiundzwanzig Autosomen vertreten, den Chromosomen des Menschen, die nicht über das Geschlecht bestimmen.
»Sicherungskopien«, flüsterte Kaye, als könne sie jemand belauschen. »Alternativen.« Es lief ihr kalt den Rücken herunter. Mit einem Ruck stand sie vom Schreibtisch auf und ging im Labor auf und ab. »Du lieber Himmel. Was mache ich mir hier eigentlich für Gedanken?«
In seiner derzeitigen Form funktionierte SHEVA nicht richtig.
Die neuen Babys starben. Das Experiment — die Schaffung einer neuen Subspezies — wurde durch äußere Feinde behindert, durch andere, ungezähmte Viren, die nicht vor undenklicher Zeit mit ins Boot geholt und in das Hilfsmittelarsenal der Menschen aufgenommen worden waren.
Sie hatte ein weiteres Glied in ihrer Indizienkette gefunden.
Wenn eine Botschaft unbedingt ankommen muss, schickt man viele Boten los. Und diese Boten können unterschiedliche Botschaften transportieren. Ein komplizierter Mechanismus, der über die Gestalt einer neuen Spezies bestimmt, würde sich mit Sicherheit nicht nur auf einen einzigen kleinen Informationsübermittler und eine festgelegte Nachricht verlassen, sondern ganz automatisch raffinierte Konstruktionsalternativen schaffen, die mit möglichst allen Widrigkeiten der Außenwelt fertig werden, mit Problemen, die nicht unmittelbar zu spüren oder vorherzusehen sind.
Was sie hier vor sich sah, war vermutlich die Erklärung für die Riesenmengen an HERV und anderen beweglichen Elementen: Sie dienten dazu, für einen wirksamen, erfolgreichen Übergang zu einem neuen Phänotyp zu sorgen, zu einer neuen Menschenvariante. Wir wissen nur noch nicht, wie es funktioniert. Es ist so kompliziert … man kann sein ganzes Leben damit zubringen, es zu verstehen!
Angst machte ihr vor allem, dass man den Befund in der derzeitigen Atmosphäre völlig falsch deuten würde.
Sie schob den Stuhl vom Computertisch zurück. Alle Energie, die sie heute Morgen in sich gespürt hatte, der ganze Optimismus, das Nachglühen der Nacht mit Mitch, erschienen auf einmal leer und sinnlos.
Auf dem Korridor hörte sie Stimmen. Die Stunde war schnell vergangen. Sie stand auf und faltete den Ausdruck mit den Kandidatengenen zusammen. Sie musste damit zu Jackson gehen — das war ihre erste Pflicht. Anschließend wollte sie mit Dicken reden.
Sie mussten ihre Reaktionen abstimmen.
Von dem Trockenständer nahm sie ihren Mantel und warf ihn über. Sie wollte gerade gehen, da kam Jackson aus dem Flur herein. Kaye sah ihn ein wenig erschrocken an — er war noch nie zu ihr ins Labor gekommen. Er sah erschöpft und zutiefst besorgt aus. Auch er hatte ein Blatt Papier in der Hand.
»Ich dachte, Sie sollten es als Erste erfahren«, sagte er und schwenkte das Papier vor ihrer Nase.
»Was sollte ich erfahren?«
»Wie weit Sie wahrscheinlich daneben liegen. SHEVA kann mutieren.«
Kayes Tag endete mit drei Stunden voller Besprechungen mit leitenden Angestellten und Assistenten — eine Litanei der Zeitpläne und Termine, der alltägliche Kleinkram der Forschung in einem winzigen Teil eines sehr großen Unternehmens. So etwas war im besten Fall betäubend, aber jetzt wurde es fast unerträglich. Die selbstgefällige Herablassung, mit der Jackson ihr die Nachrichten aus Deutschland übermittelt hatte, hätte sie fast zu einer scharfen Erwiderung verleitet, aber sie hatte nur gelächelt und gesagt, sie arbeite bereits an der Frage; dann war sie gegangen … um sich auf der Damentoilette fünf Minuten lang im Spiegel anzustarren.
Von Americol ging sie in Begleitung des stets wachsamen Benson zu ihrem Wohnhochhaus. Die letzte Nacht kam ihr fast wie ein Traum vor. Der Pförtner öffnete die große Glastür, lächelte beide höflich an und bedachte den Leibwächter mit einem kollegialen Nicken. Benson kam mit ihr in die Aufzugkabine. Kaye hatte sich in Gegenwart des Sicherheitsbeamten nie sonderlich wohl gefühlt, aber bisher war es ihr gelungen, stets eine höfliche Unterhaltung zu führen. Jetzt aber konnte sie auf seine Frage, wie ihr Tag gelaufen sei, nur mit einem Brummen antworten.
Als sie die Tür Nummer 2011 aufschloss, dachte sie einen Augenblick lang, Mitch sei nicht mehr da. Mit einem Zischen stieß sie den Atem aus. Er hatte bekommen, was er wollte, und jetzt musste sie sich wieder allein mit ihrem Versagen auseinander setzen, mit ihren intelligentesten und verheerendsten Fehlschlägen.
Aber dann kam Mitch mit fast freudiger Hast aus dem kleinen Nebenzimmer. Er blieb einen Augenblick lang vor ihr stehen, sah ihr prüfend ins Gesicht, taxierte die Situation und umarmte sie dann ein wenig zu sanft.
»Drück’ mich, bis ich schreie«, sagte sie. »Es war ein wirklich schrecklicher Tag.«
Aber das verhinderte nicht, dass sie Lust auf ihn hatte. Wieder war die Liebe heftig und feucht und voll wunderbarer Harmonie, wie sie es noch nie erlebt hatte. Diesen Augenblicken gab sie sich ganz hin, und als sie nicht mehr konnten, als Mitch von Schweißperlen bedeckt neben ihr lag und die Laken unter ihr unangenehm nass waren, musste sie weinen.
»Jetzt wird es wirklich hart«, sagte sie mit zitterndem Kinn.
»Erzähl’ es mir.«
»Ich glaube, ich habe Unrecht, wir haben Unrecht. Ich weiß, dass es nicht stimmt, aber alle sagen mir, dass ich Unrecht habe.«
»Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Mitch.
»Nein!«, schrie sie. »Ich habe es vorausgesagt, ich habe es kommen sehen, aber nicht frühzeitig genug, und sie haben mich ausgebootet. Jackson hat mich ausgebootet. Ich habe noch nicht mit Marge Cross gesprochen, aber …«
Mitch brauchte mehrere Minuten, um ihr die Einzelheiten aus der Nase zu ziehen, und auch danach konnte er nur ungefähr nachvollziehen, wovon sie redete. Kurz gesagt, hatte sie den Eindruck, dass neue Ausprägungsformen von SHEVA neue Varianten der großen Proteinkomplexe entstehen ließen, einfach für den Fall, dass das erste DarwinVirus sich nicht als wirksam erwies oder auf Schwierigkeiten stieß. Jackson und fast alle anderen dagegen glaubten, sie hätten es mit einer mutierten und vielleicht noch ansteckenderen Form von SHEVA zu tun.
»Das DarwinVirus«, wiederholte Mitch, grüblerisch wegen des Begriffs.
»Der Signalmechanismus. SHEVA.«
»Mmmhmm«, sagte er. »Ich finde deine Erklärung sinnvoller.«
»Warum ist sie sinnvoller? Bitte sag’ mir, dass ich nicht nur starrköpfig bin und Unrecht habe.«
»Zähl’ doch eins und eins zusammen«, erwiderte Mitch. »Lass’ die Tatsachen noch einmal durch die Mühle der Wissenschaft laufen. Wir wissen, dass die Artbildung sich manchmal in sehr kleinen Schritten vollzieht. Von den Mumien in den Alpen wissen wir, dass SHEVA bei Menschen aktiv war, die eine neue Art von Babys zur Welt brachten. Artbildung ist selbst in historischen Zeitmaßstäben selten — und SHEVA war der medizinischen Wissenschaft bis vor kurzem überhaupt nicht bekannt. Wenn es zwischen SHEVA und der Artbildung in kleinen Schritten keinen Zusammenhang gibt, sind das viel zu viele Zufälle.«
Sie drehte sich auf die Seite, sah ihm ins Gesicht und strich mit den Fingern so über seine Wangen und um die Augen, dass er zusammenfuhr.
»Tut mir Leid«, sagte sie. »Es ist so toll, dass du da bist. Du baust mich auf. Heute Nachmittag — ich habe mich noch nie so einsam gefühlt … nicht seit Saul weg ist.«
»Ich glaube, Saul hat nie gewusst, was er an dir hatte«, sagte Mitch.
Kaye ließ den Satz einen Augenblick zwischen ihnen stehen — sie wollte wissen, ob sie ihn überhaupt verstand. »Nein«, sagte sie schließlich, »das konnte er gar nicht wissen.«
»Ich weiß, wer und was du bist«, erwiderte Mitch.
»Wirklich?«
»Eigentlich noch nicht«, räumte er lächelnd ein, »aber ich wüsste es gerne.«
»Wir brauchen uns nur zuhören«, sagte Kaye. »Was hast du heute gemacht?«
»Ich war im YMCA und habe meinen Spind ausgeräumt. Dann bin ich wieder mit dem Taxi hierher gefahren und habe herumgelungert wie ein Gigolo.«
»Ich meine es ernst«, sagte Kaye und drückte seine Hand fester.
»Ich habe ein paar Telefongespräche geführt. Morgen fahre ich mit dem Zug nach New York. Dort treffe ich mich mit Merton und dem geheimnisvollen Fremden aus Österreich. Wir fahren zusammen zu einem Haus, das Merton als ›großartige, höchst verführerische Villa im Staat New York‹ bezeichnet. Anschließend geht es mit dem Zug nach Albany zu meinem Vorstellungsgespräch bei der State University.«
»Wozu eine Villa?«
»Keine Ahnung.«
»Und kommst du zurück?«
»Wenn du mich hier haben willst.«
»Und ob ich das will. Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen«, sagte Kaye. »Wir werden schon zum Nachdenken wenig Zeit haben, und für Sorgen noch viel weniger.«
»Die Liebe ist in Zeiten der Cholera am schönsten«, sagte Mitch.
»Morgen wird alles noch viel schlimmer«, grübelte Kaye. »Jackson wird großen Stunk machen.«
»Lass’ ihn doch«, erwiderte Mitch. »Ich glaube, auf lange Sicht wird es niemand aufhalten können. Bremsen vielleicht, aber aufhalten — nein.«
Dicken stand auf den Stufen des Kapitols. Es war ein warmer Abend. Dennoch fröstelte er ein wenig, denn er hörte ein Geräusch wie von einem Meer, akzentuiert durch Wellen widerhallender Stimmen. Nie hatte er sich so allein, so isoliert gefühlt wie jetzt, als er zu den etwa fünfzigtausend Menschen hinüberblickte, einer Menge, die sich vom Kapitol bis zum Washington Monument und darüber hinaus erstreckte. Die bewegliche Masse drängte gegen die Barrieren am Fuß der Treppe, strömte um die Zelte mit den Rednertribünen, hörte aufmerksam einem Dutzend verschiedener Ansprachen zu und kreiste langsam wie aufgerührte Suppe in einer riesigen Terrine. Er schnappte ein paar vom Wind zerhackte Brocken der Reden auf — unvollständig, aber aufschlussreich, grobe Sprachfetzen zum Aufheizen der Menge.
Sein ganzes Leben lang hatte Dicken den Krankheiten nachgespürt, die diese Menschen befielen, und sich dabei stets so verhalten, als sei er selbst unverwundbar. Tatsächlich hatte er es mit Fachkunde und ein wenig Glück immer vermieden, sich eine dieser Krankheiten zuzuziehen, außer einmal ein DengueFieber-schlimm, aber nicht tödlich. Er hatte sich immer für etwas Besonderes gehalten, für jemanden, der vielleicht ein wenig überlegen war, aber dennoch unendliches Einfühlungsvermögen besaß.
Die Selbsttäuschung eines gebildeten, geistig isolierten Trottels.
Jetzt begriff er es. Die Masse bestimmte, wo es langging. Wenn die Masse es nicht verstand, hatte nichts von dem, was er oder Augustine oder die Taskforce tat, noch viel Sinn. Und die Masse verstand ganz offensichtlich überhaupt nichts. Die Stimmen, die in seine Richtung wehten, sprachen von der Wut auf eine Regierung, die Kinder hinmetzelte, schimpften zornig auf den »Völkermord am Morgen danach«.
Er hatte daran gedacht, Kaye Lang anzurufen, um seine Fassung, sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen, aber er hatte es nicht getan. Er war fertig, am Ende, in einem sehr realen Sinn.
Er stieg die Stufen hinunter, vorbei an Fernsehteams, Kameras, Grüppchen von Beamten, Männern in blauen und braunen — Anzügen mit Sonnenbrillen und Knopf im Ohr. Polizei und Nationalgarde waren entschlossen, die Menschen vom Kapitol fernzuhalten, hinderten aber niemanden daran, sich der Menge anzuschließen.
Dicken hatte schon beobachtet, wie einige Senatoren in einer dicht gedrängten Gruppe herunterkamen und sich ins Gewühl mischten. Auch sie hatten wohl das Gefühl, jetzt nichts Besonderes, Überlegenes mehr darzustellen. Jetzt gehörten sie an die Seite ihres Volkes. Er fand sie einerseits opportunistisch, andererseits aber auch mutig.
Dicken kletterte über die Absperrungen und drängte sich in die Menge. Es war an der Zeit, dass er sich mit dem Fieber ansteckte und die Symptome verstand. Er hatte tief in sich hineingehorcht, und was er dabei gehört hatte, gefiel ihm nicht. Es war besser, zu den Kämpfern an vorderster Front zu gehören, ein Teil der Masse zu sein, ihre Worte und Gerüche in sich aufzunehmen und dann infiziert zurückzukommen, um daraufhin selbst analysiert, verstanden und zu etwas Nützlichem verwendet werden zu können.
Das würde eine Art von Bekehrung darstellen und der Qual, nie richtig dazuzugehören, ein Ende bereiten. Und wenn die Masse ihn dabei umbrachte, war es vielleicht genau das, was er aufgrund seiner früheren Überheblichkeit und seines Versagens verdient hatte.
Jüngere Frauen in der Menge hatten bunte Masken auf. Alle Männer trugen weiße oder schwarze Masken. Viele hatten Handschuhe an den Händen. Und nicht wenige Männer trugen enge schwarze Jacken mit IndustrieSchwebstoffschutzmasken, so genannte »Filteranzüge«, die den Versprechungen geschäftstüchtiger Händler zufolge die Ausbreitung des »Teufelsvirus« garantiert verhinderten.
Die Menschenmenge an diesem Ende der Mall lachte und hörte beiläufig einem Redner im nächstgelegenen Pavillon zu — die tiefe, volle Stimme des Bürgerrechtlers aus Philadelphia klang zuckersüß wie Karamell. Er sprach von Führungsrolle und Verantwortung, von dem, was der Staat zur Eindämmung der Seuche tun müsse, und von der Möglichkeit — nur der Möglichkeit —, dass die Seuche vielleicht in den geheimen Kellern der Regierung selbst ihren Ursprung haben könne.
»Manche schreien, sie stamme aus Afrika. Aber nicht Afrika ist krank, sondern wir. Andere schreien, es sei eine Teufelskrankheit, die uns nach der Prophezeiung befällt, um uns zu bestrafen …«
Dicken ging weiter, bis er die leidenschaftlichhektische Stimme eines Fernsehpredigers vernahm, der von grellen Scheinwerfern angestrahlt wurde. Der große Mann hatte einen vierschrötigen Kopf und schwitzte in seinem allzu engen schwarzen Geschäftsanzug. Gestikulierend tänzelte er auf dem Podium herum und ermahnte seine Zuhörer, um Beistand zu beten und tief in sich zu gehen.
Dicken dachte an seine Großmutter, der das sicher gefallen hätte. Er ging weiter.
Allmählich dämmerte es, und er spürte, wie die Spannung in der Menge wuchs. Irgendwo außer Hörweite war etwas geschehen, war etwas gesagt worden. Die Dunkelheit löste einen Stimmungsumschwung aus. Straßenlampen gingen an und tauchten die Menge in ein leuchtendes, gespenstisches Orange. Als er nach oben blickte, sah er die Hubschrauber, die in respektvoller Höhe kreisten und wie Insekten brummten. Einen Augenblick lang fragte er sich, ob sie wohl alle mit Tränengas eingenebelt oder erschossen werden sollten, aber der Umschwung wurde nicht von Soldaten, Polizei oder Hubschraubern ausgelöst.
Der Impuls rollte an wie eine Welle.
Er spürte erwartungsvolles Verlangen, das wie eine Flut anstieg, und hoffte, ihm werde sich etwas Neues eröffnen, ganz gleich, was die Menge beunruhigte. Aber es tat sich eigentlich gar nichts Neues. Es war nur der Drang, sich irgendwie zu bewegen, erst in diese, dann in jene Richtung. Inmitten der dicht gedrängten Menge ging er erst drei Meter vor, dann drei Meter zurück, so als sei er gezwungen, bei einem bizarren Gruppentanz mitzuwirken.
Dickens Überlebensinstinkt sagte ihm, es sei jetzt an der Zeit, die eigene Angst, den ganzen Psychomist zu überwinden und sich aus der Menge zu entfernen. Er hörte, wie ganz in der Nähe ein Redner zur Vorsicht mahnte, und wie der Mann neben ihm, der einen Filteranzug trug, durch die Maske murmelte: »Inzwischen ist es nicht nur eine Krankheit. Es kam gerade in den Nachrichten.
Es gibt noch eine weitere Seuche.«
Eine Frau mittleren Alters im Blümchenkleid hatte einen kleinen tragbaren Fernseher dabei. Sie hielt ihn in die Höhe, sodass die Umstehenden auf dem Bildschirm den winzigen Kopf erkennen konnten, der mit einem dünnem Stimmchen etwas sagte. Dicken konnte die Worte nicht verstehen.
Langsam und ständig auf der Hut, als watete er durch Nitroglyzerin, kam er bis zum Rand der Menge voran. Sein Hemd und die dünne Jacke waren schweißdurchtränkt. Ein paar andere versprengte scharfe Beobachter wie er selbst, spürten die Veränderung ebenfalls, ihre Blicke huschten hin und her. Die Menge wurde vom eigenen Chaos erdrückt. Es war eine dunkle, schwüle Nacht; Sterne waren nicht zu sehen. Die orangefarbenen Lampen entlang der Straße und rings um die Podeste und Zelte tauchten alles in hartes Licht.
In einer Gruppe von zwanzig oder dreißig Menschen stand Dicken jetzt wieder vor den Barrikaden an den Stufen des Kapitols, wo er bereits vor einer Stunde gewesen war. Berittene Polizisten, Männer und Frauen auf wunderschönen braunen Pferden, die in dem irrealen Licht die Farbe von Bernstein hatten, bewegten sich an der Absperrung hin und her. Es waren Dutzende, mehr als er je zuvor gesehen hatte. Die Soldaten der Nationalgarde hatten sich ein Stück zurückgezogen und bildeten eine — allerdings nicht sehr dichte — Kette. Sie waren nicht einsatzbereit. Offenbar rechneten sie nicht mit Schwierigkeiten, denn sie hatten weder Helme noch Schilde dabei.
Unvermittelt hörte er ringsum flüsternde, gedämpfte Stimmen.
»Kann nicht …«
»Kinder haben das …«
»Meine Enkel werden …«
»Die letzte Generation …«
»Buch …«
»Halt …«
Dann gespenstische Stille. Dicken stand in der fünften Reihe.
Weiter würden sie ihn nicht durchlassen. Beschränkte, aufgebrachte Gesichter, wie Schafe, mit leerem Blick. Schiebende Hände. Unwissend. Verängstigt.
Er hasste sie, hätte ihnen am liebsten die Nase eingeschlagen. Er war ein Narr; er wollte nicht zu den Schafen gehören. »Darf ich mal durch?« Keine Reaktion. Der Mob hatte sich entschieden; er spürte das zielgerichtete Pulsieren. Die hirnlose Masse wartete gespannt ab.
Im Osten flammten Lichter auf. Dicken sah, wie das Washington Monument in weißes Licht, heller als die Scheinwerfer, getaucht wurde. Vom düsteren, trüben Himmel war leises Donnergrollen zu hören. Regentropfen fielen auf die Menge. Gesichter blickten nach oben.
Er konnte die Bereitschaft der Menge mit Händen greifen. Es musste etwas geschehen. Nur noch ein Gedanke beschäftigte sie: Es muss etwas geschehen.
Es begann zu schütten. Die Menschen streckten die Hände über den Kopf. Lächeln machte sich breit. Gesichter überließen sich dem Regen. Manche Leute setzten sich, so gut es ging, in Bewegung. Andere hielten dagegen, sodass erstere bestürzt stehen blieben.
Ein Krampf durchzuckte die Menge. Plötzlich spie sie ihn aus.
Er schaffte es bis zu den Absperrungen, wo er sich plötzlich einem Polizisten gegenübersah. »Du lieber Gott«, sagte der Polizist und trat hastig drei Schritte zurück, als die Menge sich über die Barrieren schob. Die Berittenen versuchten sie zurückzudrängen und sprengten hinein. Eine Frau schrie auf. Wie eine große Woge schwappte die Menge über die berittenen und unberittenen Polizisten hinweg, ehe sie ihre Schlagstöcke heben oder ihre Pistolen aus den Halftern ziehen konnten. Ein Pferd wurde gegen die Stufen gedrängt und geriet ins Stolpern; es stürzte in die Menge, der Reiter fiel herunter, ein Stiefel flog durch die Luft.
Dicken schrie »Ich gehöre zum Stab!« und rannte die Stufen des Kapitels hinauf, mitten zwischen den Wachen hindurch, die keine Notiz von ihm nahmen. Froh, sich befreit zu haben, schüttelte er den Kopf, lachte und wartete, dass der Tumult richtig losging.
Aber der Mob war dicht hinter ihm, und er schaffte es gerade noch, wieder loszulaufen, weg von den Menschen, den vereinzelten Schüssen, der nassen, sich ausbreitenden, stinkenden Masse.
Mitch entdeckte die morgendliche Schlagzeile an einem Zeitungsstand der Pennsylvania Station. In der Daily News hieß es:
AUFRUHR VOR DEM KAPITOL
Senat gestürmt
Vier Senatoren getötet; Dutzende Tote, mehrere tausend Verletzte
Kaye und er hatten am Abend bei Kerzenlicht zusammen gegessen und danach miteinander geschlafen. Sehr romantisch, völlig losgelöst von allem. Sie hatten sich erst vor einer Stunde getrennt. Kaye hatte die Farbe ihrer Kleidung sorgfältig ausgewählt; sie hatte einen schwierigen Tag vor sich.
Er holte sich eine Zeitung und bestieg den Zug. Gerade hatte er sich gesetzt und das Blatt aufgeschlagen, da fuhr der Zug an. Als er beschleunigte, fragte sich Mitch, ob Kaye sich in Gefahr befand, ob es ein spontaner oder organisierter Aufruhr war und ob das überhaupt eine Rolle spielte.
Das Volk hatte gesprochen, oder besser gesagt: Es hatte die Zähne gefletscht. Die Leute hatten das Versagen und die Untätigkeit Washingtons satt. Der Präsident führte jetzt Gespräche mit seinen Sicherheitsberatern, den Stabschefs, den Vorsitzenden der wichtigsten Ausschüsse und dem obersten Richter. Für Mitch klang das ganz danach, als bereite man sich langsam, aber sicher darauf vor, den nationalen Notstand auszurufen.
Es war ihm nicht recht, im Zug zu sitzen. Dass Merton ihm oder Kaye nützlich sein konnte, bezweifelte er, und er konnte sich auch nicht vorstellen, vor Collegestudenten Vorlesungen über knochentrockene Knochenkunde zu halten, ohne jemals wieder den Fuß auf ein Grabungsgelände zu setzen.
Mitch legte die zusammengefaltete Zeitung auf seinen Sitz und machte sich durch den Gang auf den Weg zum öffentlichen Telefon am Ende des Wagens. Er wählte Kayes Nummer, aber sie war schon weg; sie bei Americol anzurufen, hielt er für taktisch unklug.
Nachdem er tief Luft geholt hatte, um sich zu beruhigen, kehrte er zu seinem Platz zurück.
Dicken hatte sich für zehn Uhr mit Kaye in der AmericolKantine verabredet. An der Konferenz, die für sechs Uhr abends angesetzt war, würden eine ganze Reihe Gäste teilnehmen, unter anderem der Vizepräsident und der wissenschaftspolitische Berater des Präsidenten.
Dicken sah entsetzlich aus. Er hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. »Diesmal bin ich das Wrack«, sagte er. »Ich glaube, die Diskussion ist vorbei. Wir sind erledigt, wir sind ausgeschieden.
Wir können zwar weiter Krach schlagen, aber ich wüsste nicht, wer uns noch zuhören sollte.«
»Und was ist mit den wissenschaftlichen Aspekten?«, fragte Kaye vorwurfsvoll. »Sie haben sich doch nach der HerpesKatastrophe alle Mühe gegeben, uns wieder auf Kurs zu bringen.«
»SHEVA mutiert«, sagte Dicken und schlug mit der Hand rhythmisch auf den Tisch.
»Das habe ich Ihnen doch schon erklärt.«
»Sie haben nur nachgewiesen, dass SHEVA vor langer Zeit mutiert ist. Es ist schlicht und einfach ein menschliches Retrovirus, und zwar ein altes mit einer langsamen, aber sehr schlauen Fortpflanzungsstrategie.«
»Christopher …«
»Sie werden Ihre Anhörung bekommen«, erwiderte Dicken. Er trank seinen Kaffee aus und erhob sich. »Erklären Sie es nicht mir. Erklären Sie es denen.«
Kaye sah ihn verärgert und zugleich erstaunt an. »Warum haben Sie es sich nach so langer Zeit anders überlegt?«
»Am Anfang habe ich ein Virus gesucht. Ihre Artikel, Ihre Arbeiten haben mich vermuten lassen, es könne etwas anderes sein.
Aber wir können uns alle irren. Unsere Aufgabe besteht darin, nach Belegen zu suchen, und wenn sie überzeugend sind, müssen wir unsere kleinen Lieblingsideen aufgeben.«
Kaye stand neben ihm und hob den Zeigefinger. »Sagen Sie mir, dass es Ihnen ausschließlich um Wissenschaft geht.«
»Natürlich nicht. Kaye, ich war auf den Stufen des Kapitols. Ich hätte einer von diesen armen Teufeln sein können, die erschossen oder totgetrampelt wurden.«
»Davon rede ich nicht. Sagen Sie mir, dass Sie Mitch nach unserem Gespräch in San Diego zurückgerufen haben.«
»Das habe ich nicht getan.«
»Und warum nicht?«
Dicken starrte sie an. »Nach der letzten Nacht sind alle persönlichen Dinge nebensächlich, Kaye.«
»Wirklich?«
Dicken verschränkte die Arme. »Jemanden wie Mitch könnte ich niemals bei Augustine vorstellen und dann darauf hoffen, dass es Ihre Position stärkt. Mitch hatte interessante Informationen, aber die haben nur bewiesen, dass wir schon seit langem mit SHEVA leben.«
»Er hat uns beiden vertraut.«
»Ihnen vertraut er mehr, glaube ich«, sagte Dicken, und sein Blick schweifte ab. »Und das hat Ihr Urteil beeinflusst?«
»Hat es Ihres beeinflusst?«, brauste Dicken auf. »Ich kann nicht mal pinkeln gehen, ohne dass irgendjemand irgendjemand anderem berichtet, wie lange ich auf dem Klo war. Und Sie, Sie haben Mitch mit in Ihre Wohnung genommen.«
Kaye drängte sich dicht an ihn heran. »Augustine hat Ihnen erzählt, dass ich mit Mitch geschlafen habe?«
Aber Dicken ließ sich nicht bedrängen. Er stieß sie sanft zurück und trat einen Schritt zur Seite. »Ich finde es genauso blöd wie alle anderen, aber es muss nun einmal sein.«
»Wer sagt das? Augustine?«
»Der hat sich auch die Finger verbrannt. Wir stecken in einer Krise. Verdammt noch mal, Kaye, das sollte doch mittlerweile jedem klar sein.«
»Ich habe nie behauptet, ich wäre eine Heilige. Als Sie mich da reingezogen haben, habe ich darauf gesetzt, dass Sie mich nicht im Stich lassen.«
Dicken senkte den Kopf und blickte erst zur einen, dann zur anderen Seite. Er war hin- und hergerissen zwischen Trübsal und Wut. »Ich dachte, Sie könnten eine Partnerin sein.«
»Was für eine Partnerin, Christopher?«
»Jemand, der … mich unterstützt. Eine Geistesverwandte.«
»Eine Geliebte?«
Einen Augenblick lang nahm Dickens Gesicht den Ausdruck eines kleinen Jungen an, der eine niederschmetternde Neuigkeit erfährt. Er sah Kaye voller Sehnsucht und Traurigkeit an. Vor Erschöpfung konnte er kaum noch aufrecht stehen.
Kaye hielt inne und überlegte. Sie hatte ihm keinerlei Hoffnungen gemacht, und sich selbst hatte sie nie für eine atemberaubende Schönheit gehalten, deren Reize für die Männer unwiderstehlich waren. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass dieser Mann so weitreichende Gefühle für sie hegte.
»Sie haben mir nie gesagt, dass Sie etwas anderes empfinden als Neugier«, sagte sie.
»Ich handle nie schnell genug, und ich sage nie, was ich wirklich meine«, erwiderte Dicken. »Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie keine Ahnung hatten.«
»Aber es tut Ihnen weh, dass ich mich für Mitch entschieden habe.«
»Dass es weh tut, kann ich nicht leugnen. Aber es hat keinen Einfluss auf mein wissenschaftliches Urteil.«
Kaye ging um den Tisch herum und schüttelte den Kopf. »Was können wir denn jetzt noch retten?«
»Sie können Ihre Begründung vortragen. Ich glaube nur nicht, dass sie überzeugen wird.« Er wandte sich mit einem Ruck um und verließ die Kantine.
Kaye brachte ihr Tablett zum Geschirrtransportband. Dann sah sie auf die Uhr. Sie brauchte jetzt eine kräftige Dosis persönlicher Zuwendung, ein Gegenüber. Luella Hamilton fiel ihr ein. Sie konnte es gerade noch schaffen, zu den NIH hinauszufahren, sich mit Luella zu unterhalten und bis zur Besprechung wieder zurück zu sein.
An der Rezeption des Sicherheitsdienstes bestellte sie sich einen firmeneigenen Wagen.
Mitch trat unter dem weißen Zeltdach hervor, das den denkmalgeschützten Bahnhof der Kleinstadt Beresford überspannte. Die Augen mit einer Hand vor der Morgensonne schützend, sah er vor sich ein Beet voll hellgelber Osterglocken; daneben stand eine knallrote Mülltonne. Er war der Einzige, der hier ausstieg. Es roch nach heißem Maschinenöl, Asphalt und frisch gemähtem Gras. Er hielt Ausschau, ob ihn jemand abholte — er rechnete mit Merton.
Jenseits der Schienen, zu erreichen über eine Fußgängerbrücke, lag der Ort, eigentlich kaum mehr als eine Reihe von Läden und der Bahnhofsparkplatz.
Ein schwarzer Lexus bog in den Parkplatz ein; Mitch sah, wie ein rothaariger Mann ausstieg, durch den Maschendrahtzaun des Bahngeländes spähte und winkte.
»Er heißt William Daney. Ihm gehört der größte Teil von Beresford — das heißt, seiner Familie. Etwa zehn Minuten von hier haben sie ein Anwesen, das es mit dem Buckingham Palace aufnehmen kann. In meiner Naivität hatte ich vergessen, was für eine Art Königtum Amerika hervorbringt — altes Geld, auf seltsame Weise angelegt.«
Mitch hörte Mertons Erzählungen zu, während der Journalist mit ihm eine gewundene, zweispurige Allee mit großartigen Laubbäumen entlang fuhr. Die frischen Blätter der Ahornbäume und Eichen leuchteten so kräftig grün, dass er sich vorkam wie in einem Film. Die Sonne warf goldene Flecken auf die Straße. Seit fünf Minuten war ihnen kein anderes Auto begegnet.
»Daney war früher Jachteigner. Hat Millionen ausgegeben, um ein elegantes großes Boot zu perfektionieren, und dann hat er ein paar Regatten verloren. Das ist über zwanzig Jahre her. Später hat er die Anthropologie entdeckt, aber da gab es ein Problem: Er hat etwas gegen Dreck. Er liebt das Wasser, verabscheut den Dreck, verabscheut das Buddeln. In Amerika Auto zu fahren, macht Spaß, aber hier ist es fast wie in England. Ich könnte mich sogar …« Merton schwenkte kurz über die Mittellinie auf die linke Fahrspur »… von meinem Instinkt leiten lassen.« Er lenkte den Wagen schnell wieder nach rechts und lächelte Mitch an.
»Schrecklich, die Tumulte. In England ist es noch relativ ruhig, aber ich rechne jeden Augenblick mit einem Regierungswechsel.
Der gute alte Premierminister hat es noch nicht kapiert. Er glaubt, die größte Sorge sei die Einführung des Euro. Die gynäkologische Seite in dem ganzen Kuddelmuddel ist ihm zuwider. Wie geht es Mr. Dicken? Und Ms. Lang?«
»Gut«, sagte Mitch. Er wollte nicht viel reden, bevor er nicht wusste, in was er hier hineingezogen wurde. Merton gefiel ihm ganz gut — er fand ihn interessant, traute ihm aber absolut nicht über den Weg. Vor allem hatte er Vorbehalte, weil der Mann offenbar eine Menge über sein Privatleben wusste.
Daneys Landsitz, ein dreistöckiger, halbkreisförmiger Bau aus grauem Stein, lag am Ende einer ziegelgepflasterten Auffahrt, die von vollendet gepflegten Rasenflächen flankiert wurde, die wie Golfanlagen wirkten. Einige Gärtner waren mit Heckenschneiden beschäftigt. Eine ältere Frau mit Reithosen und breitem, ausgefranstem Strohhut winkte ihnen zu, als Merton vorüberfuhr.
»Mrs. Daney, die Mutter unseres Gastgebers«, erklärte der Journalist und winkte zurück. »Wohnt im Gärtnerhaus. Nette alte Dame. Kommt nicht oft in die Gemächer ihres Sohnes.«
Merton hielt vor den braunen Sandsteinstufen, die zu der riesigen, zweiflügeligen Eingangstür führten.
»Alle da«, sagte er. »Sie, ich, Daney und Herr Professor Friedrich Brock, früher Universität Innsbruck.«
»Brock?«
»Ja.« Merton lächelte. »Er sagt, Sie seien sich schon einmal begegnet.«
»Stimmt«, erwiderte Mitch. »Ein Mal.«
Der Eingang des Landhauses führte in eine riesige, düstere, mit dunklem Holz getäfelte Halle. Durch ein Oberlicht fielen drei parallele Sonnenstrahlen auf den altersdunklen Kalksteinboden und ließen eine riesige chinesische Porzellanvase aufleuchten, aus deren Mitte ein runder, von einer Halbkugel aus Blumen gekrönter Tisch erwuchs. Im Schatten neben dem Tisch stand ein Mann.
»William, das ist Mitch Rafelson«, sagte Merton, griff nach Mitchs Ellenbogen und führte ihn weiter.
Der Mann im Schatten streckte die Hand in einen der Sonnenstrahlen; an seinen dicken, kräftigen Fingern glänzten drei goldene Ringe. Mitch schüttelte die Hand herzhaft. Daney war Anfang fünfzig, sonnengebräunt und hatte gelblichweißes Haar, das aus einer Wagnerschen Stirn zurückwich. Seine kleinen, vollkommen geformten Lippen schienen immer zu einem Lächeln aufgelegt, die Augen waren dunkelbraun, die Wangen glatt wie bei einem Baby.
Seine Schultern wirkten durch ein wattiertes Jackett breiter als sie eigentlich waren, aber die Arme sahen muskulös aus.
»Es ist mir eine Ehre, Sie kennen zu lernen«, sagte Daney. »Wissen Sie, ich hätte Ihren Freunden die Mumien abgekauft, wenn man sie mir angeboten hätte. Und dann hätte ich sie nach Innsbruck geschickt und denen dort überlassen. Das habe ich auch Herrn Professor Brock gesagt, und er hat mir Absolution erteilt.«
Mitch lächelte höflich. Er sollte hier also mit Brock zusammentreffen.
»William sammelt eigentlich gar keine echten Überreste von Menschen«, sagte Merton.
»Ich gebe mich mit Kopien, Abgüssen und Skulpturen zufrieden«, fügte Daney hinzu. »Ich bin kein Wissenschaftler, sondern nur Liebhaber, aber ich möchte die Vergangenheit ehren, indem ich sie zu verstehen versuche.«
»Also auf in die Ruhmeshalle der Menschheit«, sagte Merton mit einer gezierten Handbewegung. Daney warf stolz den Kopf zurück und ging voraus.
Die Eingangshalle führte in einen ehemaligen Ballsaal im Ostflügel des Gebäudes. Was Mitch hier sah, kannte er bisher nur aus Museen: Reihen mit Dutzenden von Glasvitrinen, die durch teppichbedeckte Gänge getrennt waren. Jede Vitrine enthielt Abgüsse und Kopien von bedeutsamen anthropologischen Funden. Australopithecus afarensis und robustus; Homo habilis und erectus. Mitch zählte sechzehn unterschiedliche Neandertalerskelette, alle professionell aufgebaut; bei sechs Skeletten hatte man das Aussehen der Individuen mit Hilfe von Wachs rekonstruiert. Nirgendwo war der Versuch unternommen worden, aus Schamgefühl etwas zu verfälschen: Sämtliche Modelle waren nackt und unbehaart, was Spekulationen über Kleidung und Haarwuchs von vornherein ausschloss.
Reihe um Reihe mit haarlosen Affen, angestrahlt durch elegante, respektvoll abgedämpfte Scheinwerfer, starrte Mitch mit leerem Blick an, als er daran vorüberging.
»Unglaublich«, bemerkte er ein wenig verlegen. »Warum habe ich noch nie von Ihnen gehört, Mr. Daney?«
»Ich habe nur zu wenigen Leuten Kontakt. Zur Familie Leakey, zu Björn Kurten und noch ein paar anderen. Zu meinen engen Freunden. Ich weiß, ich bin ein Exzentriker, aber ich hänge es nicht gern an die große Glocke.«
»Jetzt gehören Sie zu den Auserwählten«, sagte Merton zu Mitch.
»Professor Brock ist in der Bibliothek.« Daney zeigte ihnen den Weg. Mitch wäre gern noch länger in dem Saal geblieben.
Es waren ausgezeichnete Wachsfiguren, und die Reproduktionen der Funde waren erstklassig, vom Original kaum zu unterscheiden.
»Nein, ich bin schon hier. Ich konnte es nicht erwarten.« Brock kam hinter einer Vitrine hervor. »Ich glaube, wir kennen uns, Dr. Rafelson. Und haben wir nicht gemeinsame Bekannte?«
Unter Daneys strahlendem, beifällig beobachtendem Blick gaben Brock und Mitch einander die Hand. Sie gingen ein paar Dutzend Meter weiter in die benachbarte Bibliothek, die wie ein Musterbeispiel edwardianischer Eleganz wirkte: drei Stockwerke mit Galerien, von Geländern gesäumt und durch zwei schmiedeeiserne Brücken verbunden. Beiderseits des einzigen hohen, nach Norden gehenden Fensters hingen riesige Gemälde, dramatische Stimmungsbilder des YosemiteTals und der Alpen.
Sie setzten sich um einen großen, niedrigen Tisch, der die Mitte des Raumes einnahm. »Als Allererstes habe ich eine Frage«, sagte Brock. »Träumen Sie eigentlich von ihnen, Dr. Rafelson? Bei mir ist das nämlich der Fall, und zwar oft.«
Daney servierte selbst den Kaffee, den eine stämmige, trübsinnig wirkende Frau im schwarzen Kostüm in die Bibliothek gerollt hatte. Er schenkte jedem in eine Tasse aus FloraDanicaPorzellan ein — das Dekor des Services, gemalt nach wissenschaftlichen Zeichnungen des neunzehnten Jahrhunderts, zeigte mikroskopisch kleine, in Dänemark heimische Pflanzen. Mitch betrachtete seine Untertasse, die mit drei wunderschön ausgeführten Dinoflagellaten verziert war, und fragte sich, was er wohl tun würde, wenn er so viel Geld hätte, dass er unmöglich alles ausgeben konnte.
Brock nahm das Gespräch wieder auf: »Eigentlich glaube ich nicht an Träume, aber diese Menschen verfolgen mich.«
Mitch blickte von einem zum anderen; er hatte keine Ahnung, was von ihm erwartet wurde. Es erschien ihm durchaus möglich, dass die Verbindung zu Daney, zu Brock, ja sogar zu Merton sich für ihn nachteilig auswirken konnte. Vielleicht hatte er in dieser Arena einfach schon zu oft eins auf die Nase bekommen.
Merton spürte seine unguten Gefühle. »Diese Zusammenkunft ist ausschließlich privater Natur und wird geheim bleiben«, sagte er. »Ich werde über nichts berichten, was hier gesagt wird.«
»Auf meinen Wunsch hin«, ergänzte Daney und hob viel sagend die Augenbrauen.
»Ich möchte Ihnen sagen, dass Sie in Ihrer Einschätzung offenbar Recht haben«, sagte Brock. »Mit dem Urteilsvermögen, das Sie bewiesen haben, indem sie bestimmte Personen ausgewählt und sich bestimmte Dinge aus unserer Forschungsarbeit angeeignet haben. Aber man hat mich kürzlich von allen Aufgaben, die mit den Mumien aus den Alpen zu tun hatten, entbunden. Die Diskussionen haben sich auf die persönliche Ebene verlagert und sind für unser aller Berufslaufbahn nicht ungefährlich.«
»Nach Dr. Brocks Ansicht sind die Mumien der erste eindeutige Beleg für ein Artbildungsereignis beim Menschen«, sagte Merton in der Hoffnung, das Gespräch voranzubringen.
»Eigentlich für die Bildung einer Unterart«, fügte Brock hinzu.
»Aber der Artbegriff ist in den letzten Jahrzehnten sehr unscharf geworden, stimmt’s? Am aufschlussreichsten ist, dass ihr Gewebe SHEVA enthält, finden Sie nicht?«
Daney beugte sich, Wangen und Stirn vor heftigem Interesse gerötet, auf seinem Sessel nach vorn.
Mitch sah ein, dass er unter solchen Gesinnungsgenossen keine Zurückhaltung üben konnte. »Wir haben auch andere Fälle gefunden«, sagte er.
»Ja, das habe ich schon von Oliver und von Maria Konig an der University of Washington gehört.«
»Eigentlich habe nicht ich sie gefunden, sondern Leute, mit denen ich gesprochen habe. Ich selbst habe, gelinde gesagt, keinen Erfolg gehabt. Mein schlechter Ruf ist mir vorausgeeilt.«
Brock winkte ab. »Als ich Sie in Ihrer Wohnung in Innsbruck angerufen habe, hatte ich Ihnen den Lapsus schon verziehen. Ich konnte die Sache nach vollziehen, und Ihre Geschichte klang glaubhaft.«
»Danke«, sagte Mitch. Er war ehrlich gerührt.
»Es tut mir Leid, dass ich damals noch nicht offen zu Ihnen war, aber ich hoffe, Sie verstehen meine Gründe.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Mitch.
»Was soll denn jetzt geschehen?«, fragte Daney. »Wird man die Befunde über die Mumien veröffentlichen?«
»Ja«, sagte Brock. »Sie werden behaupten, es handele sich um Verunreinigungen, und die Mumien seien in Wirklichkeit gar nicht verwandt. Die Neandertaler wird man als Homo sapiens alpinensis bezeichnen und den Säugling nach Italien schicken, wo andere Spezialisten ihn untersuchen werden.«
»Das ist doch lächerlich«, warf Mitch ein.
»Allerdings, und sie werden mit dieser Täuschung auch nicht ewig davonkommen, aber ein paar Jahre lang werden die konservativen Hardliner die Oberhand behalten. Sie werden Informationen nach eigenem Gutdünken nur denen zukommen lassen, die mit ihnen einer Meinung sind und ihnen nicht an den Karren fahren — genau so, wie die eifersüchtigen Gelehrten mit den Schriftrollen vom Toten Meer verfahren sind. Sie wollen ihre Karriere durchziehen, ohne sich mit einer Revolution auseinander zu setzen, die sowohl sie als auch ihre Ansichten über den Haufen werfen würde.«
»Unglaublich«, sagte Daney.
»Nein, nur menschlich, und wir alle beschäftigen uns doch mit dem Menschlichen, nicht? Wurde unsere Frau nicht von jemandem verwundet, der nicht wollte, dass ihr Kind zur Welt kam?«
»Das wissen wir nicht«, sagte Mitch.
»Doch, ich weiß es«, erwiderte Brock. »Ich habe mir meine eigenen Reservate irrationalen Glaubens bewahrt, und sei es auch nur, um mich gegen die Eiferer zu verteidigen. Ist das nicht eine Traumsequenz, die auch Sie in dieser oder jener Form träumen, so als hätten wir diese Ereignisse direkt in unserem Blut abgespeichert?«
Mitch nickte.
»Vielleicht war das die eigentliche Erbsünde des Menschengeschlechts, dass unsere Vorfahren, die Neandertaler, den Fortschritt aufhalten und sich ihre einzigartige Stellung bewahren wollten … indem sie die neuartigen Kinder umbrachten. Die, aus denen wir hervorgegangen sind. Und tun wir jetzt nicht vielleicht das Gleiche?«
Daney schüttelte den Kopf und gab ein leises Knurren von sich.
Mitch beobachtete es mit einem gewissen Interesse und wandte sich dann wieder Brock zu. »Sie müssen doch die Ergebnisse der DNAAnalyse gesehen haben«, sagte er, »und die müssen doch auch der Kritik von anderen zugänglich sein.«
Brock griff neben seinen Sessel, hob einen Aktenkoffer hoch und tippte viel sagend darauf. »Hier habe ich das ganze Material auf einer DVDROM. Riesige Grafikdateien, Tabellen, Befunde von verschiedenen Labors aus der ganzen Welt. Oliver und ich werden sie ins Internet stellen und über die Vertuschung berichten. Dann werden wir ja sehen.«
»Wir möchten erreichen, dass all das größtmögliche Beachtung findet«, bemerkte Merton. »Wir möchten den schlüssigen Beweis liefern, dass die Evolution wieder an die Tür klopft.«
Mitch biss sich auf die Lippen und ließ die Worte auf sich wirken. »Haben Sie schon mit Christopher Dicken gesprochen?«
»Er hat mir gesagt, er könne mir nicht helfen«, erwiderte Merton.
Mitch erschrak. »Als ich mich das letzte Mal mit ihm unterhalten habe, war er ganz begeistert, richtig tatendurstig.«
»Er hat einen Sinneswandel durchgemacht. Wir müssen Dr. Lang mit ins Boot holen. Ich glaube, ich kann auch ein paar Leute von der University of Washington überzeugen, mit Sicherheit Dr. Konig und Dr. Packer, vielleicht sogar den einen oder anderen Evolutionsbiologen.« Daney nickte begeistert.
Merton wandte sich wieder Mitch zu. Seine Lippen wurden schmal, und er räusperte sich. »Sie sehen aus, als wären Sie nicht einverstanden?«
»Wir können die Sache doch nicht so angehen wie Erstsemester in einem Debattierklub.«
»Und ich dachte immer, Sie seien ein altes Schlachtross«, sagte Merton schelmisch.
»Falsch«, erwiderte Mitch. »Ich habe es gern, wenn alles glatt und nach den Regeln der Kunst läuft. Das Leben ist ein altes Schlachtross.«
Daney grinste. »Schön gesagt. Ich selbst fange am liebsten bei den elementaren Dingen an.«
»Und die wären?«, wollte Merton wissen. »Das ist doch eine tolle Gelegenheit«, erwiderte Daney. »Wenn ich eine willige Frau finde, würde ich gern einen dieser neuen Menschen in die Welt setzen und in meine Familie aufnehmen.«
Merton, Brock und Mitch verschlug es eine ganze Weile die Sprache.
»Interessante Idee«, sagte Merton schließlich leise und warf Mitch mit hochgezogenen Augenbrauen einen schnellen Blick zu.
»Wenn wir versuchen, außerhalb der Burg einen Sturm zu entfachen, verschließen wir vielleicht mehr Türen als wir öffnen«, räumte Brock ein.
»Mitch«, sagte Merton gedämpft, »dann erklären Sie uns doch mal, wie wir vorgehen sollen, gesetzt den Fall, wir wollen gewisse Regeln einhalten.«
»Wir stellen eine Gruppe von wirklichen Fachleuten zusammen«, erwiderte Mitch und dachte einen Augenblick angestrengt nach. »Packer und Maria Konig sind für den Anfang sehr gut. Die anderen finden wir unter den Kollegen und Bekannten der beiden — bei den Genetikern und Molekularbiologen der University of Washington, an den NIH und einem halben Dutzend weiterer Universitäten und Institute. Oliver, Sie wissen wahrscheinlich, wen ich damit meine … vielleicht besser als ich.«
»Die progressiveren Evolutionsbiologen«, erwiderte Merton und runzelte die Stirn, als sei das ein Widerspruch in sich. »Zurzeit beschränkt sich die Auswahl da auf Molekularbiologen und ein paar ausgesuchte Paläontologen wie Jay Niles.«
»Ich kenne nur konservative Kollegen«, sagte Brock. »In Innsbruck habe ich mit den falschen Leuten Kaffee getrunken.«
»Wir brauchen ein wissenschaftliches Fundament«, sagte Mitch.
»Eine Sperrminorität aus angesehenen Fachleuten.«
»Das kann Wochen oder sogar Monate dauern«, erwiderte Merton. »Immerhin steht für alle die Karriere auf dem Spiel.«
»Wie wäre es, wenn wir mehr Geld in die privatwirtschaftliche Forschung stecken?«, fragte Daney.
»An der Stelle könnte Mr. Daney hilfreich sein«, sagte Merton und blickte unter seinen buschigen roten Augenbrauen zu ihrem Gastgeber auf. »Sie haben die Mittel, um eine hochkarätig besetzte Konferenz einzuberufen, und genau die brauchen wir jetzt. Um ein Gegengewicht zu den öffentlichen Verlautbarungen der Taskforce zu schaffen.«
Daneys Miene verdüsterte sich. »Wie viel würde das kosten?.
Hunderttausende? Millionen vielleicht?«
»Eher Ersteres als Letzteres, nehme ich an«, erwiderte Merton mit unterdrücktem Lachen.
Daney sah ihn besorgt an. »Bei so viel Geld muss ich meine Mutter fragen«, erklärte er.
»Ich lasse sie gehen«, sagte Dr. Lipton und setzte sich an ihren Schreibtisch. »Ich lasse sie alle gehen. Der Forschungsleiter der Klinik sagt, wir hätten genügend Erkenntnisse, um die Patienteninformationen zusammenzustellen und mit den Versuchen aufzuhören.«
Kaye starrte sie wie vor den Kopf gestoßen an. »Sie entlassen sie … einfach so aus der Klinik und schicken sie nach Hause?«
Lipton nickte. In ihren Wangen bildeten sich kleine Grübchen.
»Es war nicht meine Entscheidung, Kaye, aber ich musste mich fügen. Die Grenzen der Ethik waren überschritten.«
»Und was ist, wenn sie zu Hause Hilfe brauchen?«
Lipton blickte auf die Schreibtischplatte. »Wir haben ihnen mitgeteilt, dass ihre Kinder mit schweren Fehlbildungen zur Welt kommen und wahrscheinlich nicht überleben werden. Wir haben sie zur ambulanten Behandlung an ihre Heimatkrankenhäuser überwiesen. Wir kommen für alle ihre Kosten auf, auch wenn es Komplikationen gibt. Vor allem, wenn es Komplikationen gibt.
Alle befinden sich in der Wirksamkeitsphase.«
»Sie nehmen RU-486?«
»Das ist ihre eigene Entscheidung.«
»So etwas ist nicht üblich, Denise.«
»Ich weiß. Sechs Frauen haben darum gebeten. Sie wollten abtreiben. Wenn es so weit ist, können wir nicht weitermachen.«
»Haben Sie ihnen gesagt …?«
»Kaye, die Vorschriften sind eindeutig. Wenn das Kind nach unserer Beurteilung das Leben der Mutter gefährdet, verschaffen wir ihr die Möglichkeit zum Abbruch. Ich unterstütze sie in ihrer Entscheidungsfreiheit.«
»Natürlich, Denise, aber …« Kaye drehte sich um, betrachtete das vertraute Büro, die Diagramme an den Wänden, die Bilder von Feten in verschiedenen Entwicklungsstadien. »Ich kann es einfach nicht glauben.«
»Augustine hat uns gebeten, die Gabe von RU-486 so lange hinauszuschieben, bis man sich auf ein einheitliches Verfahren geeinigt hat. Aber hier hat der Forschungsleiter der Klinik das Sagen.«
»Na gut«, erwiderte Kaye. »Wer hat denn nicht um das Medikament gebeten?«
»Luella Hamilton«, sagte Lipton. »Sie hat es mitgenommen und versprochen, sich regelmäßig von ihrem Frauenarzt untersuchen zu lassen, aber sie hat es nicht unter unserer Aufsicht geschluckt.«
»Dann ist also alles vorbei?«
»Wir haben die Finger nicht mehr im Spiel«, sagte Lipton leise.
»Wir hatten keine andere Wahl. Ethisch, politisch, so oder so hätten wir Prügel bezogen. Wir haben uns für die Ethik und die Unterstützung der Patientinnen entschieden. Aber wenn es heute geschehen würde … Wir haben neue Anweisungen vom Gesundheitsministerium. Keine Empfehlung zum Schwangerschaftsabbruch und keine Abgabe von RU-486. Wir haben uns kurz vor Toresschluss aus der Sache mit den Babys verabschiedet.«
»Ich habe von Mrs. Hamilton weder die Heimatadresse noch die Telefonnummer«, sagte Kaye.
»Die werden Sie von mir auch nicht bekommen. Sie hat ein Recht auf Privatsphäre.« Lipton starrte sie an. »Stellen Sie sich nicht außerhalb des Systems, Kaye.«
»Ich glaube, das System wird mich jeden Augenblick rauswerfen«, erwiderte sie. »Danke, Denise.«
Im Zug nach Albany, im muffigen Geruch von anderen Fahrgästen, sonnendurchwärmtem Polsterstoff, Desinfektionsmitteln und Plastik, ließ Mitch sich in seinen Sitz fallen. Ihm war, als käme er gerade aus einer anderen Welt. Die Begeisterung, mit der Daney einen »neuen Menschen« in seine Familie holen wollte, faszinierte ihn und erfüllte ihn zugleich mit Angst. Die Menschheit war mittlerweile so gehirnbetont und hatte so viel Kontrolle über ihre biologische Entwicklung übernommen, dass sie diese unerwartete, uralte Form der Fortpflanzung, der Schaffung neuer Spielarten einer Spezies, entweder im Keim ersticken oder aber sich daran wie an einer Art Spiel beteiligen konnte.
Er blickte aus dem Fenster auf kleine Ortschaften, Wälder mit jungen Bäumen und größere Städtchen mit grauen Lagerhäusern und Fabriken — langweilig, schmutzig und produktiv.
Kay griff nach den Artikeln, die sie über MedLine bestellt hatte — acht verschiedene Aufsätze in je zwanzig Exemplaren, alle fein säuberlich zusammengeheftet. Während sie in den Aufzug stieg, schüttelte sie den Kopf und überflog eines der Konvolute.
In der zehnten Etage brauchte sie noch einmal fünf Minuten, um die verschiedenen Sicherheitskontrollen zu passieren. Wachleute wedelten mit Detektoren, überprüften ihren Firmenausweis und fuhren mit Gasspürgeräten über ihre Hände und Handtasche.
Schließlich bat der Personenschutzleiter des Vizepräsidenten jemanden aus dem Vorstandskasino, für sie zu bürgen. Dicken kam heraus und versicherte, sie persönlich zu kennen, sodass sie eine Viertelstunde nach Beginn der Besprechung das Restaurant betreten konnte.
»Sie kommen zu spät«, flüsterte Dicken.
»Ich habe im Stau gesteckt. Wissen Sie schon, dass man die Sonderstudie eingestellt hat?«
Dicken nickte. »Jetzt zieren sich alle, und niemand will Zugeständnisse machen. Niemand will für irgendetwas die Schuld zugeschoben bekommen.«
Ziemlich weit vorn sah Kaye den Vizepräsidenten und neben ihm den wissenschaftlichen Berater sitzen. Im Raum waren mindestens vier Sicherheitsleute — sie war froh, dass Benson draußen geblieben war.
Auf einem Tisch auf der Rückseite des Raumes waren alkoholfreie Getränke, Obst, Käse und Gemüse aufgebaut, aber niemand aß etwas. Der Vizepräsident hielt eine PepsiDose umklammert.
Als Dicken mit Kaye zu ihrem Klappstuhl auf der linken Seite des Raumes ging, beendete Frank Shawbeck gerade eine kurze Zusammenfassung über die Befunde der NIHStudien.
»Das hat nur fünf Minuten gedauert«, flüsterte Dicken in Kayes Ohr.
Shawbeck raffte seine Papiere auf dem Rednerpult zusammen und trat zur Seite. Als Nächster war Mark Augustine dran. Er stützte sich auf das Pult.
»Dr. Lang ist jetzt hier«, sagte er ausdruckslos. »Wenden wir uns nun den gesellschaftlichen Fragen zu. Wir hatten mittlerweile zwölf größere Unruhen quer durch die Vereinigten Staaten. Die meisten davon wurden offensichtlich durch die Ankündigung ausgelöst, wir würden RU-486 kostenlos abgeben. Derartige Pläne wurden bisher nicht vollständig ausgearbeitet, aber sie sind natürlich in der Diskussion.«
»Keines dieser Medikamente ist verboten«, sagte Cross gereizt.
Sie saß rechts neben dem Vizepräsidenten. »Herr Vizepräsident, ich habe den Mehrheitsführer im Senat zu dieser Besprechung eingeladen, aber er hat abgelehnt. Ich bin nicht Schuld, wenn es …«
»Bitte, Marge«, sagte Augustine. »In ein paar Minuten können wir alle unserem Unmut Luft machen.«
»Entschuldigung«, erwiderte Cross und verschränkte die Arme.
Der Vizepräsident wandte sich um und musterte die Anwesenden.
Sein Blick blieb an Kaye hängen, und einen Augenblick lang schien er beunruhigt, aber dann wandte er sich wieder nach vorn.
»Die USA sind nicht der einzige Staat, der sich mit sozialen Unruhen auseinander setzen muss«, sagte Augustine. »Wir stehen vor einer gesellschaftlichen Katastrophe größeren Ausmaßes. Kurz gesagt, versteht die breite Öffentlichkeit nicht, was eigentlich los ist.
Die Menschen reagieren gefühlsmäßig oder so, wie Demagogen es ihnen einreden. Der gute Pat Robertson hat schon empfohlen, Gott möge Washington, D. C. im heißesten Höllenfeuer verbrennen lassen, wenn es der Taskforce gestattet wird, die Erprobung von RU-486 fortzusetzen. Und er ist nicht der Einzige. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass in der Öffentlichkeit ziellose Unruhe herrscht, bis etwas in den Vordergrund tritt, das verträglicher ist als die Wahrheit, und dann werden sie sich hinter dieses Banner scharen. Höchstwahrscheinlich wird es religiös gefärbt sein, und dann geht die Wissenschaft den Bach hinunter.«
»Amen«, sagte Cross. Nervöses Lachen lief durch das kleine Publikum. Der Vizepräsident lächelte nicht einmal.
»Diese Besprechung wurde vor drei Tagen angesetzt«, sagte Augustine. »Die Ereignisse von gestern und heute machen es noch dringlicher, dass wir unsere Reihen geschlossen halten.«
Kaye glaubte zu wissen, worauf er hinaus wollte. Sie blickte sich nach Robert Jackson um und sah ihn hinter Cross sitzen. Er drehte den Kopf, sein Blick wanderte nach links, und einen kurzen Augenblick lang sah er ihr direkt ins Gesicht. Kaye spürte, wie sie rot wurde.
»Das gilt mir«, flüsterte sie Dicken zu.
»Seien Sie nicht arrogant«, warnte er. »Wir sind heute alle hier, um kleine Kröten zu schlucken.«
»Wir haben die Untersuchungen mit RU-486 und dem Präparat, das sehr locker und sehr geschmacklos als RUPentium bezeichnet wird, bereits eingestellt«, sagte Augustine. »Dr. Jackson, bitte.«
Jackson erhob sich. »In der präklinischen Erprobung zeigt sich bei allen unseren Impfstoffen und RibozymInhibitoren keine Wirksamkeit gegen die neu aufgetauchten SHEVAStämme, die ungenau als SHEVAX bezeichnet werden. Wir haben Grund zu der Annahme, dass alle neuen Fälle der Herodes-Grippe während der letzten drei Monate auf die horizontale Übertragung von SHEVAX zurückzuführen sind, das in mindestens neun verschiedenen Varianten mit jeweils anderen HüllGlycoproteinen vorkommen dürfte. Auf die MessengerRNA für den LPC im Cytoplasma können wir nicht zielen, weil unsere derzeitigen Ribozyme die mutierte Form nicht erkennen. Kurz gesagt, stecken wir mit dem Impfstoff in einer Sackgasse. Alternativen haben wir voraussichtlich frühestens in einem halben Jahr anzubieten.« Er setzte sich.
Augustine presste seine Finger symmetrisch gegeneinander, sodass sie ein biegsames Vieleck bildeten. Eine längere Pause des Schweigens trat ein, weil alle die Nachricht und ihre Folgerungen auf sich wirken ließen. »Dr. Phillips bitte.«
Gary Phillips, der wissenschaftliche Berater des Präsidenten, erhob sich und ging zum Rednerpult. »Der Präsident wünscht, dass ich seine Anerkennung zum Ausdruck bringe. Wir hatten uns viel mehr erhofft, aber in keinem anderen Land hatten die Forschungsanstrengungen mehr Erfolg als an den NIH und bei der Taskforce der CDC. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass wir es mit einem schlauen, wandlungsfähigen Gegner zu tun haben, und wir müssen entschlossen und mit einer Stimme sprechen, damit unser Land nicht in Anarchie versinkt. Deshalb habe ich Dr. Robert Jackson und Mark Augustine zugehört. Wir befinden uns jetzt gegenüber der Öffentlichkeit in einer heiklen Lage, und ich habe erfahren, dass es unter den Angehörigen der Taskforce tiefgreifende Meinungsverschiedenheiten gibt, insbesondere in dem Teil, der zu Americol gehört.«
»Nicht nur Meinungsverschiedenheiten«, sagte Jackson sarkastisch. »Ein Zerwürfnis.«
»Dr. Lang, ich habe erfahren, dass Sie einige der von Dr. Jackson und Mark Augustine zum Ausdruck gebrachten Ansichten nicht teilen. Würden Sie bitte jetzt Ihren Standpunkt darlegen, damit wir uns ein Urteil bilden können?«
Kaye blieb ein paar Sekunden lang wie betäubt sitzen. Dann gelang es ihr zu sagen: »Ich glaube nicht, dass hier eine faire Anhörung möglich ist, Sir. Offensichtlich bin ich in diesem Raum die einzige Person, deren Meinung von der offiziellen Erklärung abweicht, die Sie offenbar vorbereiten.«
»Wir brauchen Solidarität, aber wir müssen auch fair sein«, erwiderte der wissenschaftliche Berater. »Ich habe Ihre Artikel über HERV gelesen, Ms. Lang. Ihre Arbeiten waren von grundsätzlicher Bedeutung und äußerst klug. Man könnte Sie durchaus für den Nobelpreis vorschlagen. Ihre abweichenden Ansichten verdienen zur Kenntnis genommen zu werden, und wir sind bereit, Sie anzuhören. Ich bedaure, dass niemand sich den Luxus erlauben und sich ausreichend Zeit nehmen kann. Es wäre schön, wenn wir das könnten.«
Er bedeutete ihr mit einer Geste, nach vorn zu kommen. Kaye ging zum Rednerpult. Phillips trat zur Seite.
»Ich habe meine Ansichten in zahlreichen Unterhaltungen mit Mr. Dicken sowie in einem Gespräch mit Ms. Cross und Dr. Jackson geäußert«, begann sie. »Heute Morgen habe ich einen Ordner mit Artikeln zusammengestellt, die dafür sprechen — darunter einige von mir selbst, andere mit Befunden aus dem HumanGenomProjekt, der Evolutionsbiologie und sogar der Paläontologie.« Sie öffnete ihren Aktenkoffer und reichte den Stapel mit Ordnern an Nilson weiter, die sie nach links herumgehen ließ.
»Ich verfüge noch nicht über die schlüssige Klammer, die meine Theorien zusammenhält«, fuhr Kaye fort und nippte an einem Glas Wasser, das Augustine ihr gereicht hatte. »Die wissenschaftlichen Befunde über die Mumien von Innsbruck wurden der Öffentlichkeit noch nicht zugänglich gemacht.«
Jackson rollte mit den Augen.
»Aber ich besitze vorläufige Berichte über Befunde, die Dr. Dicken in der Türkei und der Republik Georgien gesammelt hat …«
Sie redete zwanzig Minuten lang. Dabei konzentrierte sie sich auf einzelne Punkte sowie auf ihre Arbeiten mit transponierbaren Elementen und HERVDL3. Zu einem vagen Abschluss gelangte sie mit dem Bericht über ihre erfolgreiche Suche nach verschiedenen Versionen des LPC an jenem Tag, als Jackson sie über die Lokalisierung der SHEVAMutationen unterrichtet hatte. »Nach meiner Überzeugung ist SHEVAX eine Art Sicherungskopie oder Alternativreaktion, nachdem durch die anfängliche horizontale Übertragung keine lebensfähigen Kinder entstanden sind. Die von SHEVAX verursachten Sekundärschwangerschaften werden nicht mehr der Beeinträchtigung durch Herpes unterliegen. Aus ihnen werden gesunde, lebensfähige Kinder hervorgehen. Ich habe dafür keinen unmittelbaren Beleg; so weit mir bekannt ist, sind solche Kinder bisher nicht geboren worden. Aber ich bezweifle, dass wir noch lange warten müssen. Wir sollten uns darauf einstellen.«
Kaye war selbst überrascht, dass sie einen so zusammenhängenden Vortrag gehalten hatte, aber gleichzeitig war sie sich nur allzu traurig bewusst, dass sie wahrscheinlich keine Wende herbeiführen würde. Augustine beobachtete sie genau — nach ihrem Eindruck mit einer gewissen Bewunderung — und schenkte ihr ein kurzes Lächeln.
»Danke, Dr. Lang«, sagte Phillips. »Fragen?«
Frank Shawbeck hob die Hand. »Unterstützt Dr. Dicken Ihre Schlussfolgerungen?«
Dicken stand auf. »Ich habe es eine Zeit lang getan. Belege aus jüngster Zeit haben mich überzeugt, dass ich Unrecht hatte.«
»Welche Belege?«, rief Jackson dazwischen. Augustine hob warnend den Finger, ließ die Frage aber zu.
»Ich bin jetzt der Ansicht, dass SHEVA wie ein Krankheitserreger mutiert«, erwiderte Dicken. »Ich habe keinen Grund zu der Annahme, dass es nicht als Pathogen wirkt.«
»Dr. Lang, stimmt es nicht, dass angeblich nichtinfektiöse Formen von HERV schon früher mit bestimmten Krebserkrankungen in Verbindung gebracht wurden?«, fragte Shawbeck.
»Ja, Sir. Aber sie werden in nichtinfektiöser Form auch in vielen anderen Geweben einschließlich der Plazenta exprimiert. Erst jetzt haben wir die Möglichkeit, die vielen Funktionen dieser endogenen Retroviren zu verstehen.«
»Bisher wissen wir also nicht, warum sie sich in unserem Genom, in unseren Geweben befinden; stimmt das, Dr. Lang?«, wollte Augustine wissen.
»Bisher kennen wir keine Theorie, mit der sich ihr Vorhandensein erklären ließe.«
»Abgesehen davon, dass sie als Krankheitserreger wirken können?«
»Viele Stoffe in unserem Organismus sind einerseits wegen ihrer positiven Wirkung notwendig und können andererseits gelegentlich an Krankheiten mitwirken«, erwiderte Kaye. »Onkogene sind notwendige Gene, aber manchmal werden sie auch dazu veranlasst, Krebs zu erzeugen.«
Jackson hob die Hand. »Ich möchte diesem Argument gern aus der Sicht der Evolutionsbiologie entgegentreten«, sagte er. »Ich bin zwar kein Evolutionsbiologe und habe auch nie im Fernsehen einen gespielt …«
Gekicher bei allen außer Shawbeck und dem Vizepräsidenten, dessen Gesicht immer noch versteinert war.
»… aber ich denke, man hat mir die herrschende Lehre in der Schule und Universität zur Genüge eingetrichtert. Nach dieser Lehrmeinung ereignet sich Evolution durch Zufallsmutationen im Genom. Durch die Mutationen verändern sich Proteine oder andere anhand unserer DNA produzierte Zellbestandteile, und das ist normalerweise schädlich, sodass das betroffene Lebewesen krank wird oder stirbt. Über sehr lange Zeiträume jedoch und unter wechselnden Umweltbedingungen können durch die Mutationen auch neue Formen entstehen, die einen Vorteil bieten. Ist das so weit richtig, Dr. Lang?«
»Das ist die herrschende Lehre«, bestätigte Kaye.
»Sie wollen uns aber offenbar sagen, es gebe einen bisher unbekannten Mechanismus, durch den das Genom die Kontrolle über seine eigene Evolution übernimmt, durch den es irgendwie spürt, wann der richtige Zeitpunkt für eine Veränderung gekommen ist.
Richtig?«
»So gesehen, ja«, sagte Kaye. »Nach meiner Überzeugung ist unser Genom viel schlauer als wir. Zehntausende von Jahren haben wir gebraucht, bis wir so weit waren, die Funktionsweise des Lebens wenigstens ansatzweise zu verstehen. Die Lebewesen auf der Erde machen schon seit Jahrmilliarden ihre Evolution mit Konkurrenz und Kooperation durch. Sie haben gelernt, unter Bedingungen zu überleben, die wir uns kaum ausmalen können. Selbst der konservativste Biologe weiß, dass unterschiedliche Bakterienarten zusammenarbeiten und voneinander lernen können — und viele begreifen mittlerweile, dass verschiedene Metazoenarten, Pflanzen und Tiere wie wir, im Wesentlichen das Gleiche tun, wenn sie ihre Aufgaben im Ökosystem erfüllen. Die Spezies auf der Erde haben gelernt, Klimaveränderungen vorherzusehen und sich im Voraus darauf einzustellen, sich einen Vorsprung zu verschaffen.
Ich glaube, im vorliegenden Fall reagiert das Genom auf den gesellschaftlichen Wandel und die von ihm verursachten Belastungen.«
Jackson tat, als lasse er sich diese Ideen erst einmal durch den Kopf gehen, und fragte dann: »Wenn Sie einen Doktoranden betreuen müssten, und er würde vorschlagen, diese Möglichkeit in seiner Dissertation näher zu untersuchen — würden Sie ihn ermutigen?«
»Nein«, sagte Kaye entschieden.
»Warum nicht?«, bohrte Jackson weiter.
»Es ist keine allgemein anerkannte Sichtweise. Die Evolutionsforschung war immer ein sehr engstirniges Teilgebiet der Biologie, und nur wenige tapfere Vertreter stellen die Lehre der modernen darwinistischen Synthese infrage. Ein Doktorand sollte das nicht allein versuchen.«
»Charles Darwin hatte Unrecht, und Sie haben Recht?«
Kaye wandte sich an Augustine. »Leitet Dr. Jackson ganz allein dieses Verhör?«
Augustine trat einen Schritt vor. »Sie haben hier die Gelegenheit, ihren Gegnern zu antworten, Dr. Lang.«
Kaye drehte sich wieder um und sah das Publikum einschließlich Jackson mit zusammengekniffenen Augen an. »Ich stelle Charles Darwin nicht infrage, ich habe, im Gegenteil, große Hochachtung vor ihm. Darwin hätte empfohlen, wir sollten unsere Vorstellungen nicht in Stein meißeln, bevor wir nicht alle Gesetzmäßigkeiten verstanden haben. Auch viele Aussagen der modernen Synthese lehne ich keineswegs ab; alles, was das Genom hervorbringt, muss eindeutig die Überlebensprüfung bestehen.
Mutationen sind eine Ursache unerwarteter und manchmal nützlicher Neuerungen. Aber wenn wir erklären wollen, was wir in der Natur beobachten, reicht das nicht aus. Die moderne Synthese wurde zu einer Zeit entwickelt, als wir gerade die allerersten Erkenntnisse über die DNA gewannen und die moderne Genetik in den Kinderschuhen steckte. Darwin wäre fasziniert gewesen, wenn er gewusst hätte, was wir heute wissen, über Plasmide und den Austausch freier DNA, über Fehlerkorrektur im Genom, über Redigieren von RNA und Transposition und versteckte Viren, über Marker und Genstruktur, über alle möglichen genetischen Phänomene, von denen viele eben nicht fein säuberlich in eine sehr enge Interpretation der modernen Synthese passen.«
»Unterstützt irgendein angesehener Wissenschaftler die Vorstellung, dass das Genom eine Art Geist ist, der sich selbst wahrnimmt, die Umwelt beurteilt und über den Verlauf seiner eigenen Evolution bestimmt?«
Kaye holte tief Luft. »Die von Ihnen formulierte Theorie zu korrigieren und auszuweiten, würde mehrere Stunden dauern, aber die Antwort lautet, einfach gesagt, ja. Leider ist keiner von ihnen heute hier.«
»Und ihre Ansichten sind unumstritten?«
»Natürlich nicht. Nichts auf diesem Gebiet ist unumstritten.
Und den Begriff ›Geist‹ würde ich gern vermeiden, weil er persönliche und religiöse Anklänge hat, die uns hier nicht weiterbringen.
Ich spreche lieber von einem Netzwerk; von einem wahrnehmungs- und anpassungsfähigen Netzwerk aus kooperierenden und konkurrierenden Individuen.«
»Glauben Sie, dass dieser Geist, oder dieses Netzwerk, in irgendeiner Form gleichbedeutend mit Gott sein könnte?« Zu ihrer Überraschung stellte Jackson diese Frage ohne jede Selbstgefälligkeit oder Geringschätzung.
»Nein«, erwiderte Kaye. »Auch unser Gehirn funktioniert als wahrnehmungs- und anpassungsfähiges Netzwerk, aber deshalb glaube ich nicht, dass wir Götter sind.«
»Aber unser eigenes Gehirn bringt doch den Geist hervor, oder?«
»Ich glaube, hier trifft der Begriff zu, ja.«
Jackson reckte fragend die Hände in die Höhe. »Damit ist der Kreis geschlossen. Eine Art Geist — oder vielleicht jemand mit Namen Geist — lenkt die Evolution?«
»Auch hier sind Betonung und Bedeutung der Wörter wichtig«, sagte Kaye, bevor ihr klar wurde, dass sie die Frage am besten schweigend übergangen hätte.
»Haben Sie Ihre Theorie schon einmal in vollem Umfang von einer angesehenen Fachzeitschrift begutachten und veröffentlichen lassen?«
»Nein«, erwiderte Kaye. »Einige Aspekte habe ich in meinen veröffentlichten Aufsätzen über HERVDL3 zum Ausdruck gebracht, und die haben das Begutachtungsverfahren durchlaufen.«
»Viele Ihrer Artikel wurden von anderen Fachzeitschriften abgelehnt, ist das richtig?«
»Ja.«
»Von Cell beispielsweise.«
»Ja.«
»Ist Virology das angesehenste Fachblatt auf diesem Gebiet?«
»Es ist eine wichtige Zeitschrift«, erwiderte Kaye. »Dort sind zahlreiche bedeutsame Artikel erschienen.«
Jackson ließ das durchgehen. »Ich hatte noch nicht die Zeit, das gesamte von Ihnen verteilte Material zu lesen. Dafür entschuldige ich mich«, fuhr er fort und stand auf. »Können Sie nach bestem Wissen sagen, dass einer der Autoren, deren Artikel Sie an uns verteilt haben, mit Ihnen in der Frage, wie Evolution abläuft, in allen Punkten übereinstimmt?«
»Natürlich nicht. Das Fachgebiet steckt noch in der Entwicklung.«
»Es steckt nicht nur in der Entwicklung, es ist sozusagen noch sehr unreif, stimmt das, Dr. Lang?«
»Es steckt in den Kinderschuhen, ja«, gab Kaye spitz zurück.
»Die Bezeichnung ›sehr unreif‹ trifft vor allem auf jene zu, die überzeugende Belege leugnen.« Sie konnte nicht umhin, Dicken anzusehen. Er erwiderte ihren Blick mit unglücklicher Miene.
Augustine trat wieder vor und hob die Hand. »So könnten wir noch tagelang weitermachen. Das wäre sicher eine interessante Tagung. Aber jetzt müssen wir beurteilen, ob Ansichten, wie Dr. Lang sie vertritt, sich für die Ziele der Taskforce als schädlich erweisen können. Wir haben die Aufgabe, die Volksgesundheit zu schützen und nicht abgelegene wissenschaftliche Fragen zu diskutieren.«
»Das ist nicht ganz fair, Mark«, wandte Marge Cross ein und erhob sich. »Kaye, kommen Sie sich hier vor wie in einem Schauprozess?«
Kaye atmete, halb lachend, halb seufzend, ruckartig aus, senkte den Blick und nickte.
»Es wäre mir sehr lieb, wenn wir mehr Zeit hätten«, sagte Marge. »Ganz ehrlich. Ich finde diese Ansichten faszinierend und teile sie in vielen Fällen, meine Liebe, aber wir stecken hoffnungslos im Morast von Geschäft und Politik, und wir müssen das tun, was alle unterstützen und was die Öffentlichkeit begreift. Ich kann in diesem Raum keine Unterstützung Ihrer Position erkennen, und ich weiß, dass wir weder die Zeit noch den Willen zu einer breit geführten öffentlichen Debatte haben. Leider müssen wir bei der Kommandowissenschaft bleiben, Dr. Augustine.«
Augustine war über diese Bezeichnung offensichtlich alles andere als erfreut.
Kaye sah den Vizepräsidenten an. Der Politiker starrte auf das Konvolut auf seinen Knien, das er nicht aufgeschlagen hatte. Es war ihm ganz offensichtlich peinlich, dass er sich hier in einer Arena befand, in der er nicht mitreden konnte. Er sehnte das Ende dieser Diskussion herbei.
»Ich verstehe, Marge«, sagte Kaye. Sie konnte nicht verhindern, dass ihre Stimme bebte. »Danke, dass Sie es so deutlich ausgesprochen haben. Ich sehe keine andere Möglichkeit, als mich aus der Taskforce zurückzuziehen. Mein Wert für Americol wird dadurch vermutlich sinken, und deshalb biete ich auch Ihnen meinen Rücktritt an.«
Augustine nahm Dicken auf dem Flur nach der Besprechung beiseite. Dicken hatte versucht, Kaye einzuholen, aber sie war schon weit voraus und fast beim Aufzug.
»Das Ganze hat sich nicht so entwickelt, wie ich es mir gewünscht hätte«, sagte Augustine. »Ich will nicht, dass sie die Taskforce verlässt. Aber ich will auch nicht, dass sie mit ihren Gedanken an die Öffentlichkeit geht. Du lieber Himmel, einen schlechteren Dienst hätte Jackson uns nicht erweisen können …«
»Ich kenne Kaye Lang ziemlich genau«, erwiderte Dicken. »Die ist jetzt stinksauer und für immer weg. Und daran bin ich genauso schuld wie Jackson.«
»Was können wir denn jetzt noch tun, um die Sache wieder einzurenken?«, fragte Augustine.
Dicken entzog sich seinem Griff. »Nichts, Mark. Gar nichts.
Und sagen Sie bloß nicht, ich soll es versuchen.«
Shawbeck stieß mit mürrischer Miene zu ihnen. »Für heute Abend ist wieder ein Marsch auf Washington geplant. Frauengruppen, Christen, Schwarze, Hispanier. Sie evakuieren das Kapitol und das Weiße Haus.«
»Herrgott nochmal«, sagte Augustine, »was haben die denn vor?
Wollen sie das ganze Land dichtmachen?«
»Der Präsident hat umfassenden Verteidigungsmaßnahmen zugestimmt. Nicht nur Nationalgarde, sondern auch reguläre Armee.
Ich nehme an, der Bürgermeister wird für die Stadt den Ausnahmezustand ausrufen. Der Vizepräsident fliegt heute Abend nach Los Angeles. Meine Herren, wir sollten ebenfalls zusehen, dass wir hier rauskommen.«
Dicken sah, wie Kaye sich mit ihrem Leibwächter herumstritt.
Er eilte durch den Flur, um nachzusehen, was los war, aber die beiden standen schon im Aufzug, und gerade als er näher kam, schloss sich die Tür.
Die Hände in die Hüften gestemmt, stand Kaye in der Eingangshalle und schrie sich die Lunge aus dem Hals. »Ich will Ihren Schutz nicht! Ich will so etwas überhaupt nicht! Ich habe Ihnen doch gesagt …«
»Ich habe keine andere Wahl, Madam«, erwiderte Benson, der wie ein kleiner Stier sein Revier verteidigte. »Wir befinden uns im Alarmzustand. Sie können erst dann wieder in Ihre Wohnung, wenn wir hier mehr Sicherheitsbeamte haben, und das dauert noch mindestens eine Stunde.«
Die Wachleute des Gebäudes verriegelten die Eingänge und stellten Absperrungen auf. Kaye wirbelte herum, sah die Barrikaden, die neugierigen Gesichter hinter den Glastüren. Vor das Außenportal senkten sich schwere Stahlgitter.
»Kann ich telefonieren?«
»Jetzt nicht, Ms. Lang«, sagte Benson. »Wenn das alles meine Schuld wäre, würde ich mich in aller Form entschuldigen, das wissen Sie.«
»Ja, genau wie an dem Tag, als Sie Augustine gesagt haben, wer in meiner Wohnung war.«
»Die haben den Pförtner gefragt, Ms. Lang, nicht mich.«
»Also was ist jetzt los, wir gegen die da? Ich will draußen bei den richtigen Menschen sein und nicht hier drin …«
»Wenn die Sie erkennen, wollen Sie das nicht mehr«, sagte Benson.
»Karl, kapieren Sie doch, ich bin zurückgetreten.«
Der Leibwächter hob die Hände und schüttelte energisch den Kopf: Es kam nicht infrage.
»Wo soll ich denn nun hin?«
»Wir bringen Sie zu den anderen Wissenschaftlern in die Vorstandslounge.«
»Zu Jackson?« Kaye biss sich auf die Lippe und starrte zur Decke; hilfloses Lachen schüttelte sie.
Aus dem Taxifenster starrte Mitch die Studenten an, die auf der von Bäumen gesäumten Straße marschierten. Entlang des Demonstrationsweges strömten die Menschen aus Wohnhäusern und Bürogebäuden. Dieses Mal trugen sie keine Spruchbänder, keine Transparente, aber alle hatten die linke Hand erhoben — mit ausgestreckten Fingern, die Handfläche nach vorn.
Der Fahrer, ein Einwanderer aus Somalia, senkte den Kopf und blickte nach rechts aus dem Fenster. »Was bedeutet das, die erhobene Hand?«
»Keine Ahnung«, sagte Mitch.
Der Demonstrationszug schnitt ihnen an einer Kreuzung den Weg ab. Das Universitätsgelände war nur wenige Häuserblocks entfernt, aber Mitch bezweifelte, dass er heute noch dort ankommen würde.
»Das macht mir Angst«, sagte der Fahrer, drehte sich um und sah Mitch an. »Die wollen, dass man etwas tut, ja?«
Mitch nickte. »Das nehme ich an.«
Der Fahrer schüttelte den Kopf. »Ich möchte diese Reihe nicht durchqueren. Es ist eine lange Reihe. Mister, ich bring’ Sie wieder zum Bahnhof, da sind Sie sicher.«
»Nein«, erwiderte Mitch. »Lassen Sie mich hier aussteigen.«
Er zahlte und trat auf den Bürgersteig. Das Taxi wendete und fuhr davon, bevor andere Autos es einkeilen konnten.
Mitch biss die Zähne zusammen. Die Spannung, die soziale Sprengkraft in der langen Schlange der Männer und Frauen, war mit Händen zu greifen. Anfangs waren es vorwiegend junge Leute gewesen, aber jetzt kamen immer mehr Ältere hinzu. Sie strömten aus den Häusern, und alle marschierten mit erhobener linker Hand.
Keine Fäuste. Hände. Das fand Mitch bemerkenswert.
Ein paar Meter von ihm entfernt parkte ein Polizeiwagen. An seinen geöffneten Türen standen zwei Streifenbeamten und sahen einfach zu.
An dem Tag, als sie zum ersten Mal miteinander geschlafen hatten, hatte Kaye sich über die Gesichtsmasken lustig gemacht. Sie hatten sich so selten geliebt. Mitchs Kehle schnürte sich zusammen. Er fragte sich, wie viele Frauen in der Demonstration wohl schwanger waren, wie viele ein positives Ergebnis des SHEVATests erhalten würden, und wie sich das auf ihre Beziehungen auswirkte.
»Wissen Sie, was hier los ist?«, wollte ein Polizist von Mitch wissen.
»Nein.«
»Glauben Sie, dass es schlimm zugehen wird?«
»Ich hoffe nicht«, erwiderte Mitch.
»Uns hat mal wieder keiner was gesagt«, grummelte der Polizist und stieg wieder in den Streifenwagen. Das Auto setzte zurück, war aber von anderen Fahrzeugen eingekeilt und kam nicht weiter. Mitch hielt es für klug, dass sie nicht die Sirene einschalteten.
Es war ein anderer Marsch als in San Diego. Hier waren die Menschen müde, traumatisiert, schon fast ohne Hoffnung. Mitch hätte ihnen gern gesagt, dass ihre Angst unbegründet war, dass es sich nicht um eine Katastrophe, nicht um eine Seuche handelte, aber er wusste selbst nicht mehr genau, was er glauben sollte. Angesichts dieser gewaltigen Welle der Gefühle, der Ängste, verblassten alle Überzeugungen und Meinungen.
Er wollte die Stelle an der SUNY nicht annehmen. Er wollte bei Kaye sein und sie beschützen; er wollte ihr helfen, das alles beruflich und privat durchzustehen, und er wollte auch, dass sie ihm half.
Es war nicht die rechte Zeit, um allein zu sein. Die ganze Welt wand sich vor Qualen.
Kaye schloss ihr Appartement auf und ging langsam hinein. Sie stieß die schwere Tür hinter sich mit zwei Fußtritten zu, lehnte sich dagegen und verriegelte sie. Dann ließ sie Hand- und Reisetasche fallen und blieb einen Augenblick stehen, als müsse sie sich erst einmal zurechtfinden. Sie hatte seit achtundzwanzig Stunden nicht geschlafen.
Draußen war es später Vormittag.
Das Lämpchen am Anrufbeantworter blinkte. Sie hörte die drei Nachrichten ab. Als Erstes bat Judith Kushner um Rückruf. Die zweite war von Mitch — er hatte eine Telefonnummer in Albany hinterlassen. Die dritte war ebenfalls von Mitch. »Ich habe es geschafft, wieder nach Baltimore zu kommen, aber es war nicht einfach. Sie lassen mich nicht ins Haus, der Schlüssel, den du mir gegeben hast, nützt mir also nichts. Ich habe es bei Americol versucht, aber dort sagt mir die Telefonzentrale, dass sie keine Anrufe nach außerhalb weiterverbinden, und du seist auch nicht dort, oder so was. Ich bin schon ganz krank vor Sorgen. Hier draußen ist die Hölle los, Kaye. Ich rufe in ein paar Stunden noch mal an, hoffentlich bist du dann zu Hause.«
Kaye trocknete sich die Augen und fluchte halblaut. Sie konnte kaum geradeaus blicken. Ihr war, als sei sie in klebrigem Sirup stecken geblieben und dürfe sich nicht die Schuhe reinigen.
Viertausend Demonstranten hatten einen Ring um das AmericolGebäude gebildet und den Verkehr im weiteren Umkreis zum Erliegen gebracht. Die Polizei hatte eingegriffen und die Menge provoziert, sodass sie in immer kleinere, unkontrollierte Gruppen zerfallen war. Tumulte waren ausgebrochen. Sie hatten Brände gelegt und Autos umgestürzt.
»Wo erreiche ich dich, Mitch?«, murmelte sie und nahm das Telefon aus der Ladeschale. Sie blätterte im Telefonbuch und suchte nach der Nummer des YMCA, da klingelte das Telefon in ihrer Hand.
Ungeschickt hob sie es ans Ohr. »Hallo?«
»Schon wieder der Böse Schwarze Mann. Wie geht’s dir?«
»Mitch, Gott sei Dank. Mir geht’s gut, aber ich bin todmüde.«
»Ich bin durch die ganze Stadt gelaufen. Sie haben einen Teil des Tagungszentrums in Brand gesteckt.«
»Ich weiß. Wo bist du jetzt?«
»Nur einen Block weiter. Ich kann dein Haus und den PeptoBismol Tower sehen.«
Kaye lachte. »BromoSeltzer. Blau, nicht rosa.« Sie holte tief Luft. »Ich will nicht mehr, dass du hier bist, Mitch. Ich meine, ich will mit dir nicht mehr hier sein. Mitch, ich rede Unsinn. Ich brauche dich so nötig. Bitte komm. Ich will packen und abhauen.
Der Leibwächter ist noch da, aber unten in der Lobby. Ich sage ihm, dass er dich reinlassen soll.«
»Ich habe nicht mal versucht, die Stelle an der SUNY zu bekommen«, sagte Mitch.
»Und ich habe bei Americol und der Taskforce gekündigt. Jetzt geht es uns beiden gleich.«
»Wir sind beide Landstreicher?«
»Arbeitslos und heimatlos und ohne erkennbare Mittel zum Lebensunterhalt. Abgesehen von einem dicken Bankkonto.«
»Wohin gehen wir?«
Kaye griff in ihre Handtasche und holte die beiden kleinen Schachteln mit den SHEVATestkits heraus, die sie aus dem Handlager im siebten Stock von Americol mitgenommen hatte.
»Wie wär’s mit Seattle? Da hast du doch eine Wohnung, oder?«
»Ja.«
»Hervorragend. Ich brauche dich, Mitch. Lass’ uns für immer und ewig in deinem Junggesellenappartement in Seattle leben.«
»Du spinnst. Ich komme gleich rüber.«
Er legte auf, und sie lachte erleichtert, aber plötzlich brach sie in Schluchzen aus. Sie streichelte sich die Wange mit dem Telefon, erkannte, wie verrückt das war, und legte es hin. »Ich bin wirklich nicht mehr ganz richtig im Kopf«, sagte sie zu sich selbst und ging in die Küche. Sie beförderte ihre Schuhe mit einem Fußtritt von sich, nahm einen ParrishKunstdruck, der ihrer Mutter gehört hatte, von der Wand und legte ihn auf den Esstisch. Dann stapelte sie alle anderen Bilder darauf, die zu ihr gehörten, zu ihrer Familie, ihrer Vergangenheit.
In der Küche ließ sie sich aus dem Hahn am Kühlschrank ein Glas kaltes Wasser einlaufen. »Scheiß auf den Luxus, scheiß auf die Sicherheit. Scheiß auf den Anstand.« Sie arbeitete eine Liste von zehn weiteren Dingen ab, auf die sie scheißen wollte, und am Ende stand »dieses verdammt dumme Ich«.
Dann fiel ihr ein, dass sie Benson von Mitchs Kommen unterrichten musste.
Dicken ging in sein altes Büro im Tiefkeller des Gebäudes 1, Clifton Road. Auf dem Weg öffnete er die Kunststoffumhüllung eines Pakets mit neuem Material — Sicherheitsausweis nach Bundesstandard, druckfrische Vorschriften über neue Sicherheitsmaßnahmen, Themen für die Interviews, die im weiteren Verlauf der Woche angesetzt waren.
Er hatte nie geglaubt, dass es so weit kommen würde. Auf dem Gelände und an dessen Grenzen patrouillierte die Nationalgarde.
Gewalttätige Ausschreitungen hatte es bei den CDC zwar noch nicht gegeben, aber Drohungen erreichten die Telefonzentrale bis zu zehn Mal am Tag.
Nachdem er sein Büro aufgeschlossen hatte, blieb er für kurze Zeit in dem kleinen Raum stehen, um Kühle und Ruhe auf sich wirken zu lassen. Er wünschte sich, er könne jetzt in Lagos oder Tegucigalpa sein. Bei der Arbeit unter widrigen Bedingungen und an abgelegenen Orten fühlte er sich eher zu Hause als hier; selbst Georgien war nach seinem Geschmack schon zu zivilisiert und damit zu gefährlich gewesen.
Viren waren ihm lieber als außer Rand und Band geratene Menschen.
Er ließ das Päckchen auf seinen Schreibtisch fallen. Einen Augenblick lang wusste er nicht mehr, warum er eigentlich hier war.
Er wollte für Augustine etwas holen. Dann fiel es ihm wieder ein: die Berichte des Northside Hospital über die Primärschwangerschaften. Augustine arbeitete an einem Plan, der so streng geheim war, dass auch Dicken nichts Näheres darüber wusste, aber er erforderte, dass alle Akten im Haus, die mit SHEVA oder HERV zu tun hatten, kopiert wurden.
Als er die Berichte gefunden hatte, blieb er nachdenklich stehen.
Ihm fiel ein, wie er sich vor Monaten mit Jane Salter über die Schreie der Affen in den alten Kellerräumen unterhalten hatte.
Er klopfte mit der Fußspitze den Rhythmus eines alten Kinderliedes auf den Boden und murmelte: »Die Affen rasen durch den Wald …«
Jetzt gab es keinen Zweifel mehr: Christopher Dicken gehörte zum Team. Er hatte nur noch einen Wunsch: mit Hilfe seiner Intelligenz und Gefühle — und mit einigen unversehrten Körperteilen — zu überleben.
Er nahm das Päckchen und die Ordner. Dann verließ er das Büro.
Kaye schwang sich den Kleidersack über die Schulter. Mitch stand mit den beiden Koffern in der Hand an der Tür, die von einem Gummistopper offen gehalten wurde. Drei Kisten hatten sie bereits im Auto in der Tiefgarage der Wohnanlage verstaut.
»Sie sagen mir, wir sollten in Verbindung bleiben«, sagte Kaye und hielt ein schwarzes Handy in die Höhe, damit Mitch sich davon überzeugen konnte. »Marge bezahlt hier alles, und Augustine erklärt, ich solle keinerlei Interviews geben. Damit kann ich leben.
Was ist mit dir?«
»Meine Lippen sind versiegelt.«
»Von Küssen?« Kaye stieß ihn mit der Hüfte an.
Benson folgte ihnen in die Tiefgarage. Mit einem Ausdruck unverhohlener Missbilligung sah er zu, wie sie Mitchs Auto beluden.
»Meine Vorstellung von Freiheit liegt Ihnen nicht?«, fragte Kaye den Leibwächter mit spitzbübischer Miene, als sie den Kofferraum zuknallte.
Die hinteren Stoßdämpfer ächzten.
»Sie nehmen alles mit, Ma’am«, erwiderte Benson unbewegt.
»Ihm gefällt nicht, welchen Umgang du pflegst«, sagte Mitch.
»Na ja«, sagte Kaye, die neben Benson stand, und strich sich die Haare zurück, »das liegt daran, dass er ein Mann mit Geschmack ist.«
Benson lächelte. »Sie sind verrückt, hier ohne Schutz wegzufahren.«
»Vielleicht«, erwiderte Kaye. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit. Geben Sie bitte meine Empfehlungen weiter.«
»Jawohl, Ma’am«, erwiderte Benson. »Viel Glück.«
Kaye umarmte ihn. Benson errötete.
»Fahren wir«, sagte sie dann.
Sie betastete den Türrahmen des Buick, dessen mattblauer Lack im Laufe der Zeit weißlichstumpf geworden war, und fragte Mitch, wie alt der Wagen sei.
»Keine Ahnung«, sagte er. »So etwa zehn, fünfzehn Jahre.«
»Such’ schon mal einen Gebrauchtwagenhändler«, antwortete sie. »Ich kaufe uns einen funkelnagelneuen Landrover.«
»Na gut, das war deutlich«, sagte Mitch und zog eine Augenbraue hoch. »Es wäre mir allerdings lieber, wenn wir nicht so auffallen.«
»Schön wie du das machst«, erwiderte Kaye und hob dramatisch ihre viel weniger eindrucksvolle Augenbraue. Mitch musste lachen.
»Also scheiß drauf«, sagte sie. »Fahren wir mit dem Buick. Wir kampieren draußen unter den Sternen.«
Die FalconPassagiermaschine der Airforce rollte sanft Richtung Osten. Augustine nippte an einer Cola und blickte häufig durch das Fenster — Fliegen machte ihn jedes Mal nervös. Das hatte Dicken bisher nicht von ihm gewusst; sie hatten noch nie zusammen in einem Flugzeug gesessen.
»Wir können mit gutem Grund die Auffassung vertreten, dass SHEVASekundärfeten selbst dann, wenn sie die Geburt überleben sollten, die Träger eines breiten Spektrums ansteckender HERVs wären«, sagte Augustine.
»Woher stammen die Belege?«, fragte Jane Salter. Ihr Gesicht war leicht gerötet — die Luft in der Maschine war kurz vor dem Start sehr warm. Sie war von dem ganzen militärischen Brimborium, gelinde gesagt, wenig beeindruckt.
»Zwei Wissenschaftler der Taskforce haben während der letzten zwei Wochen auf meine Anweisung hin Biopsiebefunde zusammengetragen. Ich hatte einfach so eine Ahnung. Wir wissen, dass HERVs unter allen möglichen Bedingungen exprimiert werden, aber die Viruspartikel waren bisher noch nie infektiös.«
»Wir wissen immer noch nicht, welchen Zweck die nichtinfektiösen Partikel haben und ob sie überhaupt zu etwas nütze sind«, entgegnete Salter. Die anderen Mitarbeiter, die jünger waren und weniger Erfahrung hatten, saßen still auf ihren Sitzen und begnügten sich damit, zuzuhören.
»Ein guter Zweck ist es nicht«, erwiderte Augustine und tippte auf seine Armlehne. Er schluckte heftig und sah wieder aus dem Fenster. »Die HERVs produzieren auch weiterhin nichtinfektiöse Viruspartikel … bis SHEVA dann irgendwann das gesamte Werkzeugarsenal liefert, alles was notwendig ist, damit das Virus sich zusammenfinden und aus der Zelle entkommen kann. Ich weiß von sechs Experten, unter anderem von Jackson, dass SHEVA wahrscheinlich anderen HERVs gewissermaßen beibringt, wie man wieder infektiös wird. Am aktivsten sind sie bei Menschen, deren Zellen sich schnell teilen, das heißt bei SHEVAFeten.
Möglicherweise müssen wir uns mit Erregern auseinander setzen, die seit Jahrmillionen nicht mehr aufgetaucht sind.«
»Erreger, die bei Menschen vielleicht keine Krankheiten mehr erzeugen«, sagte Dicken.
»Können wir dieses Risiko eingehen?«, entgegnete Augustine.
Dicken zuckte die Achseln.
»Was werden Sie denn nun empfehlen?«, wollte Salter wissen.
»In Washington herrscht schon Ausgangssperre, und sobald jemand ein Schaufenster einwirft oder ein Auto umstürzt, wird das Kriegsrecht ausgerufen. Keine Demonstrationen mehr, keine provokativen Kommentare … Politiker lassen sich nicht gern lynchen. Das gemeine Volk ist wie eine Kuhherde, und mittlerweile hat es so oft geblitzt, dass sogar die Cowboys nervös werden.«
»Ein unglücklicher Vergleich, Dr. Augustine«, sagte Salter trocken.
»Na ja, ich werde ihn noch ausbauen. In zwanzigtausend Fuß Höhe bin ich nie so ganz in Form.«
»Sie glauben, wir werden das Kriegsrecht bekommen«, sagte Dicken, »und dann können wir alle schwangeren Frauen vorführen lassen und ihre Kinder absondern … zur Untersuchung?«
»Entsetzliche Vorstellung«, räumte Augustine ein. »Die meisten Feten werden sterben, vielleicht sogar alle. Aber wenn sie überleben, können wir uns wahrscheinlich mit der Ansicht durchsetzen, dass sie in Quarantäne genommen werden müssen.«
»Das heißt doch nur Öl ins Feuer gießen«, sagte Dicken.
Augustine stimmte nachdenklich zu. »Ich habe mir lange den Kopf nach einer Alternative zerbrochen. Ich werde auch andere Möglichkeiten in Erwägung ziehen.«
»Vielleicht sollten wir nicht gerade jetzt Staub aufwirbeln«, gab Salter zu bedenken.
»Ich habe derzeit nicht die Absicht, irgendetwas zu sagen oder zu tun. Die Arbeit geht weiter.«
»Es wäre besser, wenn wir auf sicherem Terrain wären«, sagte Dicken.
»Da haben Sie verdammt Recht«, erwiderte Augustine mit einer Grimasse. »Terra firma, und je eher desto besser.«
»Jeder hat was zu meckern«, meinte Mitch, während sie auf der Staatsstraße Nummer 27 aus der Stadt fuhren. Er hielt sich von den Highways fern; die großen Verkehrswege waren ständig durch Demonstrationen verstopft — Fernfahrer, Motorradfahrer, sogar Fahrradfahrer, alle versuchten sich in zivilem Ungehorsam. Dennoch mussten sie mitten in der Innenstadt zwanzig Minuten warten, bis die Polizei ein paar Tonnen Müll weggeräumt hatte, den protestierende Angestellte der Stadtreinigung dort abgeladen hatten.
»Wir haben sie im Stich gelassen«, sagte Kaye.
»Du hast sie nicht im Stich gelassen«, erwiderte Mitch und versuchte, einen Schleichweg zu finden.
»Ich habe alles vermasselt und meinen Standpunkt nicht durchgesetzt«, brummte Kaye nervös vor sich hin.
»Stimmt was nicht?«, fragte Mitch.
»Alles in Ordnung«, erwiderte Kaye, »außer der ganzen blöden Welt.«
In West Virginia fuhren sie auf einen Campingplatz und zahlten dreißig Dollar für einen Zeltstellplatz. Unter einer jungen Eiche baute Mitch das KuppelLeichtzelt auf, das er in Österreich gekauft hatte, bevor ihm Tilde begegnet war, und daneben stellte er den kleinen Campingkocher. Von hier aus überblickten sie ein weites Tal, wo zwei Traktoren verlassen auf einem sorgfältig gepflügten Acker standen.
Die Sonne war vor zwanzig Minuten untergegangen, und dünne Wolken bildeten Flecken am Himmel. Allmählich wurde es kühl.
Kaye hatte klebrige Haare, und die Elastikbündchen ihrer Unterhose scheuerten.
Etwa hundert Meter weiter hatte eine Familie zwei Zelte aufgebaut; ansonsten war der Campingplatz leer.
Kaye kroch durch die Regenklappe ins Zelt. »Komm rein«, sagte sie zu Mitch. Sie zog das Kleid aus und legte sich auf den Schlafsack, den Mitch ausgerollt hatte. Mitch drehte den Campingkocher herunter und steckte den Kopf ins Zelt.
»Welch eine Frau!«, sagte er bewundernd.
»Riechst du mich?«
»Aber sicher, Ma’am«, erwiderte er im besten NorthCarolinaAkzent des Sicherheitsbeamten Benson. Er legte sich neben sie.
»Hier ist es noch ein bisschen warm.«
»Ich rieche dich auch«, sagte Kaye. Sie machte ein verlangendes, ernstes Gesicht. Mit ihrer Hilfe zog er das Hemd aus, und nachdem er die Unterhose beiseite geworfen hatte, griff er nach seinem Kulturbeutel, in dem er die Kondome aufbewahrte. Er wollte gerade das Folienpäckchen aufreißen, da beugte sie sich nach vorn und küsste sein erigiertes Glied. »Diesmal nicht«, sagte sie. Sie leckte ihn geschickt und blickte auf. »Ich will dich jetzt, und zwar ohne etwas dazwischen.«
Mitch griff nach ihrem Kopf und zog ihren Mund von sich weg.
»Nein«, sagte er.
»Warum nicht?«
»Du hast deine fruchtbaren Tage.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich sehe es an deiner Haut. Und ich kann es riechen.«
»Da habe ich keinen Zweifel«, sagte sie bewundernd. »Kannst du eigentlich alles riechen?« Sie rückte näher zu ihm, richtete sich über seinem Kopf auf und stellte ein Knie auf seine andere Seite.
»Brücke«, sagte Mitch und erwiderte die Liebkosung.
Sie beugte sich nach vorn und bearbeitete ihn herzhaft, während er mit dem Mund zwischen ihren Beinen aktiv war.
»Balletttänzerin«, sagte Mitch mit dumpfer Stimme.
»Du bist auch fruchtbar«, sagte sie. »Jedenfalls hast du mir nie etwas anderes gesagt.«
»Mhm.«
Sie stemmte sich wieder hoch, rollte von ihm herunter und drehte sich so, dass sie ihn ansehen konnte. »Du bist ein Ausscheider«, sagte sie.
Mitch zog eine verblüffte Grimasse. »Wie bitte?«
»Du scheidest SHEVA aus. Der Test bei mir ist positiv.«
»Du liebe Güte, Kaye. Du kannst einem aber wirklich die Stimmung verderben.« Mitch rückte von ihr ab und setzte sich mit angezogenen Beinen in eine Ecke des Zeltes. »Dass es so schnell geht, hätte ich nicht gedacht.«
»Irgendetwas hält mich für deine Frau«, sagte Kaye. »Die Natur sagt, dass wir lange zusammenbleiben werden. Und ich möchte, dass sie Recht behält.«
Mitch war wie vor den Kopf gestoßen. »Ich auch, aber deshalb brauchen wir uns doch nicht wie Idioten zu benehmen.«
»Jeder Mann will mit einer fruchtbaren Frau schlafen. Das liegt in seinen Genen.«
»So ein Quatsch«, erwiderte Mitch und rückte noch weiter von ihr weg. »Was machst du denn da?«
Kaye kniete sich ihm gegenüber hin und hockte sich auf ihre Fersen. Sie hatte seinen Kopf zum Pochen gebracht. Das ganze Zelt roch nach ihnen, und er konnte nicht mehr klar denken.
»Wir können ihnen das Gegenteil beweisen, Mitch.«
»Das Gegenteil von was?«
»Früher habe ich mir Sorgen gemacht, dass Beruf und Familie nicht zusammenpassen. Heute gibt es da keinen Widerspruch mehr. Ich bin mein eigenes Labor.«
Mitch schüttelte energisch den Kopf. »Nein.«
Kaye streckte sich neben ihm aus und legte den Kopf auf die Arme. »Ganz schön voreilig und verwegen, was?«, fragte sie sanft.
»Wir haben nicht die geringste Ahnung, was passieren wird«, sagte Mitch. Seine Augen waren feucht und warm, halb aus Angst, halb aus einem anderen Gefühl, das er nicht beschreiben konnte — etwas, das der reinen körperlichen Lust sehr nahe kam. Sein Körper verlangte so heftig nach ihr, und er verlangte sie jetzt. Wenn er nachgab, würde es der tollste Liebesakt in seinem ganzen Leben werden — das wusste er. Und wenn er jetzt nachgab, würde er es sich vielleicht auch nie verzeihen — das fürchtete er.
»Ich weiß, dass du es für richtig hältst, und ich weiß, dass du ein guter Vater wärst«, sagte Kaye, die Augen zu schmalen Schlitzen verengt. Langsam hob sie ein Bein. »Wenn wir jetzt nichts unternehmen, wird es vielleicht nie geschehen, und wir werden es nie wissen. Sei mein Mann. Bitte!«
Die Tränen kamen wie eine Welle, und Mitch verbarg sein Gesicht mit den Händen. Als sie spürte, wie erschüttert er war, setzte sie sich neben ihn, umarmte ihn und entschuldigte sich. Er murmelte ein paar wirre, abgehackte Worte über Frauen, die nie etwas verstehen, die es einfach nicht verstehen können.
Kaye tröstete ihn und legte sich neben ihn. Eine Zeit lang unterbrach nur die Regenklappe, die im Wind leise klatschte, ihr Schweigen.
»Es ist nichts Schlimmes«, sagte sie. Sie trocknete ihm das Gesicht ab und sah ihn an, verängstigt durch das, was sie angerichtet hatte. »Vielleicht ist es sogar das einzig Richtige.«
»Es tut mir Leid«, sagte Kaye förmlich, während sie alles ins Auto luden. Von den Feldern unterhalb des Campingplatzes wehte eine kühle Morgenbrise herauf. An den Eichen raschelten die Blätter.
Die Traktoren standen immer noch bewegungslos auf ihren abgezirkelten, leeren Furchen.
»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, erwiderte Mitch und schüttelte das Zelt aus. Er rollte es zusammen, schob es in den langen Zeltsack, zog dann mit Kayes Hilfe die Heringe heraus und band sie klappernd zu einem Bündel zusammen, das von oben bis unten mit den Spannleinen umwickelt war.
Sie hatten in dieser Nacht nicht miteinander geschlafen, und Mitch hatte kaum ein Auge zugetan.
»Hast du geträumt?«, fragte Kaye, während sie heißen Kaffee aus dem Topf auf dem Campingkocher einschenkte.
Mitch schüttelte den Kopf. »Und du?«
»Ich habe höchstens ein paar Stunden geschlafen, und da habe ich von der Arbeit bei EcoBacter geträumt. Von vielen Leuten, die kamen und gingen. Du warst auch dabei.« Kaye wollte ihm nicht erzählen, dass sie ihn im Traum nicht erkannt hatte.
»Nicht sehr spannend«, erwiderte er.
Unterwegs sahen sie kaum etwas Ungewöhnliches, kaum etwas, das nicht normal war. Sie fuhren in westlicher Richtung auf einer zweispurigen Straße und kamen durch Kleinstädte, Bergbaustädte, alte Städte, heruntergekommene Städte, renovierte und reparierte Städte, aufgemöbelte Orte mit reichen alten Vierteln, in denen man großartige alte Häuser zu Hotels und Pensionen für wohlhabende junge Leute aus Philadelphia, Washington und sogar New York umgebaut hatte.
Mitch schaltete das Radio ein und hörte von Lichterketten am Kapitol, Feierlichkeiten zu Ehren der toten Senatoren und von der Bestattung der anderen, die bei dem Tumult umgekommen waren. Es gab Berichte über die Impfstoffentwicklung und die Ansicht der Wissenschaftler, die Führungsrolle habe jetzt James Mondavi oder sogar eine Arbeitsgruppe an der Princeton University. Jackson war offenbar aus dem Rennen, und trotz allem, was geschehen war, tat es Kaye Leid für ihn.
Mittags aßen sie im High Street Grill in Morgantown, einem neuen Restaurant, das alt und gut eingeführt aussehen sollte —
Einrichtung im Kolonialstil und Holztische mit einfacher Kunststoffplatte. Das Schild vor der Tür besagte, das Lokal sei »nur wenig älter als das Jahrtausend und viel weniger bedeutend«.
Während Kaye an ihrem ClubSandwich knabberte, beobachtete sie Mitch genau.
Mitch mied den Blickkontakt und sah sich unter den anderen Gästen um: Alle waren stur damit beschäftigt, ihrem Körper Nahrung zuzuführen. Ältere Paare saßen da und schwiegen; ein einsamer Mann hatte seine Wollmütze neben einer Tasse Kaffee auf den Tisch gelegt; in einer Nische stocherten drei junge Mädchen mit langen Löffeln in Eisbechern. Das Personal war jung und freundlich; von den Frauen trug keine eine Maske.
»Hier fühle ich mich fast wie ein ganz normaler Mensch«, sagte Mitch leise und betrachtete die Schüssel Bohneneintopf vor sich.
»Ich hätte nie gedacht, dass ich ein guter Vater sein könnte.«
»Warum?«, fragte Kaye ebenso leise, als hätten sie ein gemeinsames Geheimnis.
»Ich habe mich immer auf die Arbeit konzentriert, auf das Vagabundenleben und das Reisen an Orte, die Interessantes versprachen. Ich bin ziemlich egoistisch. Ich hätte nie gedacht, dass eine intelligente Frau mich als Vater ihrer Kinder oder übrigens auch als Ehemann haben wollte. Manche haben mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass sie nicht deshalb mit mir zusammen waren.«
»Ja, ja«, sagte Kaye. Sie war völlig auf ihn fixiert, als könne jedes Wort die entscheidende Antwort enthalten, die für sie ein großes Rätsel löste.
Die Kellnerin fragte, ob sie noch Tee oder Nachtisch wünschten. Sie lehnten ab.
»Hier ist es so normal«, sagte Mitch und beschrieb mit seinem Löffel einen Bogen, als wollte er das Restaurant ausmessen. »Ich fühle mich wie ein großer Käfer mitten in einem Wohnzimmer von Norman Rockwell.«
Kaye lachte. »Da ist es wieder«, sagte sie.
»Was heißt das, ›Da ist es wieder?‹«
»Als du das gesagt hast. Sofort habe ich gespürt, wie es in mir gezittert hat.«
»Das ist das Essen«, erwiderte Mitch.
»Das bist du.«
»Bevor ich Vater werde, muss ich erst mal Ehemann sein.«
»Es ist sicher nicht das Essen. Ich zittere, Mitch.« Sie streckte die Hand aus, und er legte den Löffel hin, um nach ihr zu greifen. Sie hatte kalte Finger und klapperte mit den Zähnen, obwohl es hier drinnen warm war.
»Ich finde, wir sollten heiraten«, sagte Mitch.
»Eine schöne Idee.«
Mitch schob die Hand nach vorn. »Willst du mich heiraten?«
Kaye hielt einen Augenblick die Luft an. »Du liebe Güte, ja«, erwiderte sie mit einem kurzen Seufzer der Erleichterung.
»Wir sind verrückt, und wir wissen nicht, was uns erwartet.«
»Allerdings«, stimmte Kaye zu.
»Wir sind kurz davor, aus uns etwas ganz Neues, anderes zu machen«, sagte Mitch. »Findest du das nicht beängstigend?«
»Sehr«, erklärte Kaye.
»Und wenn wir Unrecht haben, gibt es eine Katastrophe nach der anderen. Schmerzen. Kummer.«
»Wir haben nicht Unrecht. Sei mein Mann.«
»Ich bin dein Mann.«
»Liebst du mich?«
»Ich liebe dich so, wie ich es bisher nie gekannt habe.«
»So schnell. Unglaublich.«
Mitch nickte begeistert. »Aber ich liebe dich so sehr, dass ich auch ein bisschen Kritik anbringen muss.«
»Ich höre.«
»Es macht mir Sorgen, dass du dich selbst als Labor bezeichnest.
Das hört sich kaltschnäuzig und vielleicht ein bisschen verfehlt an.«
»Ich hoffe, du weißt, was ich damit meine. Was ich sagen und tun will.«
»Kann schon sein«, erwiderte Mitch, »aber nur so ungefähr. Wo wir jetzt sind, ist die Luft ziemlich dünn.«
»Wie auf einem Berg.«
»Ich mag Berge nicht besonders.«
»Ach, ich schon«, erwiderte Kaye. Die Abhänge und weißen Gipfel des Kazbeg fielen ihr ein. »Sie schenken einem Freiheit.«
»Ja, ja«, erwiderte Mitch. »Du springst, und dann hast du dreitausend Meter reine Freiheit.«
Während er die Rechnung bezahlte, ging Kaye zur Toilette. Aus einem Impuls heraus holte sie ihre Telefonkarte und einen Zettel aus der Brieftasche und nahm den Hörer des Kartentelefons ab.
Sie rief Mrs. Luella Hamilton in Richmond in Virginia an. Die Nummer hatte sie sich doch noch von der Telefonzentrale der Klinik besorgt.
Eine tiefe, weiche Männerstimme meldete sich.
»Entschuldigen Sie bitte, ist Mrs. Hamilton zu Hause?«
»Wir sind schon beim Abendessen. Wer spricht denn da?«
»Kaye Lang. Dr. Lang.«
Der Mann murmelte etwas und rief dann: »Luella!« Ein paar Sekunden verstrichen. Stimmengewirr. Schließlich kam Luella Hamilton an den Apparat; ihr Atem klang anfangs keuchend, später aber ruhig und vertraut. »Albert sagt, da ist Kaye Lang, stimmt das?«
»Ich bin’s, Mrs. Hamilton.«
»Na ja, ich bin jetzt zu Hause, Kaye, und ich brauche keine Nachuntersuchung mehr.«
»Ich wollte Ihnen mitteilen, dass ich nicht mehr bei der Taskforce bin, Mrs. Hamilton.«
»Sagen Sie Lu zu mir. Warum denn nicht?«
»Unsere Wege haben sich getrennt. Ich fahre jetzt nach Westen und habe mir Sorgen um Sie gemacht.«
»Das ist nicht nötig. Albert und den Kindern geht’s gut, und ich bin auch ganz in Ordnung.«
»Ich war einfach beunruhigt. Ich habe viel über Sie nachgedacht.«
»Na ja, Dr. Lipton hat mir diese Pillen gegeben, die das Kind schon innendrin tot machen, bevor es groß wird. Sie kennen doch diese Pillen?«
»Ja.«
»Ich habe es keinem gesagt, und wir haben lange überlegt, aber Albert und ich, wir machen weiter. Er sagt, teilweise glaubt er, was die Wissenschaftler sagen, aber nicht alles, und außerdem meint er, ich bin zu hässlich, als dass ich hinter seinem Rücken rummachen könnte.« Sie ließ ein kräftiges, ungläubiges Lachen hören.
»Er versteht nichts von uns Frauen und unseren Möglichkeiten, was, Kaye?« Und dann leise zu jemandem in ihrer Nähe: »Lass’ das. Ich telefoniere.«
»Nein«, sagte Kaye.
»Wir wollen das Kind haben«, erklärte Mrs. Hamilton mit starker Betonung auf dem haben. »Sagen Sie das Dr. Lipton und den Leuten in der Klinik. Was es auch sein mag, es ist unseres, und wir werden ihm die Chance geben, sich durchzukämpfen.«
»Es freut mich, das zu hören, Lu.«
»Wirklich? Sind sie etwa neugierig, Kaye?«
Kaye lachte, aber sie spürte, wie das Lachen ihr im Hals stecken blieb und sich in Weinen zu verwandeln drohte. »Stimmt.«
»Sie wollen das Baby sehen, wenn es da ist, oder?«
»Ich würde Ihnen beiden gern etwas schenken.«
»Das ist aber nett. Warum suchen Sie sich nicht selbst einen Mann und holen sich diese Grippe, dann können wir uns besuchen und vergleichen, Sie und ich, und unsere beiden hübschen Kleinen, okay? Und dann schenke ich Ihnen etwas.« In ihrem Vorschlag schwang keinerlei Ärger, Albernheit oder Widerwille mit.
»Wahrscheinlich tue ich das, Lu.«
»Wir schaffen das schon, Kaye. Vielen Dank, dass Sie sich um mich gekümmert haben, und, Sie wissen schon, dass Sie mich wie einen Menschen und nicht wie ein Versuchskaninchen behandelt haben.«
»Darf ich Sie wieder anrufen?«
»Wir ziehen bald um, aber wir finden uns schon, Kaye. Das klappt. Dafür werden Sie sorgen.«
Kaye ging durch den langen Flur von der Toilette zurück und fasste sich an die Stirn. Sie war ganz heiß. Auch im Magen war ihr übel. Holen Sie sich diese Grippe, dann können wir uns besuchen und vergleichen.
Mitch stand mit den Händen in den Hosentaschen vor dem Restaurant und beobachtete die vorüberfahrenden Autos. Als er hörte, wie die schwere Holztür sich öffnete, drehte er sich um und lächelte sie an.
»Ich habe Mrs. Hamilton angerufen«, sagte sie. »Sie wird ihr Kind bekommen.«
»Sehr tapfer.«
»Die Menschen bekommen schon seit Jahrmillionen Kinder«, erwiderte Kaye.
»Ja, ja. Nichts leichter als das.« Dann fragte er: »Wo möchtest du heiraten?«
»Wie wär’s mit Columbus?«
»Wie wär’s mit Morgantown?«
»Warum nicht«, sagte Kaye.
»Wenn ich noch länger darüber nachdenke, bin ich irgendwann völlig daneben.«
»Das bezweifle ich.« An der frischen Luft fühlte Kaye sich besser.
Sie fuhren zur Spruce Street, wo Mitch bei der Monongahela Florist Company zwölf rote Rosen für Kaye kaufte. Sie spazierten um das Gebäude des Kreisrates und ein Seniorenzentrum herum, überquerten die High Street und strebten dem Glockenturm des Bezirksgerichts mit seinem Fahnenmast zu. Unter der breiten Krone eines Ahornbaumes blieben sie stehen und studierten die beschrifteten Pflastersteine, die sich quer über den Platz vor dem Gericht zogen.
»›In liebevollem Gedenken an James Crutchfield, 11 Jahre‹«, las Kaye vor. Der Wind raschelte in den Ahornzweigen und ließ die grünen Blätter flüstern wie leise Stimmen oder alte Erinnerungen.
»›Für May Ellen Baker, fünfzig Jahre lang meine große Liebe‹«, zitierte Mitch.
»Glaubst du, wir kommen so lange miteinander zurecht?«, fragte Kaye.
Mitch lächelte und griff nach ihrer Schulter. »Ich war noch nie verheiratet«, erwiderte er, »und vielleicht bin ich naiv. Ich würde sagen: ja.« Sie gingen durch den steinernen Torbogen zum rechten Turm und traten durch die zweiflügelige Tür.
Drinnen, im Büro des Urkundsbeamten, einem langen Raum voller Bücherregale und Tische mit den riesigen, schwarzgrün eingebundenen Grundbüchern, erhielten sie die notwendigen Papiere, und man sagte ihnen, wo sie die Blutuntersuchung machen lassen konnten.
»Es ist ein Gesetz dieses Bundesstaates«, erklärte die ältliche Beamtin, die hinter einem breiten hölzernen Schreibtisch saß. Sie lächelte weise. »Sie werden auf Syphilis, Gonorrhöe, HIV und jetzt auch SHEVA untersucht. Vor ein paar Jahren gab es Bestrebungen, den obligatorischen Bluttest abzuschaffen, aber heute ist alles anders. Sie müssen drei Tage warten, dann können Sie in der Kirche oder beim Kreisrichter in jedem Bezirk des Staates heiraten. Das sind ja wunderschöne Rosen, Liebchen.« Sie griff nach der Brille, die sie an einer goldenen Kette um den Hals hängen hatte, und musterte die Blumen eingehend. »Ein Altersnachweis ist nicht erforderlich. Warum haben Sie so lange gebraucht?«
Sie gab ihnen die Formulare für Antrag und Blutuntersuchung.
»Hier bekommen wir keinen Trauschein«, sagte Kaye, als sie das Gebäude verließen. »Den Test bestehen wir nicht.« Sie ruhten sich auf einer hölzernen Bank unter den Ahornbäumen aus. Es war jetzt vier Uhr nachmittags, und der Himmel bewölkte sich zusehends. Sie legte ihren Kopf auf seine Schulter.
Mitch streichelte ihre Stirn. »Du bist ganz heiß. Stimmt etwas nicht?«
»Nur der Beweis für unsere Leidenschaft.«
Kaye roch an den Blumen. Als die ersten Regentropfen fielen, hob sie die Hand und sagte: »Ich, Kaye Lang, nehme dich, Mitchell Rafelson, in dieser Zeit der Wirren und des Aufruhrs zu meinem rechtmäßigen Ehemann.«
Mitch starrte sie an.
»Heb’ die Hand, wenn du mich willst«, sagte sie.
Es wurde Mitch sofort klar: jetzt oder nie. Er griff nach ihrer Hand und machte sich die Bedeutung des Augenblicks bewusst.
»Ich nehme dich zu meiner Frau, in guten und in schlechten Tagen, für immer und ewig, um dich zu lieben und zu ehren, ob sie Raum in der Herberge haben oder nicht, Amen.«
»Ich liebe dich, Mitch.«
»Ich liebe dich, Kaye.«
»Gut«, sagte sie. »Jetzt bin ich deine Frau.«
Als sie Morgantown in südwestlicher Richtung verließen, sagte Mitch: »Weißt du, ich glaube daran. Ich glaube wirklich, dass wir jetzt verheiratet sind.«
»Und nur das zählt«, erwiderte Kaye und rückte auf der breiten Sitzbank näher zu ihm.
Abends, am Rand von Clarksburg, liebten sie sich auf dem kleinen Bett eines düsteren Motelzimmers mit Wänden aus Hohlziegeln. Der Frühlingsregen fiel auf das Flachdach und tropfte mit gleichmäßigem, beruhigendem Rhythmus von den Dachvorsprüngen. Sie hatten die Bettdecke nicht einmal zurückgeschlagen, sondern lagen nackt nebeneinander, Arme und Beine statt einer Decke, ineinander versunken, wunschlos glücklich.
Das Universum wurde klein und hell und sehr warm.
Seit Clarksburg wurden sie von Regen und Nebel verfolgt. Die Reifen des alten blauen Buick summten stetig auf den nassen Straßen, die sich zwischen Kalksteinabbrüchen und niedrigen grünen Hügeln hindurchschlängelten. Die Scheibenwischer zogen kurze schwarze Schlieren hinter sich her, und Kaye war, als säße sie wieder in Lados jaulendem kleinen Fiat auf der georgischen Militärstraße.
Mitch saß am Steuer. »Träumst du immer noch von ihnen?«, fragte Kaye.
»Ich bin zu müde zum Träumen.« Er lächelte sie an und konzentrierte sich dann wieder auf die Straße.
»Ich wüsste zu gern, was ihnen widerfahren ist«, sagte Kaye.
Mitch verzog das Gesicht. »Sie haben ihr Baby verloren, und dann sind sie gestorben.«
Kaye merkte, dass sie eine empfindliche Stelle getroffen hatte, und lenkte ein. »Entschuldige.«
»Ich hab’ dir ja gesagt, dass ich derzeit ein bisschen daneben bin«, sagte Mitch. »Ich denke mit der Nase, und mache mir Sorgen um drei Mumien, dir vor fünfzehntausend Jahren gelebt haben.«
»Du bist überhaupt nicht daneben«, erwiderte Kaye. Sie schüttelte ihre Mähne und stieß dann einen Schrei aus.
»Huch«, fuhr Mitch zurück.
»Wir fahren quer durch Amerika!«, rief Kaye. »Mittendurch, und jedes Mal, wenn wir irgendwo anhalten, machen wir Sex, und wir werden erfahren, wie dieses große Land tickt.«
Mitch klopfte aufs Lenkrad und lachte.
»Aber wir machen es nicht richtig«, sagte sie plötzlich mit künstlichem Ernst. »Wir haben keinen großen Pudel.«
»Wie bitte?«
»Meine Reise mit Charley«, sagte Kaye. »John Steinbeck hatte einen Lastwagen, den er Rosinante getauft hatte, mit Wohnwagenaufbau. Er schreibt, wie er mit einem großen Pudel unterwegs war. Ein tolles Buch.«
»Und Charley machte Männchen?«
»Genau.«
»Dann will ich der Pudel sein.«
Kaye fuhr ihm durch die Haare und ahmte das Summen einer Schermaschine nach.
»Steinbeck hat bestimmt länger als eine Woche gebraucht«, sagte Mitch.
»Wir haben keine Eile«, erwiderte Kaye. »Wenn es nach mir ginge, könnte es ewig so weiter gehen. Du hast mir das Leben wiedergegeben, Mitch.«
Westlich von Athens in Ohio hielten sie zum Mittagessen an einem kleinen Schnellrestaurant, das in einem leuchtend roten alten Eisenbahnwagen untergebracht war. Der Wagen stand an der kleinen Straße parallel zum Highway auf einem Betonsockel mit zwei Schienen, um ihn herum erhoben sich niedrige Hügel voller Ahornbäume und Hartriegelsträucher. Das Essen, das sie in seinem düsteren Inneren im Licht winziger Glühbirnen, die in Eisenbahnlaternen steckten, serviert bekamen, war ausreichend, mehr nicht: Malzmilch und ein Cheeseburger für Mitch, überbackene Pastete und bitterer PulverEistee für Kaye. In der Küche im hinteren Teil des Wagens spielte ein Radio Garth Brooks und Selay Sammi. Von dem Koch konnten sie nur die hohe Mütze sehen, die sich im Rhythmus der Musik auf und ab bewegte.
Als sie den Imbiss verließen, bemerkte Kaye drei schäbig gekleidete Jugendliche, die neben der Parallelstraße hergingen: zwei Mädchen mit schwarzen Hemden und verschlissenen grauen Hosen, ein Junge mit Jeans und einem abgeschabten, fleckigen Anorak. Der Junge trottete wie ein müder, trauriger kleiner Hund hinter den Mädchen her. Kaye stieg in den Buick. »Was haben die da zu suchen?«
»Vielleicht wohnen sie hier«, vermutete Mitch. »Hier gibt es nur das Haus auf dem Hügel hinter dem Imbiss«, erwiderte Kaye mit einem Seufzen.
»Du wirkst allmählich richtig mütterlich«, sagte Mitch warnend.
Er setzte den Wagen rückwärts aus dem Kiesparkplatz und wollte gerade auf die Straße einbiegen, da begann der Junge aufgeregt zu winken. Mitch hielt und kurbelte das Fenster herunter. Leichter Nieselregen erfüllte die Luft mit silbrigem Nebel, der nach den Bäumen und den Abgasen des Buick roch.
»Entschuldigen Sie, Sir. Fahren Sie in westliche Richtung?« Die gespenstisch blauen Augen des Jungen schwammen in dem schmalen, blassen Gesicht. Er wirkte besorgt und erschöpft; unter der Kleidung schien er nur aus einem Bündel Stöcke zu bestehen, und das Bündel war nicht besonders groß.
Die beiden Mädchen blieben im Hintergrund. Das kleinere, dunkelhaarige hielt sich die Hände vors Gesicht und lugte wie ein schüchternes Kind zwischen den Fingern hindurch.
Der Junge hatte schmutzige Hände, und die Fingernägel waren schwarz. Er sah, wie Mitch es bemerkte, und rieb sie unsicher an seiner Hose. »Ja«, sagte Mitch.
»Es tut mir wirklich Leid, dass ich Sie belästige. Normalerweise würden wir nicht fragen, aber man findet nicht leicht so eine Mitfahrgelegenheit, und es wird immer feuchter. Wenn Sie nach Westen fahren, könnten Sie uns doch ein Stück mitnehmen, oder?«
Mitch war gerührt von der Verzweiflung des Jungen und seiner unbeholfenen Ritterlichkeit. Er betrachtete ihn genau und schwankte, ob er mitfühlend oder misstrauisch reagieren sollte.
»Sag’ ihnen, sie sollen einsteigen«, sagte Kaye. Der Junge sah sie überrascht an. »Ehrlich?«
»Wir fahren nach Westen.« Mitch zeigte auf die Landstraße hinter dem langen Maschendrahtzaun.
Der Junge öffnete die hintere Tür, und die Mädchen kamen angelaufen. Während sie einstiegen und auf der Bank durchrutschten, drehte Kaye sich um und legte den Arm auf die Rückenlehne.
»Wo wollt ihr hin?«, fragte sie.
»Cincinnati«, erwiderte der Junge. Und dann fügte er hoffnungsfroh hinzu: »Oder so weit wie wir kommen. Tausend Dank.«
»Schnallt euch an«, sagte Mitch. »Hinten sind drei Sicherheitsgurte.«
Das Mädchen, das sein Gesicht versteckt hatte, war höchstens siebzehn. Sie hatte dicke schwarze Haare, eine kaffeebraune Haut, lange, knotige Finger und kurz geschnittene, violett lackierte Fingernägel. Ihre hellblonde Begleiterin schien etwas älter zu sein und hatte ein breites, unbeschwertes Gesicht, das jetzt bis zur Ausdruckslosigkeit erschöpft wirkte. Der Junge war noch keine neunzehn. Mitch rümpfte unwillkürlich die Nase. Die drei hatten sich seit Tagen nicht gewaschen.
»Woher kommt ihr?«, erkundigte sich Kaye. »Aus Richmond«, sagte der Junge. »Wir sind getrampt und haben im Wald oder auf den Wiesen geschlafen. Für Delia und Jayce war es schwierig. Das hier ist Delia.« Er zeigte auf das Mädchen, das sein Gesicht versteckte.
»Ich bin Jayce«, bemerkte die Blonde geistesabwesend. »Und ich heiße Morgan«, fügte der Junge hinzu. »Eigentlich seid ihr doch noch gar nicht alt genug, um allein zu reisen«, sagte Mitch und beschleunigte.
»Delia hat es zu Hause nicht mehr ausgehalten«, erklärte Morgan. »Sie wollte nach Los Angeles oder Seattle. Und da sind wir mitgekommen.« Jayce nickte.
»Das ist ja noch kein großer Plan«, sagte Mitch. »Habt ihr Verwandte im Westen?«, wollte Kaye wissen. »Ich habe in Cincinnati einen Onkel«, erklärte Jayce, »der wird uns wohl eine Zeit lang aufnehmen.«
Delia lehnte sich, das Gesicht immer noch verborgen, im Sitz zurück. Morgan leckte sich die Lippen und verrenkte sich den Hals, um die Deckenverkleidung des Wagens zu betrachten, als gäbe es dort etwas zu lesen. »Delia war schwanger, aber das Kind ist tot zur Welt gekommen«, sagte er. »Sie hat dabei ein bisschen Hautprobleme bekommen.«
»Das tut mir Leid«, sagte Kaye und streckte die Hand aus. »Ich heiße Kaye. Du brauchst dich nicht zu verstecken, Delia.« Delia schüttelte den Kopf. Ihre Hände machten die Bewegung mit. »Es ist hässlich«, sagte sie.
»Mir macht es nichts aus«, fügte Morgan hinzu. Er saß ganz links im Wagen, mit fast dreißig Zentimetern Abstand zu Jayce.
»Mädchen sind da empfindlicher. Ihr Freund hat gesagt, sie soll verschwinden. So was Dummes. So eine Verschwendung!«
»Es ist einfach zu hässlich«, sagte Delia leise.
»Ach komm, Liebes«, sagte Kaye. »Ist es etwas, bei dem ein Arzt dir helfen könnte?«
»Es hat angefangen, bevor das Baby kam.«
»Schon gut«, erwiderte Kaye sanft. Sie drehte sich um und streichelte dem Mädchen den Arm. Mitch bekam es im Innenspiegel mit und war fasziniert; diese Seite von Kaye kannte er noch nicht.
Langsam ließ Delia die Hände sinken, und ihre Finger entspannten sich. Das Gesicht des Mädchens war gesprenkelt und gefleckt, als hätte jemand rötlichbraune Farbe darauf verspritzt.
»Hat dein Freund dir das angetan?«, fragte Kaye. »Nein. Es ist einfach gekommen, und alle fanden es widerlich.«
»Sie hatte eine Maske«, sagte Jayce. »Die saß ein paar Wochen lang auf dem Gesicht. Dann ist sie abgefallen, und die Flecken sind zurückgeblieben.«
Mitch lief es kalt den Rücken herunter. Kaye drehte sich nach vorn, senkte den Kopf und rang kurze Zeit um Fassung.
»Ich darf Delia und Jayce nicht anfassen, obwohl wir Freunde sind«, sagte Morgan. »Wegen der Seuche. Sie wissen schon. Herodes.«
»Ich will nicht schwanger werden«, sagte Jayce. »Und wir haben richtig Hunger.«
»Wir halten an und holen etwas zu essen«, sagte Kaye. »Möchtet ihr auch duschen, euch mal richtig waschen?«
»Oh ja«, seufzte Delia. »Das wäre toll.«
»Ihr beide seht ja anständig aus, ey, richtig nett«, sagte Morgan und starrte wieder zur Deckenverkleidung, diesmal um sich Mut zu machen. »Aber eines sage ich euch, diese Mädchen sind meine Freundinnen. Ich werde nicht zulassen, dass er sie ohne Kleider sieht. Das lasse ich mir nicht gefallen.«
»Keine Sorge«, sagte Kaye. »Morgan, wenn ich deine Mutter wäre, wäre ich stolz auf dich.«
»Danke«, sagte Morgan und ließ den Blick aus dem Fenster wandern. Die Muskeln seiner schmalen Kiefer spannten sich. »He, ich sage ja nur, was ich denke. Die beiden haben genug Mist durchgemacht. Ihr Freund hat auch eine Maske bekommen, und dabei ist er fast verrückt geworden. Jayce sagt, er hat Delia die Schuld gegeben.«
»Das hat er auch«, warf Jayce ein.
»Er war ein weißer Junge«, fuhr Morgan fort, »und sie ist teilweise schwarz.«
»Ich bin schwarz«, sagte Delia.
»Eine Zeit lang haben sie in einem Bauernhaus gewohnt, aber dann hat er sie rausgeschmissen«, berichtete Jayce. »Nach der Fehlgeburt hat er sie geschlagen. Dann war sie wieder schwanger.
Er hat gesagt, sie würde ihn verrückt machen, weil er auch eine Maske hatte und weil es noch nicht mal sein Kind war.« Die Worte sprudelten als dumpfes Gemurmel aus ihr heraus.
»Mein zweites Baby wurde tot geboren«, erzählte Delia zurückhaltend. »Es hatte nur ein halbes Gesicht. Jayce und Morgan haben es mir nie gezeigt.«
»Wir haben es beerdigt«, sagte Morgan.
»Du liebe Güte, das tut mir wirklich Leid«, erwiderte Kaye.
»Es war echt hart«, erklärte Morgan, »aber immerhin, wir leben noch!« Er biss die Zähne zusammen, und seine Kiefer spannten sich wieder rhythmisch an.
»Jayce hätte mir besser nicht erzählt, wie es aussah«, sagte Delia.
»Wenn es Gottes Kind war«, meinte Jayce kühl, »hätte er besser darauf aufpassen sollen.«
Mitch wischte sich mit einem Finger die Augen ab und blinzelte, um die Straße wieder klar zu sehen.
»Warst du beim Arzt?«, erkundigte sich Kaye.
»Mir geht’s gut«, antwortete Delia. »Ich will nur, dass diese Flecken weggehen.«
»Ich sehe sie mir mal aus der Nähe an, Liebes«, sagte Kaye.
»Sind Sie Ärztin?«
»Keine Ärztin, aber Biologin.«
»Eine Wissenschaftlerin?«, fragte Morgan, dessen Interesse jetzt geweckt war.
»Ja, ja«, erwiderte Kaye.
Delia dachte ein paar Sekunden nach und beugte sich dann mit abgewandtem Blick nach vorn. Kaye streichelte ihr Kinn, um sie zu beruhigen. Mittlerweile war die Sonne herausgekommen, aber links zog ein Lieferwagen vorüber, und die breiten Reifen schleuderten einen Wasserschwall gegen die Windschutzscheibe. Das unstete Licht zeichnete einen wechselnden grauen Schimmer auf die Züge des Mädchens.
Das Gesicht trug ein Muster melaninfreier, tropfenförmiger Flecken. Die meisten befanden sich auf den Wangen, aber mehrere symmetrische Bereiche waren auch an den Augen- und Mundwinkeln zu erkennen. Als sie sich von Kaye abwandte, verschoben und verdunkelten sich die Flecken.
»Die sind wie Sommersprossen«, sagte Delia zuversichtlich. »Ich bekomme manchmal Sommersprossen. Ich nehme an, das ist mein weißes Blut.«
Mitch und Morgan standen auf der weiß gestrichenen Veranda vor der Praxis von Dr. James Jacobs.
Morgan war aufgeregt. Er zündete sich die letzte Zigarette aus seiner Schachtel an und paffte mit konzentriert verkniffenen Augen. Dann ging er zu einem alten Ahornbaum und lehnte sich gegen die runzelige Rinde.
Nach einer Mittagspause hatte Kaye darauf bestanden, im Telefonbuch einen praktischen Arzt herauszusuchen und Delia untersuchen zu lassen. Das Mädchen hatte widerstrebend zugestimmt.
»Wir haben nichts Ungesetzliches getan«, sagte Morgan. »Wir hatten nur kein Geld, und sie bekam ihr Baby, und wir waren da.«
Er winkte in Richtung der Straße.
»Wo war das?«, fragte Mitch.
»West Virginia. Im Wald in der Nähe einer Farm. Es war schön da. Eine gute Stelle für eine Beerdigung. Wissen Sie, ich bin so müde. Ich habe es satt, dass sie mich wie einen räudigen Hund behandeln.«
»Die Mädchen?«
»Sie kennen doch die allgemeine Meinung«, sagte Morgan.
»Männer sind ansteckend. Sie verlassen sich auf mich, ich bin immer für sie da, und dann sagen sie, ich wäre so ein verlauster Junge. Nie ein Dankeschön.«
»So sind die Zeiten«, sagte Mitch.
»Ist schon beschissen. Warum leben wir jetzt und nicht in einer anderen Zeit, die nicht so beschissen ist?«
Delia hockte im Sprechzimmer auf der Kante des Tisches und ließ die Beine baumeln. Sie hatte einen hinten offenen, mit Blumen bedruckten Kittel an. Jayce saß ihr gegenüber auf einem Sessel und las in einer Broschüre über die Gefahren des Rauchens.
Dr. Jacobs war über sechzig und hager; um seinen hohen, vornehm gewölbten Schädel zog sich ein kurz geschnittener Kranz grauer, dicht gelockter Haare. Seine großen Augen blickten weise und zugleich traurig drein. Er sagte den Mädchen, er sei gleich zurück, und dann ließ er seine Assistentin, eine Frau mittleren Alters mit kastanienbraunem Haarknoten, mit Klemmbrett und Kugelschreiber ins Zimmer kommen. Er schloss die Tür und wandte sich an Kaye.
»Keine Verwandtschaftsbeziehung?«, fragte er.
»Wir haben sie östlich von hier aufgelesen. Ich war der Meinung, sie sollte sich untersuchen lassen.«
»Sie sagt, sie sei neunzehn. Papiere hat sie nicht bei sich, aber ich glaube nicht, dass sie schon so alt ist. Was meinen Sie?«
»Ich weiß nicht viel über sie«, erwiderte Kaye. »Ich will ihnen helfen und sie nicht etwa in Schwierigkeiten bringen.«
Jacobs neigte mitfühlend den Kopf. »Sie hat vor einer Woche bis zehn Tagen entbunden. Keine größeren Verletzungen, aber das Gewebe ist an ein paar Stellen gerissen, und an ihrer Hose klebt noch Blut. Ich sehe nicht gern zu, wenn junge Leute wie Tiere leben, Ms. Lang.«
»Ich auch nicht.«
»Delia sagt, es sei ein Herodes Baby gewesen, und es sei tot zur Welt gekommen. Nach der Beschreibung ein Sekundärfetus. Ich habe keinen Grund, ihr nicht zu glauben, aber solche Sachen sollte man melden. Man hätte das Baby obduzieren müssen. Es werden gerade entsprechende Bundesgesetze verabschiedet, und Ohio schließt sich an … Sie sagt, sie war in West Virginia, als sie entbunden hat. So weit ich weiß, gibt es in West Virginia ziemliche Widerstände.«
»Nur in bestimmter Hinsicht«, sagte Kaye und erzählte ihm von der Vorschrift mit den Blutuntersuchungen.
Jacobs hörte zu, zog dann einen Kugelschreiber aus der Tasche und ließ ihn nervös immer wieder klicken. »Ms. Lang, als Sie heute Nachmittag zu mir kamen, wusste ich nicht genau, wer Sie sind. Ich habe Georgina gebeten, im Internet nach Nachrichtenfotos zu suchen. Ich weiß nicht, was Sie in Athens vorhaben, aber ich nehme an, Sie wissen über das alles mehr als ich.«
»Das glaube ich nicht«, erwiderte Kaye. »Die Flecken im Gesicht …«
»Bei manchen Frauen stellen sich während der Schwangerschaft dunkle Verfärbungen ein. Das geht vorüber.«
»Diese hier sehen aber anders aus«, entgegnete Kaye. »Außerdem haben sie uns erzählt, dass sie noch andere Hautprobleme hatte.«
»Ich weiß.« Jacobs seufzte und setzte sich auf die Ecke seines Schreibtisches. »Ich habe hier drei schwangere Patientinnen, wahrscheinlich mit sekundären HerodesFeten. Sie lassen mich weder Fruchtwasseruntersuchungen noch Ultraschallaufnahmen machen.
Alle drei sind treue Kirchgängerinnen, und ich glaube, sie wollen die Wahrheit nicht wissen. Sie haben Angst, und sie stehen unter Druck. Ihre Bekannten schneiden sie. In der Kirche sind sie nicht mehr gern gesehen. Die Ehemänner kommen nicht mit ihnen zu mir in die Praxis.« Er zeigte auf sein Gesicht. »Bei allen verhärtet sich die Haut, und dann löst sie sich um Augen und Nase, an Wangen und Mundwinkeln. Aber sie schält sich nicht … noch nicht. Sie stoßen im Gesicht mehrere Lederhaut- und Epidermisschichten ab.« Er verzog das Gesicht und tat so, als wollte er mit Daumen und Zeigefinger einen Hautlappen abziehen. »Sie fühlt sich ein wenig wie Leder an. Fürchterlich hässlich, sehr beängstigend. Das ist der Grund, warum sie so nervös sind und warum sie gemieden werden. Es trennt sie von ihrem Umfeld, Ms. Lang. Es verletzt sie. Ich habe Berichte an die Staats- und Bundesbehörden geschrieben, aber noch keine Antwort bekommen. Es ist, als riefe man in eine große dunkle Höhle hinein.«
»Glauben Sie, dass die Masken häufig vorkommen?«, wollte Kaye wissen.
»Ich richte mich nach den Grundsätzen der Wissenschaft, Ms.
Lang. Wenn ich es mehrmals beobachte, und wenn dann dieses Mädchen aus einem anderen Bundesstaat kommt und es ebenfalls hat … ich bin sicher, dass es nicht selten ist.« Er sah sie zweifelnd an. »Wissen Sie mehr darüber?«
Sie ertappte sich dabei, dass sie sich wie ein kleines Mädchen auf die Lippe biss. »Ja und nein«, sagte sie. »Ich habe meine Stellung in der HerodesTaskforce aufgegeben.«
»Warum?«
»Das ist eine komplizierte Geschichte.«
»Weil sie dort alle Unrecht haben, stimmt’s?«
Kay wandte den Blick ab und lächelte. »Das würde ich so nicht sagen.«
»Haben Sie so etwas schon einmal gesehen? Bei anderen Frauen?«
»Ich glaube, wir werden es in Zukunft häufiger beobachten.«
»Und die Babys sind kleine Ungeheuer und sterben?«
Kaye schüttelte den Kopf. »Das wird sich wahrscheinlich ändern.«
Jacobs steckte den Kugelschreiber ein, legte die Hand auf die Schreibunterlage, hob ihre Lederecke an und ließ sie langsam wieder sinken. »Ich werde über Delia keinen Bericht verfassen. Ich weiß nicht genau, was oder an wen ich schreiben sollte. Sie wird sicher von hier verschwinden, bevor die Behörden etwas unternehmen und ihr helfen könnten. Ob wir das Kind finden, die Stelle, wo sie es bestattet haben, bezweifle ich. Sie ist erschöpft und muss ständig versorgt werden. Vor allem braucht sie einen Ort, wo sie bleiben und wieder zu Kräften kommen kann. Ich werde ihr eine Vitaminspritze geben; außerdem verschreibe ich ihr Antibiotika und ein Eisenpräparat.«
»Und die Flecken?«
»Wissen Sie, was Chromatophoren sind?«
»Zellen, die ihre Farbe ändern. Bei Tintenfischen.«
»Diese Flecken können ihre Farbe ändern«, erklärte Jacobs. »Es ist nicht nur eine hormonell bedingte Melanose.«
»Melanophoren«, sagte Kaye.
Jacobs nickte. »Das ist das richtige Wort. Haben Sie schon einmal Melanophoren bei einem Menschen gesehen?«
»Nein.«
»Ich auch nicht. Wohin wollen Sie jetzt, Ms. Lang?«
»Ganz weit nach Westen«, erwiderte sie und zückte die Brieftasche. »Ich würde jetzt gern Ihr Honorar bezahlen.«
Jacobs sah sie mit einem Blick an, wie er trauriger nicht sein konnte. »Ich betreibe hier keine blöde Gesundheitsfabrik, Ms.
Lang. Kein Honorar. Ich verschreibe die Tabletten, und Sie holen sie in einer guten Apotheke. Sie besorgen ihr etwas zu essen und suchen einen sauberen Ort, wo sie in Ruhe ausschlafen kann.«
Die Tür ging auf. Delia und Jayce kamen herein. Delia war wieder vollständig angezogen.
»Sie braucht saubere Kleidung und ein heißes Bad in einer richtigen Badewanne«, sagte Georgina resolut.
Zum ersten Mal seit ihrem Zusammentreffen lächelte Delia.
»Ich habe es mir im Spiegel angesehen«, sagte sie. »Jayce meint, die Flecken sind hübsch. Der Arzt sagt, ich bin nicht krank, und wenn ich will, kann ich später Kinder haben.«
Kaye gab Jacobs die Hand. »Vielen herzlichen Dank«, sagte sie.
Als die drei hinaus auf die Veranda zu Mitch und Morgan gingen, rief Jacobs ihnen nach: »Wir leben und wir lernen, Ms. Lang!
Und je schneller wir lernen, desto besser.«
»MINISUITEN« und »50 $« verkündete das kleine Motel in gedrängter Schrift auf einem riesigen, von der Landstraße gut sichtbaren roten Schild. Es hatte sieben Zimmer, und drei davon waren frei. Kaye mietete alle drei und gab Morgan einen Schlüssel. Der nahm ihn, runzelte die Stirn und steckte ihn ein.
»Ich bin nicht gern allein«, sagte er.
»Eine bessere Aufteilung ist mir nicht eingefallen«, sagte Kaye.
Mitch legte dem Jungen den Arm um die Schulter. »Ich bleibe bei dir«, sagte er mit einem ruhigen Blick zu Kaye. »Wir duschen und sehen fern.«
»Es wäre schön, wenn Sie in unserem Zimmer bleiben könnten«, sagte Jayce zu Kaye. »Wir würden uns dann viel sicherer fühlen.«
Die Zimmer waren nicht sonderlich sauber. Über den erkennbar durchgelegenen Betten lagen dünne, abgeschabte Steppdecken mit ausgefransten Nylonfäden und Brandlöchern von Zigaretten. Die Kaffeetischchen trugen viele ringförmige Flecken und ebenfalls Brandspuren. Jayce und Delia begutachteten alles und bezogen das Zimmer, als sei es ein Königspalast. Delia setzte sich auf den einzigen orangefarbenen Sessel neben einer Tischlampe mit mehreren kegelförmigen MetallLampenschirmen. Jayce lümmelte sich auf das Bett und schaltete den Fernseher ein. »Die haben hier PayTV«, sagte sie leise und erstaunt. »Wir können uns einen Spielfilm ansehen!«
Mitch hörte, wie Morgan im Bad ihres gemeinsamen Zimmers duschte, und öffnete die Eingangstür. Draußen stand Kaye mit erhobener Hand — sie wollte gerade klopfen.
»Ein Zimmer ist übrig«, sagte sie. »Da haben wir ja eine ganz schöne Verantwortung übernommen, was?«
Mitch umarmte sie. »Dein Instinkt«, sagte er.
»Und was sagt dir dein Instinkt?«, fragte sie, während sie ihre Nase an seiner Schulter rieb.
»Das sind Kinder. Sie sind schon seit Wochen unterwegs, oder seit Monaten. Man sollte ihre Eltern anrufen.«
»Vielleicht haben sie gar keine richtigen Eltern. Sie sind verzweifelt, Mitch.« Kaye trat zurück und sah ihn an.
»Immerhin sind sie so selbstständig, dass sie ein totes Baby begraben und dann weiterziehen können. Der Arzt hätte die Polizei benachrichtigen sollen.«
»Ich weiß«, sagte Kaye. »Aber ich weiß auch, warum er es nicht getan hat. Die Regeln haben sich geändert. Er glaubt, dass in Zukunft die meisten Kinder tot geboren werden. Sind wir die Einzigen, die noch Hoffnung haben?«
Die Dusche wurde abgedreht, und die Badezimmertür ging auf.
Das kleine Bad war voller Dampf.
»Die Mädchen«, sagte Kaye und ging zur Nachbartür. Sie machte zu Mitch eine Geste mit geöffneter Hand, die er sofort wiedererkannte. Die Demonstranten in Albany hatten sie benutzt, und jetzt begriff er, was sie damit andeuten wollten: den festen Glauben an das Funktionieren des Lebendigen, an die überragende Klugheit des Genoms, und die vorsichtige Unterwerfung darunter.
Keine Prophezeiung des Untergangs, kein dümmlicher Versuch, den Strom der DNA durch die Generationen mit der neu gewonnenen Macht der Menschen aufzuhalten.
Der Glaube an das Leben.
Morgan zog sich schnell an. »Jayce und Delia brauchen mich nicht«, sagte er, als er in dem kleinen Zimmer stand. Jetzt, nachdem er sich gewaschen hatte, waren die Löcher in den Ärmeln seines Pullovers noch deutlicher zu erkennen. Den schmutzigen Anorak hatte er über den Arm gehängt. »Ich will euch nicht zur Last fallen. Ich gehe jetzt. Schönen Dank, aber …«
»Jetzt setz dich mal hin und sei still«, sagte Mitch. »Hier passiert das, was die Dame will. Und die will, dass du bleibst.«
Morgan blinzelte verwundert und setzte sich auf die Bettkante.
Die Sprungfedern quietschten, und das Bettgestell ächzte. »Ich glaube, das ist der Weltuntergang«, sagte er. »Wir haben den lieben Gott echt verärgert.«
»Keine vorschnellen Schlussfolgerungen«, sagte Mitch. »Ob du es glaubst oder nicht: Es war alles schon mal da.«
Jayce schaltete den Fernseher ein und sah sich vom Bett aus das Programm an, während Delia in der abgestoßenen, schmalen Wanne ein langes Bad nahm. Dabei summte sie Melodien aus Comicserien — Scooby Doo, Animaniacs, Inspector Gadget. Kaye saß auf dem einzigen Sessel. Jayce hatte einen alten, beruhigenden Film gefunden: Alle lieben Pollyanna mit Hayley Mills. Karl Malden kniete auf einer ausgedörrten Wiese und machte sich Selbstvorwürfe wegen seiner halsstarrigen Beschränktheit. Es war eine leidenschaftliche Szene — Kaye konnte sich nicht erinnern, dass sie den Film früher so mitreißend gefunden hatte. Zusammen mit Jayce sah sie zu, aber dann merkte sie, dass das Mädchen eingeschlafen war. Sie stellte das Gerät leiser und schaltete zu einer Nachrichtensendung um.
Ein paar oberflächliche Berichte aus dem Showbusiness, eine kurze politische Nachricht über Kongresswahlen, dann ein Interview mit Bill Cosby über seine Werbung für CDC und Taskforce.
Kaye drehte den Fernseher lauter.
»Ich war mit David Satcher befreundet, dem früheren Leiter des Gesundheitswesens. Da muss es eine Art Netzwerk der Ehemaligen geben«, erklärte Cosby der Reporterin, einer blonden Frau mit breitem Lächeln und stechenden blauen Augen. »Die haben mich nämlich schon vor Jahren geholt, so einen alten Knaben, damit ich den Leuten sage, was die da eigentlich tun und was wichtig ist.
Jetzt dachten sie, ich könnte ihnen noch einmal helfen.«
»Sie gehören zu einer handverlesenen Truppe«, sagte die Journalistin. »Samt Dustin Hoffman und Michael Crichton. Sehen wir uns einmal Ihren Werbespot an.«
Kaye beugte sich vor. Cosby war jetzt vor einem schwarzen Hintergrund zu sehen, sein Gesicht strahlte väterliche Sorge aus.
»Meine Freunde an den Centers for Disease Control und viele andere Wissenschaftler auf der ganzen Welt arbeiten jeden Tag angestrengt an der Lösung dieses Problems, das uns alle betrifft. Die Herodes-Grippe. SHEVA. Jeden Tag. Sie alle werden keine Ruhe geben, bis wir es erforscht haben und heilen können. Glauben Sie mir, diese Leute machen sich wirklich Sorgen, und wenn Sie Schmerzen haben, leiden sie ebenfalls. Wir bitten Sie nicht, Geduld zu haben. Aber wenn wir überleben wollen, müssen wir klug sein.«
Die Journalistin wandte den Blick von dem großen Monitor im Studio ab. »Spielen wir jetzt einmal einen Auszug aus der Aufnahme mit Dustin Hoffman ein …«
Hoffman stand, die Hände in den Taschen seiner beigefarbenen, maßgeschneiderten Hose vergraben, in einem leeren Filmstudio.
Zur Begrüßung lächelte er freundlich, aber ernst. »Ich heiße Dustin Hoffman. Vielleicht erinnern Sie sich noch, wie ich in dem Film Outbreak einen Wissenschaftler gespielt habe, der eine tödliche Krankheit bekämpft. Ich habe mich mit den Fachleuten an den National Institutes of Health und den Centers for Disease Control and Prevention unterhalten. Sie arbeiten jeden Tag mit aller Kraft dafür, dass SHEVA unschädlich gemacht werden kann und unsere Kinder nicht mehr sterben.«
Die Reporterin unterbrach den Spot. »Tun die Wissenschaftler dort eigentlich etwas, das sie letztes Jahr noch nicht getan haben?
Was ist neu an den Arbeiten?«
Cosby zog ein gereiztes Gesicht. »Ich will nur mithelfen, dass wir uns in dem ganzen Durcheinander zurechtfinden. Ärzte und Wissenschaftler sind unsere einzige Hoffnung. Es geht nicht weg, nur weil wir auf die Straße gehen und alles anzünden. Entscheidend ist, dass wir gemeinsam nachdenken und zusammenstehen, statt Aufruhr und Panik zu verbreiten.«
Delia stand in der Badezimmertür, die stämmigen Beine nackt unter dem kleinen Motelhandtuch, die Haare in ein zweites Handtuch gewickelt. Sie starrte gebannt auf den Fernseher. »Das spielt doch alles keine Rolle mehr«, sagte sie. »Meine Babys sind tot.«
Als Mitch vom Getränkeautomat am Ende der Zimmerreihen zurückkam, tigerte Morgan in einem weiten Bogen um das Bett hin und her und rang frustriert die Hände. »Ich muss immer wieder daran denken«, sagte der Junge. Mitch hielt ihm eine Dose Cola hin. Morgan starrte sie an, nahm sie ihm aus der Hand, riss den Verschluss ab und stürzte den Inhalt hinunter. »Wissen Sie, was sie getan haben, was Jayce getan hat? Als wir Geld brauchten?«
»Das muss ich nicht wissen, Morgan«, erwiderte Mitch.
»So behandeln sie mich. Jayce ist rausgegangen und hat einen Mann gesucht, der dafür bezahlt, und dann haben sie und Delia ihm einen geblasen und Geld dafür genommen. Du liebe Güte, und ich hab’ am Abend auch mitgegessen. Und am nächsten Abend auch. Dann sind wir getrampt, und Delia hat ihr Baby bekommen. Ich durfte sie nicht anrühren, nicht mal umarmen, mir legen sie nicht mal die Arme um den Hals, aber für Geld blasen sie den Kerlen einen, und es ist ihnen egal, ob ich es sehe!« Er schlug sich mit dem Handballen gegen die Schläfe. »Sie sind so dumm, wie das Vieh auf dem Land.«
»Das war sicher ganz schön hart da draußen«, sagte Mitch. »Ihr hattet doch alle Hunger.«
»Ich bin mitgegangen, weil mein Vater nicht so toll ist, wissen Sie, aber wenigstens schlägt er mich nicht. Er arbeitet den ganzen Tag. Sie haben mich mehr gebraucht als er. Aber ich will zurück.
Ich kann nichts mehr für die beiden tun.«
»Klar«, sagte Mitch. »Aber nichts überstürzen! Wir besprechen das.«
»Ich hab’ die Scheiße so satt!«, schrie Morgan.
Das Gebrüll war auch im Nachbarzimmer zu hören. Jayce fuhr im Bett hoch und rieb sich die Augen. »Der hat wieder seinen Anfall«, murmelte sie.
Delia trocknete sich gerade die Haare und fügte hinzu:
»Manchmal ist er nicht ganz bei Trost.«
»Können Sie uns in Cincinnati absetzen?«, fragte Jayce. »Da wohnt ein Onkel von mir. Vielleicht können Sie Morgan jetzt wieder nach Hause schicken.«
»Manchmal ist Morgan wirklich noch ein Kind«, sagte Delia.
Kaye sah die beiden von ihrem Sessel aus an. Ihr Gesicht errötete durch ein Gefühl, das sie selbst nicht ganz verstand: Solidarität, gemischt mit tiefer Abscheu.
Ein paar Minuten später traf sie draußen auf dem Laubengang des Motels auf Mitch. Sie fassten sich an den Händen.
Mitch wies mit dem Daumen über seine Schulter auf die offene Zimmertür. Die Dusche lief wieder. »Schon das zweite Mal. Er sagt, er fühlt sich ständig dreckig. Die Mädels haben dem armen Morgan ganz schön übel mitgespielt.«
»Was hatte er erwartet?«
»Keine Ahnung.«
»Dass sie mit ihm ins Bett gehen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Mitch leise. »Vielleicht will er einfach nur mit Respekt behandelt werden.«
»Ich glaube, die wissen nicht, wie man das macht«, sagte Kaye.
Sie drückte ihm die Hand an die Brust und streichelte ihn, den Blick auf etwas Unsichtbares, Fernes gerichtet. »Die Mädchen wollen in Cincinnati abgesetzt werden.«
»Morgan will zum Busbahnhof«, sagte Mitch. »Er hat die Nase voll.«
»Mutter Natur ist alles andere als freundlich oder sanft, was?«
»Mutter Natur war schon immer ein bisschen eklig«, erwiderte er.
»Das war’s dann also mit Rosinante und der AmerikaRundfahrt«, sagte Kaye traurig.
»Du willst ein paar Leute anrufen, dich wieder einmischen, stimmt’s?«
Kaye hob die Hände. »Ich weiß es wirklich nicht«, stöhnte sie.
»Einfach abhauen und unser eigenes Leben führen, das kommt mir entsetzlich verantwortungslos vor. Ich möchte mehr wissen.
Aber was werden sie uns jetzt noch sagen — Christopher, alle anderen von der Taskforce? Ich bin jetzt draußen.«
»Es gibt eine Möglichkeit, weiter mitzuspielen, allerdings nach anderen Regeln«, sagte Mitch.
»Der reiche Typ in New York?«
»Daney. Und Oliver Merton.«
»Dann fahren wir nicht nach Seattle?«
»Doch«, erwiderte Mitch, »aber ich rufe Merton an und sage ihm, dass ich interessiert bin.«
»Ich will immer noch unser Baby bekommen«, erklärte Kaye mit aufgerissenen Augen und einer Stimme, so zerbrechlich wie eine getrocknete Blume.
Die Dusche rauschte nicht mehr. Sie hörten, wie Morgan beim Abtrocknen abwechselnd vor sich hin summte und fluchte.
»Es ist schon komisch«, sagte Mitch fast unhörbar leise. »Ich hatte bei der ganzen Sache ein sehr ungutes Gefühl. Aber jetzt … auf einmal erscheint es völlig selbstverständlich — die Träume, und dass ich dich getroffen habe. Ich will das Baby auch. Wir können nicht einfach so tun, als wüssten wir nichts.« Er holte tief Luft, blickte auf, bis sich ihre Blicke trafen, und fügte hinzu: »Gehen wir also in den dunklen Wald, aber mit einer besseren Landkarte.«
Morgan kam heraus auf den Laubengang und starrte sie mit großen Augen an. »Ich bin so weit. Ich will nach Hause.«
Kaye sah ihn an und hätte unter seinem durchdringenden Blick fast den Kopf eingezogen. Die Augen des Jungen schienen tausend Jahre alt zu sein.
»Ich bringe dich zum Busbahnhof«, sagte Mitch.
Vor dem Natcher Building traf Dicken auf Dr. Tania Bao, die Leiterin des National Institute of Child Health and Human Development. Gemeinsam gingen sie weiter. Die kleine, korrekt gekleidete Bao mit ihrem gelassenen, alterslosen Gesicht — flach und breit, winzige Nase, Lippen immer zu einem Lächeln aufgelegt — und den leicht hängenden Schultern hätte man auf Ende dreißig schätzen können, aber in Wirklichkeit war sie dreiundsechzig. Sie trug einen hellblauen Hosenanzug und Mokassins mit Fransen.
Mit kleinen, schnellen Schritten spazierte sie eilig über das unebene Gelände. Die nie endenden Bauarbeiten an den NIH waren aus Sicherheitsgründen unterbrochen worden, aber zuvor hatte man schon die meisten Gehwege zwischen Natcher Building und Magnuson Clinical Center aufgerissen.
»Früher war das NIH Gelände offen«, sagte Bao. »Und jetzt beobachtet die Nationalgarde uns auf Schritt und Tritt. Ich kann nicht einmal mehr bei fliegenden Händlern Spielzeug für meine Enkel kaufen. Ich fand es schön, wenn sie auf den Bürgersteigen oder in den Fluren standen. Jetzt hat man sie zusammen mit den Bauarbeitern rausgeworfen.«
Dicken bedeutete ihr mit hochgezogenen Schultern, dass solche Dinge nicht in seiner Zuständigkeit lagen. Sein Einfluss erstreckte sich nicht einmal mehr auf ihn selbst. »Ich bin hier, um zuzuhören«, sagte er. »Ich kann Ihre Ansichten an Dr. Augustine weitergeben, aber ich kann Ihnen nicht garantieren, dass er sie teilt.«
»Was ist los, Christopher?«, fragte Bao vorwurfsvoll. »Warum reagiert niemand auf das, was auf der Hand liegt? Warum ist Augustine so halsstarrig?«
»Sie haben in Verwaltungsdingen viel mehr Erfahrung als ich«, sagte Dicken. »Ich weiß nur, was ich in den Nachrichten sehe und höre. Und da sehe ich unerträglichen Druck von allen Seiten. Die Impfstoffentwicklung ist noch keinen Schritt weitergekommen.
Dennoch tut Mark, was in seiner Macht steht, um die Volksgesundheit zu schützen. Er will alle Kräfte bündeln, um das zu bekämpfen, was er für eine ansteckende Krankheit hält. Und die einzige Option ist bisher die Abtreibung.«
»Was er dafür hält …«, sagte Bao ungläubig. »Aber was glauben Sie, Dr. Dicken?«
Das Wetter verbreitete eine feuchtwarme sommerliche Stimmung, die Dicken vertraut und sogar tröstlich vorkam; ein tief verborgener, trauriger Teil von ihm glaubte in Afrika zu sein, und das wäre ihm viel lieber gewesen als sein derzeitiges Dasein. Über eine provisorische Asphaltschräge betraten sie den nächsten, höher gelegenen Gehweg. Sie stiegen über ein gelbes Absperrband und gingen durch den Haupteingang in das Gebäude 10.
Seit zwei Monaten war das Leben für Christopher Dicken in die Brüche gegangen. Die Erkenntnis, dass verborgene Charaktereigenschaften sein wissenschaftliches Urteilsvermögen beeinflussen konnten — dass das Zusammenspiel von Liebeskummer und beruflichem Druck ihn in eine Haltung gedrängt hatte, von der er wusste, dass sie falsch war —, hatte an ihm genagt wie ein Schwarm kleiner Stechmücken. Irgendwie hatte er es geschafft, sich nach außen hin als gelassener Mitspieler in der Mannschaft der Taskforce zu geben. Aber er wusste, dass es nicht ewig so weitergehen konnte.
»Ich glaube an die Arbeit«, sagte er. Es war ihm peinlich, dass seine Gedanken die Antwort so lange verzögert hatten.
Sich einfach von Kaye Lang loszusagen und ihr gegen Jacksons Ausfälle nicht den Rücken zu stärken, war ein unbegreiflicher, unverzeihlicher Fehler gewesen. Er bereute ihn mit jedem Tag mehr, aber jetzt war es zu spät, um alte, abgerissene Fäden neu zu knüpfen. Nach wie vor konnte er eine Mauer aus Begriffen um sich herum errichten und gewissenhaft an den Aufgaben arbeiten, die man ihm zugewiesen hatte.
Sie fuhren mit dem Aufzug in die siebte Etage, wandten sich nach links und gingen in das kleine PersonalBesprechungszimmer in der Mitte eines langen, rosa und beige getünchten Korridors.
Bao setzte sich. »Christopher, Sie kennen Anita und Preston schon.«
Die beiden grüßten Dicken mit geringer Begeisterung.
»Ich fürchte, es gibt keine guten Neuigkeiten«, berichtete Dicken, während er sich gegenüber von Preston Meeker niederließ.
Wie seine Kollegen in dem kleinen Zimmer, so vertrat auch Meeker ein ganz spezielles Teilgebiet der Kinderheilkunde: Wachstum und Entwicklung von Neugeborenen.
»Ist Augustine immer noch dabei?«, fragte Meeker, von Anfang an streitlustig. »Macht er immer noch Reklame für RU-486?«
»Zu seinen Gunsten muss man sagen«, erwiderte Dicken und hielt einen Augenblick inne, um sich zu sammeln und sein altes Lügengesicht überzeugender zu präsentieren, »dass er keine Alternative hat. Die Retrovirusexperten an den CDC sind übereinstimmend der Ansicht, dass die Theorie der Expression und Komplettierung plausibel ist.«
»Kinder als Überträger unbekannter Krankheiten?« Meeker schob die Lippen vor und zischte abschätzig.
»Es ist eine durchaus vertretbare Meinung. Nimmt man dann noch die große Wahrscheinlichkeit hinzu, dass die meisten Kinder mit Fehlbildungen auf die Welt kommen würden …«
»Das wissen wir nicht«, sagte House, die kommissarische stellvertretende Direktorin des National Institute of Child Health and Human Development. Der eigentliche Stellvertreter war vor zwei Wochen zurückgetreten. Mittlerweile hatten sich eine ganze Menge NIHMitarbeiter aus der SHEVATaskforce zurückgezogen.
Fast ohne Bitterkeit dachte Dicken daran, dass Lang sich auch in dieser Hinsicht als Pionierin erwiesen hatte — sie war als Allererste gegangen.
»Es ist unbestreitbar«, sagte Dicken, diesmal ohne Gewissensbisse, weil es stimmte: Bisher hatte noch keine SHEVAinfizierte Mutter ein gesundes Kind zur Welt gebracht. »Bei den meisten von zweihundert Fällen wurde über schwere Fehlbildungen berichtet. Und alle kamen tot zur Welt.« Aber nicht alle waren missgebildet, ermahnte er sich selbst.
»Wenn der Präsident einer landesweiten Kampagne für die Anwendung von RU-486 zustimmt«, sagte Bao, »werden die CDC in Atlanta wohl kaum geöffnet bleiben. Da gibt es zwar wie in Bethesda ein aufgeklärtes Umfeld, aber wir befinden uns immer noch tief im christlichen Süden. Vor meinem Haus stehen schon Posten, Christopher. Ich bin von Wächtern umgeben.«
»Ich verstehe«, sagte Dicken.
»Sie vielleicht, aber versteht Mark es auch? Er beantwortet weder meine Anrufe noch meine EMails.«
»Diese Abschottung können wir nicht hinnehmen«, bemerkte Meeker.
»Wie viele Akte des zivilen Ungehorsams sind nötig, um etwas zu bewirken?«, fügte House hinzu, faltete die Hände auf dem Tisch und rieb sie aneinander, während ihre Blicke von einem zum anderen wanderten.
Bao stand auf, nahm einen knallroten Filzstift und ging zur Schreibtafel. Schnell und fast unbeherrscht kritzelte sie: »Allein im letzten Monat zwei Millionen HerodesPrimärfehlgeburten. Die Krankenhäuser sind überfüllt.«
»Ich besuche diese Krankenhäuser«, sagte Dicken. »Das gehört zu meiner Aufgabe an vorderster Front.«
»Auch wir haben Patientinnen hier und im ganzen Land aufgesucht«, erwiderte Bao mit gereizt verkniffenem Mund. »Allein hier im Gebäude haben wir dreihundert SHEVAMütter. Manche davon sehe ich jeden Tag. Wir schotten uns nicht ab, Christopher.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Dicken. Bao nickte. »Siebenhunderttausend bestätigte HerodesSekundärschwangerschaften. Na ja, da widersprechen sich die Statistiken — was wirklich los ist, wissen wir nicht.« Sie sah Dicken durchdringend an. »Wo sind die vielen anderen? Darüber wird nichts berichtet. Weiß Mark Bescheid?«
»Ich weiß es«, sagte Dicken, »und Mark weiß es auch. Es sind heikle Informationen. Wir wollen nicht bekannt geben, wie viel wir wissen, so lange der Präsident nicht die politische Entscheidung über den Vorschlag der Taskforce getroffen hat.«
»Ich kann es mir denken«, sagte House sarkastisch. »Gebildete Frauen mit den entsprechenden Mitteln besorgen sich RUauf dem Schwarzmarkt oder verschaffen sich auf andere Weise in den verschiedensten Schwangerschaftsstadien eine Abtreibung.
Unter den Medizinern, in den Frauenkliniken herrscht regelrechter Aufruhr. Sie geben wegen der neuen Vorschriften über das Abtreibungsverfahren keine Meldungen mehr an die Taskforce weiter. Ich nehme an, Mark will nur offiziell absegnen, was ohnehin überall im Land geschieht.«
Dicken hielt einen Augenblick inne, um seine Gedanken zu ordnen und seine bröckelnde Fassade zu glätten. »Mark hat keinen Einfluss auf das Repräsentantenhaus oder den Senat. Wenn er sich zu Wort meldet, wird er gar nicht weiter beachtet. Wir alle wissen, dass die Gewalt in den Familien zunimmt. Viele Frauen werden zu Hause rausgeworfen. Es gibt Scheidungen. Morde.« Dicken ließ seine Worte wirken, wie sie in den letzten Monaten auch auf sein eigenes Denken und Selbstbewusstsein eingewirkt hatten.
»Gewalt gegen schwangere Frauen war noch nie so häufig wie jetzt. Manche greifen sogar zu Quinacrin, wenn sie es sich beschaffen können, und machen sich selbst unfruchtbar.«
Bao schüttelte traurig den Kopf.
Dicken war noch nicht fertig. »Viele Frauen wissen, dass es der einfachste Ausweg ist, wenn sie die Sekundärschwangerschaft lange vor dem Ende abbrechen, noch bevor andere Nebenwirkungen auftreten.«
»Mark Augustine und die Taskforce weigern sich, diese Nebenwirkungen genauer zu beschreiben«, sagte Bao. »Ich nehme an, Sie meinen damit die Maskenbildung und den Melanismus bei den Eltern.«
»Ich meine damit auch das Auftreten von Gaumenspalten und Fehlbildungen an der Nasenhöhle«, erklärte Dicken.
»Warum auch die Väter?«, wollte Bao wissen.
»Keine Ahnung«, erwiderte Dicken. »Hätten die NIH die klinischen Testpersonen nicht ziehen lassen — ziehen lassen aufgrund übertriebener persönlicher Bedenken —, dann wüssten wir heute vielleicht schon viel mehr, und das unter einigermaßen kontrollierten Bedingungen.«
Bao erinnerte Dicken daran, dass keiner der Anwesenden etwas mit dem Abbruch der klinischen Studien der Taskforce in demselben Gebäude zu tun hatte.
»Ich verstehe«, sagte Dicken, und dabei war er sich selbst so heftig zuwider, dass er es kaum verbergen konnte. »Ich will Ihnen in diesem Punkt auch gar nicht widersprechen. Alle brechen die Sekundärschwangerschaften ab — alle, bis auf diejenigen, denen das Geld fürs Krankenhaus oder die Pillen fehlt … oder auch diejenigen …«
»Oder wer?«, fragte Meeker.
»Oder auch diejenigen, die überzeugt sind.«
»Überzeugt wovon?«
»Von der Natur. Von der Vorstellung, man solle diesen Kindern eine Chance geben, ganz gleich, wie groß die Wahrscheinlichkeit von Totgeburten oder Fehlbildungen ist.«
»Augustine ist offenbar nicht der Ansicht, dass man auch nur einem einzigen solchen Kind eine Chance geben sollte«, sagte Bao.
»Warum?«
»Weil die Herodes-Grippe eine Krankheit ist und man Krankheiten auf diese Weise bekämpft.« So kann das nicht mehr weitergehen. Entweder kündigst du, oder du scheiterst bei dem Versuch, Dinge zu erklären, die du nicht verstehst oder selbst nicht glaubst.
»Ich sage es noch einmal: Wir arbeiten hier nicht isoliert vor uns hin«, sagte Bao und schüttelte den Kopf. »Wir gehen in dieser Klinik auf die Entbindungsstationen und in die Operationssäle, außerdem suchen wir auch andere Krankenhäuser auf. Wir erleben die Qualen der Frauen und Männer mit. Wir brauchen irgendeine rationale Vorgehensweise, die all diese Einsichten und bedrückenden Erfahrungen berücksichtigt.«
Dicken runzelte konzentriert die Stirn. »Mark sieht nur die medizinische Realität. Und politisch herrscht keine Einigkeit«, fügte er leise hinzu. »Wir leben in einer gefährlichen Zeit.«
»Das ist noch milde ausgedrückt«, sagte Meeker. »Christopher, nach meinem Dafürhalten ist das Weiße Haus gelähmt. Wenn du etwas tust, bist du der Buhmann, und wenn du nichts tust und die Dinge laufen lässt, bis du erst recht der Buhmann.«
»In Maryland beteiligt sich sogar schon der Gouverneur höchstpersönlich an dem so genannten nationalen Gesundheitsaufstand«, bemerkte House. »Bei den religiösen Rechten hab’ ich noch nie einen derart glühenden Eifer erlebt.«
»Es sind nicht nur die Christen, eigentlich ist es die ganze Basis der Gesellschaft«, sagte Bao. »Die chinesische Gemeinschaft ist in Deckung gegangen, und das mit gutem Grund. Der blinde Fanatismus ist auf dem Vormarsch. Wir sind dabei, wieder in verängstigte, unglückliche Volksstämme zu zerfallen, Christopher.«
Dicken starrte auf die Tischplatte und blickte dann zu den Zahlen auf der Schreibtafel. Eines seiner Augenlider zuckte vor Müdigkeit. »Es quält uns alle«, sagte er. »Es quält Mark, und es quält mich.«
»Ich bezweifle, dass es Mark genauso quält wie die Mütter«, sagte Bao leise.
»Ich bin ein ungebildeter Mensch, und vieles verstehe ich nicht«, sagte Sam. Er stützte sich auf den Jägerzaun, der die eineinhalb Hektar Land umgab, das zweistöckige hölzerne Farmhaus, die alte, halb verfallene Scheune, den Geräteschuppen aus Ziegelsteinen.
Mitch steckte die freie Hand in die Tasche und stellte mit der anderen eine Dose Bier auf den von Flechten grauen Zaunpfahl. Eine schwerfällige, schwarzweiße Kuh, die auf einem Teil der fünf Hektar des Nachbarn graste, sah sie nahezu ohne Neugier an.
»Wie lange kennst du diese Frau? Erst zwei Wochen?«
»Etwas über einen Monat.«
»Ganz schön stürmische Affäre!«
Mitch stimmte mit verlegenem Blick zu.
»Warum so eilig? Warum will jemand ausgerechnet in der heutigen Zeit unbedingt schwanger werden? Deine Mutter hat die Hitzewallungen schon vor zehn Jahren hinter sich gebracht, aber seit der Herodes-Grippe ziert sie sich, wenn ich sie anfassen will.«
»Kaye ist anders«, sagte Mitch, als müsse er etwas beichten. Sie waren heute Nachmittag auf dem Umweg über viele andere Themen auf diese Frage zu sprechen gekommen. Am schwierigsten war für Mitch das Geständnis gewesen, dass er sich gegenwärtig nicht mehr um eine Stelle bemühte und sie vor allem von Kayes Geld leben würden. Das fand Sam völlig unbegreiflich.
»Wo bleibt denn da die Selbstachtung?«, hatte er gefragt. Kurz darauf hatten sie das Thema fallen lassen und sich wieder über die Vorgänge in Österreich unterhalten.
Mitch hatte erzählt, wie er im Haus von Daney mit Brock zusammengetroffen war, und darüber hatte Sam sich köstlich amüsiert. »Da sind die Wissenschaftler baff«, war sein trockener Kommentar gewesen. Als sie schließlich über Kaye sprachen, die sich immer noch in der Küche mit Mitchs Mutter Abby unterhielt, hatte sich Sams Verwunderung zu Gereiztheit und dann zu richtiger Verärgerung gesteigert.
»Vielleicht bin ich abgrundtief dumm, das gebe ich ja zu«, sagte Sam, »aber ist es nicht verdammt gefährlich, so was gerade jetzt absichtlich zu machen?«
»Könnte sein«, räumte Mitch ein.
»Aber um Himmels willen, warum warst du dann einverstanden?«
»Das ist nicht ohne weiteres zu beantworten«, sagte Mitch. »Erstens glaube ich, dass sie Recht haben könnte. Das heißt, ich glaube, sie hat Recht. Gerade jetzt werden wir ein gesundes Baby bekommen.«
»Aber du bist im Test positiv, sie ist positiv«, sagte Sam und starrte ihn an. Seine Hände umklammerten den Zaun. »Stimmt.«
»Sag’ mir, wenn ich Unrecht habe, aber es hat doch noch nie eine Frau mit positivem Test ein gesundes Kind zur Welt gebracht.«
»Bisher nicht«, bestätigte Mitch. »Verdammt schlechte Aussichten.«
»Sie ist diejenige, die dieses Virus entdeckt hat«, sagte Mitch.
»Sie weiß darüber mehr als jeder andere, und sie ist überzeugt …«
»Dass alle anderen sich irren?«
»Dass wir unsere Denkweise in den nächsten Jahren ändern müssen.«
»Ist sie demnach verrückt oder nur eine Fanatikerin?« Mitch runzelte die Stirn. »Vorsicht, Dad«, sagte er. Sam streckte die Hände in die Luft. »Um Himmels Willen, Mitch, ich fliege extra nach Österreich, das erste Mal, dass ich überhaupt in Europa bin, und dann auch noch ohne deine Mutter. Ich hole meinen Sohn aus dem Krankenhaus, nachdem er … na ja, das hatten wir alles schon. Aber warum nimmst du diesen Kummer auf dich, warum gehst du um Gottes Willen dieses Risiko ein? Das frage ich mich wirklich.«
»Seit ihr erster Mann gestorben ist, war sie fast übereifrig darauf bedacht, nach vorn zu blicken und alles in positivem Licht zu sehen«, sagte Mitch. »Ich kann nicht behaupten, dass ich sie verstehe, Dad, aber ich liebe sie. Ich vertraue ihr. Irgendetwas in mir sagt, dass sie Recht hat, sonst hätte ich nicht mitgemacht.«
»Du meinst, sonst hättest du dich nicht gefügt.« Sani sah die Kuh an und wischte sich an der Hose den Flechtenstaub von den Händen. »Und was ist, wenn ihr beide Unrecht habt?«
»Wir wissen über die Konsequenzen Bescheid. Wir werden damit leben«, erwiderte Mitch. »Aber wir haben nicht Unrecht. Dieses Mal nicht, Dad.«
»Ich habe gelesen, so viel ich konnte«, sagte Abby Rafelson. »Es ist ganz schön verwirrend, diese vielen Viren.« Die Nachmittagssonne fiel durch das Küchenfenster und warf gelbe Rauten auf den unbehandelten Eichenfußboden. In der Küche roch es nach Kaffee — zu viel Kaffee, dachte Kaye, deren Nerven blank lagen — und Hackfleischpasteten, die sie mittags gegessen hatten, bevor die Männer ihren Spaziergang machten.
Mitchs Mutter hatte sich ihre Schönheit über den sechzigsten Geburtstag hinaus erhalten, eine gebieterische Art des guten Aussehens, für das hohe Wangenknochen, tief liegende blaue Augen und makellose Körperpflege sorgten.
»Gerade diese Viren sind schon sehr lange unsere Begleiter«, sagte Kaye. Sie hatte ein Bild des fünfjährigen Mitch in der Hand, der auf einem Dreirad am Flussufer des Willamette in Portland entlang fuhr. Er wirkte konzentriert und hatte die Kamera offenbar vergessen; irgendwie erkannte sie den gleichen Gesichtsausdruck wieder, den er beim Autofahren oder Zeitunglesen hatte.
»Wie lange?«, wollte Abby wissen.
»Vielleicht seit zigmillionen Jahren.« Kaye nahm ein anderes Bild von dem Stapel auf dem Couchtisch. Es zeigte Mitch und Sam, die Holz auf einen Lastwagen luden. Nach der Größe und den dünnen Armen und Beinen zu urteilen, war Mitch damals zehn oder elf gewesen.
»Was haben sie denn ursprünglich getan? Irgendwie verstehe ich das nicht.«
»Sie könnten uns über die Geschlechtszellen infiziert haben, die Ei- und Samenzellen. Und dann haben sie sich festgesetzt. Sie sind mutiert oder durch irgendetwas inaktiviert worden oder … wir haben sie für unsere Zwecke genutzt. Haben einen Weg gefunden, sie in unsere Dienste zu stellen.« Kay blickte von dem Bild auf.
Abby starrte sie entgeistert an. »Ei- oder Samenzellen?«
»Eierstöcke, Hoden«, sagte Kaye und senkte den Blick wieder.
»Und was hat bewirkt, dass sie jetzt wieder rauskommen?«
»Irgendetwas in unserem Alltagsleben«, erwiderte Kaye. »Stress vielleicht.«
Abby dachte kurz nach. »Ich habe einen Collegeabschluss in Leibeserziehung. Hat Mitch Ihnen das erzählt?«
Kaye nickte. »Er hat gesagt, Sie hätten Biochemie als Nebenfach gehabt. Ein paar vorklinische Praktika.«
»Ja, na ja, mit Ihnen kann ich natürlich nicht mithalten. Aber es war mehr als genug, um an meiner religiösen Erziehung zu zweifeln. Ich weiß nicht, was meine Mutter gesagt hätte, wenn sie etwas von diesen Viren in unseren Geschlechtszellen gewusst hätte.«
Abby lächelte Kaye an und schüttelte den Kopf. »Vielleicht hätte sie von der Erbsünde geredet.«
Kaye sah Abby an und suchte nach einer Antwort. »Das ist ja interessant«, brachte sie gerade noch heraus. Warum der Gedanke sie so beunruhigte, wusste sie nicht, aber das irritierte sie nur noch mehr. Sie fühlte sich durch diese Vorstellung bedroht.
»Die Gräber in Russland«, sagte Abby leise. »Vielleicht haben die Nachbarn der Mütter ja auch gedacht, es sei ein Ausbruch der Erbsünde.«
»Ich glaube nicht, dass es das ist«, erwiderte Kaye.
»Ach, ich glaube es auch nicht«, stimmte Abby zu. Sie richtete ihre prüfenden blauen Augen beunruhigt und mit durchdringendem Blick auf Kaye. »Bei allem, was mit Sex zu tun hat, war mir nie ganz wohl. Sam ist ein zärtlicher Mann, der einzige, bei dem ich jemals leidenschaftliche Gefühle hatte. Allerdings war er nicht der einzige, den ich mir ins Bett geholt habe. Meine Erziehung … war in der Hinsicht nicht die beste. Nicht die klügste. Mit Mitch habe ich nie über Sex geredet. Oder über Liebe. Ich hatte den Eindruck, er würde da gut allein zurechtkommen, so hübsch und schlau wie er ist.« Abby legte ihre Hand auf die von Kaye. »Hat er Ihnen erzählt, dass seine Mutter eine prüde alte Schachtel ist?« Sie sah so verzweifelt, traurig und einsam aus, dass Kaye ihre Hand festhielt und sie mit einem Lächeln, das beruhigend wirken sollte, ansah.
»Er hat mir erzählt, dass Sie eine großartige, fürsorgliche Mutter waren«, sagte Kaye, »und dass er Ihr einziger Sohn war, und dass sie mich ausquetschen würden wie eine Zitrone.« Sie drückte Abbys Hand noch fester.
Abby lachte, und irgendwie wich die Spannung zwischen ihnen.
»Er hat mir gesagt, dass Sie dickköpfiger und klüger sind als alle anderen Frauen, die er kennt, und dass Sie sich um so vieles gekümmert haben. Er hat gesagt, ich täte gut daran, Sie zu mögen, sonst müsste er ein ernstes Wörtchen mit mir reden.«
Kaye starrte sie bestürzt an. »Das hat er nicht!«
»Oh doch«, sagte Abby feierlich. »Die Männer in dieser Familie nehmen kein Blatt vor den Mund. Ich habe ihm gesagt, ich würde mir große Mühe geben, mit Ihnen zurechtzukommen.«
»Du liebe Güte!«, rief Kaye mit ungläubigem Lachen.
»Genau«, sagte Abby. »Er war sehr abwehrend. Aber er kennt mich. Er weiß, dass auch ich kein Blatt vor den Mund nehme. Wo jetzt überall die Erbsünde auftaucht, stehen uns bestimmt eine Menge Veränderungen bevor. Im Umgang zwischen Männern und Frauen wird vieles anders sein als früher, glauben Sie nicht auch?«
»Da bin ich sicher«, sagte Kaye.
»Bitte gib dir alle Mühe, mein Liebes, meine neue Tochter, damit Mitch einen Ort der Liebe, der Zärtlichkeit und der Geborgenheit hat. Er wirkt stark und zäh, aber in Wirklichkeit sind Männer sehr empfindlich. Lass’ nicht zu, dass die ganzen Dinge euch spalten oder ihn verletzen. Ich will von dem Mitch, den ich kenne und liebe, so viel wie möglich behalten, und zwar so lange wie möglich. Für mich ist er immer noch ein Junge. Und ich hänge sehr an ihm.« Sie hatte Tränen in den Augen, und während Kaye ihre Hand hielt, wurde ihr klar, dass sie ihre eigene Mutter seit vielen Jahren schmerzlich vermisste. Sie hatte nur erfolglos versucht, solche Gefühle zu verdrängen.
»Als Mitch geboren wurde, das war schwierig«, sagte Abby. »Die Wehen haben vier Tage gedauert. Mein erstes Kind, ich dachte mir schon, dass die Entbindung schwer werden würde, aber so schwer … Schade, dass wir nicht noch mehr hatten … aber nur in mancher Hinsicht. Heute hätte ich entsetzliche Angst. Ich habe entsetzliche Angst, obwohl es zwischen Sam und mir nichts gibt, worum wir uns Sorgen machen müssten.«
»Ich werde mich gut um Mitch kümmern«, sagte Kaye.
»Es sind grässliche Zeiten«, erklärte Abby. »Irgendwann wird jemand ein Buch darüber schreiben. Ein großes, dickes Buch. Ich hoffe nur, es hat ein Happy End.«
Als die vier abends zusammen beim Essen saßen, war die Unterhaltung angenehm, locker und wenig tief greifend. Die Luft war klar und alle Probleme erschienen wie weggewaschen. Kaye schlief bei Mitch in seinem alten Zimmer, ein Zeichen für Abbys Billigung oder für Mitchs Durchsetzungsvermögen oder beides.
Es war seit vielen Jahren das erste Mal, dass sie eine richtige Familie kennen lernte. Als sie daran dachte, während sie neben Mitch in dem viel zu schmalen Bett lag, erlebte sie ihrerseits einen Augenblick der glücklichen Tränen.
In Eugene, wo sie nicht weit von einem Drugstore zum Tanken gehalten hatten, hatte sie sich einen Schwangerschaftstest besorgt.
Und um sich selbst das Gefühl zu vermitteln, dass sie in dieser so gewaltig aus dem Tritt geratenen Welt eine ganz normale Entscheidung traf, war sie in derselben kleinen Einkaufsstraße in eine Buchhandlung gegangen und hatte einen Erziehungsratgeber gekauft. Sie hatte Mitch das Taschenbuch gezeigt, und er hatte gegrinst. Von dem Schwangerschaftstest hatte sie nichts gesagt.
»Das alles ist so normal«, murmelte sie, während Mitch leise schnarchte. »Was wir tun, ist so natürlich und normal, bitte, lieber Gott.«
Auf dem Weg durch Portland saß Kaye am Steuer; Mitch schlief.
Sie fuhren über die Brücke in den Staat Washington, durchquerten ein kleines Regengebiet und hatten dann wieder strahlenden Sonnenschein. Kaye bog in eine Seitenstraße ein, und sie aßen in einem kleinen Restaurant zu Mittag. Der Ort in der Nähe trug einen Namen, den sie noch nie gehört hatten. Auf den Straßen war es ruhig; es war Sonntag.
Auf dem Parkplatz machten sie einen kurzen Mittagsschlaf, und Kaye lehnte den Kopf an Mitchs Schulter. Die Luft war träge, und die Sonne schien ihr warm auf Haare und Gesicht. Vögel sangen.
Die Wolken wanderten in regelmäßigen Reihen von Süden heran und bedeckten schon bald den ganzen Himmel, aber es war immer noch mild.
Nach der Rast fuhr Kaye durch Tacoma; für den restlichen Weg bis nach Seattle übernahm Mitch wieder das Steuer. Als sie die Innenstadt durchquert und das über die Autobahn gebaute Konferenzzentrum passiert hatten, fürchtete Mitch sich plötzlich davor, Kaye sofort in seine Wohnung mitzunehmen.
»Möchtest du erst etwas von der Stadt sehen, bevor wir uns häuslich niederlassen?«, fragte er.
Kaye lächelte. »Wieso? Ist deine Wohnung nicht aufgeräumt?«
»Da ist alles in Ordnung«, erwiderte er, »sie ist nur vielleicht nicht das …« Er schüttelte den Kopf.
»Keine Sorge. Ich bin nicht in der richtigen Stimmung für Kritik. Aber ich würde mich sehr gern ein bisschen umsehen.«
»Es gibt eine Stelle, wo ich oft hingegangen bin, wenn ich nicht bei Grabungen war …«
Der Gasworks Park erstreckte sich über eine grasbewachsene Landzunge oberhalb des Lake Union. Man hatte die Überreste eines alten Gaswerkes und anderer Fabrikgebäude saniert, in bunten Farben gestrichen und das Gelände in einen öffentlichen Park umgewandelt. Die hohen Gasbehälter sowie die zugehörigen Fußwege und Rohrleitungen waren jedoch nicht gestrichen worden, sondern rosteten hinter einem Zaun vor sich hin.
Mitch nahm Kaye an der Hand und zeigte ihr vom Parkplatz den Weg. Sie fand den Park ziemlich hässlich und das Gras ein wenig spärlich, aber Mitch zuliebe sagte sie nichts.
Sie setzten sich neben dem Maschendrahtzaun auf die Wiese und sahen zu, wie auf dem Lake Union die PassagierWasserflugzeuge landeten. Ein paar einsame Frauen und Männer, aber auch Mütter mit Kindern spazierten zu dem Spielplatz neben den Fabrikgebäuden. Mitch sagte, der Park sei für einen sonnigen Sonntag schlecht besucht.
»Die Leute meiden Menschenansammlungen«, erwiderte Kaye, aber noch während sie sprach, bogen Reisebusse auf den Parkplatz ein und hielten an Stellen, die durch Seile abgegrenzt waren.
»Da ist etwas im Busch«, sagte Mitch und reckte den Hals.
»Und nicht etwas, das du für mich arrangiert hast?«, fragte sie leichthin.
»Nee«, erwiderte Mitch lächelnd. »Aber vielleicht kann ich mich nach dieser Nacht auch bloß nicht mehr daran erinnern.«
»Das sagst du jedes Mal.« Kaye gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund und verfolgte mit den Blicken erst ein Segelboot auf dem See, dann einen Windsurfer im Neoprenanzug.
»Acht Busse«, sagte Mitch. »Seltsam.«
Kayes Periode war seit drei Tagen überfällig. Zuvor war sie regelmäßig gekommen, seit sie nach Sauls Tod die Pille abgesetzt hatte.
Es bereitete ihr eine bohrende Unruhe. Wenn sie sich überlegte, worauf sie sich eingelassen hatte, bekam sie Zähneklappern. So schnell. Altmodische Romanze. Bergab, unaufhaltsam. Immer schneller.
Sie hatte es Mitch noch nicht gesagt — es hätte ja falscher Alarm sein können.
Sobald sie zu genau nachdachte, fühlte sie sich losgelöst von ihrem Körper. Wenn sie sich über die bohrende Unruhe hinwegsetzte und nur ihren Empfindungen nachspürte, dem natürlichen Zustand der Gewebe, Zellen und Gefühle, ging es ihr gut; der Zusammenhang, die Folgerungen, das Wissen sorgten dafür, dass sie sich nicht einfach wohl und verliebt fühlen konnte.
Sie wusste zu viel und doch nicht genug — deshalb war es so schwierig.
Normal.
»Zehn Busse, huch, elf«, sagte Mitch. »Riesenmenge.« Er streichelte sie seitlich am Hals. »Ich weiß nicht, ob mir das so recht ist.«
»Es ist dein Park«, erwiderte Kaye. »Ich möchte ein bisschen hier bleiben. Es ist schön.« Die Sonne warf helle Flecken auf die Wiese, die rostigen Gasbehälter leuchteten in dunklem Orange.
Von den Bussen gingen Dutzende von Männern und Frauen in erdfarbener Kleidung den Hügel hinauf. Sie hatten offensichtlich keine Eile. Vier Frauen trugen einen hölzernen Ring von etwa einem Meter Durchmesser, ein paar Männer schoben einen Karren mit einem langen Mast.
Kaye runzelte die Stirn und musste dann kichern. »Die machen etwas mit einer Yoni und einem Lingam«, sagte sie leise.
Mitch betrachtete die Prozession. »Vielleicht ist es ein riesiges Ringwurfspiel«, sagte er. »Hufeisenwerfen oder so was.«
»Meinst du wirklich?«, fragte Kaye in dem ungezwungenen, unkritischen Ton, den er dennoch sofort als unverhüllten Widerspruch erkannte.
»Nein«, sagte er und schlug sich mit der Handfläche gegen die Schläfe. »Wieso habe ich es nicht gleich gesehen? Es ist eine Yoni und ein Lingam.«
»Und du willst Anthropologe sein?«, fragte sie, wobei sie die Silben ein wenig in die Länge zog. Sie erhob sich auf die Knie und schützte die Augen mit der Hand vor der Sonne. »Sehen wir es uns mal an.«
»Und wenn wir nicht erwünscht sind?«
»Ich glaube nicht, dass es eine geschlossene Gesellschaft ist«, erwiderte sie.
Dicken ging durch die Sicherheitskontrolle — Abtasten, Metalldetektor, chemische Sonde — und betrat das Weiße Haus durch den so genannten Diplomateneingang. Ein junger Marineinfanterist brachte ihn sofort in ein großes Besprechungszimmer im Keller.
Die Klimaanlage lief auf vollen Touren, und im Vergleich zu den feuchten dreißig Grad draußen war es hier kalt wie in einem Kühlschrank.
Dicken war als Erster eingetroffen. Abgesehen von dem jungen Soldaten und einem Bediensteten, der den langen, ovalen Konferenztisch deckte — Flaschen mit EvianWasser, Schreibblöcke und Kugelschreiber —, war er allein. Er setzte sich in einen der Sessel an der Wand, die für die Assistenten reserviert waren. Der Bedienstete fragte ihn, ob er etwas zu trinken haben wollte — Cola oder ein Glas Saft. »In ein paar Minuten kommt auch der Kaffee.«
»Cola wäre toll«, sagte Dicken.
»Gerade eingeflogen?«
»Gefahren. Von Bethesda.«
»Heute Nachmittag gibt’s schlechtes Wetter«, sagte der Bedienstete. »Gewitter gegen fünf Uhr, sagen die Wetterfrösche von Andrews. Wir haben hier die besten Wetterberichte.« Er zwinkerte und lächelte, ging dann hinaus und kam nach ein paar Minuten mit Cola und einem Glas zerstoßenem Eis wieder.
Zehn Minuten später füllte sich der Saal. Dicken erkannte die Gouverneure von New Mexico, Alabama und Maryland, begleitet von einer kleinen Assistentengruppe. Der Raum würde gleich den harten Kern der so genannten Gouverneursrevolte beherbergen, die der Taskforce mittlerweile überall im Land die Hölle heiß machte.
Und genau hier, im Keller des Weißen Hauses, würde Augustine seine große Stunde haben. Er hatte vor, zehn Gouverneure, davon sieben aus sehr konservativen Bundesstaaten, von seiner Ansicht zu überzeugen: Danach bestand die einzig humane Vorgehensweise darin, den Frauen die ganze Palette der Abtreibungsmethoden zugänglich zu machen.
Dass sein Vortrag Zustimmung oder auch nur höflichen Widerspruch ernten würde, bezweifelte Dicken stark.
Augustine kam ein paar Minuten später, begleitet vom Verbindungsmann zwischen Weißem Haus und Taskforce sowie dem Stabschef. Er stellte seine Aktentasche auf den Tisch und ging zu Dicken hinüber. Seine Schuhe klapperten auf dem Fliesenfußboden.
»Neue Munition?«, fragte er.
»Eine Schlappe«, sagte Dicken leise. »Von den Gesundheitsorganisationen, die wir befragt haben, glaubt keine mehr, dass wir die Sache unter Kontrolle bringen können. Sie glauben, dass auch der Präsident das Problem nicht mehr im Griff hat.«
Die Falten in Augustines Augenwinkeln wurden tiefer. Seine Krähenfüße hatten sich während des letzten Jahres deutlich verstärkt, und seine Haare waren grau geworden. »Ich nehme an, die machen es jetzt selbst — mit Lösungen von der Basis her?«
»Sie sehen keine andere Möglichkeit. Die American Medical Association und die meisten Unterorganisationen der NIH haben uns ihre Unterstützung entzogen, wenn nicht offiziell, dann zumindest stillschweigend.«
»Na ja«, sagte Augustine leise, »wir können ihnen mit Sicherheit nichts bieten, was sie wieder ins Boot holen würde — jedenfalls noch nicht.« Er nahm eine Tasse Kaffee von dem Bediensteten.
»Vielleicht sollten wir einfach nach Hause gehen und alle anderen allein werkeln lassen.«
Augustine drehte sich um und sah zu, wie drei weitere Senatoren den Raum betraten. Nach ihnen kamen Shawbeck und der Gesundheitsminister. »Da kommen die Löwen, gefolgt von den Christen«, sagte er. »Anders sollte es auch nicht sein.« Bevor er sich umwandte, um sich am anderen Ende des Tisches auf einen der drei nicht mit einem Fähnchen markierten Stühle zu setzen, sagte er sehr leise: »Der Präsident hat zwei Stunden mit Alabama und Maryland gesprochen, Christopher. Sie haben sich dafür eingesetzt, dass er seine Entscheidung hinauszögert. Ich glaube, er will das nicht. In den letzten sechs Wochen wurden fünfzehntausend schwangere Frauen ermordet. Fünfzehntausend, Christopher!«
Dicken hatte die Zahl schon mehrere Male gelesen.
»Wir sollten uns niederknien und uns den Tritt in den Hintern abholen«, murmelte Augustine.
Mitch schätzte die Menge, die sich den Hügel hinaufbewegte, auf mindestens sechshundert Menschen. Ein paar Dutzend Zuschauer folgten der entschlossenen Gruppe mit dem Ring und dem Holzpfahl.
Kay griff nach seiner Hand. »Ist das eine Spezialität von Seattle?«, fragte sie und zog ihn hinter sich her. Die Vorstellung von einem Fruchtbarkeitsritual faszinierte sie.
»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Mitch. Seit San Diego ließen große Menschenmassen ihn erschaudern.
Oben auf der Landzunge stellten Kaye und Mitch sich an den Rand einer großen, flachen Sonnenuhr, die etwa zehn Meter Durchmesser hatte. Sie bestand aus einem bronzenen Flachrelief mit astrologischen Bildern, Zahlen, ausgestreckten Händen und Kalligrafiebuchstaben für die vier Himmelsrichtungen. Vervollständigt wurde der Kranz durch Keramik, Glas und farbigen Beton.
Mitch zeigte ihr, wie man als Besucher zum Zeiger der Sonnenuhr wurde, wenn man sich zwischen die parallelen Reihen mit den Jahreszeiten und Datumsangaben stellte. Nach ihrer Schätzung war es zwei Uhr nachmittags.
»Wunderschön«, sagte sie. »Irgendwie ein heidnischer Ort, findest du nicht?« Mitch nickte, den Blick auf die wandernde Menschenmenge gerichtet.
Mehrere Männer und Jungen, die Drachen steigen ließen, gaben den Weg frei. Sie zogen an ihren Leinen und spulten sie auf, während die Gruppe auf den Hügel stieg. Die drei Frauen, die jetzt den Ring trugen, schwitzten unter der Last. In der Mitte der Sonnenuhr legten sie ihn vorsichtig ab. Daneben standen zwei Männer mit dem Pfahl und warteten darauf, ihn ebenfalls zu platzieren.
Fünf ältere Frauen in hellgelben Mänteln gingen mit gefalteten Händen in den Kreis, lächelten würdig und stellten sich um den Ring in der Mitte der Windrose auf. Die Gruppe war mucksmäuschenstill.
Kaye und Mitch stiegen am Südabhang des Hügels hinunter, der den Lake Union überblickte. Mitch spürte leichten Wind aus Süden und sah, wie über der Innenstadt von Seattle ein paar Wolkenbänke aufzogen. Die Luft war wie Wein — rein und süß, mit einer Temperatur von knapp über zwanzig Grad. Schatten der Wolken wanderten dramatisch über den Hügel. »Zu viele Menschen«, sagte Mitch zu Kaye. »Bleiben wir mal hier und sehen, was die vorhaben«, erwiderte sie.
Die Menge rückte eng zusammen und bildete konzentrische Kreise. Alle hatten sich an den Händen gefasst. Höflich baten sie Kaye und Mitch, ein Stück den Hügel hinunterzugehen, bis sie ihre Zeremonie beendet hatten.
»Sie können gern von unten aus zusehen«, sagte eine korpulente junge Frau im grünen Hemd zu Kaye. Über Mitch sah sie demonstrativ hinweg. Ihre Blicke schienen an ihm vorbei und durch ihn hindurch zu wandern.
Die einzigen Geräusche, die von der Versammlung ausgingen, waren das Rascheln der Mäntel und die Schritte der Sandalen auf dem Gras und dem Relief der Sonnenuhr.
Mitch steckte die Hände in die Hosentaschen und zog die Schultern ein.
Die Gouverneure setzten sich um den Tisch und beugten sich nach rechts oder links, um sich flüsternd mit ihren Assistenten oder Kollegen zu beraten. Shawbeck blieb stehen, die Hände vor sich verschränkt. Augustine hatte den Tisch zu einem Viertel umrundet und unterhielt sich mit dem Gouverneur von Kalifornien.
Dicken versuchte, das Rätsel der Sitzordnung zu lösen, und stellte schließlich fest, dass jemand damit einen klugen Plan verfolgte.
Man hatte die Gouverneure nicht nach Dienstalter oder Einfluss gesetzt, sondern nach der geographischen Lage ihrer Staaten. Kalifornien war auf der Westseite des Tisches vertreten, und der Gouverneur von Alabama saß fast am hinteren Ende des Raumes im südöstlichen Viertel. Augustine, Shawbeck und der Minister hatten in der Nähe des Präsidentenstuhles Platz genommen.
Das, so Dickens Vermutung, hatte etwas zu bedeuten. Vielleicht würden sie tatsächlich in den sauren Apfel beißen und die Umsetzung von Augustines Vorschlägen empfehlen.
Dicken war sich alles andere als sicher, was er davon halten sollte. Er hatte Vorträge über die Kosten für die medizinische Versorgung der Sekundärkinder gehört, die eventuell länger überleben würden. Ebenso hatte er gehört, was es kosten würde, wenn die Vereinigten Staaten eine ganze Kindergeneration verloren.
An der Tür stand der Verbindungsbeamte für Gesundheitsfragen. »Meine Damen und Herren, der Präsident der Vereinigten Staaten.«
Alle erhoben sich. Am langsamsten kam der Gouverneur von Alabama von seinem Stuhl hoch. Dicken erkannte, dass sein Gesicht feucht war, vermutlich von der Hitze draußen. Allerdings hatte Augustine ihm erzählt, dass der Gouverneur während der beiden letzten Stunden mit dem Präsidenten gesprochen hatte.
Ein Sicherheitsbeamter in Blazer und Golfhemd ging an Dicken vorüber und sah ihn mit jener unbewegten Präzision an, die er längst gewohnt war. Der Präsident, groß und mit der berühmten weißen Mähne, betrat den Raum als Erster. Er wirkte konzentriert, aber ein wenig müde. Dennoch war Dicken von der Macht, die er aufgrund seines Amtes ausstrahlte, überwältigt; er freute sich, dass der Präsident in seine Richtung blickte, ihn erkannte und ihm im Vorübergehen würdevoll zunickte.
Der Gouverneur von Alabama schob seinen Stuhl zurück. Die hölzernen Stuhlbeine schabten über den Fußboden. »Herr Präsident«, sagte der Gouverneur viel zu laut. Der Präsident blieb stehen, um mit ihm zu sprechen; der Gouverneur trat zwei Schritte vor.
Zwei Leibwächter sahen einander an und fuhren herum, um vorsichtig einzugreifen.
»Ich liebe mein Amt, und ich liebe unser großartiges Land, Sir«, erklärte der Gouverneur und schlang die Arme um den Präsidenten, als wollte er ihn in Schutz nehmen.
Der Gouverneur von Florida, der daneben stand, schnitt eine Grimasse und schüttelte peinlich berührt den Kopf.
Die Leibwächter waren keinen Meter entfernt.
Ach, dachte Dicken. Mehr nicht; nur das leere, ahnungsvolle Bewusstsein, in der Zeit zu schweben, der noch unhörbare Pfiff einer Lokomotive, eine noch nicht angezogene Bremse, ein Arm, der sich bewegen will und nur nutzlos am Körper hängt.
Ihm fiel ein, dass er vielleicht Platz machen sollte.
Der blonde junge Mann im schwarzen Mantel trug eine grüne Chirurgenmaske und hielt den Blick gesenkt, während er den Hügel hinauf zu der Windrose ging. Er wurde von drei braun und grün gekleideten Frauen begleitet und trug einen kleinen braunen Stoffbeutel, der mit einer goldenen Schnur zugebunden war. Seine schütteren, fast weißen Haare flatterten im Wind, der auf dem Hügel allmählich auffrischte.
Die Kreise der Männer und Frauen öffneten sich, ließen ihn durch.
Mitch beobachtete das Ganze mit verblüffter Miene. Kaye stand mit verschränkten Armen neben ihm. »Was haben die vor?«, fragte er.
»Eine Art Zeremonie«, erwiderte Kaye.
»Ein Fruchtbarkeitsritual?«
»Warum nicht?«
Mitch grübelte. »Buße«, sagte er. »Es sind mehr Frauen als Männer.«
»Etwa drei zu eins«, bestätigte Kaye.
»Die meisten Männer sind schon älter.«
»QTips.«
»Wie bitte?«
»So nennen jüngere Frauen die Männer, die ihre Väter sein könnten«, erklärte Kaye. »Beispielsweise den Präsidenten.«
»Das ist eine Beleidigung«, sagte Mitch.
»Aber es stimmt«, erwiderte Kaye. »Gib mir nicht die Schuld daran.«
Als die Menge sich wieder zusammendrängte, verschwand der Mann aus ihrem Blickfeld.
Eine große, brennende Hand packte Christopher Dicken und schleuderte ihn nach hinten an die Wand. Sie zerschmetterte seine Trommelfelle und drückte ihm den Brustkorb zusammen. Dann zog sie sich zurück, und er sackte auf den Fußboden. Zuckend öffneten sich seine Augen. Er sah Flammen, die in konzentrischen Kreisen an der zerborstenen Decke entlang liefen, und Fliesen, die durch das Feuer fielen. Er war von Blut und Fleischfetzen bedeckt.
Weißer Rauch und Hitze brannten ihm in den Augen, sodass er sie schließen musste. Er konnte nicht atmen, konnte nicht hören, konnte sich nicht bewegen.
Leise und monoton begann der Gesang. »Gehen wir«, sagte Mitch zu Kaye.
Sie blickte zurück zu der Menge. Jetzt hatte auch sie den Eindruck, dass etwas nicht stimmte. Ihre Nackenhaare sträubten sich.
»Na gut«, sagte sie.
Sie schlugen auf einem Fußweg einen Bogen und stiegen dann am nördlichen Abhang den Hügel hinunter. Dabei kamen sie an einem Mann und seinem Sohn vorüber; der Junge, fünf oder sechs Jahre alt, hielt einen Drachen in seinen kleinen Händen. Kaye bemerkte die eleganten Mandelaugen des Kleinen, seinen länglichen, kurz geschorenen Kopf, der ägyptisch aussah wie eine wunderschöne, wieder zum Leben erweckte antike Ebenholzstatue, und dachte: Was für ein schönes, gesundes Kind. Was für ein schöner kleiner Junge.
Ihr fiel das kleine Mädchen ein, das in Gordi am Straßenrand gestanden hatte, als die UNKarawane die Stadt verließ; sie hatte ganz anders ausgesehen und bei ihr dennoch ganz ähnliche Gedanken geweckt.
Gerade als sie nach Mitchs Hand griff, begann das Sirenengeheul. Sie blickten nach Norden zum Parkplatz und sahen fünf Polizeiwagen, die quietschend zum Stehen kamen. Die Türen gingen auf, Polizisten stiegen aus, rannten zwischen den geparkten Autos hindurch und über die Wiese den Hügel hinauf.
»Sieh mal«, sagte Mitch und zeigte auf einen einsamen Mann mittleren Alters in Shorts und Sweatshirt, der in ein Handy sprach. Der Mann sah verängstigt aus. »Was ist denn jetzt los?«, fragte Kaye.
Die monotonen Gebete waren lauter geworden. Drei Polizisten rannten an Kaye und Mitch vorüber, die Pistolen noch im Halfter, aber einer hatte den Schlagstock gezogen. Sie drängten sich zwischen den äußeren Menschenkreisen hindurch zum Gipfel des Hügels.
Frauen schrien ihnen Schimpfworte entgegen. Sie kämpften mit den Polizisten, schlugen, traten, kratzten, versuchten sie zurückzuhalten.
Kaye konnte nicht fassen, was sie hier sah und hörte. Zwei Frauen sprangen auf einen der Männer zu und überschütteten ihn mit obszönen Worten.
Der Polizist mit dem Schlagstock setzte die Waffe jetzt ein, um seine Kollegen zu schützen. Kaye hörte das Übelkeit erregende Klatschen von schwerem Kunststoff auf Fleisch und Knochen.
Sie wollte wieder den Hügel hinaufgehen, aber Mitch hielt sie am Arm fest.
Immer mehr Polizisten stürzten sich schlagstockschwingend in die Menge. Der Gesang erstarb. Die Menge schien jeden Zusammenhalt zu verlieren. Frauen in langen Mänteln lösten sich aus der Masse, die Hände vor Wut und Angst vor das Gesicht geschlagen, schreiend, weinend, die Stimmen schrill und panisch. Manche brachen zusammen und trommelten mit den Fäusten auf das spärliche gelbe Gras. Aus ihren Mündern sickerte der Speichel.
Ein Mannschaftswagen der Polizei raste mit jaulendem Motor über den Bordstein und die Wiese. Zwei Polizistinnen sprangen heraus und mischten sich unter die Meute.
Mitch zog Kaye die Anhöhe hinunter; schließlich waren sie unten, den Blick immer noch auf die Menschen gerichtet, die sich um die Sonnenuhr drängten. Zwei Polizisten schoben sich mit dem jungen Mann in Schwarz durch die Menge. Er hatte rote, tropfende Schnittwunden an Hals und Händen. Eine Polizistin verlangte über ihr Funkgerät nach einem Krankenwagen. Sie ging wenige Meter an Mitch und Kaye vorüber, das Gesicht bleich und die Lippen gerötet vor Wut.
»Verdammt noch mal«, schrie sie den Umstehenden zu, »warum haben Sie nicht versucht, das zu verhindern?«
Weder Kaye noch Mitch wussten eine Antwort.
Der junge Mann mit dem schwarzen Mantel stolperte und stürzte zwischen den beiden Polizisten, die ihn stützten. Flüchtig war sein von Schmerzen und Schock verzerrtes Gesicht zu sehen, das sich kalkweiß, wie die Wolken, gegen die festgestampfte Erde und das gelbliche Gras abhob.
Mit Mitch am Steuer fuhren sie die Autobahn nach Süden, zum Capitol Hill. Dann bogen sie in östlicher Richtung nach Denny ab. Der Buick schleppte sich die Steigung hinauf.
»Es wäre mir lieber, wir hätten das nicht gesehen«, sagte Kaye.
Mitch fluchte halblaut. »Wir hätten besser gar nicht erst angehalten.«
»Sind denn alle verrückt geworden? Langsam wird es mir zu viel«, erwiderte Kaye. »Ich weiß nicht mehr, wo wir in all dem eigentlich stehen.«
»Wir fallen zurück in alte Verhaltensweisen«, erklärte Mitch.
»Wie in Georgien.« Kaye presste einen Fingerknöchel gegen Lippen und Zähne.
»Es ist entsetzlich, wenn Frauen Männern Vorwürfe machen«, sagte Mitch. »Ich finde das zum Kotzen.«
»Ich mache niemandem Vorwürfe«, erwiderte Kaye, »aber du musst doch zugeben, dass es eine natürliche Reaktion ist.«
Mitch warf ihr einen Blick zu, den man fast wütend nennen konnte. Es war das erste Mal, dass er sie so ansah. Voller Schuldgefühle und Traurigkeit holte sie leise Luft, wandte sich ab und blickte aus dem Beifahrerfenster auf den langgestreckten Broadway: Backsteinhäuser, Fußgänger, junge Männer mit grünen Masken in Begleitung anderer Männer und Frauen, die neben Frauen gingen.
»Vergessen wir’s«, sagte Mitch, »und ruhen wir uns ein bisschen aus.«
Die Wohnung im ersten Stock, ordentlich und kühl und ein wenig staubig nach Mitchs langer Abwesenheit, ging auf den Broadway hinaus und bot Aussicht auf die Backsteinfront des Postamtes, eine kleine Buchhandlung und ein thailändisches Restaurant. Als Mitch das Gepäck hineintrug, entschuldigte er sich für eine Unordnung, die in Kayes Augen nicht existierte.
»Junggesellenbude«, sagte er. »Ich weiß gar nicht, warum ich den Mietvertrag verlängert habe.«
»Es ist hübsch«, erwiderte Kaye und ließ die Finger über das dunkle Holz der Fensterbank und die weiß getünchte Wand gleiten. Das Wohnzimmer war von der Sonne erwärmt und roch ein wenig muffig — nicht unangenehm, nur ungelüftet. Nicht ohne Schwierigkeiten öffnete Kaye das Fenster. Mitch stand neben ihr und machte es behutsam wieder zu. »Abgase von der Straße«, erklärte er. »Das Schlafzimmerfenster ist auf der Rückseite des Hauses. Da kommt frische Luft rein.«
Kaye hatte sich vorgestellt, ihre ersten Gefühle in Mitchs Wohnung würden romantisch und angenehm sein, und sie werde eine Menge über ihn erfahren. Aber hier war alles so adrett, so sparsam möbliert, dass sie eine gewisse Enttäuschung empfand. Sie sah sich die Bücher in dem deckenhohen Regal neben der Kochnische an: Lehrbücher über Anthropologie und Paläontologie, ein paar verschlissene biologische Werke, eine Kiste mit wissenschaftlichen Zeitschriften und Fotokopien. Keine Romane.
»Das thailändische Restaurant ist gut«, sagte Mitch und legte die Arme um sie, während sie vor dem Bücherregal stand.
»Ich habe keinen Hunger. Hier hast du also deine Forschungen betrieben?«
»Genau hier. Ein Geistesblitz. Du warst meine Inspiration.«
»Danke schön«, sagte sie.
»Machen wir einfach nur eine kleine Mittagspause? Im Kühlschrank ist Bier …«
»Budweiser?«
Mitch grinste.
»Ich nehme eins«, sagte Kaye. Er ließ sie los und kramte im Kühlschrank.
»Mist. Es muss einen Stromausfall gegeben haben. Im Gefrierschrank ist alles aufgetaut …« Ein kühler, fauliger Geruch drang aus der Küche. »Aber das Bier ist noch gut.« Er brachte ihr eine Flasche und schraubte energisch den Verschluss ab. Kaye nahm sie und trank einen Schluck. Kaum Geschmack. Keine Linderung.
»Ich muss zur Toilette«, sagte Kaye. Sie fühlte sich taub, weit weg von allem, was wichtig war. Sie nahm die Handtasche mit ins Badezimmer und holte den Schwangerschaftstest heraus. Er war so schön einfach: zwei Tropfen Urin auf einen Teststreifen, blau für positiv, rosa für negativ. Ergebnis in zehn Minuten.
Plötzlich wollte sie es unbedingt wissen.
Das Bad war makellos sauber. »Was kann ich für ihn tun?«, fragte sie sich. »Er führt hier sein eigenes Leben.« Aber dann schob sie den Gedanken beiseite, klappte die Brille herunter und setzte sich.
Mitch hatte mittlerweile im Wohnzimmer den Fernseher eingeschaltet. Durch die alte, massive Kiefernholztür hörte Kaye gedämpfte Stimmen; vereinzelt konnte sie ein paar Worte verstehen.
»… auch der Minister wurde bei der Explosion verletzt …«
»Kaye!«, rief Mitch.
Sie deckte ein Papiertuch über den Streifen und öffnete die Tür.
»Der Präsident«, sagte Mitch mit entsetzter Miene. Er hieb mit den Fäusten in die Luft. »Hätte ich bloß nicht das blöde Ding angemacht!«
Kaye blieb im Wohnzimmer vor dem kleinen Fernseher stehen und blickte gebannt auf Kopf und Schultern der Sprecherin, die Bewegungen ihrer Lippen, die an einem Auge verwischte Schminke.
»Bisher wurden sieben Tote gezählt, darunter die Gouverneure von Florida, Mississippi und Alabama, der Präsident, ein Sicherheitsbeamter und zwei noch nicht identifizierte Personen. Zu den Überlebenden gehören die Gouverneure von New Mexico und Arizona, der Leiter der HerodesTaskforce Mark Augustine und Frank Shawbeck von den National Institutes of Health. Der Vizepräsident hielt sich zur fraglichen Zeit nicht im Weißen Haus auf …«
Mitch stand mit hängenden Schultern neben ihr.
»Wo war Christopher?«, fragte Kaye mit erstickter Stimme.
»Bisher gibt es keine Erklärung, wie eine Bombe trotz schärfster Sicherheitsmaßnahmen ins Weiße Haus geschmuggelt werden konnte. Wir schalten jetzt zu Frank Sesno vor dem Weißen Haus.«
Kaye befreite sich aus Mitchs Arm. »Entschuldigung«, sagte sie, »Ich muss noch mal ins Badezimmer.«
»Fehlt dir etwas?«
»Mir geht’s gut.« Sie schloss die Tür und verriegelte sie, holte tief Luft und nahm das Papiertuch weg. Die zehn Minuten waren vorüber.
»Fehlt dir auch ganz sicher nichts?«, rief Mitch von draußen.
Kaye hielt den Streifen gegen das Licht und betrachtete die beiden ersten Testfelder. Das erste war blau. Das zweite war blau. Sie las sich noch einmal die Gebrauchsanleitung durch, verglich die Farben und lehnte sich mit dem Ellenbogen gegen die Tür. Ihr war schwindlig.
»Es ist passiert«, sagte sie leise. Sie richtete sich auf und dachte: Es sind entsetzliche Zeiten. Warte noch. Warte noch, wenn es irgendwie geht.
»Kaye!« Mitchs Stimme klang fast panisch. Er brauchte sie, brauchte ein wenig Geborgenheit. Sie beugte sich über das Waschbecken, konnte sich kaum aufrecht halten, so stark war die Mischung aus Entsetzen, Erleichterung und Staunen über das, was sie getan hatten, was die Welt tat.
Sie öffnete die Tür und sah, dass Mitch Tränen in den Augen hatte.
»Dabei habe ich ihn nicht mal gewählt«, sagte er mit bebenden Lippen.
Kaye nahm ihn fest in die Arme. Der Tod des Präsidenten war bedeutsam, wichtig, folgenschwer, aber das konnte sie bisher nicht empfinden. Ihre Gefühle waren woanders — bei Mitch, bei seiner Mutter, seinem Vater, ihren eigenen abwesenden Eltern; sogar für sich selbst spürte sie eine gewisse Besorgnis, aber seltsamerweise keine richtige Verbindung zu dem Leben in ihrem Inneren.
Noch nicht.
Es war noch nicht das richtige Baby.
Noch nicht.
Du darfst es nicht lieben. Dieses hier darfst du nicht lieben. Liebe nur das, was es tut, was es in sich trägt.
Während sie Mitch festhielt und seinen Rücken tätschelte, wurde sie ohnmächtig. Mitch trug sie ins Schlafzimmer und brachte ihr ein feuchtes Tuch.
Eine Zeit lang trieb sie in einsamer Dunkelheit, aber dann wurde ihr bewusst, dass sie einen trockenen Mund hatte. Sie räusperte sich und öffnete die Augen.
Sie sah ihren Mann an und versuchte seine Hand zu küssen, während er mit dem Tuch über ihre Wangen und das Kinn strich.
»So dumm«, sagte sie.
»Ich?«
»Ich. Ich dachte, ich sei stark.«
»Du bist stark.«
»Ich liebe dich.« Mehr brachte sie nicht heraus.
Mitch sah, dass sie fest schlief. Er breitete die Bettdecke über sie, schaltete das Licht aus und ging wieder ins Wohnzimmer. Die Wohnung wirkte jetzt ganz anders. Die sommerliche Dämmerung fiel durch die Fenster und warf eine märchenhafte Blässe auf die gegenüberliegende Wand. Er setzte sich in den verschlissenen Sessel vor dem Fernseher, dessen leise gestellter Ton in dem stillen Zimmer dennoch deutlich zu hören war.
»Gouverneur Harris hat den Notstand ausgerufen und die Nationalgarde mobilisiert. Für Werktage ab neunzehn Uhr sowie samstags und sonntags ab siebzehn Uhr wurde eine Ausgangssperre verhängt. Sollte auf Bundesebene das Kriegsrecht in Kraft gesetzt werden, was der Vizepräsident vermutlich schon sehr bald tun wird, sind im ganzen Land Versammlungen an öffentlichen Plätzen nur noch mit einer Sondererlaubnis der Notstandsbehörden in den einzelnen Gemeinden gestattet. Der staatlich erklärte Notstand ist zeitlich nicht befristet; es handelt sich nach offiziellen Angaben einerseits um eine Reaktion auf die Lage in der Bundeshauptstadt, andererseits aber auch um den Versuch, die fortgesetzten, ungewöhnlichen Unruhen im Staat Washington unter Kontrolle zu bringen …«
Mitch klopfte sich mit dem PlastikTeststreifen ans Kinn. Er schaltete von einem Kanal zum anderen, nur um sich das Gefühl zu verschaffen, er habe etwas unter Kontrolle.
»… ist tot. Der Präsident und fünf von zehn Gouverneuren der Bundesstaaten wurden heute Morgen im Lageraum des Weißen Hauses getötet …«
Wieder drückte er die Taste auf der kleinen Fernbedienung.
»… der Gouverneur von Alabama, Abraham C. Darzelle, Anführer der so genannten Bundesstaatenrevolte, umarmte den Präsidenten der Vereinigten Staaten unmittelbar vor der Explosion.
Sowohl die Gouverneure von Alabama und Florida als auch der Präsident selbst wurden durch die Detonation in Stücke gerissen …«
Mitch schaltete den Fernseher aus. Er brachte den Plastikstreifen wieder ins Badezimmer, ging zum Bett und legte sich neben Kaye.
Um sie nicht zu stören, zog er weder die Bettdecke zurück, noch entkleidete er sich. Er warf nur die Schuhe von sich, rollte sich zusammen, wobei er ein Bein sanft über ihre zugedeckten Schenkel legte, und steckte die Nase in ihre kurzen braunen Haare. Der Duft von Kayes Kopfhaut war beruhigender als jedes Schlafmittel.
Für einen viel zu kurzen Augenblick war die ganze Welt wieder klein und warm und völlig ausreichend.