Kaye ordnete ihre Papiere auf Mitchs Schreibtisch und griff nach dem Manuskript für Die Bibliothek der Königin. Vor drei Wochen hatte sie sich entschlossen, ein Buch über SHEVA zu schreiben, über moderne Biologie, über alles, was die Menschheit nach ihrer Überzeugung in den kommenden Jahren wissen musste. Der Titel bezeichnete ihre Metapher für das Genom mit allen seinen Umwälzungen, beweglichen Elementen und egoistischen Mitspielern, die mit einer Seite ihres Wesens der Genomkönigin zu Diensten waren, weil sie im eigenen Interesse darauf hofften, in die Bibliothek der Königin, die DNA, aufgenommen zu werden; manchmal aber zeigten sie auch ihr zweites Gesicht, nahmen eine mehr egoistische als nützliche Rolle an, wurden zu Parasiten oder Räubern, und dann verursachten sie Probleme oder sogar Katastrophen … eine politische Metapher, die jetzt ganz und gar zutreffend erschien.
In den letzten beiden Wochen hatte sie auf ihrem Laptop hundertsechzig Seiten geschrieben und auf einem tragbaren Drucker ausgedruckt, unter anderem, um ihre Gedanken vor der Tagung zu ordnen.
Und um die Zeit zu vertreiben. Wenn Mitch weg ist, ziehen sich die Stunden manchmal in die Länge.
Sie stieß die Papiere auf der Tischplatte zusammen, freute sich über das handfeste Geräusch und legte den Stapel vor das Foto von Christopher Dicken, das in einem kleinen silbernen Rahmen neben den Porträts von Sam und Abby stand. Das letzte Bild in der Kiste mit ihren persönlichen Gegenständen war ein schwarzweißes Hochglanzfoto von Saul, das ein Profifotograf auf Long Island aufgenommen hatte. Saul sah darauf leistungsfähig, fröhlich, selbstbewusst und klug aus. Abzüge des Bildes hatten sie mit dem Geschäftsprospekt von EcoBacter verschickt, um Risikokapitalfirmen anzulocken. Das war über fünf Jahre her — eine Ewigkeit.
Kaye hatte kaum einmal an ihre Vergangenheit gedacht und nur wenige Erinnerungsstücke gesammelt. Das bereute sie jetzt. Sie wollte ihrem Kind einen Eindruck davon vermitteln, wie es früher gewesen war. Wenn sie sich im Spiegel betrachtete, wirkte sie in ihrer Gesundheit und Lebenskraft fast wie ein junges Mädchen.
Die Schwangerschaft stand ihr ausgesprochen gut.
Als könnte sie vom Schreiben und Aufzeichnen nicht genug bekommen, hatte sie vor drei Tagen ein Tagebuch begonnen, das erste, das sie jemals geführt hatte.
10. Juni
Die ganze letzte Woche haben wir uns auf die Konferenz vorbereitet und nach einem Haus gesucht. Die Zinssätze sind nach oben geschossen und liegen jetzt bei einundzwanzig Prozent, aber wir können uns etwas Größeres als die Wohnung leisten, und Mitch ist nicht besonders wählerisch. Ich schon. Mitch schreibt langsamer als ich, aber er berichtet über die Mumien und die Höhle. Eine Seite nach der anderen schickt er an Oliver Merton in New York, und der redigiert es, manchmal ganz schön grausam. Mitch trägt es mit Fassung und versucht dazuzulernen. Wir sind zu Büchermenschen und Nabelbeschauern geworden, fast ein wenig egozentrisch, weil wir kaum etwas anderes haben, womit wir uns beschäftigen könnten.
Heute Nachmittag ist Mitch beim neuen Direktor des Hayer Institute — er hofft auf eine Wiedereinstellung. (Er entfernt sich nie weiter als zwanzig Autominuten von der Wohnung, und vorgestern haben wir ein zweites Handy gekauft. Ich sage ihm, dass ich selbst auf mich auffassen kann, aber er macht sich ständig Sorgen.) Professor Brock hat ihm geschrieben, worum es derzeit in der Auseinandersetzung geht. Brock ist in mehreren Talkshows aufgetreten. Auch ein paar Zeitungen haben über die Sache berichtet, und Menons Artikel in »Nature« hat viel Aufmerksamkeit und Kritik auf sich gezogen.
In Innsbruck werden die Gewebeproben immer noch unter Verschluss gehalten, und man gibt dort weder Kommentare noch Material ab, aber Mitch bearbeitet seine Bekannten an der University of Washington, damit sie mit ihrem Wissen an die Öffentlichkeit gehen und die Geheimnistuerei der Leute in Innsbruck unterlaufen. Nach Menons Ansicht bleiben den Gradualisten, die für die Mumien verantwortlich sind, noch zwei oder drei Monate; dann müssen sie ihre Berichte schreiben und veröffentlichen, sonst wird man sie durch eine objektivere Arbeitsgruppe ersetzen — jedenfalls hofft Brock das, und mit Sicherheit hofft er, dass er dann die Leitung übernehmen kann.
Mitch könnte auch zu der Arbeitsgruppe gehören, aber das wäre zu schön, um wahr zu sein.
Merton und Daney haben von der New Yorker Notstandsverwaltung keine Genehmigung bekommen, die Tagung in Albany abzuhalten. Irgendwas von 1845 und Gouverneur Silas Wright und Mieteraufständen; man möchte nicht, dass sich so etwas während des »Experiments« mit den »vorübergehenden« Notstandsgesetzen wiederholt.
Über Maria Konig von der University of Washington haben wir uns an die Notstandsverwaltung des Staates Washington gewandt; dort hat man eine zweitägige Konferenz in der Kane Hall mit maximal hundert Teilnehmern genehmigt, die alle von der Behörde überprüft werden müssen. Die Grundrechte sind nicht ganz in Vergessenheit geraten, aber doch ziemlich. Das Wort »Kriegsrecht« nimmt niemand in den Mund, und die Zivilgerichte arbeiten auch in vollem Umfang weiter, aber nur mit Genehmigung der Behörden in den einzelnen Bundesstaaten.
So etwas hat es seit 1942 nicht gegeben, sagt Mitch. Mir ist es richtig unheimlich: Ich bin gesund, unternehmungslustig, energiegeladen, und ich sehe kaum wie eine Schwangere aus. Die Hormone sind die gleichen, ihre Auswirkungen sind die gleichen.
Morgen gehe ich zum Marine Pacific Hospital wegen der Ultraschalluntersuchung, und wir lassen trotz der Risiken auch Amniozentese und Chorionzottenuntersuchung machen, denn wir wollen wissen, was für Gewebe es ist.
Der nächste Schritt wird schwieriger.
Dicken rollte sich mit einer Hand den langen Korridor im neunten Stock des Magnuson Clinical Center entlang, drehte sich — wiederum mit einer Hand und, so seine Hoffnung, mit echter Rollstuhleleganz — herum und sah undeutlich die beiden Männer auf dem Weg, den er gekommen war. Einen erkannte er an dem grauen Anzug, den langen, langsamen Schritten und der Größe: Es war Augustine. Wer der zweite sein könnte, wusste er nicht.
Leise stöhnend griff er mit der rechten Hand nach unten und bewegte sich auf die beiden zu. Im Näherkommen erkannte er, dass Augustines Gesicht gut heilte, auch wenn es von nun an immer ein wenig zerklüftet aussehen würde. Die Verbände von den mehrfachen kosmetischen Operationen liefen von der Seite über die Nase und bedeckten Teile der Wangen und Schläfen; was nicht davon bedeckt war, zeigte noch die Spuren der Bombensplitter. Bei Augustine waren beide Augen verschont geblieben.
Dicken hatte ein Auge verloren, und das andere war durch die Explosionshitze trübe geworden.
»Sie sehen ja immer noch schrecklich aus, Mark«, bemerkte Dicken, während er mit einer Hand abbremste und einen pantoffelbekleideten Fuß leicht anzog.
»Danke gleichfalls, Christopher. Darf ich Ihnen Dr. Kelly Newcomb vorstellen.«
Die beiden schüttelten sich behutsam die Hände. Dicken taxierte Newcomb kurz und sagte dann: »Sie sind Marks neuer Handlungsreisender.«
»Stimmt«, erwiderte Newcomb.
»Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Ernennung«, sagte Dicken zu Augustine.
»Nicht nötig«, gab Mark zurück. »Es wird ein Albtraum.«
»Lasset die Kindlein zu mir kommen«, sagte Dicken. »Wie geht’s Frank?«
»Wird nächste Woche aus dem Walter Reed entlassen.«
Erneutes Schweigen. Dicken wusste nicht, was er noch sagen sollte. Newcomb faltete linkisch die Hände und rückte im nächsten Augenblick seine Brille auf der Nase zurecht. Dicken hatte etwas gegen Momente des Schweigens, und als Augustine wieder zum Sprechen ansetzte, unterbrach er ihn: »Mich werden sie noch ein paar Wochen hier behalten. Noch eine Operation an der Hand. Ich würde gerne eine Zeit lang vom Gelände hier verschwinden und nachsehen, was auf der Welt los ist.«
»Gehen wir doch zum Reden in Ihr Zimmer«, schlug Augustine vor.
»Seien Sie meine Gäste«, erwiderte Dicken. Als sie das Zimmer betreten hatten, bat Augustine Newcomb, die Tür zu schließen.
»Es wäre mir lieb, wenn Kelly sich ein paar Tage lang mit Ihnen unterhalten könnte, damit wir nicht noch mehr Zeit verlieren.
Wir stehen am Beginn einer neuen Phase. Der Präsident hat uns seinem frei verfügbaren Etat zugeordnet.«
»Na großartig«, sagte Dicken mit belegter Stimme. Er schluckte und versuchte, seine Zunge mit ein wenig Speichel anzufeuchten.
Schmerzmittel und Antibiotika hatten seine Körperchemie gründlich durcheinander gebracht.
»Wir werden nichts Radikales unternehmen«, erklärte Augustine. »Alle sind sich einig, dass wir uns auf unglaublich dünnem Eis bewegen.«
»Der Staat bewegt sich auf unglaublich dünnem Eis«, sagte Dicken.
»Derzeit zweifellos«, erwiderte Augustine leise. »Ich habe mich nicht um die Stelle gerissen, Christopher.«
»Ich weiß.«
»Aber falls SHEVAKinder lebend geboren werden, müssen wir schnell reagieren. Ich kenne Berichte aus sieben Instituten, die bewiesen haben, dass SHEVA uralte Retroviren im Genom aktivieren kann.«
»Es setzt alle möglichen HERVs und Retrotransposons in Bewegung«, sagte Dicken. Er hatte versucht, die Berichte auf einem besonderen Sichtgerät in seinem Zimmer zu lesen. »Ich weiß nicht genau, ob es wirklich Viren sind. Es könnten auch …«
Augustine unterbrach ihn. »Egal, wie man sie nennt, sie besitzen die notwendigen Virusgene. Und wir mussten uns seit Jahrmillionen nicht mit ihnen auseinander setzen, das heißt, sie verursachen wahrscheinlich Krankheiten. Was mir zurzeit vor allem Sorgen macht, sind Bestrebungen, die Frauen zum Austragen solcher Kinder zu ermutigen. In Osteuropa und Asien gibt es in dieser Beziehung keine Probleme. Japan hat schon mit einem Vorbeugungsprogramm begonnen. Aber auf uns hier lastet ein größerer Fluch.«
Das war milde ausgedrückt. »Überschreiten Sie nicht wieder die Grenze«, riet Dicken.
Augustine war nicht in der Stimmung für kluge Ratschläge.
»Christopher, wir könnten mehr als nur eine Kindergeneration verlieren. Der Ansicht ist auch Kelly.«
»Die Befunde sind stichhaltig«, sagte Newcomb.
Dicken hustete. Er bekam den Anfall unter Kontrolle, aber sein Gesicht rötete sich vor Anspannung. »Was hat man denn vor —
Internierungslager? Konzentrationskindergärten?«
»Nach unseren Schätzungen werden in Nordamerika bis zum Jahresende höchstens tausend bis zweitausend SHEVABabys lebend zur Welt kommen. Vielleicht aber auch keines, null. Der Präsident hat schon eine Notverordnung unterzeichnet, in der uns das Sorgerecht übertragen wird, wenn sie lebend geboren werden.
An den zivilrechtlichen Einzelheiten arbeiten wir gerade. Was die Europäische Union tun wird, weiß der Himmel. In Asien ist man sehr pragmatisch. Abtreibung und Quarantäne. Ich würde mir wünschen, wir könnten auch so knallhart sein.«
»Für mich klingt das nicht nach einer größeren Gesundheitsgefahr«, sagte Dicken. Sein Rachen verkrampfte sich wieder, und er hustete. Aufgrund seines beeinträchtigten Sehvermögens konnte er Augustines Gesichtsausdruck hinter den Verbänden nicht erkennen.
»Sie sind Reservoire, Christopher. Wenn die Babys in die allgemeine Bevölkerung gelangen, sind sie Überträger. Auch bei AIDS waren nur ganz wenige nötig.«
»Es stinkt zum Himmel, das geben wir zu«, sagte Newcomb und sah Augustine an. »Das spüre ich im Bauch. Aber wir haben ein paar aktivierte HERVs durch die Computeranalyse laufen lassen.
Angenommen, es werden funktionsfähige env- und pol-Gene exprimiert, dann könnte es viel schlimmer werden als mit HIV. Die Computer weisen auf eine Krankheit hin, die in der Geschichte nicht ihresgleichen hat. Sie könnte die Menschheit auslöschen, Dr. Dicken. Sie könnte uns wegpusten wie Staub.«
Dicken stemmte sich aus seinem Rollstuhl hoch und setzte sich auf die Bettkante. »Wer ist anderer Meinung?«, fragte er.
»Dr. Mahy von den CDC«, erwiderte Augustine. »Bishop und Thorne. Und natürlich James Mondavi. Aber die Leute in Princeton teilen unsere Ansichten, und die haben das Vertrauen des Präsidenten. Sie wollen mit uns daran arbeiten.«
»Was sagt denn die Gegenseite?«, wollte Dicken von Newcomb wissen.
»Mahy ist überzeugt, es werde sich bei den Partikeln um vollständig ausgebildete Retroviren handeln, die aber nicht pathogen sind. Seiner Ansicht nach werden wir es im schlimmsten Fall mit ein paar Fällen seltener Krebserkrankungen zu tun bekommen«, erwiderte Augustine. »Auch Mondavi glaubt nicht, dass es Krankheitserreger sind. Aber deshalb sind wir nicht hier, Christopher.«
»Warum dann?«
»Wir brauchen ihre Mitwirkung. Kaye Lang hat sich schwängern lassen. Den Vater kennen Sie. Es ist ein SHEVAPrimärfetus.
Sie kann jetzt jeden Tag ihre Fehlgeburt bekommen.«
Dicken wandte sich ab.
»Sie sponsert eine Tagung im Staat Washington. Wir haben versucht, bei der Notstandsverwaltung ein Verbot durchzusetzen …«
»Eine wissenschaftliche Tagung?«
»Noch mehr Gefasel über Evolution. Und natürlich Ermutigung für noch mehr Mütter. Für die öffentliche Meinung könnte es eine Katastrophe werden, ganz schlecht für die Moral. Die Presse kontrollieren wir nicht, Christopher. Glauben Sie, dass sie in der Frage extreme Ansichten vertreten wird?«
»Nein«, erwiderte Dicken. »Ich denke, sie wird sehr vernünftig sein.«
»Das ist unter Umständen noch schlimmer«, sagte Augustine.
»Aber wir können es auch gegen sie verwenden, wenn sie sich auf wissenschaftliche Begründungen beruft. Da bewegt sich die Wissenschaft auf dünnem Eis. Mitch Rafelson hat einen katastrophalen Ruf.«
»Er ist ein anständiger Bursche«, sagte Dicken.
»Er ist eine Belastung, Christopher. Aber glücklicherweise nicht für uns, sondern für sie.«
Kaye nahm den gelben Schreibblock aus dem Schlafzimmer mit in die Küche. Mitch war seit morgens um neun an der University of Washington. Am Hayer Museum hatte man auf seinen Besuch zunächst negativ reagiert: Man war dort nicht an Auseinandersetzungen interessiert, ganz gleich, wie stark Brock oder andere Wissenschaftler ihn unterstützten. Man hatte ihn ausdrücklich darauf hingewiesen, Brock selbst sei ja ebenfalls umstritten, und ungenannten Quellen zufolge sei er aus der Neandertalerforschung an der Universität Innsbruck »entlassen« oder sogar »entfernt« worden.
Kaye hatte akademische Personalpolitik immer verabscheut. Sie platzierte den Block und ein Glas Orangensaft auf dem kleinen Tisch neben Mitchs abgeschabtem Sessel und ließ sich dann mit einem leisen Stöhnen hineinfallen. Nachdem ihr heute Morgen nichts mehr eingefallen war und sie nicht wusste, wie sie ihr Buch fortsetzen sollte, hatte sie sich an einen kurzen allgemeinen Aufsatz gemacht, den sie vielleicht in zwei Wochen bei der Tagung verwenden konnte …
Aber auch dabei war sie plötzlich stecken geblieben. Geistige Anregung kam gegen das Gefühl einer seltsamen Verknotung in ihrem Bauch einfach nicht an.
Es waren jetzt fast neunzig Tage. Am Abend zuvor hatte sie in ihr Tagebuch geschrieben: »Jetzt ist es schon ungefähr so groß wie eine Maus.« Mehr nicht.
Mit Mitchs Fernbedienung schaltete sie den alten Fernseher ein.
Gouverneur Harris gab wieder einmal eine Pressekonferenz. Jeden Tag berichtete er in immer neuen Sendungen über die Notstandsgesetze, die Zusammenarbeit zwischen dem Staat Washington und Washington, D. C. seinen Widerstand gegen diese oder jene Maßnahme — er widersetzte sich vielem, ganz im Sinne der Individualisten östlich der Cascade Mountains —, und dann erklärte er sehr genau, wo Zusammenarbeit nach seiner Überzeugung notwendig und lebenswichtig war. Wieder einmal betete er die düstere Litanei einer Statistik herunter.
»Im Nordwesten, von Oregon bis nach Idaho, hat es nach Berichten der Aufsichtsbehörden mindestens dreißig Fälle von Menschenopfern gegeben. Nehmen wir dies zu den schätzungsweise zweiundzwanzigtausend Fällen von Gewalt gegen Frauen im ganzen Land hinzu, erscheint die Ausrufung des Notstandes längst überfällig. Wir sind ein Gemeinwesen, ein Staat, eine Region, eine Nation, die vor Kummer außer Kontrolle geraten ist und durch eine unbegreifliche höhere Gewalt in Panik versetzt wurde.«
Kaye strich sich sanft über den Bauch. Harris hatte eine unlösbare Aufgabe. Die stolzen Bürger der Vereinigten Staaten nehmen eine sehr chinesische Haltung ein, dachte sie. Nachdem ihnen die Gunst des Himmels so offensichtlich entzogen wurde, ließ auch ihre Unterstützung für jegliche Regierungen und Behörden drastisch nach.
Auf die Pressekonferenz des Gouverneurs folgte eine Diskussion mit zwei Wissenschaftlern und einem Vertreter des Bundesstaates.
Sie kamen auf SHEVAKinder als Krankheitsüberträger zu sprechen; es war schierer Unsinn, den sie nicht hören wollte oder musste. Sie schaltete den Fernseher aus.
Das Handy summte. Kaye klappte es auf. »Hallo?«
»Hallo mein Schatz … Hier bei mir sitzen Wendell Packer, Maria Konig, Oliver Merton und Professor Brock, alle in einem Zimmer.«
Beim Klang von Mitchs Stimme erwärmte und entspannte sich Kayes Gesicht.
»Sie hätten dich gern hier.«
»Nur wenn sie bereit sind, sich als Hebammen zu betätigen.«
»Du liebe Güte — spürst du schon was?«
»Nur einen verdorbenen Magen«, sagte Kaye. »Ich bin unglücklich und ohne Inspiration. Nein, ich glaube, heute ist es noch nicht so weit.«
»Na gut, vielleicht inspiriert dich das«, erwiderte Mitch. »Sie werden mit ihrer Analyse der Innsbrucker Gewebeproben an die Öffentlichkeit gehen. Und sie werden auf der Tagung Vorträge halten. Packer und Konig stehen auf unserer Seite.«
Kaye schloss für kurze Zeit die Augen, um die Neuigkeit zu genießen. »Und ihre Fakultäten?«
»Von denen ist überhaupt nichts zu erwarten. Der politische Druck auf die Fakultätsleitungen ist einfach zu groß. Aber Maria und Wendell werden ihre Kollegen bearbeiten. Wir würden heute Abend gern zusammen essen. Hast du Lust?«
Ihr rebellierender Magen hatte sich beruhigt. In etwa einer Stunde könnte ich richtig Hunger bekommen, dachte Kaye. Sie hatte Maria Konigs Arbeiten seit Jahren verfolgt und hegte gewaltige Bewunderung für sie. Aber Konigs größtes Plus in ihrer Männerarbeitsgruppe bestand darin, dass sie eine Frau war.
»Wo gehen wir essen?«
»Das Lokal liegt etwa fünf Minuten vom Marine Pacific Hospital«, sagte Mitch. »Mehr weiß ich auch nicht.«
»Für mich vielleicht einen Teller Haferschleim«, erwiderte Kaye.
»Soll ich den Bus nehmen?«
»Unsinn. Ich bin in ein paar Minuten bei dir.« Mitch gab ihr durch das Telefon einen Kuss, und dann wollte Oliver Merton noch etwas sagen.
»Wir haben uns noch nicht näher kennen gelernt«, sagte er atemlos, als habe er gerade laut gestritten oder eine Treppe im Laufschritt hinter sich gebracht. »Du liebe Güte, Ms. Lang, es macht mich schon nervös, mit Ihnen zu sprechen.«
»In Baltimore haben Sie mir ganz schön zugesetzt«, sagte Kaye.
»Ja, aber das ist lange her«, erwiderte Merton ohne jeden Anflug von Bedauern. »Ich kann ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich Ihre und Mitchs Pläne bewundere. Ich bin ganz platt vor Staunen.«
»Wir tun doch nur etwas ganz Natürliches.«
»Begraben wir die Vergangenheit«, schlug Merton vor. »Ms.
Lang, ich bin ihr Freund.«
»Das werden wir ja sehen«, erwiderte Kaye.
Merton lachte in sich hinein und übergab den Hörer wieder an Mitch.
»Maria Konig schlägt ein Restaurant mit guter vietnamesischer Küche vor. Darauf hatte sie immer Lust, als sie schwanger war.
Klingt doch gut, oder?«
»Nach dem Haferschleim«, erwiderte Kaye. »Muss Merton dabei sein?«
»Nicht, wenn du etwas dagegen hast.«
»Sag’ ihm, ich werde ihn mit Blicken durchbohren. Lass’ ihn leiden.«
»Mache ich«, sagte Mitch, »aber er blüht bei Kritik erst richtig auf.«
Als sie im Restaurant zusammensaßen, sagte Maria Konig, »Ich analysiere jetzt schon seit zehn Jahren das Gewebe von Toten.
Wendell kennt das Gefühl.«
»Allerdings«, sagte Packer.
Konig, die Kaye gegenübersaß, war mehr als nur schön — sie war das vollkommene Vorbild: So wollte Kaye aussehen, wenn sie fünfzig war. Auch Wendell Packer war auf seine Weise attraktiv — schlank, schmal, das genaue Gegenteil von Mitch. Brock, in eine graue Jacke und ein schwarzes TShirt gekleidet, sah elegant und zurückhaltend aus; er schien gedanklich völlig abwesend zu sein.
»Jeden Tag bringt einem der Kurierdienst ein Päckchen, oder auch zwei oder drei«, sagte Maria. »Man macht es auf, und dann sind kleine Glasröhrchen oder Flaschen aus Bosnien oder Osttimor oder dem Kongo drin, und man hat wieder einmal ein trauriges kleines Haut- oder Knochenstückchen von einem meist unschuldigen Opfer vor sich, und dazu einen Umschlag mit fotokopierten Berichten, weitere Röhrchen, Blutproben oder Mundschleimhautabstriche von Verwandten der Opfer. Tag für Tag. Es hört nie auf.
Wenn diese Babys der nächste Schritt sind, wenn sie auf diesem Planeten besser leben können als wir, kann es mir gar nicht schnell genug gehen. Wir brauchen die Veränderung.«
Die kleine Kellnerin, die ihre Bestellungen aufnahm, hielt beim Schreiben inne und wandte sich an Maria. »Sie identifizieren tote Menschen für die UN?«
Maria sah sie peinlich berührt an. »Manchmal.«
»Ich bin aus Kamputschea, Kambodscha, bin vor fünfzehn Jahren gekommen«, sagte sie. »Sie auch arbeiten mit Kambodschaner?«
»Das war vor meiner Zeit, meine Liebe«, antwortete Maria.
»Ich immer noch sehr zornig«, erklärte die Frau. »Mutter, Vater, Bruder, Onkel. Dann sie lassen die Mörder gehen ohne Strafe.
Sehr böse Männer und Frauen.«
Schweigen senkte sich über den Tisch, als die großen schwarzen Augen der Frau bei der Erinnerung funkelten. Brock beugte sich vor, faltete die Hände und berührte mit dem Daumenknöchel seine Nase.
»Auch jetzt ganz schlecht«, sagte die Kellnerin. »Ich werde trotzdem Baby bekommen.« Sie strich sich über den Bauch und sah Kaye an. »Sie auch?«
»Ja.«
»Ich glaube an Zukunft«, bemerkte die Frau. »Muss besser werden.«
Sie schrieb die letzten Bestellungen auf und verließ den Tisch.
Merton nahm die Essstäbchen und hantierte ein paar Sekunden lang ziellos damit herum. »Das muss ich mir merken«, sagte er.
»Für das nächste Mal, wenn ich bedrückt bin.«
»Heben Sie es sich für Ihr Buch auf«, sagte Brock.
»Ich schreibe tatsächlich eins«, erwiderte Merton mit hochgezogenen Augenbrauen. »Wen wundert’s? Es ist die größte Story im Wissenschaftsjournalismus unserer Zeit.«
»Hoffentlich haben Sie mehr Glück als ich«, sagte Kaye.
»Ich bin blockiert, hänge völlig fest«, entgegnete Merton und schob seine Brille mit dem hinteren Ende eines Essstäbchens nach oben. »Aber das dauert nicht lange. Es hat noch nie lange gedauert.«
Die Kellnerin brachte Frühlingsrollen, Krabben, Sojasprossen und Basilikumblätter in einer Hülle aus durchscheinenden Pfannkuchen. Kaye hatte jetzt kein Bedürfnis mehr nach langweiligem, beruhigendem Haferschleim. Wagemutiger geworden, griff sie mit den Stäbchen nach einer Frühlingsrolle und tauchte sie in ein Schälchen mit süßer brauner Soße. Das Aroma war großartig — sie hätte minutenlang an dem Bissen kauen können, um jedes einzelne Geschmacksmolekül zu genießen. Basilikum und Minze in der Rolle waren fast schon zu intensiv, denn die knusprigen Krabben hatten einen starken Eigengeschmack, den Geschmack des Meeres.
Alle ihre Sinne waren geschärft. Obwohl der große Raum düster und kühl war, erschien er ihr bunt und voller Details.
»Was tun sie da rein?«, fragte sie und kaute den letzten Bissen der Frühlingsrolle.
»Die sind wirklich gut«, meinte Merton.
»Ich hätte besser nichts gesagt«, bemerkte Maria entschuldigend — sie war immer noch gerührt von der Kellnerin und dem kurzen Einblick in deren Vergangenheit.
»Wir glauben alle an die Zukunft«, sagte Mitch. »Wenn wir in unserem alten Trott weitermachen wollten, wären wir nicht hier.«
»Wir müssen wissen, was wir sagen können und wo unsere Grenzen liegen«, erklärte Wendell. »Ich kann nur so weit gehen, wie es meine eigenen Fachkenntnisse erlauben und wie es die Fakultät hinnimmt, selbst wenn ich betone, dass ich nur meine persönliche Meinung äußere.«
»Nur Mut, Wendell«, sagte Merton. »Eine feste Front. Freddie?«
Brock nahm einen Schluck aus seinem schaumgekrönten Bierglas und blickte mit Armesündermiene auf.
»Ich kann noch gar nicht glauben, dass wir uns alle hier versammelt haben, dass wir überhaupt so weit gekommen sind«, erklärte er. »Dass der Wandel so nahe bevorsteht, macht mir regelrecht Angst. Wissen Sie, was geschehen wird, wenn wir unsere Befunde veröffentlichen?«
»Wir werden von fast allen Fachzeitschriften der Welt zur Schnecke gemacht«, vermutete Packer und lachte.
»Von Nature nicht«, erwiderte Merton. »Bei denen habe ich schon ein bisschen Vorarbeit geleistet. Da ist mir ein journalistischer und wissenschaftlicher Handstreich gelungen.« Er grinste.
»Nein, Freunde, bitte«, sagte Brock. »Denken wir mal kurz nach. Wir haben gerade die Jahrtausendwende hinter uns, und jetzt werden wir erfahren, wie wir eigentlich zu Menschen geworden sind.« Er nahm die dicke Brille ab und putzte sie mit seiner Serviette. Der Blick seiner weit geöffneten Augen war in die Ferne gerichtet. »In Innsbruck haben wir unsere Mumien, eingefroren im Spätstadium eines Wandels, der sich über Zehntausende von Jahren hinweg abgespielt hat. Die Frau muss so zäh und mutig gewesen sein, wie wir es uns überhaupt nicht vorstellen können, aber sie wusste sehr wenig. Dr. Lang, Sie wissen viel und machen trotzdem weiter. Ihr Mut ist vielleicht noch großartiger.« Er hob sein Bierglas. »Das Mindeste, was ich Ihnen bieten kann, ist ein von Herzen kommender Trinkspruch.«
Alle hoben die Gläser. Kaye spürte wieder, wie sich ihr Magen regte, aber es war kein unangenehmes Gefühl.
»Auf Kaye«, sagte Brock. »Die nächste Eva.«
Kaye saß in dem alten Buick, um nicht nass zu werden. Mitch ging im Regen an der Autoreihe auf dem kleinen Parkplatz am Roosevelt Way entlang, suchte nach dem Typ, der ihr vorschwebte — klein, Baujahr Ende der Neunziger, Volvo oder Japaner, vielleicht blau oder grün —, und blickte dann zu ihr hinüber: Sie hatte das Fenster heruntergekurbelt, um frische Luft zu bekommen.
Mitch nahm den nassen Filzhut ab und lächelte. »Wie wär’s mit der Schönheit da?« Er zeigte auf einen schwarzen Caprice.
»Nein«, sagte Kaye überzeugt. Mitch hatte ein Faible für große, alte amerikanische Autos. In ihrem geräumigen Inneren fühlte er sich zu Hause, und im Kofferraum konnte man Werkzeug oder Gesteinsbrocken transportieren. Am liebsten hätte er einen Geländewagen gekauft, und ein paar Tage lang hatten sie tatsächlich mit dem Gedanken gespielt. Kaye hatte nichts gegen Allradantrieb, aber sie hatten nichts gefunden, was sie sich nach eigener Einschätzung hätten leisten können. Sie wollte eine große Rücklage für Notfälle auf der Bank haben und hatte deshalb eine Obergrenze von zwölftausend Dollar gesetzt.
»Ich lasse mich von meiner Frau aushalten«, sagte er, den Hut traurig in der Hand, und senkte den Kopf vor dem Caprice.
Kaye überging es demonstrativ. Sie war schon den ganzen Vormittag schlechter Laune — beim Frühstück hatte sie ihn zwei Mal angefaucht, aber Mitch hatte den Tadel mit aufreizendem Mitgefühl hingenommen. Sie sehnte sich nach einem richtigen Streit, der ihr Blut in Wallung und ihre Gedanken in Bewegung brachte — der ihren Körper in Gang setzte. Sie war das nagende Gefühl im Bauch leid, das jetzt schon drei Tage anhielt. Sie war es leid zu warten, sich mit dem abzufinden, was sie da in sich trug.
Vor allem aber wollte sie gegen Mitch vom Leder ziehen, weil er sich einverstanden erklärt hatte, sie zu schwängern und diesen entsetzlichen, langwierigen Ablauf in Gang zu setzen.
Mitch schlenderte zu der zweiten Fahrzeugreihe und las die angebrachten Schilder. Eine Frau mit einem Regenschirm kam die Holzstufen von dem kleinen Bürocontainer herunter und sprach ihn an.
Kaye sah den beiden misstrauisch zu. Sie verabscheute sich selbst, verabscheute ihre verschrobenen, chaotischen Gefühle.
Keiner ihrer Gedanken machte den geringsten Sinn.
Mitch zeigte auf einen gebrauchten Lexus. »Viel zu teuer«, murmelte Kaye und knabberte an ihrer Fingernagelhaut. Und dann »Au, Scheiße!« Zuerst dachte sie, sie hätte in die Hose gemacht. Das Tröpfeln ging weiter, aber es war nicht die Blase. Sie fasste sich zwischen die Beine.
»Mitch!«, schrie sie. Er kam im Laufschritt, riss die Fahrertür auf, sprang in den Wagen und ließ den Motor gerade in dem Augenblick an, als sie sich unter dem ersten Fausthieb der dumpfen Schmerzen krümmte. Fast hätte sie auf das Armaturenbrett eingeschlagen. Er drückte sie mit einer Hand zurück. »Hilfe«, stöhnte sie.
»Wir sind schon unterwegs«, sagte Mitch. Er fuhr auf den Roosevelt Way, bog nach rechts in die 45. Straße ab, wich den Fahrzeugen auf der Überführung aus und nahm die scharfe Kurve auf die Stadtautobahn.
Die Schmerzen waren jetzt nicht ganz so stark. Ihr Magen fühlte sich an, als sei er voller Eiswasser, und ihre Beine zitterten.
»Wie geht’s?«, fragte Mitch.
»Angst«, sagte sie. »Ganz seltsam.«
Mitch gab Gas.
Sie spürte so etwas wie ein bisschen Stuhlgang. So primitiv, so natürlich, so unaussprechlich. Sie versuchte, die Beine zusammenzupressen und wusste nicht genau, was sie eigentlich empfand, was geschehen war. Die Schmerzen waren fast weg.
Als sie in die Notaufnahme des Marine Pacific Hospital einbogen, war sie ziemlich sicher, dass alles vorüber war.
Maria Konig hatte sie an Dr. Felicity Galbreath überwiesen, nachdem Kaye mit ihrem Ansinnen, eine SHEVASchwangerschaft zu Ende zu bringen, bei mehreren Kinderärzten auf Ablehnung gestoßen war. Ihre Krankenversicherung hatte ihr gekündigt; SHEVA galt als schon vorher bestehende Krankheit, aber mit Sicherheit nicht als natürliche Schwangerschaft.
Dr. Galbreath war an mehreren Krankenhäusern tätig, hatte ihre Praxis aber am Marine Pacific Hospital, einer großen, braunen, aus der Zeit der Wirtschaftskrise stammenden ArtDécoKlinik, die Aussicht auf die Stadtautobahn, den Lake Union und große Teile des Westens von Seattle bot. Außerdem unterrichtete Dr. Galbreath zwei Tage in der Woche an der Western Washington University, und Kaye fragte sich, wie sie im Leben noch Zeit für andere Dinge fand.
Die große, mollige Galbreath mit ihren runden Schultern, einem angenehm offenherzigen Gesicht und einem kurzen, dichten Schopf mausblonder Haare kam zwanzig Minuten, nachdem Kaye aufgenommen worden war, in das Mehrbettzimmer. Die Stationsschwester und der diensthabende Arzt hatten sie gewaschen und kurz untersucht. Auch eine Hebamme, die Kaye noch nie gesehen hatte, war bei ihr gewesen, nachdem sie durch einen kurzen Artikel im Seattle Weekly von dem Fall erfahren hatte.
Kaye saß aufrecht im Bett und trank ein Glas Orangensaft. Ihr Rücken schmerzte, aber ansonsten hatte sie es bequem.
»Nun ja, jetzt ist es passiert«, sagte Galbreath.
»Es ist passiert«, wiederholte Kaye träge.
»Ich habe gehört, es geht Ihnen gut.«
»Ich fühle mich schon viel besser.«
»Es tut mir Leid, dass ich nicht früher hier sein konnte. Ich war drüben an der medizinischen Fakultät.«
»Ich glaube, es war schon vorüber, bevor ich hier ankam«, sagte Kaye.
»Wie fühlen Sie sich?«
»Mies. Eigentlich gesund, aber mies.«
»Wo ist Mitch?«
»Ich habe ihm gesagt, er soll mir das Baby bringen. Den Fetus.«
Galbreath starrte sie mit einer Mischung aus Verwirrung und Staunen an. »Treiben Sie es da mit der Wissenschaft nicht ein bisschen zu weit?«
»Quatsch«, erwiderte Kaye aufgebracht.
»Sie könnten einen emotionalen Schock erleiden.«
»Doppelter Quatsch. Sie haben es weggenommen, ohne mir etwas zu sagen. Ich muss es unbedingt sehen. Ich muss wissen, was passiert ist.«
»Es war die Abstoßung nach dem ersten Stadium. Wie die aussehen, wissen wir«, sagte Galbreath leise, während sie Kaye den Puls fühlte und auf den angeschlossenen Monitor sah. Als Vorsichtsmaßnahme erhielt sie eine Infusion mit Salzlösung.
Mitch kam mit einer kleinen Edelstahlwanne. Sie war mit einem Tuch zugedeckt.
»Sie haben es runtergeschickt …« Er blickte auf, das Gesicht weiß wie ein Laken. »Ich weiß nicht, wohin. Ich musste ein bisschen rumbrüllen.«
Galbreath sah beide mit einem Ausdruck mühsamer Selbstbeherrschung an. »Es ist nur Gewebe, Kaye. Die Klinik muss es an ein autorisiertes Obduktionszentrum der Taskforce schicken. Das ist gesetzlich vorgeschrieben.«
»Sie ist meine Tochter«, sagte Kaye, und Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich will sie sehen, bevor sie mir weggenommen wird.« Das Schluchzen kam, ohne dass sie es unterdrücken konnte. Die Krankenschwester trat ins Zimmer, sah Galbreath bei den beiden stehen und hielt mit hilfloser, betroffener Miene in der Tür inne.
Galbreath nahm Mitch die Schale aus der Hand; er war froh, dass sie ihn davon befreite. Sie wartete, bis Kaye sich beruhigt hatte.
»Bitte«, sagte Kaye. Galbreath stellte ihr die Schale vorsichtig auf den Schoß.
Die Schwester ging hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Als sie das Tuch zurückzog, wandte Mitch sich ab.
Auf zerstoßenem Eis, in einem kleinen, wieder verschließbaren Plastikbeutel, nicht größer als eine kleine Labormaus, lag die Zwischentochter. Ihre Tochter. Neunzig Tage lang hatte Kaye sie ernährt, in sich getragen und beschützt.
Einen kurzen Augenblick lang wurde ihr schlecht. Mit einem Finger zeichnete sie die Umrisse in dem Beutel nach, die kurze, verbogene Wirbelsäule, den Rand der zerrissenen, winzigen Fruchtblase. Sie strich über den vergleichsweise großen, fast gesichtslosen Kopf, fand die kleinen Augenschlitze, den runzeligen, kaninchenartigen, fest geschlossenen Mund, die Knöpfchen an den Stellen, wo Arme und Beine sein sollten. Die kleine, dunkelrote Plazenta lag unter der Fruchtblase.
»Danke«, sagte Kaye zu dem Fetus.
Sie deckte die Schale wieder zu. Galbreath wollte sie ihr abnehmen, aber Kaye hielt ihre Hand fest. »Lassen Sie sie noch ein paar Minuten hier«, sagte sie. »Ich möchte dafür sorgen, dass sie nicht allein ist. Wohin sie auch gehen mag.«
Galbreath kam zu Mitch ins Wartezimmer. Er saß, den Kopf in die Hände gestützt, in einem hellen Sessel aus gebleichtem Eichenholz unter einer hellgrau gerahmten, in Pastell gemalten Seelandschaft.
»Sie sehen aus, als könnten Sie etwas zu trinken gebrauchen«, sagte sie.
»Schläft Kaye?«, fragte er. »Ich möchte bei ihr sein.«
Galbreath nickte. »Sie können jederzeit zu ihr. Ich habe sie untersucht. Wollen Sie die Einzelheiten wissen?«
»Bitte«, sagte Mitch und rieb sich das Gesicht. »Ich wusste nicht, dass ich so reagieren würde. Es tut mir Leid.«
»Nicht nötig. Sie ist eine tapfere Frau, und sie glaubt zu wissen, was sie will. Nun ja, sie ist immer noch schwanger. Der sekundäre Schleimpfropf ist offenbar schon an der richtigen Stelle. Keine Verletzungen, keine Blutung. Es war eine Ablösung wie aus dem Lehrbuch, falls sich schon jemand die Mühe gemacht hat, über so etwas ein Lehrbuch zu schreiben. Das Krankenhaus hat eine vorläufige Obduktion vorgenommen. Es ist eindeutig ein abgestoßenes erstes SHEVAStadium. Die Chromosomenzahl hat sich bestätigt.«
»Zweiundfünfzig?«, fragte Mitch.
Galbreath nickte. »Wie bei allen anderen. Eigentlich müssten es sechsundvierzig sein. Umfangreiche Chromosomenaberrationen.«
»Eine andere Art von Normalität«, sagte Mitch.
Galbreath setzte sich neben ihn und schlug die Beine übereinander. »Hoffen wir das Beste. In ein paar Monaten werden wir weitere Untersuchungen vornehmen.«
»Ich weiß nicht, wie sich eine Frau nach so etwas fühlt«, sagte er langsam, wobei er die Hände immer wieder faltete und entfaltete.
»Was soll ich ihr sagen?«
»Lassen Sie sie schlafen. Wenn sie aufwacht, sagen Sie ihr, dass Sie sie lieben, dass sie tapfer und eine tolle Frau ist. Dieser Teil wird ihr wahrscheinlich bald vorkommen wie ein böser Traum.«
Mitch starrte sie an. »Und was sage ich ihr, wenn es beim nächsten Mal auch nicht funktioniert?«
Galbreath neigte den Kopf zur Seite und strich sich mit dem Finger über die Wange. »Das weiß ich nicht, Mr. Rafelson.«
Mitch füllte die Entlassungsformulare aus und überflog den beigehefteten ärztlichen Bericht, den Galbreath unterschrieben hatte.
Kaye faltete ein Nachthemd zusammen, verstaute es in ihrem kleinen Koffer und ging dann steifbeinig ins Badezimmer, um ihre Zahnbürste einzupacken. »Mir tut alles weh«, sagte sie; ihre Stimme klang durch die offene Tür hohl.
»Ich besorge dir einen Rollstuhl«, rief Mitch. Er war schon fast zur Tür hinaus, da kam Kaye aus dem Bad und legte ihm die Hand auf die Schulter.
»Ich kann gehen. Dieser Teil ist jetzt erledigt, und deshalb fühle ich mich viel besser. Aber … Zweiundfünfzig Chromosomen, Mitch. Wenn ich bloß wüsste, was das bedeutet.«
»Wir haben noch Zeit«, bemerkte Mitch leise.
Kaye hätte ihm fast einen strengen Blick zugeworfen, aber an seinem Gesichtsausdruck konnte sie sehen, dass es nicht fair gewesen wäre und er ebenso verletzlich war wie sie. »Nein«, widersprach sie ganz einfach und sanft.
Galbreath klopfte an den Türrahmen.
»Kommen Sie rein«, sagte Kaye. Sie klappte den Deckel ihres Koffers zu und ließ das Schloss einschnappen. Die Ärztin befand sich in Begleitung eines befangenen jungen Mannes im grauen Anzug.
»Kaye, das ist Ed Gianelli. Er ist der Vertreter der Notstandsverwaltung am Marine Pacific Hospital.«
»Ms. Lang, Mr. Rafelson, es tut mir Leid, dass ich Sie belästigen muss. Ich brauche ein paar persönliche Angaben und eine Unterschrift. Rechtsgrundlage ist die Einverständniserklärung des Staates Washington zum Bundesnotstandsgesetz, beschlossen vom Gesetzgeber des Staates am 22. Juli dieses Jahres und unterzeichnet vom Gouverneur am 26. Juli. Ich bitte um Nachsicht für die Ungelegenheiten, die ich Ihnen in einer schmerzlichen Zeit bereite …«
»Worum geht es?«, unterbrach ihn Mitch. »Was müssen wir tun?«
»Alle Frauen, die mit einem SHEVASekundärfetus schwanger sind, müssen sich bei der Notstandsverwaltung registrieren lassen und sich mit weiteren medizinischen Untersuchungen einverstanden erklären. Sie können diese Untersuchungen durch die behandelnde Ärztin, Dr. Galbreath, vornehmen lassen, die dann die üblichen Tests durchführen wird.«
»Wir lassen uns nicht registrieren«, sagte Mitch und wandte sich zu Kaye. »Gehen wir?« Er legte ihr den Arm um die Schulter.
Gianelli wechselte die Tonart. »Die Gründe möchte ich nicht näher erläutern, Mr. Rafelson, aber Registrierung und Nachuntersuchungen sind durch das Kreisgesundheitsamt in Übereinstimmung mit Staats- und Bundesgesetzen zwingend vorgeschrieben.«
»Ich erkenne das Gesetz nicht an«, sagte Mitch energisch. »Die Strafe beträgt fünfhundert Dollar für jede Woche der Weigerung«, sagte Gianelli.
»Machen Sie besser kein großes Aufhebens um die Sache«, sagte Galbreath. »Es ist eine Art Anhang zur Geburtsurkunde.«
»Aber das Kind ist noch nicht geboren.«
»Dann stellen Sie es sich als Anhang zum ärztlichen Bericht über die Abstoßung vor«, schlug Gianelli mit hochgezogenen Schultern vor.
»Es hat keine Abstoßung gegeben«, sagte Kaye. »Was wir tun, ist ganz und gar natürlich.«
Gianelli hob aufgebracht die Arme. »Ich brauche doch nur Ihre derzeitige Adresse und eine Erklärung, dass Sie uns Einsicht in die einschlägigen ärztlichen Berichte gewähren. Von mir aus können Dr. Galbreath und Ihr Anwalt überprüfen, was wir uns ansehen.«
»Mein Gott«, sagte Mitch. Er schob Kaye an Galbreath und Gianelli vorbei, blieb dann stehen und sagte zu der Ärztin: »Sie wissen doch, was das bedeutet? Die Leute werden nicht mehr in die Krankenhäuser und zu den Ärzten kommen.«
»Mir sind die Hände gebunden«, erwiderte Galbreath. »Die Klinik hat sich bis gestern dagegen gewehrt. Wir haben immer noch vor, bei der Gesundheitsbehörde Einspruch einzulegen. Aber im Augenblick …«
Mitch und Kaye gingen. Galbreath stand mit fleckigem Gesicht in der Tür.
Gianelli lief ihnen aufgeregt durch den Korridor hinterher. »Ich muss Sie darauf aufmerksam machen, dass die Strafen sich addieren …«
»Geben Sie’s auf, Ed!«, rief Galbreath und schlug mit der Hand gegen die Wand. »Geben Sie’s auf und lassen Sie sie in Gottes Namen gehen!«
Gianelli stand mitten auf dem Flur und schüttelte den Kopf.
»So eine widerliche Scheiße!«
»Sie finden es Scheiße?«, schrie Galbreath ihn an. »Dann lassen Sie verdammt noch mal meine Patienten in Ruhe!«
»Ihr Gesicht sieht ja schon ganz gut aus«, bemerkte Shawbeck, als er auf Krücken in Augustines Büro kam. Sein Assistent half ihm, sich auf einem Stuhl niederzulassen. Augustine aß sein CornedBeefSandwich auf, wischte sich den Mund ab und schloss den Deckel der Styroporbox.
»Also gut«, sagte Shawbeck, nachdem er Platz genommen hatte.
»Wöchentliche Zusammenkünfte der Überlebenden des Zwanzigsten Juli. Den Vorsitz führt der Führer persönlich.«
Augustine blickte auf. »Überhaupt nicht komisch.«
»Wann stößt Christopher zu uns? Wir sollten eine Flasche Brandy aufheben, und der letzte Überlebende trinkt auf die Verstorbenen.«
»Christopher wird immer unzuverlässiger«, erwiderte Augustine.
»Sie nicht? Wie lange ist es her, dass Sie sich mit dem Präsidenten getroffen haben?«
»Drei Tage.«
»Gespräche über schwarze Kassen?«
»Reservebudget für Notstandsmaßnahmen«, sagte Augustine.
»Das hat er ja nicht mal mir gegenüber erwähnt.«
»Da bin ich jetzt am Ball. Die haben mir den alten Mühlstein an den Hals gehängt.«
»Weil Sie die Maßnahmen ausgearbeitet haben«, sagte Shawbeck. »Also — diese neuen Babys werden eigentlich alle tot geboren, aber wenn ein paar doch überleben sollten, werden sie ihren Eltern weggenommen und in Sonderkliniken gebracht, die wir aus einem Sonderetat finanzieren. Da gehen wir ganz schön weit.«
»Es sieht aus, als hätten wir die Öffentlichkeit auf unserer Seite«, erwiderte Augustine. »Der Präsident bezeichnet es als große Gefahr für die Volksgesundheit.«
»Ich möchte nicht für alles Geld der Welt in Ihrer Haut stecken, Mark. Das ist politischer Selbstmord. Der Präsident muss noch unter Schock gestanden haben, als er sich dafür ausgesprochen hat.«
»Ehrlich gesagt, Frank, nachdem er im Weißen Haus so lange in der zweiten Reihe gestanden hat, sticht ihn jetzt ein bisschen der Hafer. Er zerrt uns auf den schmalen Grat, alte Fehler auszubügeln und als Märtyrer seinen Maßnahmenkatalog durchzusetzen.«
»Und darin wollen Sie ihn noch bestärken?«
Augustine warf den Kopf zurück und nickte.
»Kranke Babys einsperren?«
»Die wissenschaftliche Seite kennen Sie.«
Shawbeck grinste sarkastisch. »Fünf Virologen haben auf Ihren Wunsch hin bestätigt, dass diese Kinder — und die Mütter — Brutstätten für uralte Viren sein könnten. Na ja, und siebenunddreißig Virologen haben zu Protokoll gegeben, dass sie so etwas für Humbug halten.«
»Die sind aber nicht so bekannt und haben bei weitem nicht so viel Einfluss.«
»Immerhin Thorne und Mahy und Mondavi und Bishop.«
»Frank, ich habe meinen Instinkt. Vergessen Sie nicht, es ist auch mein Fachgebiet.«
Shawbeck zog seinen Stuhl weiter vor. »Sind wir denn jetzt kleine Diktatoren?«
Augustines Miene wurde grau. »Dankeschön, Frank«, sagte er.
»Die Stimmung in der Öffentlichkeit richtet sich immer stärker gegen die Mütter und ihre ungeborenen Kinder. Und was ist, wenn die Babys klug sind? Wie lange wird es dauern, bis sie zurückschlagen? Was tun Sie dann, Mark?«
Augustine antwortete nicht.
»Ich weiß, warum der Präsident mich nicht empfängt«, sagte Shawbeck. »Sie sagen ihm, was er hören will. Er hat Angst. Das ganze Land ist außer Kontrolle, also sucht er verzweifelt nach einer Lösung, und Sie stärken ihm den Rücken. Das ist keine Wissenschaft, das ist Politik.«
»Der Präsident ist meiner Meinung.«
»Nennen wir es, wie wir wollen — Zwanzigster Juli, Reichstagsbrand — die Bombe ist doch für Sie kein Freibrief«, sagte Shawbeck.
»Wir wollen überleben«, erwiderte Augustine, »und ich habe uns dieses Blatt nicht in die Hand gegeben.«
»Nein«, sagte Shawbeck, »aber mit Sicherheit haben Sie verhindert, dass die Karten gerecht verteilt werden.«
Augustine starrte stur geradeaus.
»Sie nennen es ›Erbsünde‹, wussten Sie das?«
»Das hatte ich noch nicht gehört«, erwiderte Augustine.
»Schalten Sie mal das Christian Broadcasting Network ein. Die spalten die Wählerschaft in ganz Amerika. Pat Robertson erklärt seinem Publikum, die Monster seien Gottes letzte Prüfung vor Anbruch des neuen himmlischen Reiches. Angeblich ist unsere DNA dabei, sich von allen angehäuften Sünden zu reinigen, um … wie hat er es ausgedrückt, Ted?«
»Unser Führungszeugnis in Ordnung zu bringen, ehe Gott den Tag des Jüngsten Gerichtes ausruft«, ergänzte der Assistent.
»Genau.«
»Rundfunk und Fernsehen kontrollieren wir noch nicht, Frank«, sagte Augustine. »Man kann mich nicht verantwortlich machen …«
»Ein halbes Dutzend andere Fernsehprediger behaupten, diese ungeborenen Kinder seien eine Teufelsbrut«, fuhr Shawbeck mit wachsender Wut fort. »Sie würden mit den Zeichen des Satans geboren, mit nur einem Auge und einer Hasenscharte. Manche sagen sogar, sie hätten einen Bocksfuß.«
Augustine schüttelte traurig den Kopf.
»Das sind jetzt Ihre Sympathisanten«, sagte Shawbeck und bedeutete seinem Assistenten mit einer Handbewegung, er solle ihm helfen. Mühsam stand er auf und klemmte sich die Krücken in die Achselhöhlen. »Ich reiche morgen früh meinen Rücktritt ein. Bei den NIH wie bei der Taskforce. Ich bin am Ende. Ich kann diese Ignoranz nicht mehr ertragen — weder meine eigene noch die anderer Menschen. Ich dachte nur, Sie sollten es als Erster erfahren.
Vielleicht können Sie die ganze Macht an sich ziehen.«
Shawbeck ging. Augustine blieb hinter seinem Schreibtisch stehen und bekam kaum noch Luft. Seine Fingerknöchel waren weiß, und seine Hände zitterten. Nach und nach gewann er die Beherrschung zurück, indem er sich zwang, tief und gleichmäßig durchzuatmen.
»Es kommt nur auf die Art der Durchführung an«, vertraute er dem leeren Zimmer an.
Als sie die letzten Kisten aus Mitchs alter Wohnung holten, schneite es. Kaye bestand darauf, selbst ein paar kleine Kartons zu tragen, aber die schweren Dinge hatten Mitch und Wendell schon am frühen Morgen in den großen, orangeweißen Mietlastwagen geladen.
Kaye kletterte neben Mitch ins Fahrerhaus. Wendell saß am Steuer.
»Tschüs, ihr Junggesellentage«, sagte Kaye.
Mitch lächelte.
»Nicht weit von dem Haus ist eine Baumschule«, sagte Wendell.
»Wir können auf dem Weg einen Weihnachtsbaum mitnehmen.
Wird sicher schrecklich gemütlich.«
Ihr neues Zuhause stand auf einem Grundstück mit niedrigen Büschen und Bäumen in der Nähe des EbeySumpfes und der Kleinstadt Snohomish. Das in rustikalem Grün und Weiß gehaltene Dreizimmerhaus mit seinem einzigen Giebelfenster auf der Vorderseite und dem großen, verglasten Windfang lag am Ende einer langen, kieferngesäumten Landstraße. Sie hatten es von Wendells Eltern gemietet, denen es schon seit fünfunddreißig Jahren gehörte.
Dass sie jetzt eine andere Adresse hatten, hielten sie geheim.
Während die Männer den Lastwagen entluden, machte Kaye Sandwiches; außerdem stellte sie einen Sixpack Bier und ein paar Fruchtsäfte in den frisch gereinigten Kühlschrank. Als sie später auf Strümpfen in dem leeren, sauberen Wohnzimmer mit dem Eichenholzfußboden stand, empfand sie tiefen Frieden.
Wendell trug eine Lampe ins Wohnzimmer und stellte den Küchentisch auf. Kaye gab ihm eine Dose Bier. Dankbar nahm er einen so tiefen Zug, dass sein Adamsapfel auf und ab hüpfte. »Haben sie es euch erzählt?«, fragte er.
»Wer soll uns was erzählt haben?«
»Meine Eltern. Ich bin hier geboren. Es war ihr erstes Haus.« Er machte eine ausholende Geste in Richtung des Wohnzimmers.
»Ich habe immer ein Mikroskop mit in den Garten genommen.«
»Ist ja toll«, sagte Kaye.
»So bin ich Wissenschaftler geworden. Das hier ist ein heiliger Ort. Möge er euch beiden Glück bringen.«
Mitch schleppte einen Sessel und einen Zeitschriftenständer herein. Er nahm ebenfalls eine Dose Bier entgegen, stieß mit Kayes Ananassaft an und brachte einen Trinkspruch aus:
»Trinken wir auf das neue Maulwurfdasein«, sagte er. »Darauf, dass wir in den Untergrund abgetaucht sind.«
Vier Stunden später kam Maria Konig mit einem halben Dutzend weiterer Freunde, um beim Aufstellen der Möbel zu helfen.
Als sie fast fertig waren, klopfte Eileen Ripper an die Tür. Sie hatte eine ausgebeulte Segeltuchtasche dabei. Mitch stellte sie vor und sah dann, dass noch zwei andere draußen im Windfang warteten.
»Ich habe ein paar Freunde mitgebracht«, sagte Eileen. »Ich dachte, wir könnten mit euch zusammen unsere eigenen Neuigkeiten feiern.«
Sue Champion und ein großer, älterer Mann mit langen, schwarzen Haaren und einem nicht unbeträchtlichen Bauch kamen näher, beide nicht wenig verlegen. Die Augen des großen Mannes glitzerten wie die eines Wolfes.
Eileen schüttelte Maria und Wendell die Hand. »Mitch, du hast Sue bereits kennengelernt. Das ist Jack, ihr Mann. Und das hier ist für den Ofen«, sagte sie zu Kaye, während sie die Tasche neben dem Kamin fallen ließ. »Ahorn und Kirsche. Duftet großartig.
Wirklich ein schönes Haus!«
Sue nickte in Mitchs Richtung und lächelte Kaye an. »Wir kennen uns noch nicht«, sagte sie. Kaye hatte es die Sprache verschlagen. Sie öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch, bis sie beide nervös zu lachen begannen.
Zum Abendessen hatten sie gekochten Schinken und Forellen mitgebracht. Jack und Mitch umkreisten einander wie misstrauische Jungen, die sich gegenseitig taxieren. Sue wirkte ungezwungen, aber Mitch wusste nicht, was er sagen sollte. Leicht beschwipst entschuldigte er sich dafür, dass sie keine Kerzen hatten, und befand gleich darauf, die Situation verlange nach Campingleuchten.
Wendell schaltete die elektrischen Lichter aus. Das Wohnzimmer verwandelte sich in ein Zelt voll länglicher Schatten, in dessen beleuchteter Mitte sie zwischen den Kistenstapeln speisten. Sue und Jack zogen sich für kurze Zeit in eine Ecke zurück, um sich miteinander zu beraten.
Als sie zurückkamen, erklärte Jack: »Sue hat mir verraten, dass Sie euch beide mag. Aber ich bin ein misstrauischer Typ und sage: Ihr seid alle verrückt.«
»Da würde ich nicht widersprechen«, erwiderte Mitch und hob seine Bierdose.
»Sue hat mir erzählt, was Sie am Columbia River gemacht haben.«
»Das ist schon lange her«, entgegnete Mitch.
»Lass es gut sein«, ermahnte Sue ihren Mann.
»Ich möchte nur wissen, warum Sie es getan haben«, sagte Jack.
»Es hätte einer meiner Vorfahren sein können.«
»Ich wollte wissen, ob er wirklich einer Ihrer Vorfahren war«, erklärte Mitch.
»Und war er es?«
»Ich denke schon.«
Jack blinzelte in das blendende, zischende Licht der Campinglaterne. »Und die Sie in der Höhle in den Bergen gefunden haben, waren das die Vorfahren von uns allen?«
»In gewisser Weise ja.«
Jack schüttelte spöttisch den Kopf. »Sue hat mir gesagt, man kann die Vorfahren zu ihrem Volk zurückbringen, ganz gleich, wer das Volk ist, wenn wir nur ihre richtigen Namen erfahren.
Geister können gefährlich werden. Ich bin mir nicht sicher, ob das der richtige Weg ist, die Geister bei Laune zu halten.«
»Sue und ich haben eine neue Vereinbarung festgeklopft«, sagte Eileen. »Mit der Zeit wird sich das schon alles einspielen. Ich werde als Sonderberaterin der Stämme amtieren. Wenn irgendjemand alte Knochen findet, wird man mich rufen, damit ich sie mir ansehe. Wir werden die Knochen so schnell wie möglich vermessen, kleine Proben entnehmen und sie dann den Stämmen zurückgeben. Jack und seine Freunde haben etwas geschaffen, das sie Weisheitsritus nennen.«
»Die Namen liegen in ihren Knochen«, erklärte Jack. »Wir sagen ihnen, dass wir unsere Kinder nach ihnen benennen werden.«
»Das ist ja großartig«, sagte Mitch. »Ich bin begeistert. Erstaunt, aber begeistert.«
»Alle halten die Indianer für unwissend«, sagte Jack, »aber in Wirklichkeit sind uns nur andere Dinge wichtig.«
Mitch beugte sich über die Laterne hinweg und streckte Jack die Hand hin. Jack blickte zur Decke, und seine Zähne arbeiteten hörbar. »Es ist noch zu neu«, sagte er. Dennoch nahm er Mitchs Hand und schüttelte sie so kräftig, dass sie fast die Laterne umgestoßen hätten. Kaye dachte einen Augenblick lang, es würde sich zu einem Wettbewerb im Armdrücken entwickeln.
»Aber eines sage ich Ihnen«, fügte Jack hinzu, als sie fertig waren. »Sie müssen sich anständig benehmen, Mitch Rafelson.«
»Aus der Knochenbranche bin ich ein für alle Mal ausgestiegen«, erwiderte Mitch.
»Mitch träumt von den Menschen, die er findet«, bemerkte Eileen.
»Tatsächlich?« Jack war beeindruckt. »Sprechen sie mit Ihnen?«
»Ich werde einer von ihnen«.
»Oh«, brachte Jack nur noch heraus.
Kaye fand alle faszinierend, aber besonders beeindruckt war sie von Sue. Ihre Gesichtszüge strahlten mehr als nur Stärke aus — sie wirkten fast männlich —, und doch hatte Kaye den Eindruck, als hätte sie noch nie einen so schönen Menschen gesehen. Eileens Verhältnis zu Mitch war so zwanglos und spontan, dass Kaye sich fragte, ob die beiden wohl früher einmal eine Affäre gehabt hatten.
»Alle fürchten sich«, erklärte Sue. »Wir haben in Kumash viele SHEVA Schwangerschaften. Das ist einer der Gründe, warum wir mit Eileen zusammenarbeiten. Der Rat hat entschieden, dass unsere Vorfahren uns sagen können, wie man in diesen Zeiten überlebt.« Sie wandte sich an Kaye: »Sie tragen Mitchs Baby in sich?«
»Ja.«
»Ist die kleine Helferin schon gekommen und wieder gegangen?«
Kaye nickte.
»Bei mir auch«, sagte Sue. »Wir haben sie mit einem besonderen Namen und unserer besonderen Dankbarkeit und Liebe begraben.«
»Sie hieß Schnelle Schwalbe«, ergänzte Jack mit gedämpfter Stimme.
»Herzlichen Glückwunsch«, erwiderte Mitch ebenso leise.
»Ja, das ist angemessen«, erklärte Jack erfreut. »Kein Grund zur Trauer. Ihre Arbeit ist getan.«
»Die Regierung kann nicht einfach Leute vom Land des Rates wegholen«, sagte Sue. »Das lassen wir nicht zu. Wenn die Regierung aufdringlich wird, kommt ihr zu uns. Wir haben sie auch früher schon vertrieben.«
»Das ist ja toll«, sagte Eileen strahlend.
Aber Jack drehte sich um und blickte über seine Schulter ins Dunkle. Seine Augen wurden schmal, er schluckte heftig, und in seinem Gesicht bildeten sich tiefe Furchen. »Schwer zu sagen, was man tun oder glauben soll«, sagte er. »Es wäre mir lieb, die Geister würden deutlicher zu uns sprechen.«
»Wirst du uns mit deinem Wissen helfen, Kaye?«, fragte Sue.
»Ich werde mir Mühe geben.«
An Mitch gewandt, bekannte Sue fast widerstrebend: »Auch ich habe Träume. Ich träume von den neuen Kindern.«
»Erzähl’ uns von deinen Träumen«, bat Kaye.
»Sie sind vielleicht sehr intim, Schatz«, wandte Mitch ein.
Sue legte eine Hand auf Mitchs Arm. »Ich freue mich, dass du es verstehst. Sie sind tatsächlich intim, und manchmal sind sie auch beängstigend.«
Wendell kam mit einer Pappschachtel unter dem Arm die Leiter vom Dachboden herunter. »Meine Eltern haben gesagt, es sei noch alles da und sie haben Recht gehabt. Christbaumschmuck — du liebe Güte, was für Erinnerungen! Wer möchte den Baum aufstellen und ihn schmücken?«
»Hier sind Ihre Besprechungstermine für die beiden nächsten Wochen.« Florence Leighton gab Augustine einen kleinen Zettel, den er in die Hemdtasche stecken und jederzeit zu Rate ziehen konnte, wie er es gerne hatte. Die Liste wurde immer länger; heute Nachmittag würde er mit dem Gouverneur von Nebraska zusammentreffen, und wenn er anschließend noch Zeit hatte, sollte er eine Gruppe von Wirtschaftskolumnisten empfangen.
Außerdem freute er sich auf sieben Uhr abends: Er war zum Essen mit einer attraktiven Frau verabredet, die sich einen feuchten Kehricht um seine Bekanntheit in den Medien und seinen Ruf als unermüdliches Arbeitstier kümmerte. Er zog die Schultern zurück, fuhr mit dem Finger an der Aufstellung hinunter und faltete sie dann zusammen — für Mrs. Leighton das Zeichen, dass die Liste genehmigt und verbindlich war.
»Hier ist noch ein ganz Seltsamer«, sagte sie. »Er hat keinen Termin, aber er sagt, Sie würden ihn ganz sicher sehen wollen.«
Sie ließ eine Visitenkarte auf seinen Schreibtisch fallen und warf ihm einen schelmischen Blick zu. »Ein Kobold.«
Augustine sah sich den Namen an und spürte einen kleinen Stich Neugier.
»Kennen Sie ihn?«, fragte sie.
»Er ist Reporter. Ein Wissenschaftsjournalist, der seine Finger in mehreren heißen Storys hat.«
»Spinner oder Arschloch?«, fragte Mrs. Leighton.
Augustine lächelte. »Na gut. Ich werde ihn zwingen, Farbe zu bekennen. Sagen Sie ihm, er hat fünf Minuten.«
»Soll ich Kaffee bringen?«
»Er wird sicher Tee wollen.«
Augustine räumte seinen Schreibtisch auf und legte zwei Bücher in eine Schublade. Er wollte nicht, dass jemand in seinem derzeitigen Lesestoff herumschnüffelte. Das eine war eine dünne Monografie mit dem Titel Bewegliche genetische Elemente als Ursache von Neuerungen im Genom von Gräsern, das andere ein beliebter, gerade neu erschienener Roman von Robin Cook über eine große, unerklärliche Krankheitsepidemie, ausgelöst durch einen neuen Erreger, der vermutlich aus dem Weltraum stammte. Im Allgemeinen hatte Augustine Spaß an Romanen über Krankheitsepidemien, aber während des letzten Jahres hatte er sie gemieden. Dass er diesen hier las, war ein Zeichen für sein neu gewonnenes Selbstvertrauen.
Als Oliver Merton eintrat, stand er auf und lächelte. »Schön Sie wiederzusehen, Mr. Merton.«
»Danke, dass Sie Zeit für mich haben, Dr. Augustine. Ich habe draußen eine ganz nette Durchsuchung hinter mich gebracht. Sie haben mir sogar meinen Notizblock abgenommen.«
Augustine machte ein entschuldigendes Gesicht. »Ich habe sehr wenig Zeit, aber Sie haben sicher etwas Interessantes zu berichten.«
»Stimmt.« Merton sah auf, als Mrs. Leighton mit einem Tablett und zwei Tassen hereinkam.
»Tee, Mr. Merton?«, fragte sie.
Merton lächelte verlegen. »Eigentlich lieber Kaffee. Ich war die letzten Wochen in Seattle und habe mir den Tee ziemlich abgewöhnt.«
Mrs. Leighton streckte Augustine die Zunge heraus und ging noch eine Tasse Kaffee holen.
»Die ist ja ganz schön frech«, stellte Merton fest.
»Wir haben schon in harten Zeiten zusammengearbeitet«, erwiderte Augustine, »und auch in ziemlich düsteren Zeiten.«
»Natürlich«, sagte Merton. »Erst einmal herzlichen Glückwunsch, dass Sie es geschafft haben, die SHEVATagung an der University of Washington zu verhindern.«
Augustine sah ihn verblüfft an.
»Irgendetwas mit NIHForschungsgeldern, die gestrichen würden, wenn die Konferenz wie geplant stattfindet. Mehr konnte ich meinen Quellen an der Universität nicht aus der Nase ziehen.«
»Das ist mir neu«, sagte Augustine.
»Wir werden sie stattdessen in einem kleinen Motel außerhalb des Universitätsgeländes abhalten. Und die Verpflegung beziehen wir vielleicht von einem berühmten französischen Restaurant mit einem mitfühlenden Küchenchef. Das wird uns den sauren Apfel versüßen. Wenn wir schon ganz und gar zu ausgestoßenen Meuterern werden, wollen wir wenigstens unseren Spaß haben.«
»Das klingt alles andere als objektiv, aber ich wünsche Ihnen viel Glück«, sagte Augustine.
Mertons Miene verwandelte sich in ein herausforderndes Grinsen. »Gerade heute Morgen habe ich von Friedrich Brock erfahren, dass es bei dem Personal, das an der Universität Innsbruck für die Neandertalermumien zuständig ist, eine völlige Umbesetzung gegeben hat. Eine interne wissenschaftliche Begutachtung ist zu dem Schluss gelangt, dass die entscheidenden Befunde ignoriert und große wissenschaftliche Fehler begangen wurden. Man hat Herrn Professor Brock wieder nach Innsbruck gerufen. Er ist jetzt gerade unterwegs.«
»Ich weiß nicht, warum mich das interessieren sollte«, sagte Augustine. »Wir haben noch zwei Minuten.«
Mrs. Leighton kam mit einer Tasse Kaffee zurück. Merton nahm einen großen Schluck. »Danke. Sie werden die drei Mumien als genetisch verwandte Familienmitglieder bezeichnen. Das heißt, sie werden einräumen, dass wir es hier mit dem ersten handfesten Beleg für Artbildung beim Menschen zu tun haben.
Und in allen Proben wurde SHEVA gefunden.«
»Sehr gut«, sagte Augustine.
Merton presste die Handflächen gegeneinander. Florence beobachtete ihn mit beiläufiger Neugier.
»Damit sind wir am Anfang des langen, steinigen Weges zur Wahrheit, Dr. Augustine. Ich war gespannt, wie Sie die Nachricht aufnehmen würden.«
Augustine sog durch die Nase ein wenig Luft ein. »Was auch vor Zehntausenden von Jahren geschehen sein mag, es beeinflusst unsere Beurteilung der derzeitigen Vorgänge nicht. Kein einziger HerodesFetus ist bisher ausgetragen worden. Erst gestern haben uns Wissenschaftler des National Institute of Allergy and Infectious Diseases gesagt, dass nicht nur die sekundären Feten zu einem katastrophal hohen Anteil im ersten Schwangerschaftsdrittel abgestoßen werden, sondern dass sie auch besonders anfällig für praktisch alle bekannten Herpesviren sind, einschließlich des EpsteinBarrVirus. Mononucleose. Fünfundneunzig Prozent der Weltbevölkerung sind Träger des EpsteinBarrVirus, Mr. Merton.«
»Sie lassen sich durch nichts in Ihrer Einschätzung erschüttern, Doktor?«, fragte Merton.
»Mein eines gesundes Ohr klingelt noch von der Bombe, die unseren Präsidenten getötet hat. Ich habe schon alle möglichen Angriffe überlebt. Mich kann nichts erschüttern außer Fakten, Fakten von heute, Fakten, die etwas zu bedeuten haben.« Augustine ging um den Schreibtisch herum und setzte sich auf eine Ecke. »Ich wünsche den Leuten in Innsbruck alles Gute, ganz gleich, wer die Untersuchungen leitet«, sagte er. »In der Biologie gibt es so viele Rätsel, dass wir bis zum Ende aller Zeiten genug zu tun haben. Wenn Sie das nächste Mal in Washington sind, kommen Sie vorbei, Mr. Merton. Florence wird es dann sicher noch wissen — kein Tee, sondern Kaffee.«
Das Tablett auf den Beinen balancierend, bewegte Dicken seinen Rollstuhl durch die Kantine des Natcher Building. Er sah Merton und kam an das Ende des Tisches gerollt. Mit einer Hand stellte er sein Tablett ab.
»Angenehme Zugfahrt gehabt?«, fragte er.
»Hervorragend«, erwiderte Merton. »Ich denke, Sie sollten wissen, dass Kaye Lang nach wie vor ein Foto von Ihnen auf ihrem Schreibtisch stehen hat.«
»Für eine Nachricht ist das aber reichlich seltsam, Oliver. Warum um Himmels willen sollte mich das kümmern?«
»Weil ich glaube, dass Sie für Kaye mehr als nur wissenschaftliche Kollegialität empfunden haben«, sagte Merton. »Sie hatte Ihnen nach dem Bombenattentat mehrere Briefe geschrieben, aber Sie haben nie geantwortet.«
»Wenn Sie ekelhaft sein wollen, setze ich mich zum Essen woanders hin«, bemerkte Dicken und griff wieder nach seinem Tablett.
Merton hob die Hände. »Entschuldigung. Das war mal wieder mein Kritiker- und Aufklärerinstinkt.«
Dicken stellte das Tablett wieder ab und brachte seinen Rollstuhl in die richtige Stellung. »Die eine Hälfte des Tages warte ich darauf, dass ich wieder gesund werde, und ich mache mir Sorgen, dass ich die Beine und die Hand vielleicht nie wieder richtig benutzen kann … Ich versuche, Vertrauen in meinen Körper zu gewinnen. Und die andere Hälfte quäle ich mich in der Reha, bis es weh tut. Ich habe keine Zeit, über entgangene Gelegenheiten zu grübeln. Sie vielleicht?«
»Meine Freundin in Leeds hat letzte Woche Schluss gemacht.
Ich bin nie zu Hause. Außerdem bin ich positiv, und das hat sie verängstigt.«
»Tut mir Leid«, sagte Dicken.
»Ich war gerade in Augustines Allerheiligstem. Er wirkt ganz schön großspurig.«
»Die Meinungsumfragen geben ihm Recht. Aus der Gesundheitskrise wird internationale Politik. Fanatiker drängen uns zu Unterdrückungsgesetzen. Zum Kriegsrecht fehlt nur noch der Name, und die medizinischen Bekanntmachungen werden von der Taskforce herausgegeben — das heißt, die bestimmen fast alles.
Nach Shawbecks Rücktritt ist Augustine die Nummer zwei im Land.«
»Beängstigend«, sagte Merton.
»Sagen Sie mir, was heutzutage nicht beängstigend ist«, erwiderte Dicken.
Merton gab ihm Recht. »Ich bin überzeugt, dass Augustine die Fäden zieht, damit unsere SHEVATagung im Nordwesten verboten wird.«
»Er ist ein Bürokrat, wie er im Buche steht — das heißt, er verteidigt seine Stellung mit allen Mitteln.«
»Und wo bleibt die Wahrheit?«, fragte Merton mit gerunzelten Brauen. »Ich bin es nicht gewohnt zuzusehen, wie Behörden die wissenschaftliche Diskussion bestimmen.«
»Sie sind doch sonst nicht so naiv, Oliver. Die Briten tun das schon seit Jahren.«
»Ja, ja, ich habe mit so vielen Ministern zu tun gehabt, dass ich die Methode allmählich kenne. Aber wo stehen Sie? Sie haben dazu beigetragen, Kayes Bündnis zusammenzubringen — warum schmeißt Augustine Sie nicht einfach raus und geht zur Tagesordnung über?«
»Weil ich das Licht gesehen habe«, erwiderte Dicken. »Oder besser gesagt, die Dunkelheit. Die toten Babys. Ich habe die Hoffnung verloren. Augustine hat mich schon vorher ganz schön auf Trab gehalten — ich war eine Art Alibi, durfte an politischen Sitzungen teilnehmen. Aber er hat mir nie so viel Leine gelassen, dass ich daraus eine Schlinge hätte knüpfen können. Und jetzt … ich kann nicht mehr reisen, nicht mehr die notwendigen Recherchen anstellen. Ich bin nutzlos.«
»Kalt gestellt?«, wagte Merton zu fragen.
»Kastriert.«
»Flüstern Sie ihm nicht wenigstens ins Ohr: ›Die Wissenschaft sagt, Ihr könntet Unrecht haben, Majestät‹?«
Dicken schüttelte den Kopf. »Die Chromosomenzahlen sind ein ziemlich erdrückendes Argument. Zweiundfünfzig Chromosomen im Vergleich zu sechsundvierzig. Trisomien, Tetrasomien … Am Ende hätten sie wahrscheinlich alle so etwas wie ein DownSyndrom oder noch Schlimmeres. Wenn das EpsteinBarrVirus sie nicht erwischt.«
Merton hatte sich das Beste für den Schluss aufgespart. Er erzählte Dicken von den Veränderungen in Innsbruck. Dicken hörte aufmerksam zu, zwinkerte mit dem blinden Auge und starrte dann mit dem gesunden durch die großen Fenster in das helle Sonnenlicht.
Ihm fiel ein, worüber er sich mit Kaye unterhalten hatte, bevor Rafelson ihr überhaupt begegnet war.
»Rafelson fliegt also nach Österreich?« Dicken stocherte mit der Gabel in der Seezunge und dem Wildreis auf seinem Teller.
»Wenn sie ihn einladen. Derzeit ist er wahrscheinlich noch zu umstritten.«
»Ich erwarte den Bericht, aber ich halte deswegen nicht den Atem an«, sagte Dicken.
»Sie glauben, Kaye tut einen verhängnisvollen Schritt«, vermutete Merton.
»Ich weiß nicht, warum ich mir überhaupt dieses Essen geholt habe«, erwiderte Dicken. »Ich habe gar keinen Hunger.«
»Dem Kind geht es offenbar gut«, sagte Dr. Galbreath. »Die Entwicklung ist für das zweite Schwangerschaftsdrittel normal. Die Fruchtwasseranalyse ist so ausgefallen, wie wir es für einen sekundären SHEVAFetus erwarten.«
Für Kaye hörte sich das ein wenig kühl an. »Junge oder Mädchen?«, fragte sie.
»Zweiundfünfzig XX«, erwiderte Galbreath. Sie schlug einen braunen Aktendeckel auf und gab Kaye eine Kopie des Untersuchungsbefundes. »Weiblich mit Chromosomenaberrationen.«
Kaye starrte auf das Papier. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.
Sie hatte es Mitch nicht gesagt, aber insgeheim hatte sie sich ein Mädchen gewünscht, damit zumindest ein Teil der Distanz wegfiel, ein Teil der Unterschiede, mit denen sie sich abfinden musste.
»Sind Duplikationen dabei, oder handelt es sich um neue Chromosomen?«, fragte sie.
»Wenn wir ausreichende Kenntnisse hätten, um das zu entscheiden, wären wir berühmt«, erwiderte Galbreath. Dann sagte sie weniger förmlich: »Wir wissen es nicht. Bei oberflächlicher Betrachtung sieht es nicht nach Verdoppelungen aus.«
»Kein überzähliges Chromosom 21?«, fragte Kaye leise, während sie das Blatt mit seinen Zahlenreihen und den wenigen erklärenden Worten betrachtete.
»Ich glaube nicht, dass der Fetus ein DownSyndrom hat«, sagte Galbreath, »aber meine Einstellung zu dem Thema kennen Sie ja mittlerweile.«
»Wegen der überzähligen Chromosomen.«
Galbreath nickte.
»Wir haben keine Möglichkeit herauszufinden, wie viele Chromosomen die Neandertaler besaßen«, sagte Kaye.
»Wenn sie wie wir waren, sechsundvierzig.«
»Aber sie waren nicht wie wir. Es ist nach wie vor ein Rätsel.«
Kayes Worte hörten sich sogar für sie selbst unsicher an. Eine Hand auf den Bauch gelegt, stand sie auf. »So weit Sie sagen können, ist es also gesund.«
Galbreath nickte. »Allerdings muss ich mich fragen: Was weiß ich schon? So gut wie nichts. Bei Ihnen selbst ist der Test auf Herpes simplex Typ eins positiv, aber negativ für Mononucleose — das EpsteinBarrVirus. Und Sie haben noch nie Windpocken gehabt. Um Himmels Willen, Kaye, gehen Sie jedem aus dem Weg, der vielleicht Windpocken hat.«
»Ich passe auf«, erwiderte Kaye.
»Ich weiß nicht, was ich sonst noch sagen soll.«
»Wünschen Sie mir viel Glück.«
»Ich wünsche Ihnen alles Glück auf Erden und im Himmel. Aber als Ärztin fühle ich mich deshalb kein bisschen wohler.«
»Es ist immer noch unsere Entscheidung, Felicity.«
»Natürlich.« Galbreath blätterte weitere Papiere durch, bis sie am Ende des Ordners angelangt war. »Wenn das meine Entscheidung wäre, würden Sie niemals sehen, was ich Ihnen jetzt zeigen muss. Unser Einspruch ist abgelehnt. Wir müssen alle SHEVAPatientinnen auffordern, sich registrieren zu lassen. Und wenn Sie sich nicht einverstanden erklären, müssen wir die Registrierung an Ihrer Stelle vornehmen.«
»Dann tun Sie das«, sagte Kaye unbewegt. Sie spielte mit einer Falte ihrer Hose.
»Ich weiß, dass Sie umgezogen sind«, erwiderte Galbreath.
»Wenn ich falsche Angaben mache, könnte das Marine Pacific Hospital Schwierigkeiten bekommen. Dann würde man mich vor ein Standesgericht zitieren und mir die Zulassung entziehen.« Sie sah Kaye traurig, aber gefasst an. »Ich brauche Ihre neue Adresse.«
Kaye starrte das Formular an und schüttelte dann den Kopf.
»Ich flehe Sie an, Kaye. Ich möchte Sie ärztlich betreuen, bis es vorüber ist.«
»Vorüber?«
»Bis zur Entbindung.«
Wieder schüttelte Kaye den Kopf, dieses Mal mit dem halsstarrigen, wilden Ausdruck eines gejagten Kaninchens.
Galbreath blickte mit Tränen in den Augen auf das Ende des Untersuchungstisches. »Ich habe keine andere Wahl. Keiner von uns hat eine Wahl.«
»Ich will nicht, dass jemand kommt und mir das Kind wegnimmt«, sagte Kaye keuchend. Ihre Hände waren kalt.
»Wenn Sie sich nicht kooperativ zeigen, kann ich Sie nicht mehr als Ihre Ärztin betreuen«, erklärte Galbreath. Sie wandte sich abrupt um und ging aus dem Zimmer. Kurz darauf kam die Krankenschwester. Sie sah Kaye wie vor den Kopf gestoßen dastehen und fragte, ob sie helfen könne.
»Ich habe keine Ärztin mehr«, sagte Kaye.
Die Schwester trat zur Seite, weil Galbreath wieder hereinkam.
»Bitte, geben Sie mir Ihre Adresse. Ich weiß, dass das Marine Pacific sich allen Versuchen der örtlichen Taskforce widersetzt, mit den Patientinnen Kontakt aufzunehmen. Ich versehe Ihre Akte mit zusätzlichen Warnungen. Wir stehen auf Ihrer Seite, Kaye, glauben Sie mir.«
Kaye wollte unbedingt mit Mitch sprechen, aber der war im Universitätsviertel und regelte die letzten Hotelangelegenheiten für die Tagung. Dabei wollte sie ihn nicht stören.
Galbreath gab ihr einen Kugelschreiber. Ganz langsam füllte sie das Formular aus. Die Ärztin nahm es an sich. »Die hätten es sowieso herausgefunden«, sagte sie knapp.
Kaye nahm den Bericht und ging aus dem Krankenhaus zu dem braunen Toyota Camry, den sie vor zwei Monaten gekauft hatten.
Zehn Minuten saß sie wie betäubt im Auto, das Lenkrad mit blutleeren Fingern umklammert. Schließlich drehte sie den Zündschlüssel.
Sie hatte gerade das Fenster heruntergekurbelt, um frische Luft hereinzulassen, da hörte sie, wie Galbreath ihr etwas nachrief. Ihr erster Gedanke war, einfach aus der Parklücke zu setzen und wegzufahren, aber dann trat sie auf die Bremse und drehte sich nach links. Galbreath rannte über den Parkplatz, legte die Hand auf die Autotür und sah Kaye an.
»Sie haben eine falsche Adresse angegeben, stimmt’s?«, fragte sie, das Gesicht vor Wut gerötet.
Kaye starrte ins Leere.
Galbreath schloss die Augen und versuchte, wieder zu Atem zu kommen. »Mit Ihrem Baby ist alles in Ordnung«, sagte sie. »Ich kann nicht erkennen, dass ihm irgendetwas fehlt. Ich begreife nichts mehr. Warum stößt Ihr Organismus es nicht als Fremdgewebe ab — es ist doch ganz anders als Sie! Genauso gut könnten Sie mit einem Gorilla schwanger sein. Aber Ihr Körper nimmt es an und ernährt es. Das ist bei allen Müttern so. Warum untersucht die Taskforce das nicht?«
»Es ist ein Rätsel«, räumte Kaye ein.
»Verzeihen Sie mir bitte, Kaye.«
»Schon verziehen«, erwiderte Kaye nicht ganz aufrichtig.
»Nein, ich meine es ernst. Es ist mir egal, wenn sie mir die Zulassung entziehen — möglicherweise haben sie in der ganzen Sache völlig Unrecht! Ich möchte auch weiterhin Ihre Ärztin bleiben.«
Von der Anspannung erschöpft, verbarg Kaye das Gesicht in den Händen. Ihr Hals fühlte sich an, als sei er aus Stahlfedern. Sie hob den Kopf und legte ihre Hand auf die von Galbreath. »Wenn das möglich ist, wäre es mir sehr lieb«, sagte sie.
»Wohin Sie auch gehen, was Sie auch tun, versprechen Sie mir — dass ich bei der Entbindung dabei sein darf?«, bettelte Galbreath.
»Ich werde so viel wie möglich über SHEVA Schwangerschaften in Erfahrung bringen, damit ich vorbereitet bin, und ich möchte Ihre Tochter entbinden.«
Kaye parkte gegenüber dem alten, quaderförmigen University Plaza Hotel jenseits der Stadtautobahn, die zur University of Washington führte. Sie fand ihren Mann im Erdgeschoss. Mitch wartete gerade auf das offizielle Angebot des Geschäftsführers, der sich in sein Büro zurückgezogen hatte.
Sie berichtete ihm, was sich im Marine Pacific Hospital zugetragen hatte. Mitch schlug mit der Faust wütend auf die Tür des Tagungsraumes. »Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen — nicht eine Minute lang!«
»Du weißt, dass das nicht geht«, erwiderte Kaye, »aber ich denke, ich habe meine Sache ganz gut gemacht.«
»Ich kann nicht fassen, dass Galbreath dir so etwas antun wollte.«
»Ich weiß, dass sie es nicht wollte.« Mitch ging im Kreis, versetzte einem Metallklappstuhl einen Fußtritt, gestikulierte hilflos.
»Sie will uns helfen«, sagte Kaye.
»Können wir ihr denn jetzt noch trauen?«
»Für Verfolgungswahn gibt es keinen Anlass.«
Mitch blieb kurz stehen. »Da hat sich ein großer alter Zug in Bewegung gesetzt, und wir stehen in seinem Scheinwerferlicht. Ich weiß das, Kaye. Es ist nicht nur die Regierung. Jede schwangere Frau auf Erden ist verdächtig. Augustine — dieses Riesenarschloch — sorgt dafür, dass ihr alle vogelfrei seid. Ich könnte ihn umbringen!«
Kaye hielt ihn an den Armen fest und zog sanft. Dann umarmte sie ihn. Er war so wütend, dass er sie abschüttelte und weiter im Raum auf und ab ging. Sie griff energischer nach ihm. »Bitte, Mitch, es reicht.«
»Und jetzt bist du hier draußen, erreichbar für jeden, der gerade vorbeikommt!«, sagte er. Seine Arme zitterten.
»Ich weigere mich, eine Gewächshauspflanze zu werden«, erwiderte Kaye abwehrend.
Er gab auf und ließ die Schultern hängen. »Was können wir tun? Wann werden sie Polizeiwagen mit Schlägertypen losschicken, um uns einzufangen?«
»Ich weiß es nicht«, sagte Kaye. »Irgendetwas muss passieren.
Ich habe Vertrauen in dieses Land, Mitch. Die Leute werden sich das nicht gefallen lassen.«
Mitch setzte sich auf einen Klappstuhl am Ende des Mittelganges. Der Raum war hell erleuchtet. Fünfzig leere Stühle waren in fünf Reihen angeordnet, und am Vorderende stand ein weiß gedeckter Tisch mit Kaffeegeschirr. »Wendell und Maria sprechen von einem geradezu unglaublichen Druck. Sie haben offiziell protestiert, aber niemand in der Fakultät macht auch nur das geringste Zugeständnis. Forschungsmittel werden gestrichen, Büros werden neu verteilt, und in den Labors treiben Aufseher ihr Unwesen.
Langsam verliere ich jede Zuversicht, Kaye. Ich habe das schon einmal erlebt, nachdem …«
»Ich weiß«, sagte Kaye.
»Und jetzt lässt das Außenministerium Brock aus Innsbruck nicht mehr einreisen.«
»Wann hast du denn das erfahren?«
»Merton hat mich heute Nachmittag aus Bethesda angerufen.
Augustine will die ganze Sache abwürgen. Am Ende bleiben nur noch wir beide übrig — und du musst dich verstecken!«
Kaye setzte sich neben ihn. Von ihren früheren Kollegen an der Ostküste hatte sie nichts mehr gehört. Nichts von Judith.
Widersinnigerweise hatte sie das Bedürfnis, mit Marge Cross zu sprechen. Ihr wäre jede Unterstützung recht gewesen.
Besonders schmerzlich vermisste sie ihre Mutter und ihren Vater.
Sie beugte sich zur Seite und legte den Kopf auf Mitchs Schulter. Mit seinen großen Händen strich er ihr sanft über die Haare.
Über die eigentliche Neuigkeit des Vormittags hatten sie noch gar nicht gesprochen. So schnell gingen die wichtigen Dinge in dem ganzen Hader verloren. »Ich weiß etwas, das du nicht weißt«, sagte Kaye.
»Und zwar was?«
»Wir werden eine Tochter bekommen.«
Mitch hielt einen Augenblick die Luft an, und die Falten in seinem Gesicht wurden tiefer. »Du lieber Gott«, sagte er.
»Es konnte nur eines von beiden sein«, sagte Kaye und grinste über seine Reaktion.
»So hattest du es dir doch gewünscht.«
»Habe ich das gesagt?«
»An Heiligabend. Du hast gesagt, du würdest ihr Puppen kaufen.«
»Stört es dich?«
»Natürlich nicht. Für mich ist es nur jedes Mal ein kleiner Schock, wenn wir wieder einen Schritt weiter sind, das ist alles.«
»Dr. Galbreath sagt, sie sei gesund. Ihr fehlt nichts. Sie hat die überzähligen Chromosomen — aber das wussten wir ja schon.«
Mitch legte ihr die Hand auf den Bauch. »Ich spüre, wie sie sich bewegt«, sagte er, ging vor Kaye in die Knie und legte das Ohr auf ihren Leib. »Sie wird sehr schön sein.«
Der Geschäftsführer des Hotels kam mit einem Stapel Papiere in den Konferenzraum und sah die beiden überrascht an. Der Mittfünfziger mit dem üppigen braunen Lockenkopf und dem breiten, unauffälligen Gesicht hätte ein NullachtfünfzehnOnkel sein können. Mitch stand auf und strich sich die Hose glatt.
»Meine Frau«, sagte er verlegen.
»Natürlich«, erwiderte der Geschäftsführer. Er kniff die blassblauen Augen zusammen und nahm Mitch beiseite. »Sie ist doch schwanger, oder? Das haben Sie mir nicht gesagt. Es wird hier nicht erwähnt …« Er wühlte in den Papieren und sah Mitch dann vorwurfsvoll an. »Nirgendwo. Wir müssen mit öffentlichen Versammlungen und Kontakten jetzt sehr vorsichtig sein.«
Mitch lehnte sich an den Buick und strich sich mit der Hand über das Kinn. Obwohl er sich am Morgen rasiert hatte, machten seine Finger ein leises, schabendes Geräusch. Er zog die Hand zurück.
Kaye stand vor ihm.
»Ich bringe dich nach Hause«, sagte er.
»Und was ist mit dem Buick?«
Er schüttelte den Kopf. »Den hole ich später. Wendell kann mich mitnehmen.«
»Wohin fahren wir jetzt?«, fragte Kaye. »Wir könnten es in einem anderen Hotel versuchen. Oder einen Versammlungssaal mieten.«
Mitch zog ein angewidertes Gesicht. »Der Idiot hat nach einer Ausrede gesucht. Er kannte deinen Namen. Er hat jemanden angerufen. Hat uns überwacht wie ein guter kleiner Nazi.« Er streckte die Hände in die Luft. »Lang lebe das freie Amerika!«
»Wenn Brock nicht wieder einreisen darf …«
»Wir halten die Tagung im Internet ab«, sagte Mitch. »Das kriegen wir schon hin. Im Augenblick mache ich mir vor allem um dich Sorgen. Irgendetwas muss geschehen.«
»Aber was?«
»Spürst du es nicht?« Er rieb sich die Stirn. »Der Blick von dem Hotelmanager, diesem feigen Arschloch. Wie von einer verschreckten Ziege. Der hat keinen blassen Schimmer von Biologie.
Sein Leben besteht aus ungefährlichen kleinen Handlungen, und mit dem System legt er sich nicht an. So sind sie fast alle. Sie lassen sich herumstoßen und laufen in die Richtung, in die sie gestoßen werden.«
»Das klingt aber sehr zynisch«, sagte Kaye.
»Es ist die politische Realität. Ich war bisher wirklich dumm.
Habe dich allein fahren lassen. Man könnte dich aufgreifen, angreifen …«
»Ich lasse mich nicht in einen Käfig setzen, Mitch.«
Mitch zuckte zusammen.
Kaye legte ihm die Hand auf die Schulter. »Tut mir Leid. Du weißt, wie ich es meine.«
»Es passt alles, Kaye. Du hast es in Georgien gesehen. Ich habe es in den Alpen gesehen. Wir sind zu Fremden geworden. Die Menschen hassen uns.«
»Sie hassen mich«, sagte sie, und ihr Gesicht wurde blass, »weil ich schwanger bin.«
»Mich hassen sie auch.«
»Aber von dir verlangen sie nicht, dass du dich wie ein Jude im NaziDeutschland registrieren lassen musst.«
»Noch nicht«, sagte Mitch. »Fahren wir.« Er legte den Arm um sie und begleitete sie zum Toyota. Kaye musste sich anstrengen, um mit seinen langen Schritten mitzuhalten. »Vermutlich haben wir noch einen oder zwei Tage, vielleicht auch drei. Dann … wird irgendjemand irgendetwas unternehmen. Du bist ein Stachel in ihrem Fleisch. Ein doppelter Stachel.«
»Warum doppelt?«
»Prominente haben Macht«, sagte Mitch. »Man weiß, wer du bist, und du weißt, was in Wirklichkeit los ist.«
Kaye stieg auf der Beifahrerseite ein und kurbelte das Fenster herunter. Im Auto war es warm. Mitch schlug ihre Tür zu. »Weiß ich das wirklich?«, gab Kaye zurück.
»Du weißt es verdammt gut. Sue hat dir ein Angebot gemacht.
Nehmen wir es an. Ich sage nur Wendell, wohin wir gehen. Sonst niemandem.«
»Aber ich hänge an dem Haus.«
»Wir werden ein anderes finden«, erwiderte Mitch.
Mark Augustine fieberte fast vor Freude über seinen Triumph. Er breitete die Bilder vor Dicken aus und legte die Videokassette in das Abspielgerät. Dicken nahm das erste Bild, hielt es nahe vor sein Gesicht, blinzelte. Die üblichen Farben medizinischer Aufnahmen: Fleisch in seltsamem Orange und Olivgrün, Läsionen rosa, die Gesichtszüge unscharf. Ein Mann, vermutlich über vierzig, lebendig, aber alles andere als glücklich. Das nächste Bild zeigte in Nahaufnahme den Arm des Mannes mit rosaroten Flecken; ein daneben liegendes, gelbes Plastiklineal deutete die Größenverhältnisse an. Der größte Fleck hatte einen Durchmesser von sieben Zentimetern, und in der Mitte befand sich eine hässliche, verkrustete Stelle mit dicklicher gelber Flüssigkeit. Allein am rechten Arm zählte Mitch sieben Flecken.
»Die habe ich heute Morgen den Mitarbeitern gezeigt«, sagte Augustine und griff nach der Fernbedienung, um das Video zu starten. Dicken überflog die nächsten Bilder. Auch der Rumpf des Mannes war mit rosafarbenen Hautschäden übersät. Manche davon waren riesige Blasen, auffällige Wucherungen, die zweifellos schmerzhaft waren. »Wir haben inzwischen Gewebeproben zur Untersuchung hier, aber das Team hat nur zur Bestätigung schon vor Ort einen SHEVASchnelltest durchgeführt. Die Frau des Mannes befindet sich mit einem SHEVASekundärfetus im zweiten Schwangerschaftsdrittel und trägt nach wie vor SHEVA Typ 3-s. Der Mann ist mittlerweile SHEVAfrei, das heißt, wir können SHEVA als Ursache der Hautschäden ausschließen, aber das hätten wir ohnehin nicht erwartet.«
»Wo sind diese Leute?«, fragte Dicken.
»In San Diego, Kalifornien. Illegale Einwanderer. Unser Überwachungskorps hat die Untersuchung vorgenommen und uns das Material geschickt. Es ist ungefähr drei Tage alt. Die Lokalpresse wird vorerst noch rausgehalten.«
Augustines Lächeln, das genauso schnell wie es auftauchte wieder verschwand, ähnelte kurz aufflackernden Blitzen. Er drehte sich vor seinem Schreibtisch um und spielte das Band im Schnelldurchlauf ab: Szenen aus der Klinik, die Station, die provisorischen Quarantänemaßnahmen im Zimmer — Plastikvorhänge, die mit Klebeband an Wänden und Tür befestigt waren, eine eigene Belüftung. Dann hob er den Finger von der Fernbedienung und ließ das Band wieder mit Normalgeschwindigkeit laufen.
Doktor Ed Sanger, der Aufsicht führende Vertreter der Taskforce am Mercy Hospital, über fünfzig und mit strähnigen, dunkelblonden Haaren, stellte sich vor und betete dann befangen die Diagnose herunter. Dicken hörte mit wachsendem Grauen zu. Wie ich mich so irren konnte. Augustine hat Recht. Alle seine Vermutungen haben ins Schwarze getroffen.
Augustine hielt das Band an. »Es ist ein Virus mit einzelsträngiger RNA, riesengroß und primitiv, vermutlich etwa 160000 Nucleotide. So etwas haben wir noch nie gesehen. Wir sind dabei, Übereinstimmungen zwischen seinem Genom und den bekannten codierenden Regionen von HERV zu finden. Es wirkt unglaublich schnell, es ist schlecht angepasst, und es ist tödlich.«
»Er sieht gar nicht gut aus«, sagte Dicken.
»Der Mann ist gestern Abend gestorben.« Augustine schaltete den Videorecorder aus. »Die Frau scheint symptomfrei zu sein, aber sie hat die üblichen Probleme mit der Schwangerschaft.« Augustine verschränkte die Arme und setzte sich auf die Ecke des Schreibtisches. »Horizontale Übertragung eines unbekannten Retrovirus, mit ziemlicher Sicherheit in Gang gesetzt und ausgerüstet von SHEVA. Die Frau hat den Mann angesteckt. Das ist es, Christopher. Genau das, was wir brauchen. Helfen Sie uns, wenn wir an die Öffentlichkeit gehen?«
»An die Öffentlichkeit? Womit?«
»Wir werden alle Frauen mit Sekundärschwangerschaften in Quarantäne nehmen und/oder kasernieren. Für einen so weit gehenden Eingriff in die Grundrechte brauchen wir eine hieb- und stichfeste Begründung. Der Präsident ist bereit, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen, aber seine Mitarbeiter sagen, dass wir die richtigen Persönlichkeiten brauchen, um die Sache rüberzubringen.«
»Ich bin keine Persönlichkeit. Nehmen Sie einen Fernsehstar wie Bill Cosby.«
»Cosby macht nicht mit. Aber Sie … Sie sind doch sozusagen das Musterbeispiel für den tapferen Helden im Namen der Gesundheit, der sich von seinen Verwundungen erholen muss, weil Fanatiker uns aufhalten wollten.« Wieder blitzte Augustines Lächeln auf.
Dicken sah nach unten auf seine Schenkel. »Sind Sie sich Ihrer Sache ganz sicher?«
»So sicher, wie wir sein können, bevor alle Untersuchungen abgeschlossen sind. Das kann noch drei oder vier Monate dauern.
Aber angesichts der Folgen können wir es uns nicht leisten abzuwarten.«
Dicken sah Augustine an und ließ den Blick dann durch das Bürofenster zu den Bäumen und Wolkenfetzen wandern. Augustine hatte dort ein kleines buntes Glasbild aufgehängt, eine Wappenlilie in Rot und Grün.
»Alle Mütter müssten Aufkleber am Haus haben«, sagte Dicken.
»Ein Q oder ein S vielleicht. Und jede schwangere Frau müsste nachweisen, dass es sich nicht um einen SHEVAFetus handelt.
Das wird Milliarden kosten.«
»Über die Finanzierung brauchen wir uns keine Sorgen zu machen«, sagte Augustine. »Wir haben es mit der größten Gesundheitsgefahr aller Zeiten zu tun. Es ist die biologische Entsprechung zur Büchse der Pandora, Christopher. Alle RetrovirusErkrankungen, die wir besiegt haben, aber nicht los werden konnten. Hunderte, vielleicht Tausende von Krankheiten, gegen die wir heute keine natürliche Abwehr mehr haben. Dass wir dafür ausreichende Mittel bekommen, ist überhaupt keine Frage.«
»Es gibt nur ein Problem«, sagte Dicken. »Ich glaube nicht daran.«
Augustine starrte ihn an. In seinen Mundwinkeln bildeten sich tiefe Furchen, und die Brauen zogen sich zusammen.
»Ich bin hinter Viren her, fast seit ich erwachsen bin«, sagte Dicken. »Ich habe gesehen, was sie anrichten können. Ich kenne mich mit Retroviren aus, ich weiß über HERVs Bescheid. Ich weiß über SHEVA Bescheid. Die HERVs wurden wahrscheinlich deshalb nicht aus dem Genom beseitigt, weil sie Schutz gegen andere, neuere Retroviren boten. Sie sind unser eigenes kleines Verteidigungsarsenal. Und … unser Genom nutzt sie, um Neuerungen hervorzubringen.«
»Das wissen wir nicht«, sagte Augustine. Seine Stimme krächzte vor Anspannung.
»Ich möchte auf die wissenschaftlichen Ergebnisse warten, bevor wir alle Mütter in Amerika einsperren«, sagte Dicken.
Als Augustines Haut vor Verwirrung und dann vor Ärger dunkler wurde, traten die Granatsplitternarben deutlicher hervor. »Die Gefahr ist einfach zu groß«, sagte er. »Ich dachte, Sie wüssten die Chance zu schätzen, wieder auf der Bildfläche zu erscheinen.«
»Nein«, erwiderte Dicken. »Ich kann nicht.«
»Hängen Sie immer noch an den Hirngespinsten von einer neuen Spezies?«, fragte Augustine wütend.
»Das habe ich lange hinter mir«, sagte Dicken, erstaunt über die verdrossene Heiserkeit in seiner eigenen Stimme. Er klang wie ein Greis.
Augustine ging um den Schreibtisch herum, zog eine Hängeregistratur heraus und entnahm ihr einen Umschlag. Alles an seiner Körperhaltung, die kleinkarierte, gehemmte Großspurigkeit in seinem Gang, die wie festzementierten Gesichtszüge weckten bei Dicken ein Gefühl des Grauens. So hatte er Mark Augustine noch nie erlebt: als jemanden, der den Gnadenstoß austeilen wollte.
»Das ist für Sie gekommen, während Sie im Krankenhaus lagen.
Es steckte in Ihrem Postfach. Es war an Sie in Ihrer amtlichen Funktion adressiert, und deshalb habe ich mir erlaubt, es zu öffnen.«
Er gab Dicken die Papiere.
»Es kommt aus Georgien. Leonid Sugashvili hat Ihnen doch Bilder von Exemplaren geschickt, die er als möglichen Homo superior bezeichnet, oder?«
»Ich habe es nicht überprüft«, sagte Dicken, »und deshalb habe ich es Ihnen gegenüber nicht erwähnt.«
»Sehr klug. Man hat ihn in Tiflis wegen Betrugs verhaftet. Weil er die Angehörigen von Menschen hintergangen hat, die seit den Vorfällen vermisst werden. Er hatte den trauernden Hinterbliebenen versprochen, er könne ihnen zeigen, wo ihre Verwandten bestattet seien. Sieht aus, als hätte er es auch bei den CDC versucht.«
»Das wundert mich nicht, und es ändert auch nichts an meiner Meinung, Mark. Ich bin fix und fertig. Es fällt mir schwer genug, meinen eigenen Körper heilen zu lassen. Ich bin nicht der Richtige dafür.«
»Na gut«, sagte Augustine. »Ich lasse Sie wegen der Behinderung frühpensionieren. Wir brauchen Ihr Büro an den CDC. Nächste Wochen kommen sechzig spezialisierte Epidemiologen, und dann beginnen wir mit der Phase zwei. Mit Räumen sind wir so knapp, dass wir anfangs wahrscheinlich drei davon in Ihr Büro setzen werden.«
Schweigend sahen sie einander an.
»Danke, dass Sie mich so lange mitgeschleppt haben«, sagte Dicken ohne jeden Anflug von Ironie.
»Gern geschehen«, erwiderte Augustine ebenso neutral.
Mitch stellte die letzte Kiste auf den Stapel neben der Haustür.
Wendell Packer war am Morgen mit einem Lieferwagen gekommen. Er sah sich im Haus um, und seine Lippen bildeten eine schiefe, gebogene Linie. Sie hatten nur wenig mehr als zwei Monate hier gewohnt. Und ein Mal Weihnachten gefeiert.
Kaye hatte das Telefon aus dem Schlafzimmer in der Hand. Das Kabel hing lose herunter. »Abgestellt«, sagte sie. »Die arbeiten schnell, wenn man einen Haushalt auflöst. Ja — wie lange waren wir eigentlich hier?«
Mitch saß in dem abgeschabten Klubsessel, den er seit seiner Studentenzeit besaß. »Wir schaffen das schon«, sagte er. Seine Hände fühlten sich seltsam an — sie kamen ihm irgendwie größer vor. »Du lieber Himmel, was bin ich müde.«
Kaye saß auf der Armlehne des Sessels und massierte ihm die Schultern. Er lehnte sich an ihren Arm und rieb seine stoppelige Wange an ihrer pfirsichfarbenen Strickjacke.
»Mist«, sagte sie, »ich habe vergessen, die Batterien im Handy zu wechseln.« Sie küsste ihn auf den Kopf und eilte noch einmal ins Schlafzimmer. Mitch fiel auf, wie kraftvoll sie selbst im siebten Monat noch ging. Ihr Bauch wölbte sich deutlich, ohne riesig zu wirken. Er bedauerte, sich mit Schwangerschaften so wenig auszukennen. Dass er ausgerechnet in dieser Situation zum ersten Mal Vater wurde …
»Beide Akkus sind leer«, rief Kaye aus dem Schlafzimmer. »Es dauert ungefähr eine Stunde.«
Mitch betrachtete die verschiedenen Gegenstände im Schlafzimmer und blinzelte. Dann streckte er die Hände aus. Sie wirkten wie geschwollen, als hingen sie in PopeyeManier an den Unterarmen. Auch seine Füße fühlten sich groß an, aber er schaute nicht hin. Es war äußerst verwirrend. Obwohl es erst vier Uhr nachmittags war, hätte er sich am liebsten schlafen gelegt. Sie hatten gerade eine Dosensuppe zum Abendessen genossen. Draußen war es noch hell.
Eigentlich hatte er ein letztes Mal mit Kaye schlafen wollen, ehe sie das Haus verließen. Sie kam zurück und zog sich einen Hocker heran.
»Setz’ dich hierher«, sagte Mitch und wollte sich erheben. »Das ist bequemer.«
»Ist schon gut. Ich möchte aufrecht sitzen.«
Halb im Aufstehen hielt Mitch inne. Er fühlte sich benommen.
»Stimmt etwas nicht?«
Er sah das erste Aufleuchten. Mit geschlossenen Augen ließ er sich wieder in den Sessel fallen. »Es kommt«, sagte er.
»Was?«
Er zeigte auf seine Schläfe und sagte leise: »Peng.« Schon als Junge hatte er erlebt, wie sich sein ganzer Körper während der Kopfschmerzen verkrampfte. Er wusste noch genau, wie unangenehm er das empfunden hatte, und jetzt rastete er vor Widerwillen und bösen Vorahnungen beinahe aus.
»Ich habe Tabletten in der Handtasche«, sagte Kaye. Er hörte sie durchs Zimmer gehen. Mit geschlossenen Augen sah er gespenstische Lichter, seine Füße kamen ihm so riesig wie die eines Elefanten vor. Die Schmerzen rückten näher, so als dröhne Kanonendonner durch ein weites Tal.
Kaye drückte ihm zwei Pillen und ein Glas Wasser in die Hand.
Er schluckte das Medikament und trank, aber ohne jede Zuversicht, dass sie ihm helfen würden. Wenn er eindeutig gewarnt gewesen wäre, wenn er sie früher am Tag genommen hätte, dann vielleicht …
»Wir packen dich am besten ins Bett«, sagte Kaye.
»Wie bitte?«
»Bett.«
»Ich will hier weg«, sagte er.
»Genau. Schlaf ein bisschen.«
Es war der einzige Ausweg, auf den er hoffen konnte. Aber selbst dann würde er vielleicht grausige, qualvolle Träume haben. Auch daran konnte er sich erinnern; wie er geträumt hatte, die Berge würden ihn zermalmen.
Er legte sich in der Kühle des leeren Schlafzimmers auf die Laken, die sie für ihre letzte Nacht hier gelassen hatten, und unter die Steppdecke. Er zog sich die Decke über den Kopf, sodass nur noch eine kleine Öffnung zum Atmen blieb.
Dass Kaye ihm sagte, wie sehr sie ihn liebte, hörte er kaum noch.
Kaye zog die Decke zurück. Mitchs Stirn war feucht und eiskalt.
Sie war besorgt und hatte Schuldgefühle, weil sie seine Schmerzen nicht mit ihm teilen konnte; aber dann siegte ihre Vernunft und sie sagte sich, dass Mitch ihre Schmerzen seinerseits ja auch nicht teilen konnte, wenn sie das Baby zur Welt brachte.
Sie setzte sich neben ihn aufs Bett. Sein Atem kam in flachen Stößen. Instinktiv griff sie sich unter der Strickjacke an den Bauch, hob den Pullover hoch und strich sich über die Haut, die so straff gespannt war, dass sie fast durchsichtig erschien. Nachdem das Baby am Nachmittag eine Zeit lang kräftig gestrampelt hatte, war es jetzt seit einigen Stunden ruhig.
Kaye hatte noch nie erlebt, dass von innen gegen ihre Nieren getreten wurde, und fand die Erfahrung alles andere als angenehm.
Ebenso wenig Spaß machte es ihr, dass sie einmal in der Stunde zur Toilette musste und in regelmäßigen Abständen Sodbrennen bekam. Nachts, wenn sie im Bett lag, spürte sie sogar die rhythmischen Bewegungen ihres Darmes.
Das alles machte ihr Angst; es hatte aber auch zur Folge, dass sie sich höchst lebendig und hellwach fühlte.
Aber ihre Gedanken schweiften von Mitch und seinen Schmerzen ab. Sie legte sich neben ihn; plötzlich zog er an der Decke und drehte sich von ihr weg.
»Mitch?«
Er antwortete nicht. Sie lag für kurze Zeit auf dem Rücken, aber das war unbequem, also drehte sie sich auf ihrer Seite so, dass sie ihm den Rücken zuwandte, und rückte dann sanft immer näher zu ihm, um seine Wärme zu spüren. Weder rührte er sich, noch wehrte er sie ab. Sie starrte die schwach erleuchtete, nackte Wand an. Ihr kam die Idee, aufzustehen und ein paar Minuten an dem Buch zu arbeiten, aber der Laptop und die Notizbücher waren schon verpackt. Der Impuls ging vorüber.
Die Stille im Haus machte sie unruhig. Sie lauschte nach Geräuschen, aber da war nichts außer Mitchs Atem und ihrem eigenen.
Draußen war die Luft völlig ruhig. Sie hörte nicht einmal den Verkehr auf dem Highway 2, der nur eineinhalb Kilometer entfernt war. Keine Vögel. Weder knackende Balken noch knarrende Fußböden.
Nach einer halben Stunde vergewisserte sie sich, dass Mitch schlief. Dann setzte sie sich auf, rutschte zur Bettkante, erhob sich und ging in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Aus dem Küchenfenster sah sie das Tageslicht schwinden. Das Wasser in dem Kessel kam pfeifend zum Kochen, und sie goss es über einen Beutel Kamillentee in einer der beiden Tassen, die sie auf dem weiß gefliesten Küchentresen stehen gelassen hatte. Während der Tee durchzog, strich sie mit den Fingern über die glatten Fliesen und fragte sich, wie ihr nächstes Zuhause wohl aussehen würde, das wahrscheinlich in Hörweite des riesigen »Wild Eagle«-Spielkasinos der Fünf Stämme lag. Sue hatte am Morgen schon alles vorbereitet und ihnen nur versprochen, es werde ein Haus da sein, und zwar ein schönes. »Vielleicht für den Anfang auch ein Wohnwagen«, hatte sie am Telefon hinzugefügt.
Kaye spürte einen Anflug hilfloser Wut. Sie wollte hier bleiben.
Hier fühlte sie sich wohl. »Ist schon eine seltsame Situation«, vertraute sie dem Küchenfenster an. Als wollte das Baby antworten, gab es ihr einen Tritt.
Sie nahm die Tasse und ließ den Teebeutel in den Ausguss fallen. Gerade als sie den ersten Schluck nahm, hörte sie Motoren und Autoreifen auf dem Kiesweg.
Vom Wohnzimmer aus sah sie, wie draußen die Autoscheinwerfer aufblitzten. Sie erwartete keinen Besuch: Wendell war in Seattle, der Lastwagen würde erst morgen früh bei der Verleihfirma bereitstehen, und Merton war in Beresford im Staat New York.
Sue und Jack, so hatte sie gehört, befanden sich im Osten des Staates Washington.
Sie dachte daran, Mitch zu wecken, und fragte sich, ob sie das bei seinem Zustand riskieren konnte.
»Vielleicht ist es Maria oder sonst jemand.«
Aber sie ging nicht zur Tür. Das Licht im Wohnzimmer und im Windfang war ausgeschaltet, in der Küche war es an. Der Strahl einer Taschenlampe fiel durch das vordere Fenster und spielte an der südlichen Wand. Sie hatte die Vorhänge offen gelassen; es gab in der Nähe keine Nachbarn, die hereinsehen konnten.
Es wurde so heftig geklopft, dass die ganze Haustür wackelte.
Kaye sah auf ihre Armbanduhr und schaltete mit einem Druck auf den kleinen Knopf das blaugrüne Licht ein. Sieben Uhr.
Das Klopfen wiederholte sich, gefolgt vom Klang einer unbekannten Stimme. »Kaye Lang, Mitchell Rafelson? Kreispolizei, Justizvollzugsdienst.«
Kaye stockte der Atem. Was war das? Es hatte doch sicher nichts mit ihr zu tun! Sie ging zum Eingang, drehte an der einzigen Verriegelung, öffnete die Tür. Im Windfang standen vier Männer, zwei in Uniform und zwei in Zivil, mit Freizeithosen und legeren Jacketts. Als sie das Außenlicht einschaltete, strich der Scheinwerferkegel des Autos über ihr Gesicht. Sie blinzelte die Männer an.
»Ich bin Kaye Lang.«
Einer der Zivilisten, ein großer, stämmiger Mann mit kurz geschnittenen braunen Haaren und einem länglichovalen Gesicht, trat vor. »Miss Lang, wir haben …«
»Mrs. Lang«, sagte Kaye.
»Na gut. Mein Name ist Wallace Jurgenson. Das hier ist Dr. Kevin Clark vom Gesundheitsamt des Kreises Snohomish. Ich bin der beauftragte Vertreter für Gesundheitsfragen im Staat Washington und arbeite für die Notstandsverwaltung. Mrs. Lang, wir haben eine Anordnung der Bundesnotstandsverwaltung, die von der Notstandsverwaltung des Staates Washington in Olympia bestätigt wurde. Wir nehmen Kontakt mit Frauen auf, die möglicherweise ansteckend sind und einen Sekundär…«
»Quatsch«, sagte Kaye.
Der Mann hielt ein wenig verärgert inne und fuhr dann fort.
»Einen Sekundärfetus. Sie wissen, was das bedeutet, Ma’am?«
»Ja«, sagte Kaye, »aber es ist alles Quatsch.«
»Ich bin hier, um Ihnen mitzuteilen, dass nach der Einschätzung der Bundesnotstandsverwaltung und der Centers for Disease Control and Prevention …«
»Bei denen habe ich früher gearbeitet«, sagte Kaye.
»Ich weiß«, erwiderte Jurgenson. Clark lächelte und nickte, als sei er erfreut, sie kennen zu lernen. Die Uniformierten standen mit verschränkten Armen im Hintergrund außerhalb des Windfangs. »Miss Lang, es wurde festgestellt, dass Sie möglicherweise eine Gefahr für die Volksgesundheit darstellen. Sie und andere Frauen in dieser Gegend werden aufgesucht und über ihre Wahlmöglichkeiten unterrichtet.«
»Ich wähle die Möglichkeit, zu bleiben wo ich bin«, sagte Kaye mit zitternder Stimme. Sie blickte von einem Gesicht zum anderen. Angenehm aussehende Männer, glatt rasiert, ernst, fast ebenso nervös wie sie, und alles andere als glücklich.
»Wir haben Anweisung, Sie und Ihren Mann in eine Unterkunft der Kreisnotstandsverwaltung nach Lynnwood zu bringen. Dort werden Sie einquartiert und medizinisch versorgt, bis eindeutig festgestellt ist, ob Sie eine Gefahr für die öffentliche Gesundheit darstellen …«
»Nein«, sagte Kaye. Sie spürte, wie sich ihr Gesicht erhitzte.
»Das ist völliger Quatsch. Mein Mann ist krank. Er kann nicht reisen.«
Jurgensons Gesicht verfinsterte sich. Er stellte sich darauf ein, etwas zu tun, was er ungern tat, und sah Clark an. Die Uniformierten traten vor, wobei einer fast über einen Stein stolperte.
Jurgenson schluckte und fuhr fort: »Dr. Clark kann Ihren Mann kurz medizinisch untersuchen, bevor wir Sie mitnehmen.« Sein Atem war in den Nachtluft zu sehen.
»Er hat Kopfschmerzen«, sagte Kaye. »Migräne. Das bekommt er manchmal.« Auf dem Kiesweg standen ein Polizeiauto und ein kleiner Krankenwagen. Hinter den Fahrzeugen erstreckte sich der stoppelige, weitläufige Rasen bis zu einem Zaun. Sie roch das feuchte Grün und den Erdboden in der kühlen Abendluft. »Wir haben keine andere Wahl, Miss Lang.« Sie konnte nicht viel unternehmen. Wenn sie sich weigerte, würden sie einfach mit mehr Leuten wiederkommen. »Ich komme. Mein Mann ist nicht transportfähig.«
»Wahrscheinlich sind Sie beide Überträger, Ma’am. Wir müssen Sie beide mitnehmen.«
»Ich kann Ihren Mann untersuchen und feststellen, ob er auf medikamentöse Behandlung anspricht«, sagte Clark.
Kaye merkte, dass ihr gleich die Tränen kommen würden, und empfand das Gefühl als widerlich. Tränen der Frustration, Hilflosigkeit, Einsamkeit. Sie sah, wie Clark und Jurgenson über ihre Schulter blickten, hörte jemanden kommen, und fuhr herum, als wollte man sie hinterrücks überfallen.
Es war Mitch. Er ging mit abgehackten Bewegungen, die Augen halb geschlossen, die Hände ausgestreckt wie Frankensteins Monster. »Kaye, was ist denn los?«, fragte er mit belegter Stimme.
Schon das Sprechen ließ ihn vor Schmerz das Gesicht verziehen.
Clark und Jurgenson traten zurück, und der am nächsten stehende Polizist öffnete sein Pistolenhalfter. Kaye drehte sich um und starrte sie an. »Es ist Migräne! Er hat Migräne!«
»Was sind das für Leute?«, fragte Mitch. Er fiel fast um. Kaye ging zu ihm und half ihm dabei, aufrecht stehen zu bleiben. »Ich sehe nicht gut«, murmelte er.
Clark und Jurgenson unterhielten sich flüsternd. »Bitte bringen Sie ihn hier in den Windfang, Miss Lang«, sagte Jurgenson mit gepresster Stimme. Kaye sah die Pistole in der Hand des Polizisten.
»Was ist denn los?«
»Die sind von der Taskforce«, erklärte Kaye. »Sie wollen, dass wir mitkommen.«
»Warum?«
»Irgendwas von wegen Ansteckung.«
»Nein«, sagte Mitch und wand sich unter ihrem Griff.
»Das habe ich ihnen auch gesagt, aber wir können nichts dagegen tun, Mitch.«
»Nein!«, schrie Mitch und schwenkte einen Arm. »Kommen Sie wieder, wenn ich Sie sehen kann, wenn ich reden kann! Und lassen Sie um Himmels willen meine Frau in Ruhe!«
»Kommen Sie bitte in den Windfang, Ma’am«, sagte der Polizist. Kaye merkte, dass die Lage gefährlich wurde. Mitch war nicht in dem Zustand, irgendeinen vernünftigen Gedanken zu fassen.
Sie wusste nicht, was er tun würde, um sie zu beschützen. Die Männer da draußen hatten Angst. Es waren entsetzliche Zeiten, es konnten entsetzliche Dinge geschehen, und man würde niemanden dafür bestrafen; vielleicht würde man sie erschießen und das Haus bis auf die Grundmauern niederbrennen, als hätten sie die Pest.
»Meine Frau ist schwanger«, sagte Mitch. »Bitte lassen Sie sie in Ruhe.« Er wollte zur Tür gehen. Kaye blieb an seiner Seite und führte ihn.
Der Polizist hielt die Pistole immer noch auf den Windfang gerichtet, aber inzwischen hatte er die Arme ausgestreckt und umklammerte die Schusswaffe mit beiden Händen. Jurgenson sagte ihm, er solle die Waffe wegstecken, aber er schüttelte nur den Kopf.
»Ich will nicht, dass die eine Dummheit machen«, sagte er leise.
»Wir kommen raus«, erklärte Kaye. »Stellen Sie sich nicht so an.
Wir sind nicht krank, und wir sind nicht ansteckend.«
Jurgenson sagte, sie sollten durch die Tür gehen und aus dem Windfang nach draußen treten. »Wir haben einen Krankenwagen hier. Wir bringen Sie beide an einen Ort, wo man sich um Ihren Mann kümmern wird.«
Kaye half Mitch, aus der Tür zu treten und die Stufen des Windfangs hinunterzugehen. Er schwitzte heftig, und seine Hände waren feuchtkalt. »Ich sehe immer noch nicht gut«, flüsterte er Kaye ins Ohr. »Sag’ mir, was sie machen.«
»Sie wollen uns wegbringen.« Sie standen jetzt im Vorgarten.
Jurgenson gab Clark einen Wink, worauf er die Hecktür des Krankenwagens aufmachte. Kaye sah, dass eine junge Frau hinter dem Steuer des Ambulanzwagens saß und mit großen Augen aus dem hochgekurbelten Fenster blickte. »Mach’ keine Dummheiten«, sagte Kaye zu Mitch. »Geh einfach weiter. Haben die Tabletten geholfen?«
Mitch schüttelte den Kopf. »Es ist schrecklich. Ich fühle mich so blöd … dich mit dieser Situation allein zu lassen. Schutzlos jedem Angriff ausgesetzt.« Seine Worte klangen dumpf, die Augen hatte er fast geschlossen. Er konnte das Licht der Autoscheinwerfer nicht ertragen. Als die Polizisten ihre Taschenlampen auf Kaye und Mitch richteten, hielt er sich schützend die Hand vor die Augen und wollte sich abwenden.
»Keine Bewegung«, befahl der Polizist mit der Pistole. »Nehmen Sie die Hände hoch!«
Kaye hörte neue Motorengeräusche. Der zweite Polizist drehte sich um. »Da kommen Autos«, sagte er. »Lastwagen. Eine ganze Menge.«
Kaye zählte vier Scheinwerferpaare, die sich auf der Straße auf das Haus zu bewegten. Drei Kleinlastwagen und ein Pkw bogen in den Vorplatz ein, wirbelten den Kies auf und hielten mit quietschenden Bremsen. Auf den Ladeflächen der Lastwagen saßen Männer — Männer mit schwarzen Haaren und karierten Hemden, Lederjacken und Anoraks, Männer mit Pferdeschwänzen. Dann sah sie Jack, Sues Mann.
Jack öffnete die Fahrertür seines Lastwagens und stieg mit gerunzelter Stirn aus. Auf ein Handzeichen von ihm blieben die Männer hinten auf den Fahrzeugen.
»Guten Abend«, sagte er, wobei sein Stirnrunzeln plötzlich verschwand und sein Gesicht einen neutralen Ausdruck annahm.
»Hallo Kaye, hallo Mitch. Euer Telefon funktioniert nicht.«
Die Polizisten sahen Jurgenson und Clark in Erwartung neuer Anweisungen an. Die Pistole war immer noch auf die Auffahrt gerichtet. Wendell Packer und Maria Konig stiegen aus dem Personenwagen und kamen zu Mitch und Kaye herüber. »Ist schon gut«, sagte Packer zu den vier Männern, die jetzt in Abwehrhaltung ein offenes Viereck bildeten. Er hob die Hände und zeigte ihnen, dass sie leer waren. »Wir haben ein paar Freunde mitgebracht, die ihnen beim Umzug helfen sollen, okay?«
»Mitch hat Migräne«, rief Kaye. Mitch wollte sich von ihr lösen und allein stehen, aber er war zu wackelig auf den Beinen.
»Armer Kerl«, sagte Maria und ging in großem Bogen um die Polizisten herum. »Ist schon gut«, sagte sie zu ihnen. »Wir sind von der University of Washington.«
»Und wir sind von den Fünf Stämmen«, fügte Jack hinzu. »Das hier sind unsere Freunde. Wir helfen ihnen beim Umziehen.« Die Männer auf den Lastwagen hielten die Hände erhoben, lächelten aber wie Wölfe, wie Gauner.
Clark tippte Jurgenson auf die Schulter. »Machen wir lieber keine Schlagzeilen«, sagte er. Jurgenson stimmte mit einem Nicken zu. Während Clark in den Krankenwagen stieg, gesellte sich Jurgenson ohne jedes weitere Wort zu den Polizisten im Caprice.
Gleich darauf setzten die Fahrzeuge zurück, wendeten und rumpelten im Dämmerlicht davon.
Die Hände in die Jeanstaschen vergraben, den Mund zu einem breiten, unternehmungslustigen Lächeln verzogen, kam Jack näher. »Das war ja lustig«, bemerkte er.
Wendell und Kaye halfen Mitch, sich auf die Erde zu setzen. »Es geht mir bald wieder gut«, sagte Mitch, den Kopf auf die Hände gestützt. »Aber eben war ich wie gelähmt. Du lieber Gott, ich konnte überhaupt nichts unternehmen.«
»Ist schon gut«, beruhigte ihn Maria.
Kaye kniete sich neben ihn, legte die Wange an seine Stirn und sagte: »Wir bringen dich rein.« Zusammen mit Maria half sie ihm, auf die Beine zu kommen, und dann trugen sie ihn mehr oder weniger bis ins Haus.
»Wir haben es von Oliver in New York erfahren«, sagte Wendell. »Christopher Dicken hat ihn angerufen und ihm mitgeteilt, dass sehr bald etwas sehr Unschönes passieren werde. Er hat gesagt, ihr geht nicht ans Telefon.«
»Das war am späten Nachmittag«, ergänzte Maria.
»Daraufhin hat Maria Sue angerufen«, erklärte Wendell. »Und Sue hat Jack angerufen. Jack war gerade in Seattle. Und niemand hatte etwas von euch gehört.«
»Ich war bei einer Besprechung im LummiKasino«, sagte Jack und winkte den Männern auf den Lastwagen zu. »Wir haben über neue Spiele und Spielautomaten beraten. Sie haben angeboten, mitzukommen. Gute Sache, nehme ich an. Ich denke, wir sollten jetzt nach Kumash fahren.«
»Ich bin bereit«, erklärte Mitch. Er ging aus eigener Kraft die Treppe hinauf, drehte sich um, streckte die Hände aus und sah die anderen an. »Ich schaffe das. Es geht mir gut.«
»Dort können sie euch nicht anrühren«, sagte Jack. Mit glänzenden Augen blickte er die Auffahrt entlang. »Sie werden alle zu Indianern machen. Verdammte Idioten.«
Mitch stand am Rand einer niedrigen Anhöhe aus Kalkstein und blickte zum Spielkasino und Hotel »Wild Eagle« hinunter. Er schob den Hut zurück und blinzelte in die blendende Sonne. Die Luft war still und selbst um neun Uhr morgens schon heiß. Das Casino, ein greller blauweiß-goldener Fleck in den hellen Erdfarben des südöstlichen Washington, hatte in normalen Zeiten vierhundert Angestellte, darunter dreihundert aus den Fünf Stämmen.
Das Reservat stand unter Quarantäne, weil es nicht mit Mark Augustine kooperierte. Auf der Hauptstraße, die von der Staatsstraße abzweigte, standen drei Kleinlastwagen der Kreispolizei von Kumash County. Sie sollten die Bundespolizisten bei der Durchsetzung einer Anordnung unterstützen, die von der Taskforce erlassen worden war und das ganze Reservat der Fünf Stämme zur Gesundheitsgefahr erklärte.
Das Kasino machte seit über drei Wochen keinen Umsatz mehr.
Der Parkplatz war fast leer, und die Leuchtreklame hatte man abgeschaltet.
Mitch scharrte mit dem Stiefel in der harten, verbackenen Erde.
Er war aus dem klimatisierten, fest installierten Wohnwagen hier auf den Hügel gekommen, weil er ein wenig nachdenken wollte.
Deshalb empfand er einen kleinen Stich des Widerwillens, als er Jack langsam auf dem gleichen Weg näherkommen sah. Er ging aber nicht weg.
Weder Jack noch Mitch wussten, ob sie sich eigentlich mochten.
Jedes Mal, wenn sie sich trafen, stellte Jack herausfordernde Fragen, und Mitch gab Antworten, die nie ganz zufrieden stellend waren.
Mitch kauerte sich hin und nahm einen runden, mit getrockneter Erde verkrusteten Stein in die Hand. Jack stieg die letzten Meter zum Gipfel des Hügels hoch.
»Hallo«, sagte er.
Mitch nickte.
»Ich sehe schon, du hast es auch.« Jack rieb sich mit dem Finger an der Wange. Seine Gesichtshaut bildete eine Maske nach Art des Lone Ranger, die sich an den Rändern löste, zu den Augen hin aber dicker wurde. Beide Männer sahen aus, als blickten sie sich durch dicke Schlammpackungen an. »Es geht nicht ab, ohne dass es blutet.«
»Nicht dran ziehen«, sagte Mitch.
»Wann hat es bei dir angefangen?«
»Vor drei Tagen, abends.«
Jack hockte sich neben Mitch. »Manchmal bin ich wütend. Ich glaube, Sue hätte alles besser planen können.«
Mitch lächelte. »Was? Dass sie schwanger wird?«
»Ja«, sagte Jack. »Das Kasino steht leer. Uns geht das Geld aus.
Ich habe die meisten von unseren Leuten entlassen, und die anderen können von draußen nicht zur Arbeit kommen. Mit mir selbst bin ich auch nicht zufrieden.« Er fasste wieder an die Maske und betrachtete dann seinen Finger. »Einer von unseren jungen Vätern hat versucht, es abzuschmirgeln. Er ist jetzt in der Klinik. Ich habe ihm gesagt, dass es dumm war.«
»Es ist alles nicht einfach«, sagte Mitch.
»Du solltest mal zu einer Sitzung der Treuhänder kommen.«
»Ich bin schon dankbar, dass ich hier sein darf, Jack. Ich möchte die Leute nicht verärgern.«
»Sue glaubt, sie ärgern sich vielleicht gar nicht, wenn sie dich kennen lernen. Immerhin bist du ein netter Kerl.«
»Das hat sie vor über einem Jahr gesagt.«
»Sie sagt, wenn ich mich nicht ärgere, ärgern die anderen sich auch nicht. Vielleicht stimmt das. Allerdings ist da noch Becky, eine alte Frau von den Cayuse. Man hat sie aus Colville geschickt, und sie ist hergekommen. Eigentlich ist sie eine nette Oma, aber sie hält es für ihre Pflicht, alles abzulehnen, was die Stämme wollen. Weißt du, wenn sie dich sieht, wird sie dich vielleicht ein bisschen piesacken.« Jack machte ein grimmiges Gesicht und stach mit ausgestrecktem Finger in die Luft.
So redselig war Jack bisher kaum einmal gewesen, und über die Gespräche im Treuhändergremium hatte er überhaupt noch nie berichtet.
Mitch lachte. »Glaubst du, dass es Ärger geben wird?«
Jack zuckte die Achseln. »Wir wollen bald ein Treffen der Väter einberufen. Nur die Väter. Nicht wie in den Geburtsvorbereitungskursen in der Klinik mit den ganzen Frauen. Das ist den Männern peinlich. Kommst du heute Abend?«
Mitch nickte.
»Für mich ist es das erste Mal mit dieser Haut. Es wird unangenehm werden. Manche jungen Väter sehen fern und fragen sich, ob sie wohl ihre Arbeit wiederbekommen werden. Anschließend werfen sie es den Frauen vor.«
Mitch wusste, dass außer ihm und Kaye noch drei weitere Paare im Reservat SHEVAKinder erwarteten. Unter den dreitausendzweiundsiebzig Bewohnern, die zu den Fünf Stämmen gehörten, hatte es bisher sechs SHEVAGeburten gegeben. Alle Kinder waren tot zur Welt gekommen.
Kaye arbeitete bei dem Kinderarzt der Klinik, einem jungen Weißen namens Chambers. Zusammen leiteten sie die Geburtsvorbereitungskurse. Wenn es darum ging, Dinge zu akzeptieren, waren die Männer ein wenig langsamer und viel weniger aufgeschlossen.
»Bei Sue ist es ungefähr zur gleichen Zeit so weit wie bei Kaye«, sagte Jack. Er schlug die Beine zum Lotossitz übereinander und setzte sich auf die Erde, was Mitch nicht gut konnte. »Ich habe versucht zu begreifen, wie das mit Genen und DNA aussieht und was ein Virus ist. Es ist nicht meine Sprache.«
»Es ist auch ganz schön schwierig«, erwiderte Mitch. Er war sich nicht sicher, ob er Jack die Hand auf die Schulter legen sollte. Über die heutigen Menschen, deren Vorfahren er untersuchte, wusste er sehr wenig. »Vielleicht sind wir die Ersten, die gesunde Babys zur Welt bringen«, sagte er. »Die Ersten, die wissen, wie sie aussehen.«
»Ich glaube, das stimmt. Es könnte eine …« Jack hielt inne, und seine Mundwinkel fielen nach unten, während er nachdachte. »Ich wollte sagen, es könnte eine große Ehre sein. Aber es ist nicht unsere Ehre.«
»Vielleicht nicht«, sagte Mitch.
»Für mich bleibt alles immer am Leben. Die ganze Erde ist voller Lebewesen — manche davon tragen Fleisch an sich, andere nicht. Wir sind hier an Stelle von vielen, die vor uns da waren.
Wir verlieren unsere Verbindung zum Fleisch nicht, wenn wir es ablegen. Wenn wir gestorben sind, dehnen wir uns aus, aber wir kommen gern zurück zu unseren Knochen und sehen uns um. Sehen, was die Jüngeren gerade tun.«
Mitch merkte, wie die alte Diskussion wieder losging.
»Ihr seht es nicht so«, sagte Jack.
»Ich weiß überhaupt nicht mehr, wie ich die Dinge sehen soll«, erwiderte Mitch. »Dass die Natur mit unserem Körper macht, was sie will, ist ernüchternd. Frauen erleben es direkter, aber jetzt können auch die Männer nicht mehr daran vorbeisehen.«
»Diese DNA muss ein Geist in uns sein, die Worte unserer Vorfahren leben weiter, die Worte des Schöpfers. Das ist mir klar.«
»Ausgezeichnete Beschreibung«, sagte Mitch, »nur weiß ich nicht, wer dieser Schöpfer sein könnte oder ob es ihn überhaupt gibt.«
Jack seufzte. »Du untersuchst tote Dinge.«
Mitch errötete ein wenig, wie immer, wenn er mit Jack über so etwas sprach. »Ich will herausfinden, wie sie zu Lebzeiten waren.«
»Das könnten dir die Geister sagen.«
»Sagen sie es dir?«
»Manchmal«, erwiderte Jack. »Ein- oder zweimal.«
»Was sagen sie dir?«
»Dass sie etwas wollen. Sie sind nicht glücklich. Ein alter Mann — er ist jetzt tot — hat den Geist des Pasco-Menschen gehört, als du ihn am Flussufer ausgegraben hast. Der alte Mann hat gesagt, der Geist sei sehr unglücklich.« Jack nahm einen Kiesel und warf ihn den Hügel hinunter. »Dann hat er gesagt, er habe nicht geredet wie unsere Geister. Vielleicht war er ein anderer Geist. Der alte Mann hat das nur mir gesagt und keinem anderen. Er dachte, dass der Geist vielleicht nicht zu unserem Stamm gehört.«
»Wow«, sagte Mitch.
Jack rieb sich die Nase und zupfte an seinen Augenbrauen.
»Meine Haut juckt die ganze Zeit. Deine auch?«
»Manchmal.« Wenn Mitch mit Jack über die Knochen sprach, hatte er immer das Gefühl, als ginge er am Rand einer hohen Klippe entlang. Vielleicht waren es Schuldgefühle. »Niemand ist etwas Besonderes. Wir sind alle Menschen. Die Jungen lernen von den Alten, den toten und den lebenden. Ich respektiere, was du sagst, Jack, aber wir werden wohl nie einer Meinung sein.«
»Sue sorgt dafür, dass ich über die Dinge nachdenke«, sagte Jack mit einem Anflug von Gereiztheit. Er sah Mitch mit seinen tief liegenden schwarzen Augen an. »Sie sagt, ich soll mit dir reden, weil du zuhörst, und dann sagst du, was du denkst, und es ist ehrlich. So etwas brauchen jetzt auch die anderen Väter.«
»Ich unterhalte mich gern mit ihnen, wenn es ihnen hilft«, sagte Mitch. »Wir verdanken euch viel, Jack.«
»Nein, das stimmt nicht«, erwiderte Jack. »Wir hätten wahrscheinlich so oder so Ärger bekommen. Wenn es nicht die neuen Babys gewesen wären, dann vielleicht die Spielautomaten. Am liebsten würden wir die Behörden und die Regierung mit unseren Speeren aufspießen.«
»Es kostet euch eine Menge Geld.«
»Wir schmuggeln die neuen KreditkartenSpielautomaten rein«, erwiderte Jack. »Unsere Jungs bringen sie mit ihren Lieferwagen über die Hügel, wenn die Soldaten gerade nicht hinsehen. Wahrscheinlich können wir sie mindestens ein halbes Jahr einsetzen, bevor der Staat sie kassiert.«
»Das sind einarmige Banditen?«
Jack schüttelte den Kopf. »Nach unserer Auffassung nicht. Wir verdienen ein bisschen Geld damit, bevor sie abgebaut werden.«
»Rache am weißen Mann?«
»Wir ziehen ihnen die Haut ab«, erklärte Jack nüchtern. »Die haben das gern.«
»Wenn die Babys gesund sind, wird die Quarantäne vielleicht aufgehoben«, sagte Mitch. »Dann könnt ihr das Kasino in ein paar Monaten wieder eröffnen.«
»Ich rechne mit gar nichts mehr. Außerdem möchte ich nicht im Saal stehen und mich als Chef aufführen, solange ich so aussehe.« Er legte Mitch die Hand auf die Schulter. »Komm mit, rede mit uns«, sagte er. »Die Männer wollen zuhören.«
»Ich werd’s versuchen«, erwiderte Mitch.
»Ich sage ihnen, sie sollen dir den anderen Kram verzeihen. Der Geist gehörte sowieso nicht zu unseren Stämmen.« Jack erhob sich, drehte sich um und ging den Hügel hinunter.
Mitch bastelte an dem alten blauen Buick, der im trockenen Gras vor dem Wohnwagen geparkt war. Im Süden braute sich ein nachmittägliches Gewitter zusammen.
Die Luft roch nach Anspannung und Aufregung. Kaye konnte kaum sitzen bleiben. Mit einem Ruck stand sie vom Schreibtisch am Fenster auf und ging hinaus — sie wollte nicht mehr so tun, als arbeitete sie an ihrem Buch, während sie in Wirklichkeit die meiste Zeit zusah, wie Mitch sich an der Autoelektrik zu schaffen machte.
Sie stemmte die Hände in die Hüften und streckte sich. Es war heute nicht ganz so heiß, und sie waren im Wohnwagen geblieben, statt hinunter in das klimatisierte Gemeinschaftszentrum zu fahren. Kaye sah gerne zu, wenn Mitch Basketball spielte; manchmal ging sie auch in dem kleinen Becken schwimmen. Es war kein schlechtes Leben, aber manchmal hatte sie Schuldgefühle.
Die Nachrichten von draußen waren meist alles andere als gut.
Sie waren jetzt drei Wochen im Reservat, und Kaye fürchtete jeden Augenblick, die Bundespolizei werde kommen und die SHEVAMütter abholen. In Montgomery in Alabama waren sie in eine private Entbindungsklinik eingedrungen und hatten fast einen Volksaufstand ausgelöst.
»Die werden richtig frech«, sagte Mitch, als sie es in den Fernsehnachrichten gesehen hatten. Später hatte der Präsident sich entschuldigt und versichert, die Grundrechte würden gewahrt, soweit es angesichts der Gefahren für die allgemeine Bevölkerung möglich sei. Zwei Tage später hatte die Klinik in Montgomery unter dem Druck demonstrierender Bürger geschlossen, und man hatte die Mütter und Väter zwangsweise verlegt. Die neuen Eltern sahen mit ihren Masken sehr seltsam aus; nach dem zu urteilen, was Kaye und Mitch in den Nachrichten hörten, waren sie vielerorts unerwünscht.
In Georgien waren sie auch unerwünscht gewesen.
Kaye hatte über die Retrovirusinfektionen von SHEVAMüttern nichts Neues mehr erfahren. Ebenso schweigsam verhielten sich auch ihre Kontaktpersonen. Es war ein heikles Thema, davon konnte sie ein Lied singen. Niemand mochte sich vorwagen und seine Meinung äußern.
Also tat sie so, als arbeitete sie an ihrem Buch. Jeden Tag entwarf sie einen oder zwei gute Absätze, manchmal auf dem Laptop, manchmal auch handschriftlich auf einem Notizblock. Mitch las es und brachte Randbemerkungen an, aber er wirkte geistesabwesend, als könne er es noch nicht ganz fassen, dass er bald Vater wurde … In Wirklichkeit, das wusste sie, machte er sich nicht deswegen Sorgen.
Vielleicht doch nicht Vater zu werden, das beunruhigt ihn. Ich.
Mein Wohlergehen.
Wie sie ihn beruhigen sollte, wusste sie nicht. Sie fühlte sich wohl, ja sogar hervorragend, und das trotz der Unannehmlichkeiten. Sie betrachtete sich in dem fleckigen Badezimmerspiegel und hatte den Eindruck, dass ihr Gesicht fülliger geworden war; nicht hager, wie sie es sich früher vorgestellt hatte, sondern gesund und mit guter Haut — abgesehen von der Maske natürlich.
Das Gebilde auf ihrem Gesicht wurde von Tag zu Tag dunkler und dicker, entwickelte sich zu der seltsamen Kappe, die diese besondere Art der Mutterschaft und Vaterschaft kennzeichnete.
Auf dem dünnen Teppich im kleinen Wohnzimmer machte sie ihre Schwangerschaftsgymnastik. Mittlerweile war es so schwül, dass man sonst kaum etwas tun konnte. Mitch kam herein, um ein Glas Wasser zu trinken, und sah sie auf dem Fußboden liegen.
Sie blickte zu ihm auf.
»Kartenspielen im Gemeinschaftsraum?«, fragte er.
»I vant to be alone«, sang sie mit Greta GarboStimme. »Das heißt, allein mit dir.«
»Wie geht’s deinem Rücken?«
»Heute Abend massieren, wenn es kühl ist.«
»Hier ist es doch friedlich, oder?« Mitch stand in der Tür und wedelte mit seinem TShirt, um sich abzukühlen.
»Ich habe mir Namen überlegt.«
»Ja?« Mitch wirkte überrascht.
»Was ist los?«, wollte Kaye wissen.
»Irgendwie ein komisches Gefühl. Ich möchte sie erst sehen, bevor wir ihr einen Namen geben.«
»Wieso?«, fragte Kaye unwillig. »Du redest mit ihr, du singst ihr jeden Abend etwas vor. Du sagst, du kannst sie in meinem Atem sogar riechen.«
»Ja, ja«, erwiderte Mitch, aber sein Gesicht entspannte sich nicht. »Ich möchte nur wissen, wie sie aussieht.«
Plötzlich tat Kaye, als habe sie erst jetzt begriffen. »Ich meine nicht den wissenschaftlichen Namen«, sagte sie, »sondern unseren Namen, den Namen für unsere Tochter.«
Mitch sah sie verärgert an. »Verlange nicht von mir, dass ich es erkläre.« Er blickte nachdenklich drein. »Brock und ich sind gestern am Telefon auf einen wissenschaftlichen Namen gekommen.
Er hält es allerdings für verfrüht, weil noch kein …«
Mitch bremste sich, schloss die Fliegentür und ging in die Küche.
Kaye spürte, wie ihre Zuversicht schwand.
Mitch hatte ein paar Eiswürfel in ein feuchtes Handtuch gewickelt. Er kniete sich neben sie und tupfte ihr den Schweiß von der Stirn. Kaye wich seinen Blicken aus.
»So was Dummes«, murmelte er.
»Wir sind erwachsene Menschen«, sagte Kaye. »Ich möchte mir einen Namen überlegen. Ich will Söckchen stricken, ich will Strampelhosen und Spielzeug kaufen, und ich will, dass wir uns wie normale Eltern benehmen und aufhören, über diese ganze Scheiße nachzudenken.«
»Ich weiß«, sagte Mitch. Er sah kläglich und fast verzweifelt aus.
Kaye erhob sich auf die Knie, legte Mitch die Hände leicht auf die Schultern und wischte hin und her, als wollte sie Staub entfernen. »Hör mal. Mit geht’s gut. Ihr geht’s gut. Wenn du mir das nicht glaubst …«
»Ich glaube dir«, sagte Mitch.
Kaye stieß ihre Stirn gegen seine. »Schon gut, Kemosabe.«
Mitch berührte die dunkle, raue Haut auf ihren Wangen. »Du siehst geheimnisvoll aus. Wie ein Bandit.«
»Vielleicht brauchen wir auch für uns neue wissenschaftliche Namen. Spürst du es nicht auch da drinnen … viel tiefer, unter der Haut?«
»Meine Knochen jucken«, sagte er. »Und mein Rachen … die Zunge fühlt sich anders an. Warum kriege auch ich eine Maske und alles andere?«
»Du produzierst das Virus. Warum sollte es nicht auch dich verändern? Und die Maske … Vielleicht werden wir so vorbereitet, dass sie uns erkennen kann. Wir sind soziale Wesen. Der Papa ist für ein Baby genauso wichtig wie die Mama.«
»Wir sollen aussehen wie sie?«
»Vielleicht ein bisschen.« Kaye ging wieder zum Schreibtischstuhl und setzte sich. »Was für einen wissenschaftlichen Namen hat Brock vorgeschlagen?«
»Er rechnet nicht mit einer grundlegenden Veränderung«, sagte Mitch. »Allerhöchstens mit einer Unterart, vielleicht ist es auch nur eine seltsame Varietät. Deshalb … Homo sapiens novus.«
Kaye wiederholte den Namen leise und grinste. »Hört sich an wie eine AutoglasReparaturwerkstatt.«
»Es ist bestes Latein.«
»Lass’ mich darüber nachdenken«, sagte sie.
»Sie finanzieren die Klinik mit dem Geld aus dem Kasino«, sagte Kaye, während sie die Handtücher faltete. Mitch hatte die beiden Wäschekörbe gegen Abend aus der Wäscherei zum Wohnwagen gebracht. Er saß auf dem Doppelbett in dem winzigen Schlafzimmer — Platz zum Stehen gab es kaum. Seine großen Füße konnten sich gerade eben in den Zwischenraum zwischen Wand und Bettgestell zwängen.
Kaye nahm vier Unterhosen und zwei neue StillBHs, faltete sie zusammen und legte sie beiseite, um sie später einzupacken. Sie hatte das Köfferchen seit einer Woche griffbereit, und jetzt schien es an der Zeit, es zu füllen.
»Hast du einen Kulturbeutel?«, fragte sie. »Meinen finde ich nicht mehr.«
Mitch krabbelte zum Fußende des Bettes und wühlte in seinem Koffer. Schließlich brachte er einen abgeschabten alten Lederbeutel mit Reißverschluss zum Vorschein.
»Rasierzeug für Bomberpiloten von der Airforce?«, fragte sie und hob den Beutel am Trageriemen in die Höhe.
»Garantiert echt«, erwiderte Mitch. Er beobachtete sie wie ein Raubvogel, was sie einerseits beruhigte, andererseits auch ein wenig nervte. Sie legte weiter die Wäsche zusammen.
»Dr. Chambers sagt, alle werdenden Mütter sehen gesund aus.
Er hat schon drei von den anderen entbunden, und bei denen konnte er angeblich schon Monate vorher sagen, dass etwas nicht stimmte. Das Marine Pacific hat ihm letzte Woche meine Krankenakte geschickt. Er füllt ein paar TaskforceFormulare aus, aber nicht alle. Er hatte eine Menge Fragen.«
Als sie mit der Wäsche fertig war, setzte sie sich auf das Fußende. »Wenn sie so zuckt, denke ich jedes Mal, die Wehen fangen an.«
Mitch ging vor ihr in die Knie und legte die Hand auf ihren vorstehenden Bauch. Seine Augen waren groß und glänzten.
»Heute ist sie aber wirklich munter.«
»Sie freut sich«, sagte Kaye. »Sie weiß, dass du hier bist. Sing’ ihr das Lied vor.«
Mitch sah sie an und sang das alte ABC-Lied. »Aah, bee, zee, dee, eee, ef, geh; ha, iih, jott, kaa, elemenopee …«
Kaye musste lachen.
»Das ist eine sehr ernste Sache«, sagte Mitch.
»Es gefällt ihr.«
»Das hat mein Vater mir immer vorgesungen. Das phonetische Alphabet. Bereitet sie auf die Muttersprache vor. Weißt du, ich konnte mit vier schon lesen.«
»Sie tritt im Takt«, sagte Kaye begeistert.
»Das kann doch nicht sein!«
»Doch, ganz bestimmt, ich spüre es.«
Eigentlich mochte sie den Wohnwagen mit seinen abgestoßenen Schränken aus dünnem Sperrholz und den alten Möbeln. Im Wohnzimmer hatte sie die Kunstdrucke ihrer Mutter aufgehängt.
Sie hatten genug zu essen, und nachts war es warm, tagsüber aber viel zu heiß. Deshalb suchte Kaye häufig mit Sue das Verwaltungsgebäude auf, und Mitch ging mit dem Handy in der Tasche zwischen den Hügeln spazieren. Manchmal begleitete er Jack, oder er unterhielt sich im Aufenthaltsraum der Klinik mit den anderen werdenden Vätern. Dort blieben die Männer gern unter sich, und die Frauen hatten nichts dagegen. Kaye vermisste Mitch in den Stunden, wenn er nicht da war, aber es gab eine Menge zu überlegen und vorzubereiten. Nachts war er immer bei ihr; noch nie in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen.
Sie wusste, dass das Baby gesund war. Sie spürte es. Als Mitch mit dem Lied zu Ende war, strich sie über die Maske um seine Augen. Er zuckte dabei jetzt nicht mehr zusammen wie in der ersten Woche. Die Masken waren bei beiden mittlerweile ziemlich dick und lösten sich an den Rändern.
»Weißt du, was ich möchte?«, fragte Kaye.
»Was?«
»Mich irgendwo in einer dunklen Höhle verkriechen, wenn es so weit ist.«
»Wie eine Katze?«
»Genau.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Mitch. »Keine moderne Medizin, Boden aus gestampfter Erde, die Einfachheit der Wilden.«
»Mit einem Lederriemen zwischen den Zähnen«, fügte Kaye hinzu. »So hat Sues Mutter ihre Kinder zur Welt gebracht. Bevor sie die Klinik hatten.«
»Mich hat mein Vater entbunden«, erzählte Mitch. »Der Lastwagen war in einem Graben stecken geblieben. Mama ist hinten auf die Ladefläche geklettert. Das hat sie ihm nie vergessen.«
»Mir hat sie das nicht erzählt«, lachte Kaye.
»Sie nennt es eine schwere Geburt«, erwiderte er.
»So weit sind wir nicht von den alten Zeiten entfernt«, murmelte Kaye und fasste sich an den Bauch. »Ich glaube, du hast sie in den Schlaf gesungen.«
Als Kaye am nächsten Morgen aufwachte, fühlte ihre Zunge sich geschwollen an. Sie erhob sich eilig, weckte Mitch und ging in die Küche, um ein wenig von dem fade schmeckenden Leitungswasser des Reservats zu trinken. Sie konnte kaum sprechen. »Mitth«, sagte sie.
»Wah?«, kam es zurück.
»Ahn wi un wa geholt?«
»Wah?«
Sie setzte sich neben ihn und streckte die Zunge heraus. »Is gan vekruset«, sagte sie.
»Meine au.«
»Wie im Gesih.«
Am Nachmittag, im Wartezimmer der Klinik, konnte nur einer der vier Väter sprechen. Jack stand an der tragbaren Schreibtafel und hakte für die Ehefrauen die verbleibenden Tage ab. Dann setzte er sich und wollte sich mit den anderen über Sport unterhalten, aber das Treffen endete frühzeitig. Der medizinische Leiter — an der Klinik arbeiteten außer dem Kinderarzt noch vier weitere Ärzte — untersuchte alle, gelangte aber zu keiner Diagnose. Eine Infektion hatte offenbar keiner von ihnen.
Auch die anderen werdenden Mütter waren betroffen.
Kaye und Sue gingen zum Einkaufen in den kleinen Supermarkt, der nicht weit vom »Silver Biscuit«, dem Café des Reservats, an der Straße lag. Die anderen im Laden starrten sie an, sagten aber nichts. Unter den Kasinoangestellten gab es viel Unmut, aber nur Becky, die alte Frau vom Stamm der Cayuse, sprach ihre Gedanken in den Treuhändersitzungen offen aus.
Kaye und Sue waren beide der Meinung, dass Sue als Erste entbinden würde. »Ihh ann nich wahden«, sagte sie. »Unn Jack au nich.«
Mitch war wieder an jenem Ort. Der Anfang war verschwommen gewesen, aber dann war er in einer bösen Art von Wirklichkeit gelandet. Alle Erinnerungen an sein Dasein als Mitch waren fein säuberlich weggeschlossen, wie es für Träume charakteristisch ist.
Das Letzte, was er als Mitch tat, war das Betasten seiner Maske — er zog an der dicken Hülle, die auf neuer, aufgedunsener Haut lag.
Dann stand er plötzlich auf Eis und Felsen. Sein Weib schrie und weinte und musste sich vor Schmerzen fast übergeben. Er lief voraus und wieder zurück, half ihr aufzustehen, und die ganze Zeit heulte er, mit wunder Kehle, die Arme und Beine voller Blutergüsse von den Schlägen. Zu Hause am See, im Dorf hatten sie ihn verhöhnt, und er hatte sie dafür gehasst, dass sie lachten und spotteten, ihre Stöcke schwangen und hässliche Geräusche machten.
Der junge Jäger, der dem Weib einen Spieß in den Bauch gestoßen hatte, war tot. Den hatte er zu Boden geschlagen, hatte ihn zappeln und winseln lassen, und dann hatte er ihm ins Genick getreten, aber es war zu spät: Überall war Blut, sein Weib war verletzt. Die Schamanen stießen zu der Meute und wollten die anderen mit gutturalen Worten vertreiben, mit abgehackten, dumpfen, singenden Worten, ganz anders als die federleichten Vogellaute, die er jetzt hervorbringen konnte.
Er brachte sein Weib in ihre Hütte und versuchte sie zu trösten, aber ihre Schmerzen waren zu groß.
Schnee rieselte herab. Er hörte das Rufen, die Trauerschreie, und er wusste, dass ihre Zeit abgelaufen war. Die Familie des toten Jägers würde hinter ihnen her sein. Sie würden den alten Stiermenschen um Erlaubnis gebeten haben. Der alte Stiermensch hatte Eltern mit Masken und ihre flachgesichtigen Kinder nie gemocht.
Das, so hatte der Stiermensch oft gemurmelt, sei das Ende; die Flachgesichter würden das ganze Wild fangen, die Menschen jedes Jahr weiter ins Gebirge treiben, und ihre eigenen Frauen würden sie betrügen und immer mehr flachgesichtige Kinder hervorbringen.
Er trug sein Weib aus der Hütte, überquerte die hölzerne Brücke zum Ufer und lauschte auf die Rufe nach Vergeltung. Er hörte, wie der Stiermensch die Führung übernahm. Die Jagd begann.
Früher hatte er die Höhle als Lebensmittellager benutzt. Wilde Tiere zu finden war schwierig, und in der Höhle war es kalt; dort hatte er Kaninchen und Murmeltiere, Eicheln und wildes Gras und Mäuse für sein Weib aufbewahrt, wenn er mit der Jagd an der Reihe war. Von den Portionen im Dorf hätte sie nicht leben können. Die anderen Frauen mit ihren hungrigen Kindern hatten sich geweigert, sich um sie zu kümmern, als ihr Bauch rund wurde.
Er hatte die kleinen Tiere nachts in das Dorf geschmuggelt und ihr zu essen gegeben. Er liebte sein Weib so sehr, dass er am liebsten laut geschrien oder sich auf dem Boden gewälzt und gestöhnt hätte. Trotz des Blutes, das ihre Fellkleidung durchtränkte, konnte er nicht glauben, dass sie schwer verwundet war.
Wieder trug er sein Weib; sie sah ihn an, bettelte mit ihrer hohen, singenden Stimme, die nicht wie rollende Steine klang, sondern wie ein plätschernder Bach, jener neuen Stimme, die auch ihm eigen war. Sie beide hörten sich jetzt nicht wie Erwachsene an, sondern wie Kinder.
Einmal hatte er sich nahe bei einem Jagdlager der Flachgesichter versteckt und zugesehen, wie sie nachts um ein gewaltiges Lagerfeuer tanzten und sangen. Ihre Stimmen waren hoch und plätschernd gewesen, wie von Kindern. Vielleicht würden er und sein Weib auch zu Flachgesichtern werden und zu ihnen gehen und bei ihnen leben, wenn das Kind geboren war.
Mit Füßen, taub wie Holzklötze, trug er sein Weib durch den weichen Pulverschnee. Seit einiger Zeit war sie still — eingeschlafen. Als sie erwachte, weinte sie und versuchte, sich in seinen Armen zusammenzukauern. Im goldenen Abendlicht, das die schneebedeckte Gegend mit ihren hohen Felsen erfüllte, blickte er auf sie herab. Da sah er, dass die sorgsam rasierten Partien an Schläfen und Wangen, die nicht von der Maske bedeckt waren, und alle übrigen Haare stumpf und matt waren — leblos. Sie roch wie ein Tier, das bald sterben wird.
Höher und höher über Felsterrassen, auf denen man wegen des Neuschnees leicht ins Rutschen kam. Einen schneebedeckten Bergkamm entlang, und dann abwärts — gleitend, taumelnd, immer noch mit seinem Weib im Arm. Unten kam er wieder auf die Beine, wandte sich um, versuchte sich an den flachen Bergwänden zu orientieren und fragte sich plötzlich, warum ihm alles so vertraut vorkam, als hätte er es mit den Jagdlehrern während der Gemsenjagd wieder und wieder geübt.
Das waren schöne Zeiten gewesen. Während er sein Weib das letzte Stück trug, dachte er daran zurück.
Den Kaninchenspieß, den kleineren Jagdspeer, hatte er seit seiner Kindheit benutzt, aber nie war es ihm erlaubt gewesen, den Elch- und Bisonspieß zu tragen. Bis die Jagdlehrer auf ihrer Wanderschaft auch in sein Dorf gekommen waren. Es war das Jahr gewesen, in dem seine Hoden zu schmerzen begannen und er im Schlaf Samen verströmt hatte.
Er hatte seinen Vater, der jetzt bei den Traummenschen war, begleitet und die Jagdlehrer kennen gelernt. Das waren einsame, hässliche Männer, ungepflegt, voller Narben und verfilzter Locken. Sie hatten weder ein Heimatdorf noch Gesetze, die das Zusammenleben der Geschlechter regelten, sondern zogen von Ort zu Ort und führten die Menschen an, wenn die Bergziegen, Hirsch, Elch oder Bison bereit waren, ihr Fleisch abzugeben. Manche munkelten, sie zögen in mancher Jagdsaison auch in die Dörfer der Flachgesichter, um sie das Jagen zu lehren. Tatsächlich hätten manche Jagdlehrer, die ihre Züge hinter dichten Bärten und Haaren verbargen, durchaus Flachgesichter sein können. Aber wer hätte schon den Mut gehabt, sie ins Kreuzverhör zu nehmen? Das tat nicht einmal der Stiermensch. Wenn sie kamen, hatten alle genug zu essen, und die Frauen schabten die Häute ab, lachten, aßen würzige Kräuter und tranken den ganzen Tag Wasser. Alle pinkelten zusammen in lederne Eimer, und dann kauten sie die Häute und weichten sie ein.
Große Tiere ohne die Jagdlehrer zu jagen, war verboten.
Er hatte den Höhleneingang erreicht. Sein Weib wimmerte leise und rhythmisch, als er sie ins Innere trug und rollte und schob. Er sah sich um. Die Blutstropfen, die sie zurückgelassen hatten, verschwanden bereits unter dem Neuschnee.
In diesem Augenblick wurde ihm klar, dass sie am Ende waren.
Er kauerte sich hin — seine breiten Schultern passten kaum durch die Öffnung — und schob sie sanft auf ein Fell, mit dem er früher das Fleisch bedeckt hatte, wenn es in der Höhle gefror. Er zwängte sich hinein, zog sie in die Höhle und ging dann wieder hinaus, um unter einem Felsvorsprung nach trockenem Moos und Stöcken zu suchen. Er hoffte, dass sie nicht starb, bevor er zurück war.
Oh Gott, lass mich aufwachen. Ich will das nicht sehen.
Er fand genügend Holz für ein kleines Feuer und trug es in die Höhle. Dort schichtete er es auf, und dann drehte er den Stock, vergewisserte sich aber vorher, dass sein Weib es nicht sehen konnte. Feuer zu machen war Männersache. Sie schlief immer noch.
Als er so erschöpft war, dass er den Stock nicht mehr drehen konnte und immer noch kein Rauchkringel aufstieg, griff er nach Feuersteinen und rieb sie gegeneinander. Lange, so lange, bis seine Finger schon blaue Flecken hatten und taub waren, schlug er die Feuersteine gegeneinander, richtete sie aufs Moos und versuchte blasend, den Funken anzufachen — und tatsächlich öffnete der Sonnenvogel plötzlich das Auge und breitete kleine gelbe Flügel aus. Sofort legte er Stöcke nach.
Wieder stöhnte sein Weib. Sie legte sich auf den Rücken und sagte mit ihrer dünnen, kraftlosen Stimme, er solle weggehen, dies sei Frauensache. Er hörte nicht auf sie, wie es bisweilen erlaubt war, und half ihr, das Kind auf die Welt zu bringen.
Es tat ihr sehr weh, und sie gab laute Geräusche von sich. Er wunderte sich, dass noch so viel Leben in ihr war, wo sie doch das ganze Blut verloren hatte, aber das Baby kam schnell heraus.
Nein. Bitte, lass mich aufwachen.
Er hielt das Kind hoch und zeigte es seinem Weib, aber ihr Blick war trübe und ihr Haar steif und trocken. Weder weinte das Baby, noch bewegte es sich, ganz gleich, wie heftig er es massierte.
Er legte das Kleine ab und schlug mit der Faust gegen die Felswand. Dann schrie er mit heiserer Stimme auf und rollte sich schließlich neben seinem Weib, das jetzt ganz still dalag, zusammen. Während der Rauch nach oben zog, die Asche nach und nach erlosch, der Sonnenvogel die Flügel zusammenfaltete und einschlief, versuchte er, sein Weib, so gut es ging, zu wärmen.
Das Baby wäre seine Tochter gewesen, ein überwältigendes Geschenk von der Traummutter. Es sah kaum anders aus als die übrigen Babys im Dorf, nur seine Nase war kleiner, und das Kinn stand vor. Vermutlich wäre es zu einem Flachgesicht herangewachsen. Er versuchte Gras in das Loch am Hinterkopf des Babys zu stopfen, denn er dachte, dort habe der Spieß das Kind vielleicht durchbohrt. Er nahm sein Nackenfell, das feinste und weichste, das er besaß, hüllte das Baby darin ein und schob es in den hinteren Teil der Höhle.
Ihm fiel ein, wie dumpf der Mann gestöhnt hatte, als er auf sein Genick eingestampft hatte, aber es machte nicht viel aus.
Jetzt war alles vorüber. Seit ewigen Zeiten hatte man Höhlen als Begräbnisstätten genutzt, bis sie eines Tages in die hölzernen Dörfer gezogen waren, um dort wie die Flachgesichter zu leben. Auch wenn allgemein behauptet wurde, ihr Volk habe die hölzernen Dörfer erfunden. Aber früher war es Brauch gewesen, in einer Höhle zu sterben und dort auch begraben zu werden, also war es gut so. Die Traummenschen würden das Baby finden und nach Hause bringen, wo man es nur für kurze Zeit vermisst hatte, und so würde es wohl schnell wieder geboren werden.
Sein Weib war schon fast so kalt wie der Stein. Er legte ihre Arme und Beine zurecht, ordnete ihre zerzausten Felle und Pelze, schob die Maske zurück, die immer noch locker an ihren Brauen hing und blickte in ihre trüben, blinden Augen. Er war zu erschöpft zum Trauern.
Ein wenig später wurde ihm so warm, dass er die Felle nicht mehr brauchte, also schob er sie weg. Vielleicht war ihr ja auch warm. Er schob ihre Felle weg, sodass sie fast nackt war. So würden die Traummenschen sie leichter erkennen können.
Er hoffte, dass sich die Traummenschen ihrer Familie mit den Traummenschen seiner Familie verbünden würden. Er wäre gern am Traumort mit ihr zusammen gewesen. Vielleicht würden sie auch das Baby wiederfinden. Er glaubte daran, dass die Traummenschen viel Gutes für einen tun konnten.
Vielleicht dieses, vielleicht jenes, vielleicht viele Dinge. Dinge, die alles besser machten. Ihm wurde immer wärmer.
Für kurze Zeit vergaß er jeden Hass. Er starrte in die Dunkelheit, wo das Gesicht seines Weibes war, und murmelte die Worte, die er beim Reiben von Feuersteinen verwendete, Worte gegen die Düsternis, als könne er auf diese Weise den Sonnenvogel noch einmal zum Leben erwecken. Es tat so gut, sich nicht bewegen zu müssen. Ihm war so wunderbar warm.
Bald darauf trat sein Vater in die Höhle und rief ihn bei seinem richtigen Namen.
Mitch stand in Shorts vor dem Wohnwagen und blickte zum Mond und den Sternen über Kumash hinauf. Leise schnäuzte er sich die Nase. So früh am Morgen war es kühl und still. Der Schweiß auf Körper und Gesicht trocknete langsam und ließ ihn frösteln. Er hatte überall Gänsehaut. Im Gebüsch neben dem Wohnwagen raschelten ein paar Wachteln.
Kaye stieß die Fliegentür so energisch auf, dass die Scharniere quietschten und schabten. Sie kam im Nachthemd heraus und stellte sich neben ihn.
»Du wirst dich erkälten«, sagte er und legte den Arm um sie.
Seine Zunge war während der letzten Tage abgeschwollen. Links hatte sie inzwischen eine seltsame Furche, aber das Sprechen fiel ihm leichter.
»Das ganze Bett ist von deinem Schweiß durchtränkt«, sagte Kaye. Sie war jetzt rund, ganz anders als die kleine, schlanke Kaye, deren Bild er immer noch im Kopf hatte. Ihre Wärme und ihr Duft erfüllten die Luft wie der Dampf einer nahrhaften Suppe.
»Hast du geträumt?«, fragte sie.
»So schlimm wie noch nie«, erwiderte er. »Aber ich glaube, dieser Traum war der Letzte.«
»Ist es jedes Mal derselbe Traum?«
»Nein, jeder Traum ist anders.«
»Jack will bestimmt alle blutrünstigen Einzelheiten hören«, bemerkte Kaye.
»Du etwa nicht?«
»Besser nicht«, sagte Kaye. »Mitch, sie ist ein bisschen nervös, sprich mit ihr.«
Kayes Wehen kamen jetzt regelmäßig. Mitch vergewisserte sich durch einen Anruf bei der Klinik, dass alles vorbereitet war und dass Dr. Chambers, der Kinderarzt, sein Backsteinhaus am Nordrand des Reservats bereits verlassen hatte. Als Kaye die letzten Toilettenartikel in dem Kulturbeutel verstaute und ein paar bequeme Kleidungsstücke heraussuchte, die sie nach der Geburt tragen wollte, rief Mitch noch einmal bei Dr. Galbreath an, aber er erreichte nur die automatische Mailbox.
»Sie ist sicher unterwegs«, sagte er, als er das Telefon zusammenklappte. Für den Fall, dass die Polizei die Ärztin an den Kontrollpunkten auf den Hauptstraßen nicht durchließ — eine realistische Möglichkeit, die Mitch wütend machte —, hatte Jack dafür gesorgt, dass zwei Männer sich acht Kilometer weiter südlich mit ihr trafen und sie auf einem Schleichweg durch die niedrigen Hügel hereinschmuggelten.
Mitch holte eine Kiste heraus, wühlte nach der kleinen Digitalkamera, mit der er früher Einzelheiten der Grabungsstätten festgehalten hatte, und überzeugte sich davon, dass die Akkus geladen waren.
Kaye stand im Wohnzimmer und hielt sich den Bauch. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. Als er zu ihr kam, lächelte sie ihn an.
»Ich habe solche Angst«, sagte sie.
»Warum?«
»Du lieber Gott, du fragst warum?«
»Es wird alles gut gehen«, sagte Mitch, aber er war blass wie ein Laken.
»Deshalb sind deine Hände auch so eiskalt«, sagte Kaye. »Ich bin früh dran. Vielleicht ist es falscher Alarm.« Sie stöhnte seltsam auf und fasste sich zwischen die Beine. »Ich glaube, die Fruchtblase ist gerade geplatzt. Ich brauche ein paar Handtücher.«
»Vergiss doch die blöden Handtücher!«, rief Mitch. Er half ihr, in den Toyota einzusteigen. Sie zog den Sicherheitsgurt über ihren Bauch. Nicht wie in den Träumen, dachte er. Der Gedanke wurde zu einer Art Gebet, das er immer und immer wieder zum Himmel schickte.
»Von Augustine hat niemand mehr etwas gehört«, sagte Kaye, als Mitch auf die Asphaltstraße einbog, um die drei Kilometer zur Klinik zu fahren.
»Warum auch?«
»Er könnte ja versuchen, es zu verhindern.«
Mitch warf ihr einen amüsierten Blick zu. »Das wäre genauso verrückt wie in meinen Träumen.«
»Er ist der Buhmann, Mitch. Ich habe Angst vor ihm.«
»Ich mag ihn auch nicht, aber er ist kein Ungeheuer.«
»Er hält uns für krank«, sagte sie, und die Tränen liefen ihr über die Wangen. Plötzlich jaulte sie auf.
»Die nächste?«, fragte Mitch.
Sie nickte. »Ist schon gut«, sagte sie. »Alle zwanzig Minuten.«
Sie begegneten Jack, der mit seinem Lastwagen vom Ostrand des Reservats kam, und hielten kurz an, um sich von Fenster zu Fenster zu unterhalten. Sue saß neben Jack. Die beiden fuhren hinter ihnen her.
»Sue soll dir helfen, wenn du mich unterstützt«, sagte Kaye. »Ich möchte, dass sie bei uns ist. Wenn bei mir alles klappt, wird es für sie viel einfacher.«
»Nichts dagegen«, erwiderte Mitch. »Ich bin da schließlich kein Experte.«
Kaye lächelte und schrie erneut auf.
Das Zimmer 1 der Kumash Wellness Clinic wurde schnell in einen kleinen Kreißsaal verwandelt. Man hatte ein Krankenhausbett und einen hohen Stahlständer mit einer großen runden Operationsleuchte hereingefahren.
Die Hebamme Mary Hand, eine stämmige Frau mittleren Alters mit hohen Wangenknochen, ordnete die medizinischen Instrumente auf einem Tablett und half Kaye, das Krankenhausnachthemd anzuziehen. Eine halbe Stunde nachdem das Zimmer fertig war, kam Dr. Pound, der Anästhesist, ein blässlicher Mann mit dichten schwarzen Haaren und Boxernase. Er unterhielt sich mit Chambers, während Mitch im Waschbecken Eis in einem Plastikbeutel zerkleinerte. Die Eisbrocken füllte er in eine Schüssel.
»Ist es so weit?«, fragte Kaye, als Chambers sie untersuchte.
»Das dauert noch«, erwiderte er. »Es sind erst vier Zentimeter.«
Sue zog sich einen Stuhl heran. Bei ihrer Körpergröße war die Schwangerschaft viel weniger auffällig. Jack rief aus dem Flur nach ihr, und sie wandte sich um. Er warf ihr eine kleine Tasche zu, steckte die Hände in die Taschen, bedachte Mitch mit einem Nicken und ging. Sue stellte die Tasche auf den Tisch neben dem Bett. »Es ist ihm peinlich, hereinzukommen«, erklärte sie Kaye.
»Er ist der Ansicht, das sei Frauensache.«
Kaye hob den Kopf und betrachtete die Tasche. Sie war aus Leder, und hatte eine Perlenkette als Verschluss.
»Was ist da drin?«
»Alles Mögliche. Manche Sachen riechen gut, andere nicht.«
»Ist Jack ein Medizinmann?«
»Du liebe Güte, nein«, erwiderte Sue. »Glaubst du, ich würde einen Medizinmann heiraten? Aber er kennt trotzdem ein paar gute Dinge.«
»Mitch und ich dachten, wir sollten es auf natürlichem Weg kommen lassen«, sagte Kaye zu Dr. Pound, als er einen fahrbaren Tisch mit seinen Gasflaschen, Schläuchen und Spritzen hereinrollte.
»Natürlich«, sagte der Anästhesist und lächelte. »Ich bin nur für alle Fälle hier.«
Chambers erzählte Kaye und Mitch, dass eine Frau ein paar Kilometer weit weg ebenfalls in den Wehen lag, aber nicht mit einer SHEVASchwangerschaft. »Sie besteht auf einer Hausentbindung.
Die haben dort eine Badewanne und alles. Möglicherweise muss ich heute Abend für ein paar Stunden hin. Sie sagten, Dr. Galbreath würde kommen?«
»Eigentlich müsste sie unterwegs sein«, sagte Mitch.
»Nun ja, hoffen wir, dass es klappt. Das Baby liegt mit dem Kopf nach unten. In ein paar Minuten schließen wir den Herztonwehenschreiber zur Überprüfung der Herztöne an. Alle Annehmlichkeiten eines großen Krankenhauses, Ms. Lang.«
Chambers nahm Mitch beiseite und sah ihm ins Gesicht. Seine Blicke wanderten am Umriss der Hautmaske entlang.
»Bezaubernd, nicht?«, fragte Mitch.
»Ich habe schon vier SHEVASekundärbabys entbunden«, sagte Chambers. »Mir ist klar, dass Sie die Risiken kennen, aber ich muss Sie auf ein paar mögliche Komplikationen hinweisen, damit wir auf alles vorbereitet sind.«
Mitch nickte; seine zitternden Hände krampften sich ineinander.
»Keines davon ist lebend zur Welt gekommen. Zwei sahen gesund aus, keine erkennbaren Fehlbildungen, einfach nur … tot.«
Er sah Mitch mit kritischem Blick an. »Solche Statistiken mag ich nicht.«
Mitch wurde rot. »Bei uns ist es etwas anderes.«
»Es kann bei der Mutter auch zu einer Schockreaktion kommen, wenn Komplikationen bei der Entbindung auftreten. Das hat mit den Hormonsignalen zu tun, die ein SHEVAFetus unter Stress abgibt. Warum es so ist, weiß niemand, aber das kindliche Gewebe ist völlig anders. Manche Frauen reagieren nicht gut darauf.
Sollte das geschehen, werde ich einen Kaiserschnitt machen und das Kind so schnell wie möglich herausholen.« Er legte Mitch die Hand auf die Schulter. Sein Piepser ertönte. »Nur als Vorsichtsmaßnahme werde ich mit austretenden Flüssigkeiten und Geweberesten sehr sorgsam umgehen. Alle werden Filtermasken tragen, auch Sie. Es tut mir Leid, Mr. Rafelson, aber wir betreten hier völliges Neuland.«
Sue gab Kaye Eis zu lutschen; die beiden hatten die Köpfe zusammengesteckt und unterhielten sich. Es sah nach einem sehr intimen Gespräch aus, und deshalb zog Mitch sich zurück. Ohnehin wollte er erst einmal mit ein paar komplizierten Gefühlen ins Reine kommen.
Er ging in die Eingangshalle. Dort saß Jack an einem alten Couchtisch und starrte einen Stapel National Geographic- Hefte an.
Das Neonlicht ließ alles blau und kalt erscheinen.
»Du siehst ganz schön fertig aus«, sagte Jack.
»Die haben den Totenschein fast schon unterschrieben«, erwiderte Mitch mit zitternder Stimme.
»Ja, ja. Sue und ich wollen die Geburt wahrscheinlich zu Hause stattfinden lassen. Ohne Ärzte.«
»Er sagt, das sei gefährlich.«
»Ist es vielleicht auch, aber wir haben es schon gemacht.«
»Wann denn?«
»Deine Träume«, sagte Jack. »Die Mumien. Vor Tausenden von Jahren.«
Mitch setzte sich auf den anderen Stuhl und legte den Kopf auf den Tisch. »Das war keine schöne Zeit.«
»Erzähl’ es mir«, sagte Jack.
Mitch schilderte den letzten Traum. Jack hörte aufmerksam zu.
»Der war aber schlimm«, sagte er dann. »Ich werde Sue nichts davon erzählen.«
»Sag’ ihr etwas Tröstendes«, schlug Mitch unbeholfen vor.
»Ich wollte auch träumen, um herauszufinden, was ich tun soll«, sagte Jack. »Aber ich träume nur von großen Krankenhäusern und großen Ärzten, die an Sue herumfummeln. Die Welt des weißen Mannes kommt mir dazwischen. Ich bin also keine große Hilfe.«
Er kratzte sich an den Augenbrauen. »Niemand ist so alt, dass er wüsste, was man tun soll. Meine Leute leben schon immer in diesem Land. Aber selbst mein Großvater meint, die Geister wüssten nichts zu sagen. Auch sie können sich nicht erinnern.«
Mitch steckte eine Hand zwischen die Zeitschriften. Ein Heft rutschte vom Stapel und fiel klatschend zu Boden. »Das ergibt doch keinen Sinn, Jack.«
Kaye lag auf dem Rücken und sah zu, wie Chambers den Herztonwehenschreiber anbrachte. Das stetige Piepen und der Rhythmus des Bandes in dem Apparat neben dem Bett vermittelten ihr ein Gefühl der Sicherheit, eine andere Form der Beruhigung.
Mitch kam mit einem Eis am Stiel und wickelte es ihr aus. Sie hatte die Eiswürfelschale geleert und nahm dankbar das süße Himbeereis.
»Noch keine Spur von Galbreath«, sagte Mitch.
»Das schaffen wir schon«, erwiderte Kaye. »Fünf Zentimeter und Stillstand. Und das alles hier für eine einzige Mutter.«
»Aber was für eine«, entgegnete Mitch. Er massierte ihre Arme, löste die Verspannung und arbeitete sich dann zu ihren Schultern vor.
»Die Mutter aller Mütter«, murmelte sie, als die nächste Wehe einsetzte. Sie ließ es über sich ergehen und hielt den leeren Eisstiel in die Höhe. »Noch eins, bitte«, ächzte sie.
Mittlerweile hatte Kaye sich mit jedem Zentimeter der Zimmerdecke vertraut gemacht. Sie stand vorsichtig auf und ging ein paar Schritte, wobei sie sich an dem fahrbaren Metallgestell mit dem Herztonwehenschreiber festhielt. Die Kabel, die aus ihrem Nachthemd hingen, trug sie hinter sich her. Ihre Haare fühlten sich strohig an, ihre Haut war fettig, und die Augen brannten. Mitch las im National Geographic und blickte auf, als sie zur Toilette watschelte. Als sie sich das Gesicht wusch, stand er in der Tür.
»Mir fehlt nichts«, sagte sie.
»Wenn ich dir nicht helfe, drehe ich durch«, erwiderte Mitch.
»Bloß nicht!«, rief Kaye. Sie setzte sich auf die Bettkante und holte mehrmals tief Luft. Chambers hatte gesagt, er werde in einer Stunde zurück sein. Mary Hand kam mit der Filtermaske auf dem Gesicht herein. Sie sah aus wie die Soldatin einer HightechArmee, die sich auf einen Gasangriff vorbereitet, und sagte Kaye, sie solle sich hinlegen. Dann sah sie sich alles prüfend an und lächelte glückselig. Jetzt ist es so weit, dachte Kaye, aber die Hebamme schüttelte den Kopf. »Immer noch fünf Zentimeter. Ganz normal. Ist ja Ihr erstes Kind.« Ihre Stimme kam dumpf unter der Maske hervor.
Kaye betrachtete wieder die Zimmerdecke und stand die nächsten Krämpfe durch. Mitch forderte sie auf, stoßweise zu atmen, bis die Schmerzwelle vorüber war. Ihr Rücken tat entsetzlich weh.
Gegen Ende der Kontraktionen fühlte sie sich einen bitteren Augenblick lang wie in der Falle, und das ärgerte sie. Sie fragte sich, was wohl geschehen würde, wenn alles schief ging, wenn sie starb, wenn das Baby lebend, aber ohne Mutter geboren würde, wenn Augustine Recht hatte, wenn sie und ihr Kind die Quelle einer schrecklichen Seuche wären. Warum gibt es keine Bestätigung?, fragte sie sich. Warum keine wissenschaftlichen Befunde darüber, so oder so herum? Sie beruhigte sich mit langsamen Atemzügen und versuchte sich zu entspannen.
Als sie die Augen wieder aufschlug, döste Mitch in dem Sessel neben dem Bett. Die Uhr zeigte Mitternacht. Ich werde ewig in diesem Zimmer bleiben.
Sie musste wieder zur Toilette und sprach Mitch an. Er wachte nicht auf. Sie sah sich nach Mary Hand oder Sue um, aber sie war mit ihm allein im Zimmer. Der Herztonwehenschreiber piepte und spulte sein Band ab. »Mitch!«
Er zuckte zusammen, stand auf und half ihr verschlafen, ins Bad zu gehen. Sie hatte sich um Stuhlgang bemüht, bevor sie in die Klinik fuhr, aber ihr Körper hatte nicht mitgespielt, und jetzt machte sie sich deswegen Sorgen. Sie spürte eine Mischung aus Wut und Staunen über ihren Zustand. Der Körper hatte die Führung übernommen, aber sie war sich alles andere als sicher, was er wollte. Ich bin mein Körper. Der Geist ist nur eine Illusion. Das Fleisch ist durcheinander.
Mitch tigerte durch das Zimmer und nippte an einer Tasse mit schlechtem Automatenkaffee. Das kalte blaue Neonlicht hatte sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Ihm war, als hätte er nie die Sonne scheinen sehen. Seine Augenbrauen juckten schrecklich. In die Höhle gehen. Überwintern, und sie bringt das Kleine zur Welt, während wir schlafen. So machen es die Bären. Bei Bären spielt sich die Evolution im Schlaf ab. Das ist der bessere Weg.
Während er sich entspannte, blieb Sue bei Kaye. Mitch ging ins Freie und blieb unter dem klaren Sternenhimmel stehen. Selbst hier draußen, wo nur wenige Menschen unterwegs waren, blendete ihn eine Straßenlaterne und beschnitt die Unendlichkeit des Universums.
Lieber Gott, jetzt bin ich so weit gekommen, und nichts hat sich verändert. Ich bin verheiratet, ich werde Vater, aber ich habe immer noch keine Arbeit und lebe von …
Er schnitt den Gedankengang ab, schwenkte die Arme und schüttelte das nervöse Zittern nach dem Kaffee ab. Seine Gedanken schweiften hierhin und dorthin: zu seinem ersten sexuellen Erlebnis — mit der Sorge, das Mädchen könne schwanger werden —, zu seinen Gesprächen mit dem Direktor des Hayer Museum, bevor er entlassen wurde, bis zu Jack, der alles aus dem Blickwinkel der Indianer betrachten wollte.
Mitch hatte nur einen Blickwinkel: den wissenschaftlichen. Sein ganzes Leben lang hatte er sich darum bemüht, objektiv zu sein, sich selbst aus der Gleichung herauszuhalten, mit klarem Blick zu sehen, was bei seinen Grabungen ans Licht kam. Er hatte Teile seines Lebens gegen vermutlich unzureichende Kenntnisse über das Leben verstorbener Menschen eingetauscht. Jack glaubte an einen Kreislauf des Lebens, in dem letztlich niemand allein war.
Mitch konnte das nicht nachvollziehen. Aber er hoffte, dass Jack Recht hatte.
Die Luft duftete gut. Am liebsten hätte er Kaye hier ins Freie gebracht, damit sie die frische Luft riechen konnte, aber dann fuhr ein Kleinlastwagen vorüber, und es stank nach Abgasen und verbranntem Öl.
Kaye döste zwischen den Wehen immer nur für ein paar Minuten ein. Es war zwei Uhr morgens, und immer noch hatte sich der Muttermund nur fünf Zentimeter weit geöffnet. Chambers hatte sie vor ihrem kleinen Schläfchen untersucht, sich das Wehenschreiberprotokoll angesehen und beruhigend gelächelt. »Wir werden es bald mit ein bisschen Oxytocin versuchen. Dann geht es schneller. Wir nennen es Schmierseife für Babys.« Aber Kaye verstand nicht, was er damit meinte, da sie nicht wusste, was Bardahl war.
Mary Hand nahm ihren Arm, wischte ihn mit Alkohol ab, suchte nach einer Vene und stach eine Kanüle hinein, die sie mit einem Heftpflaster befestigte. Sie schloss einen Plastikschlauch an und hängte eine Flasche mit physiologischer Kochsalzlösung an ein Gestell. Dann stellte sie kleine Medikamentenfläschchen auf das mit blauem Wegwerfpapier ausgelegte Edelstahltablett neben dem Bett.
Normalerweise hatte Kaye etwas gegen Spritzen und Infusionen, aber jetzt waren sie eine Kleinigkeit im Vergleich zu ihren sonstigen Qualen. Obwohl Mitch unmittelbar an ihrer Seite war, ihr den Hals massierte und neues Eis brachte, hatte sie das Gefühl, als rücke er immer mehr in die Ferne. Immer stärker sah sie in ihm nicht mehr den Ehepartner oder Geliebten, sondern einfach einen Mann, eine der Gestalten, die in ihrem bedrückten, zusammengedrängten, endlosen Leben kamen und gingen. Als er mit der Hebamme sprach, runzelte sie die Stirn und betrachtete seinen Rücken. Sie versuchte sich zu konzentrieren und sich ihre Gefühle für ihn ins Bewusstsein zu rufen, um ihn in dieses Puzzle einzufügen, aber da war nichts als Leere. Für Zwischenmenschliches war sie jetzt nicht empfänglich.
Wieder eine Wehe. »Au, Scheiße!«, schrie sie.
Mary Hand untersuchte sie und machte ein besorgtes Gesicht.
»Hat Dr. Chambers gesagt, wann er das Oxytocin geben will?«
Unfähig zu antworten, schüttelte Kaye nur den Kopf. Mary Hand ging hinaus und suchte Chambers. Mitch blieb bei Kaye.
Sie schloss die Augen und stellte fest, dass das Universum in ihrer privaten Dunkelheit sehr klein war und dass sie darüber fast in Panik geriet. Sie wollte, dass es vorüber war. Keine Menstruationskrämpfe hatten jemals die Kraft ihrer Wehen gehabt. Irgendwann während der Kontraktionen dachte sie, der Rücken müsste ihr brechen.
Jetzt wusste sie, dass das Fleisch alles und der Geist nichts war.
»Alle Menschen werden so geboren«, sagte Sue zu Mitch. »Es ist schön, dass du hier bist. Jack hat mir versprochen, bei meiner Entbindung auch dabei zu sein, aber eigentlich ist es bei uns nicht üblich.«
»Frauensache«, sagte Mitch. Sues Maske faszinierte ihn. Sie stand auf und streckte sich. Mit ihrer Größe und dem auffälligen, aber nicht unförmigen Bauch sah sie aus wie der Inbegriff weiblicher Stärke. Selbstsicher, ruhig, philosophisch.
Kaye stöhnte. Mitch beugte sich über sie und streichelte ihr die Wange. Sie lag auf der Seite und versuchte, eine bequeme Körperhaltung zu finden. »Lieber Gott, gebt mir Medikamente«, sagte sie mit schwachem Lächeln.
»Du hattest schon immer einen Sinn für Humor.«
»Ich meine es ernst. Nein, ich meine es nicht ernst. Ich weiß nicht, was ich meine. Wo ist Felicity?«
»Vor ein paar Minuten ist Jack vorbeigekommen. Er hat ein paar Lastwagen losgeschickt, aber bisher hat er nichts von ihnen gehört.«
»Ich brauche Felicity. Was Chambers denkt, weiß ich nicht.
Gebt mir was, damit es endlich vorwärts geht.«
Mitch fühlte sich entsetzlich hilflos. Sie waren der abendländischen Schulmedizin ausgeliefert — in der Form, die sie bei der Konföderation der Fünf Stämme hatte. In seinem Innersten hatte er zu Chambers keinerlei Vertrauen.
»Au, verdammte SCHEISSE!«, schrie Kaye und drehte sich auf den Rücken. Ihr Gesicht war so verzerrt, dass Mitch es kaum noch wiedererkannte.
Sieben Uhr. Kaye sah mit halb geschlossenen Augen auf die Uhr an der Wand. Schon über zwölf Stunden. Sie wusste nicht mehr, wann sie angekommen waren. War es nachmittags gewesen? Ja.
Schon über zwölf Stunden. Noch kein Rekord. Als sie klein war, hatte ihre Mutter ihr erzählt, dass sie bei ihr mehr als dreißig Stunden in den Wehen gelegen hatte. Ich denk’ an dich, Mutter.
Du lieber Himmel, könntest du doch hier sein!
Sue war nicht im Zimmer. Mitch war da, bewegte ihren Arm, linderte die Verspannung, nahm den anderen Arm. Sie spürte eine entfernte Zuneigung zu ihm, aber sie hatte ernsthaft Zweifel, ob sie noch einmal mit ihm schlafen würde. Warum überhaupt daran denken? Sie fühlte sich wie ein riesiger Ballon, der jeden Augenblick platzen konnte. Sie musste Wasser lassen, der Gedanke war gleichbedeutend mit dem Tun, und es kümmerte sie nicht. Mary Hand erneuerte die durchgeweichte Zellstoffunterlage.
Dr. Chambers kam herein und sagte Mary, sie solle jetzt das Oxytocin geben. Mary verband die Flasche mit dem richtigen Schlauch und stellte die Dosierpumpe für die Infusion ein. Kaye verfolgte die Prozedur mit größter Aufmerksamkeit. Bardahl für Babys. Sie erinnerte sich dunkel an die Liste der Peptide und Glykoproteine, die Judith in dem großen Proteinkomplex gefunden hatte. Schlechte Nachrichten für Frauen. Vielleicht.
Vielleicht auch nicht.
Die Welt bestand nur noch aus Schmerzen. Wie eine kleine, betäubte Fliege auf einem riesigen Gummiball hockte Kaye auf diesen Schmerzen. Vage bekam sie mit, wie der Anästhesist sich um sie herum bewegte. Sie hörte, wie Mitch und der Arzt miteinander sprachen. Mary Hand war auch dabei.
Chambers sagte etwas völlig Nebensächliches, etwas über Nabelschnurblut, das man aufbewahren sollte, falls das Baby es später brauchte, oder falls man es für die Wissenschaft verwenden konnte — Nabelschnurblut, reich an Stammzellen.
»Tun Sie es«, erwiderte Kaye.
»Was?«, fragte Mitch. Chambers fragte, ob sie eine Periduralanästhesie haben wollte.
»Du lieber Himmel, ja«, erwiderte Kaye ohne den Hauch eines schlechten Gewissens, weil sie es nicht durchgestanden hatte.
Sie wurde auf die Seite gedreht. »Still halten«, sagte der Anästhesist, wie er auch heißen mochte. Sie wusste es nicht mehr. Vor ihr tauchte Sues Gesicht auf.
»Jack sagt, sie bringen sie jetzt her.«
»Wen?«, fragte Kaye.
»Dr. Galbreath.«
»Gut.« Kaye dachte, es sollte ihr etwas bedeuten.
»Sie haben sie nicht durch die Absperrungen gelassen.«
»Arschlöcher«, murmelte Kaye.
Sie spürte einen Einstich im Rücken. Wieder eine Wehe. Sie begann zu zittern. Der Anästhesist fluchte und entschuldigte sich.
»Daneben. Sie müssen still halten.« Der Rücken tat ihr weh. Das war nichts Neues. Mitch legte ihr ein feuchtes Tuch auf die Stirn.
Moderne Medizin. Sie hatte die moderne Medizin enttäuscht.
»Au, Scheiße.«
Irgendwo weit außerhalb ihrer Bewusstseinssphäre hörte sie Stimmen wie von fernen Engeln.
»Felicity ist da«, sagte Mitch. Sein Gesicht, das unmittelbar über ihr schwebte, strahlte vor Erleichterung. Aber Dr. Galbreath und Dr. Chambers diskutierten, und der Anästhesist mischte auch noch mit.
»Keine Periduralanästhesie«, sagte Galbreath. »Stellen Sie jetzt auch das Oxytocin ab. Wie lange? Wie viel?«
Während Chambers auf den Apparat sah und die Zahlen ablas, machte Mary Hand sich an den Schläuchen zu schaffen. Die Maschine piepte. Kaye sah auf die Uhr. Halb acht. Was bedeutete das? Zeit. Ach so.
»Sie wird es selbst zur Welt bringen«, sagte Galbreath. Chambers reagierte gereizt, mit leisen, aber scharfen Worten hinter seiner entsetzlichen Filtermaske, aber Kaye hörte ihm nicht zu. Sie verweigerten ihr die Medikamente. Felicity beugte sich über Kaye und rückte in ihr schmales Blickfeld. Sie trug keine Filtermaske.
Der große Operationsscheinwerfer wurde eingeschaltet, und Felicity trug keine Filtermaske, die Gute.
»Danke«, sagte Kaye.
»Sie werden mir nicht mehr lange dankbar sein, mein Liebes«, erwiderte Felicity. »Wenn Sie dieses Kind haben wollen, können wir mit Medikamenten nichts mehr ausrichten. Kein Oxytocin, keine Narkosemittel. Ich bin froh, dass ich noch rechtzeitig hier war. Die Babys sterben daran, Kaye. Haben Sie das verstanden?«
Kaye schnitt eine Grimasse.
»Eine schlechte Nachricht nach der anderen was, mein Liebes?
Sind so empfindlich, diese neuen Menschen.«
Chambers protestierte gegen die Einmischung, aber Kaye hörte, wie Mitch und Jack ihn mit immer leiser werdenden Stimmen aus dem Zimmer begleiteten. Mary Hand sah Felicity in Erwartung neuer Anweisungen an.
»Manchmal sind die CDC doch zu etwas gut, mein Liebes«, erklärte Felicity. »Sie haben einen Sonderbericht über die lebend Geborenen herausgebracht. Keine Medikamente, insbesondere keine Schmerzmittel. Noch nicht mal Aspirin. Die Babys vertragen es nicht.« Für kurze Zeit hantierte sie hastig zwischen Kayes Beinen. »Dammschnitt«, sagte sie zu Mary. »Keine Lokalanästhesie. Halten Sie durch, Liebes. Es wird so weh tun, als ob Sie noch einmal die Jungfernschaft verlieren. Mitch, Sie wissen, was Sie zu tun haben.«
Pressen und bis zehn zählen. Ausatmen. Vorbereiten, einatmen, pressen, bis zehn zählen. Kayes Körper arbeitete wie ein Pferd, das weiß, wie man läuft und dennoch ein wenig Führung nicht verschmäht. Mitch stand dicht neben ihr und rieb heftig. Sie klammerte sich an seine Hand und dann an seinen Arm, bis er aufschrie. Sie bereitete sich vor, pressen, bis zehn zählen, ausatmen.
»Sehr gut. Ich sehe sie schon. Da ist sie. Du liebe Güte, das hat lange gedauert, ein langer, seltsamer Weg, was? Mary, da ist die Nabelschnur. Das ist das Problem. Ein bisschen dunkel. Noch mal, Kaye. Machen Sie schon, Liebes. Jetzt.«
Sie presste noch einmal, und etwas löste sich mit einem gewaltigen Rutsch von ihr, während sich ihre Finger zusammenkrampften. Eine Welle der Schmerzen, Erleichterung, wieder Schmerzen, weniger Schmerzen. Ihre Beine zitterten. Ein Krampf fuhr ihr in die Wade, aber sie achtete kaum darauf. Sie spürte einen plötzlichen Schub des Glücks, der willkommenen Leere, dann einen Stich im Steißbein wie von einem Messer.
»Sie ist da, Kaye. Sie lebt.«
Kaye hörte ein dünnes Wimmern, ein saugendes Geräusch und so etwas wie eine gepfiffene Melodie.
Felicity hielt das Baby in die Höhe — rosa und voller Blut, noch an der Nabelschnur, die zwischen Kayes Beinen baumelte. Kaye sah ihre Tochter an und fühlte einen Augenblick lang überhaupt nichts. Dann berührte etwas Großes, Körperloses, Gewaltiges ihre Seele.
Mary Hand legte ihr das Baby auf einer blauen Decke auf den Bauch und säuberte es mit geübten Griffen.
Mitch sah das Blut an, das Baby.
Chambers, immer noch mit der Maske vor dem Gesicht, kam wieder herein, aber Mitch achtete nicht auf ihn. Er konzentrierte sich auf Kaye und das Baby — es war so klein, und es zappelte.
Tränen der Erschöpfung und Erleichterung liefen ihm über die Wangen. Sein Rachen war so eng, dass es schmerzte. Er umarmte Kaye, und sie erwiderte die Umarmung mit bemerkenswerter Kraft.
»Geben Sie ihr nichts in die Augen«, sagte Felicity zu Mary. »Es ist ein Spiel mit völlig neuen Regeln.«
Mary nickte. Ihr Gesicht hinter der Filtermaske wirkte glücklich.
»Nachgeburt«, sagte Felicity. Mary hielt eine Edelstahlschale bereit.
Kaye war sich nie sicher gewesen, ob sie eine gute Mutter sein würde. Jetzt spielte das alles keine Rolle mehr. Sie sah zu, wie das Baby auf die Waage gehoben wurde, und dachte: Ich habe ihr Gesicht noch gar nicht richtig gesehen. Es war ganz runzelig.
Felicity rieb sie mit Alkohol ab, dass es brannte, und machte sich mit einer großen chirurgischen Nadel zwischen ihren Beinen zu schaffen. Es gefiel Kaye nicht, aber sie schloss einfach die Augen.
Mary Hand nahm die üblichen kleinen Untersuchungen vor und beendete die Säuberung des Babys, während Chambers das Nabelschnurblut abnahm. Felicity zeigte Mitch, wo er die Nabelschnur durchschneiden musste, und trug das Baby dann wieder zu Kaye. Mary half ihr, das Nachthemd über die geschwollenen Brüste hochzuziehen, und gab ihr die Kleine.
»Darf ich sie stillen?«, fragte Kaye. Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Flüstern.
»Wenn nicht, ist das große Experiment schnell vorüber«, erwiderte Felicity mit einem Lächeln. »Machen Sie schon, Liebes. Sie haben, was sie braucht.«
Sie zeigte Kaye, wie sie dem Baby auf die Wange drücken musste. Die kleinen rosa Lippen öffneten sich und saugten sich an der großen braunen Brustwarze fest. Mitch blieb der Mund offen stehen. Kaye wollte über seine verblüffte Miene lachen, aber dann konzentrierte sie sich wieder auf das winzige Gesicht, neugierig, wie ihre Tochter aussah. Sue stand neben ihr und gab in Richtung von Mutter und Kind kleine, glückliche Laute von sich.
Mitch sah zu, wie das kleine Mädchen an Kayes Brust saugte. Er verspürte eine fast glückselige Ruhe. Sie hatten es geschafft. Aber es war ja nur der Anfang. So oder so war es etwas, woran er sich festhalten konnte, ein Zentrum, ein Bezugspunkt.
Das Gesicht des Babys war rot und runzelig, aber es hatte dichte Haare — fein und seidig, in einem hellen Rötlichbraun. Sie hatte die Augen geschlossen und presste die Lider in eifriger Konzentration zusammen.
»Viertausendeinhundert Gramm«, sagte Mary. »Acht von zehn ApgarPunkten. Schön kräftig.« Sie nahm die Maske ab.
»Oh Gott, sie ist da«, sagte Sue und fasste sich an den Mund, als sei es ihr erst jetzt schockartig zu Bewusstsein gekommen. Mitch grinste sie an wie ein Schwachsinniger, setzte sich neben Kaye und das Baby und legte das Kinn auf den Arm seiner Frau. Sein Gesicht war jetzt nur wenige Zentimeter von dem seiner Tochter entfernt.
Felicity war mit der Wundversorgung fertig. Chambers wies Mary an, alle Tücher und Einmalartikel in einen Sondermüllsack zu werfen, damit sie verbrannt werden konnten. Mary gehorchte schweigend.
»Sie ist ein Wunder«, sagte Mitch.
Beim Klang seiner Stimme wandte das Mädchen den Kopf in seine Richtung, öffnete die Augen und versuchte ihn ausfindig zu machen.
»Das ist dein Papa«, sagte Kaye. Aus ihrer Brustwarze tropfte dicke, gelbe Vormilch. Das Mädchen senkte den Kopf und saugte sich auf einen kleinen Druck von Kayes Finger hin wieder fest.
»Sie hat den Kopf gehoben«, stellte Kaye staunend fest.
»Sie ist wunderschön«, sagte Sue. »Herzlichen Glückwunsch.«
Felicity sprach kurz mit Sue, während Kaye, Mitch und das Baby sich in dem taghellen Fleck unter der Operationsleuchte zusammendrängten.
»Sie ist da«, sagte Kaye.
»Sie ist da«, bestätigte Mitch.
»Wir haben es geschafft.«
»Du hast es geschafft.«
Wieder hob ihre Tochter den Kopf und öffnete die Augen, dieses Mal ganz weit.
»Sehen Sie sich das an«, sagte Chambers. Felicity beugte sich weit vor und stieß fast mit Sues Kopf zusammen.
Mitch erwiderte fasziniert den Blick seiner Tochter. Sie hatte gelblichbraune Augen mit goldenen Punkten darin. Er beugte sich vor. »Da bin ich«, sagte er zu dem Baby.
Kaye wollte ihr wieder die Brustwarze zeigen, aber die Kleine leistete Widerstand und bewegte den Kopf mit erstaunlicher Kraft.
»Hallo Mitch«, sagte seine Tochter. Ihre Stimme hörte sich an wie das Miauen einer jungen Katze, fast wie ein Fiepen, aber die Worte waren deutlich zu verstehen.
Mitchs Nackenhaare sträubten sich. Felicity Galbreath keuchte und zuckte zurück, als hätte man sie gestochen.
Mitch stützte sich auf die Bettkante und stand auf. Er zitterte.
Einen Augenblick lang fühlte er sich von dem Säugling, der da auf Kayes Brust lag, überfordert. Es kam nicht unerwartet, aber es schien ihm falsch. Er wollte weglaufen. Und doch konnte er den Blick nicht von dem kleinen Mädchen wenden. Wärme stieg in seiner Brust hoch. Irgendwie rückte die Form ihres winzigen Gesichts in den Mittelpunkt. Es sah aus, als wollte sie noch einmal sprechen: Die Lippen, klein und rosa, schoben sich nach vorn und dann zur Seite. Im Mundwinkel erschien eine milchiggelbe Blase.
Auf ihren Wangen und Brauen tauchten kleine Sprenkel in der Farbe von Rehkitz und Löwe auf.
Sie drehte den Kopf und sah Kaye an. Die Haut zwischen ihren Augen legte sich in verwunderte Falten.
Mitch Rafelson streckte seine große, grobknochige Hand mit den schwieligen Fingern aus und wollte das kleine Mädchen berühren. Er beugte sich nach vorn, küsste erst Kaye, dann das Baby, und streichelte unglaublich sanft ihre Schläfen. Mit einer Berührung seines Daumens lenkte er die rosafarbenen Lippen wieder zur Brustwarze. Die Kleine gab ein tiefes Seufzen von sich, ein kleines, pfeifendes Geräusch, und mit einer Körperdrehung bekam sie wieder die Brust ihrer Mutter zu fassen, wo sie energisch saugte.
An ihren Händen bewegten sich vollkommen geformte, goldbraune Finger.
Mitch rief Sam und Abby in Oregon an, um ihnen die freudige Nachricht mitzuteilen. Er konnte kaum richtig zuhören, was sie sagten — die zitternde Stimme seines Vaters, das durchdringende, freudigerleichterte Kreischen seiner Mutter. Nachdem sie sich eine Zeit lang unterhalten hatten, erklärte Mitch, er könne sich kaum noch auf den Beinen halten. »Wir brauchen Schlaf«, sagte er.
Kaye und das Baby waren schon eingenickt. Chambers sagte, sie sollten noch zwei Tage in der Klinik bleiben. Mitch erkundigte sich, ob man ihm ein Feldbett in das Zimmer bringen könne, aber Felicity und Sue überzeugten ihn, dass alles in Ordnung sei.
»Geh’ nach Hause und ruh’ dich aus«, sagte Sue. »Den beiden geht es gut.«
Mitch trat unsicher von einem Fuß auf den anderen. »Ihr ruft an, wenn es Schwierigkeiten gibt?«
»Klar rufen wir an«, sagte Mary Hand, die gerade mit einem Wäschesack vorbeikam.
»Zwei Freunde von mir bleiben tagsüber vor der Klinik«, erklärte Jack.
»Ich muss heute irgendwo übernachten«, warf Felicity ein. »Ich möchte sie mir morgen noch einmal ansehen.«
»Sie können bei uns wohnen«, schlug Jack vor.
Als Mitch mit den anderen vom Krankenhaus zu seinem Toyota ging, schlotterten ihm die Knie.
Im Wohnwagen angekommen, schlief er den ganzen Nachmittag und Abend. Als er aufwachte, war es fast dunkel. Er kniete sich auf das Sofa und starrte durch das große Fenster auf Sträucher, Kies und weit entfernte Hügel.
Dann duschte er, rasierte sich und zog sich an. Anschließend suchte er nach Dingen, die Kaye vielleicht vergessen hatte und jetzt für sich und das Baby brauchte.
Er betrachtete sich im Badezimmerspiegel.
Weinte.
In der angenehmen Abenddämmerung ging er zu Fuß zur Klinik. Die reine, klare Luft duftete nach Salbei, Gras und Staub, nach dem Wasser eines kleinen Baches. Er kam an einem Haus vorüber, wo vier Männer gerade den Motor aus einem alten Ford ausbauten; dazu hatten sie an einer Eiche einen Kettenzug aufgehängt. Die Männer nickten ihm zu und blickten dann schnell zur Seite. Sie kannten ihn und wussten, was geschehen war. Und sie hatten sowohl ihm als auch dem Ereignis gegenüber ein ungutes Gefühl. Er beschleunigte seinen Schritt. Seine Augenbrauen juckten, und jetzt fing es auch auf den Wangen an. Die Maske saß sehr locker. Sie würde sich bald lösen. Er spürte, wie seine Zunge an der Mundinnenseite rieb; es fühlte sich anders an. Auch sein Kopf fühlte sich anders an.
Vor allem wollte er Kaye und das Baby wiedersehen, das Mädchen, seine Tochter. Er wollte sich überzeugen, dass alles Wirklichkeit war.
Die Hochzeitsgesellschaft hatte sich fast über den ganzen zweitausend Quadratmeter großen Garten verteilt. Es war ein warmer, dunstiger Tag; Sonne und Wolkenflecken wechselten sich ab.
Mark Augustine stand vierzig Minuten lang neben seiner Braut in der Reihe der Gastgeber, lächelte, schüttelte Hände, tauschte förmliche Umarmungen aus. Senatoren und Kongressabgeordnete gingen höflich plaudernd an der Reihe entlang. Männer und Frauen in uniformer schwarzweißer Livree trugen Tabletts mit Champagner und Häppchen über den Rasen, der so gepflegt wie ein Golfplatz wirkte. Augustine sah seine Braut mit festgefrorenem Lächeln an; er wusste genau, was er in seinem Innersten empfand: Liebe, Erleichterung und Erfüllung, alles leicht unterkühlt. Den Gästen und den wenigen Journalisten, die in der Presselotterie ein Siegerlos gezogen hatten, zeigte er ein ruhiges, warmherzig liebendes, pflichtbewusstes Gesicht.
Aber ihm war den ganzen Tag, selbst während der Trauungszeremonie, etwas durch den Kopf gegangen. Er hatte sogar die einfache Gelöbnisformel durcheinander gebracht und damit in den ersten Reihen der Kapelle leises Gelächter ausgelöst.
Jetzt wurden lebende Babys geboren. In den Quarantänekliniken, in den speziell dazu bestimmten Krankenhäusern der Taskforce und sogar in Privathäusern kamen neuartige Kinder zur Welt.
Der Gedanke, er könne Unrecht haben, war genauso schnell wieder verschwunden, wie er aufgetaucht war, und hatte ihn nur wenig gejuckt. Bis er gehört hatte, dass Kaye Langs Kind am Leben war, entbunden durch eine Ärztin, die sich an den Notstandsbekanntmachungen der Centers for Disease Control orientiert hatte, an den epidemiologischen Studien jener Arbeitsgruppe, die auf seine Anordnung hin eingerichtet worden war. Besondere Methoden, besondere Vorsichtsmaßnahmen; die Kinder waren eben anders.
Bis zum jetzigen Zeitpunkt hatten allein stehende Mütter oder Eltern, denen die Taskforce nicht auf die Spur gekommen war, vierundzwanzig SHEVASäuglinge an staatlichen Krankenhäusern ausgesetzt.
Anonyme, lebendige Findelkinder, die er nun in seiner Obhut hatte.
Die Begrüßung der Gäste war zu Ende. Seine Füße schmerzten in den engen Gesellschaftsschuhen, aber er umarmte seine Braut, flüsterte ihr etwas ins Ohr und bedeutete Florence Leighton mit einer Geste, ihm ins Haus zu folgen.
»Was haben uns die von Allergy and Infectious Diseases geschickt?«, fragte er. Mrs. Leighton öffnete den Aktenkoffer, den sie schon den ganzen Tag mit sich herumtrug, und gab ihm ein neues Fax.
»Ich warte schon die ganze Zeit auf eine Gelegenheit«, sagte sie.
»Vorhin hat der Präsident angerufen. Er lässt seine besten Wünsche ausrichten und möchte Sie irgendwann heute Abend im Weißen Haus sehen, so bald es Ihnen möglich ist.«
Augustine las das Fax. »Die Bestätigung. Kaye Lang hat ihr Kind bekommen«, sagte er und sah sie mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Das habe ich auch gehört«, erwiderte Mrs. Leighton. Sie machte ein aufmerksamprofessionelles Gesicht, das nichts verriet.
»Eigentlich sollten wir ihr Glückwünsche übermitteln«, sagte Augustine.
»Mache ich«, erklärte Mrs. Leighton.
Augustine schüttelte den Kopf. »Nein, das machen Sie nicht.
Wir haben immer noch eine offizielle Linie.«
»Jawohl, Sir.«
»Sagen Sie dem Präsidenten, ich bin um acht Uhr da.«
»Und was ist mit Alyson?«, fragte Mrs. Leighton.
»Sie hat mich schließlich geheiratet, oder? Sie hat gewusst, worauf sie sich einlässt.«
Kaye stützte sich auf Mitchs Arm und ging schwerfällig im Zimmer auf und ab.
»Wie wollt ihr sie nennen?«, fragte Felicity. Sie saß auf dem einzigen blauen Plastiksessel des Zimmers und wiegte das schlafende Baby sanft in den Armen.
Kaye sah Mitch erwartungsvoll an. Wenn es um die Namensgebung für ihr Kind ging, fühlte sie sich irgendwie verletzlich und anmaßend, als stünde nicht einmal einer Mutter dieses Recht zu.
»Den größten Teil der Mühe hattest du«, bemerkte Mitch, »also hast du auch den Vortritt.«
»Wir müssen uns aber einig sein«, erwiderte Kaye.
»Stell’ mich doch auf die Probe!«
»Sie ist eine Art neuer Stern«, sagte Kaye. Ihre Beine schlotterten immer noch. Im Magen hatte sie nach wie vor ein flaues Gefühl, und mit den Schmerzen zwischen den Beinen kam sie sich manchmal richtig krank vor. Aber ihr Zustand besserte sich rapide.
Sie setzte sich auf die Bettkante. »Meine Großmutter hieß Stella, das heißt Stern. Ich dachte, wir könnten sie Stella Nova nennen.«
Mitch nahm Felicity das Baby ab. »Stella Nova«, wiederholte er.
»Klingt zuversichtlich«, sagte Felicity. »Gefällt mir.«
»So soll sie heißen«, erklärte Mitch und hob die Kleine dicht vor sein Gesicht. Er schnupperte an der Oberseite ihres Kopfes, an der feuchten, üppigen Wärme ihrer Haare. Sie roch nach ihrer Mutter und nach viel mehr. Er spürte, wie die überwältigenden Gefühle in seinem Inneren wie Felsblöcke an ihren Platz fielen und ein sicheres Fundament bildeten.
»Sie fordert sogar im Schlaf unsere Aufmerksamkeit«, sagte Kaye. Fast unbewusst griff sie sich ins Gesicht, entfernte ein herunterhängendes Stück der Maske und legte die neue Haut frei, rosa und zart mit winzigen, leuchtenden Melanophoren.
Felicity kam herüber und beugte sich zu Kaye hinunter. »Ich kann gar nicht glauben, was ich hier sehe«, sagte sie. »Und ich bin es, die dabei sein darf!«
Stella öffnete die Augen und zitterte, als fürchtete sie sich. Sie bedachte ihren Vater mit einem langen, verwunderten Blick und begann zu weinen. Es war ein lautes, beunruhigendes Schreien.
Mitch übergab die Kleine hastig an Kaye, die ihren Morgenmantel beiseite schob. Das Baby beruhigte sich, und das Schreien hörte auf. Wieder genoss Kaye das Wunder der austretenden Milch, die angenehme Sinnlichkeit des Kindes an ihrer Brustwarze. Die Kleine sah ihre Mutter prüfend an, drehte den Kopf, wobei sie die Warze mitzog, und blickte ins Zimmer, zu Felicity und Mitch.
Die rehbraunen, goldgesprenkelten Augen ließen Mitch dahinschmelzen.
»Schon so weit entwickelt«, sagte Felicity. »Sie ist einfach bezaubernd.«
»Was hatten Sie denn gedacht?«, fragte Kaye leise und mit einem leichten Zwitschern in der Stimme. Mitch erschrak ein wenig, als er einen Anklang an den Tonfall des Babys wiedererkannte.
Stella Nova zwitscherte beim Saugen wie ein hübscher kleiner Vogel. Sie sang während des Trinkens, zeigte ihre Zufriedenheit, ihr Entzücken.
Hinter Mitchs Lippen bewegte sich die Zunge in unruhiger Zuneigung. »Wie macht sie das?«, fragte er.
»Keine Ahnung«, sagte Kaye, und es war nur allzu offensichtlich, dass es sie im Augenblick auch nicht kümmerte.
»Sie ist in vielerlei Hinsicht wie ein Baby von sechs Monaten«, sagte Felicity zu Mitch, während sie das Gepäck vom Auto zum Wohnwagen trug. »Es sieht aus, als könnte sie sich schon konzentrieren, Gesichter erkennen … Stimmen …« Sie machte leise hmmm, als wollte sie sich um das herumdrücken, was Stella eindeutig von anderen Neugeborenen unterschied.
»Sie hat noch nicht wieder gesprochen«, sagte Mitch.
Felicity hielt ihm die Fliegentür auf. »Vielleicht haben wir es uns eingebildet«, erwiderte sie.
Kaye legte das schlafende Baby in einer Ecke des Wohnzimmers in ein Kinderbettchen. Sie breitete eine leichte Decke über Stella und streckte sich mit einem leisen Ächzen. »Wir haben richtig gehört«, sagte sie, ging zu Mitch und hob ein Stück der Maske von seinem Gesicht.
»Au«, schrie er. »Es ist noch nicht so weit.«
»Sieh mal«, sagte Kaye, plötzlich ganz die Wissenschaftlerin.
»Wir haben Melanophoren. Sie hat Melanophoren. Die meisten oder sogar alle neuen Eltern werden sie bekommen. Und was unsere Zunge angeht — die ist mit etwas Neuem in unserem Kopf verbunden.« Sie tippte sich an die Schläfe. »Wir sind so ausgerüstet, dass wir mit ihr umgehen können, und zwar fast gleichberechtigt.«
Felicity war verblüfft über den Wandel von der frisch gebackenen Mutter zur objektiv beobachtenden Kaye Lang. Kaye erwiderte ihren Blick mit einem Lächeln. »Während der Schwangerschaft war ich wie eine Kuh«, sagte sie. »Nach diesen neuen Hilfsmitteln zu urteilen, wird unsere Tochter ein sehr schwieriges Kind.«
»Wieso?«, fragte Felicity.
»Weil sie uns in mancher Hinsicht voraus sein wird.«
»Vielleicht in jeder Hinsicht«, fügte Mitch hinzu.
»Das meinen Sie doch nicht wörtlich«, sagte Felicity. »Zumindest kann sie nach der Geburt noch nicht laufen. Die Hautfarbe allerdings — die Melanophoren, wie Sie sie nennen — könnte …«
»Das ist nicht nur Farbe«, sagte Mitch. »Ich spüre sie.«
»Ich auch«, ergänzte Kaye. »Sie verändern sich. Stell dir nur vor, das arme Mädchen.« Sie sah Mitch an. Er nickte und erzählte Felicity von der Begegnung mit den drei Jugendlichen in Virginia.
»Wenn ich die Taskforce wäre, würde ich psychiatrische Stationen für die Eltern verstorbener neuer Kinder einrichten«, sagte Kaye. »Die könnten es mit einer ganz neuen Art von Trauer zu tun bekommen.«
»Vollständige Ausstattung, und keiner, mit dem sie reden können«, sagte Mitch.
Felicity holte tief Luft und fasste sich an die Stirn. »Ich bin seit zweiundzwanzig Jahren Kinderärztin«, sagte sie, »aber jetzt habe ich das Gefühl, ich sollte aufgeben und mich im Wald verstecken.«
»Gib der armen Frau mal ein Glas Wasser«, sagte Kaye. »Oder hätten Sie lieber Wein? Mitch, ich brauche jetzt einen Schluck Wein. Ich habe seit über einem Jahr keinen Tropfen getrunken.«
Sie wandte sich an Felicity. »Stand in dem Bericht etwas über Alkohol?«
»Kein Problem. Für mich auch Wein, bitte.«
Kaye kam Mitch in der kleinen Küche mit dem Gesicht ganz nahe. Sie sah ihn aufmerksam an, und einen Augenblick lang wurde ihr Blick unscharf. Ihre Wangen pulsierten in Hellbraun und Gold.
»Du liebe Güte«, sagte Mitch.
»Nimm die Maske ab«, erwiderte Kaye. »Jetzt haben wir uns wirklich etwas zu zeigen.«
»Nennen wir es doch SchöneNeueSpeziesParty«, sagte Wendell Packer, als er durch die Fliegentür trat und Kaye einen Rosenstrauß überreichte. Hinter ihm kam Oliver Merton mit einer Schachtel Pralinen und einem breiten Lächeln; er ließ seinen Blick prüfend durch den Wohnwagen wandern.
»Wo ist denn das kleine Wunder?«
»Sie schläft«, sagte Kaye und erwiderte seine Umarmung. Dann rief sie begeistert: »Wer ist denn sonst noch da?«
»Wir haben Wendell, Oliver und Maria reingeschmuggelt«, sagte Eileen Ripper. »Und dann ist da noch …«
Sie machte eine schwungvolle Armbewegung in Richtung des schmutzigen alten Lieferwagens, der auf dem Feldweg unter der einzigen Eiche stand. Nicht ohne Schwierigkeiten und steifbeinig kletterte Christopher Dicken auf der Beifahrerseite heraus. Er nahm von Maria Konig die Krücken entgegen und wandte sich zum Wohnwagen. Der Blick seines gesunden Auges kreuzte den von Kaye, und für kurze Zeit war ihr, als müsste sie weinen. Aber er hob eine Krücke, winkte damit zu ihr herüber, und sie lächelte.
»Ganz schön holperig hier bei euch«, rief er.
Kaye lief an Mitch vorüber und schloss Christopher vorsichtig in die Arme. Eileen und Mitch standen nebeneinander und sahen zu, wie die beiden miteinander redeten.
»Alte Freunde?«, fragte Eileen.
»Seelenverwandte vermutlich«, erwiderte Mitch. Auch er freute sich, dass Christopher da war, aber er konnte einen kleinen Stich männlicher Besorgnis nicht verleugnen.
Das Wohnzimmer war für so viele Menschen zu klein. Wendell Packer hielt sich im Vorraum am Schrank fest und beobachtete die anderen. Maria und Oliver saßen auf dem Sofa unter dem großen Fenster. Christopher hatte den blauen Kunstledersessel mit Beschlag belegt, und auf einer Armlehne hockte Eileen. Mitch kam mit Weingläsern in der Hand und einer Flasche Sekt unter jedem Arm aus der Küche. Oliver half ihm, alles auf dem runden Tisch neben dem Sofa abzusetzen, und zog vorsichtig die Korken heraus.
»Vom Flughafen?«, fragte Mitch.
»Flughafen Portland. Keine besonders große Auswahl.«
Kaye brachte Stella Nova in einem rosa Tragekörbchen herein und stellte sie auf den kleinen, abgestoßenen Couchtisch. Die Kleine war wach. Ihre Blicke wanderten schläfrig durch das Zimmer, und aus dem Mund kam eine winzige Speichelblase. Der Kopf wackelte ein wenig. Kaye zog ihr den Strampelanzug zurecht.
Christopher starrte sie an wie ein Gespenst. »Kaye …«, setzte er mit versagender Stimme an.
»Nicht nötig«, sagte Kaye und berührte seine rot vernarbte Hand.
»Doch, es ist nötig. Ich habe es nicht verdient, hier zu sein — mit Ihnen, mit Mitch und mit ihr.«
»Psst«, erwiderte Kaye. »Sie waren von Anfang an dabei.«
»Danke«, sagte Christopher mit einem Lächeln.
»Wie alt ist sie?«, flüsterte Eileen.
»Drei Wochen«, antwortete Kaye.
Maria streckte als Erste die Hand aus und steckte einen Finger in Stellas Hand. Die Faust der Kleinen schloss sich fest darum, und sie zog sanft. Stella lachte.
»Dieser Reflex ist also noch vorhanden«, sagte Oliver.
»Ach, halt die Klappe«, entgegnete Eileen. »Sie ist doch noch ein Baby.«
»Ja, aber sie ist so …«
»Schön!«, beharrte Eileen.
»Anders«, beharrte Oliver.
»Bisher merke ich kaum etwas davon«, sagte Kaye ein wenig abwehrend, obwohl sie genau wusste, wie er es meinte.
»Wir sind auch anders geworden«, bemerkte Mitch.
»Ihr seht gut aus, richtig chic«, sagte Maria. »Wenn die Modezeitschriften das sehen, ist es auf einmal in. Niedliche kleine Kaye …«
»Struppiger, attraktiver Mitch«, fügte Eileen hinzu.
»Mit Tintenfischgesicht«, schloss Kaye. Alle lachten, und Stella zuckte in ihrem Körbchen zusammen. Dann zwitscherte sie, und es wurde still im Zimmer. Nacheinander beehrte sie jeden der Anwesenden mit einem langen Blick. Ihr Kopf wackelte, als sie die Gestalten im Zimmer mit den Blicken verfolgte, aber schließlich war sie wieder bei Kaye angelangt, und dann zuckte sie wieder, als sie Mitch sah. Sie lächelte ihn an. Mitch spürte, wie seine Wangen Farbe annahmen, als ob warmes Wasser durch seine Haut strömte.
Die letzten Stücke der Hautmaske waren vor acht Tagen abgefallen, und seine Tochter anzusehen, war jetzt ein ganz neues Erlebnis.
»Du liebe Güte«, sagte Oliver Merton.
Maria starrte alle drei mit offenem Mund an.
Über die Wangen von Stella Nova liefen hellbraune und goldene Wellen, und ihre Pupillen erweiterten sich ein wenig; die Muskeln rund um die Augen zogen die Haut zu raffinierten, kompliziert verwinkelten Falten zusammen.
»Sie wird uns das Sprechen beibringen«, sagte Kaye stolz.
»Es ist absolut verblüffend«, erklärte Eileen. »Ich habe noch nie ein so schönes Baby gesehen.«
Oliver fragte, ob er näherkommen dürfe, und beugte sich über Stella, um sie genauer zu betrachten. »Ihre Ohren sind eigentlich nicht groß, sie sehen nur groß aus«, meinte er.
»Oliver ist der Ansicht, die nächste Menschenspezies müsste wie Außerirdische aussehen«, sagte Eileen.
»Außerirdische?«, entgegnete Oliver entrüstet. »Diese Aussage lehne ich ab, Eileen.«
»Sie ist ganz und gar menschlich, ganz und gar gegenwärtig«, sagte Kaye. »Nicht von uns getrennt, nicht weit weg, nicht anders.
Sie ist unser Kind.«
»Natürlich«, erklärte Eileen und wurde rot.
»Tut mir Leid«, erwiderte Kaye. »Wir sind schon zu lange hier in der Einöde und hatten zu viel Zeit zum Grübeln.«
»Das kenne ich«, sagte Christopher.
»Sie hat eine wirklich auffällige Nase«, bemerkte Oliver. »So zart und dennoch im Ansatz ziemlich breit. Und die Form — ich glaube, sie wird eine große Schönheit werden.«
Stella sah ihn nüchtern an; ihre Wangen blieben farblos, und dann wandte sie den Blick ab. Sie suchte nach ihrer Mutter. Kaye kam in ihr Blickfeld.
»Mama«, zwitscherte Stella.
»Du liebe Güte«, sagte Oliver noch einmal.
Wendell und Oliver fuhren zu dem kleinen Supermarkt und holten Sandwiches. Anschließend setzten sich alle in der zunehmenden Kühle des Nachmittags zum Essen an einen kleinen Campingtisch hinter dem Wohnwagen. Christopher hatte erst wenig gesagt und nur unsicher gelächelt, während die anderen redeten.
Sein Sandwich verzehrte er, nachdem er sich mit einem klapprigen Campingstuhl auf ein strohtrockenes Stück Wiese gesetzt hatte.
Mitch kam zu ihm und setzte sich neben ihn ins Gras. »Stella schläft«, sagte er. »Kaye ist bei ihr.«
Christopher lächelte und nahm einen Schluck aus der Limonadendose. »Sie wollen sicher wissen, wieso ich überhaupt von so weit zu Ihnen hinausgekommen bin«, setzte er an.
»Na klar«, erwiderte Mitch, »das ist doch wenigstens ein Anfang.«
»Ich bin überrascht, dass Kaye so nachsichtig mit mir ist.«
»Wir haben eine Menge Veränderungen durchgemacht«, entgegnete Mitch. »Aber wir hatten schon den Eindruck, Sie hätten uns aufgegeben.«
»Auch bei mir hat sich vieles verändert. Ich versuche, die Dinge wieder auf die Reihe zu bringen. Übermorgen fahre ich nach Mexiko — Ensenada, südlich von San Diego. Allein.«.
»Kein Urlaub?«
»Ich will mich mit der horizontalen Übertragung alter Retroviren befassen.«
»Das ist doch Quatsch«, sagte Mitch. »Das haben sie nur eingefädelt, damit die Taskforce weiterarbeiten kann.«
»Na ja, da ist aber was dran. Bisher fünfzig Fälle. Mark ist kein Ungeheuer.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.« Mitch starrte missmutig in die Wüste und auf den Wohnwagen.
»Aber ich vermute, der Auslöser ist nicht das Virus, das wir gefunden haben. Ich habe mir alte Berichte aus Mexiko angesehen. Ähnliche Fälle hat es schon vor dreißig Jahren gegeben.«
»Ich hoffe, Sie stellen das bald richtig. Es ist schön hier, aber wir hätten es viel besser haben können … unter anderen Bedingungen.«
Kaye kam mit dem Babyphon in der Hand aus dem Wohnwagen. Maria reichte ihr einen Pappteller mit einem Sandwich. Sie gesellte sich zu Mitch und Christopher.
»Was halten Sie von unserem Rasen?«, fragte sie.
»Er wird die Krankheitsfälle in Mexiko untersuchen«, sagte Mitch.
»Ich dachte, Sie hätten bei der Taskforce gekündigt.«
»Das habe ich auch. Die Fälle sind echt, Kaye, aber ich glaube nicht, dass sie unmittelbar mit SHEVA zu tun haben. Wir haben in der Sache schon so viele überraschende Wendungen erlebt —
Herodes, EpsteinBarr. Ich nehme an, Sie haben den Bericht der CDC über die Anästhesie gelesen?«
»Unsere Ärztin hat ihn gelesen«, sagte Mitch.
»Ohne ihn hätten wir Stella verloren«, fügte Kaye hinzu.
»Es werden jetzt immer mehr SHEVAKinder lebend geboren.
Damit muss Augustine sich auseinander setzen. Ich will die Wogen ein wenig glätten, indem ich untersuche, was da in Mexiko los ist. Alle Fälle sind dort aufgetreten.«
»Sie glauben, dass es eine andere Ursache gibt?«, wollte Kaye wissen.
»Das möchte ich herausfinden. Ich kann jetzt wieder ein bisschen gehen. Außerdem stelle ich einen Assistenten ein.«
»Wie denn? Sie sind doch nicht reich.«
»Aber ich habe einen Etat von einem reichen Exzentriker im Staat New York.«
Mitch machte große Augen. »Doch nicht von William Daney!«
»Genau von dem. Oliver und Brock sind auf ein journalistisches Bravourstück aus und glauben, dass ich die Beweise beschaffen kann. Es ist ein Auftrag, und verdammt noch mal, ich bin davon überzeugt. Nachdem ich Stella gesehen habe … den neuen Stern … ist die Sache wirklich besiegelt. Vorher hätte ich es einfach nicht geglaubt.«
Wendell und Maria kamen von der Eiche herüber, und Wendell zog eine Zeitschrift aus einer Papiertüte. »Ich dachte, das könnte dich interessieren«, sagte Maria zu Kaye und gab ihr das Heft.
Als sie das Titelbild sah, musste sie laut lachen. Es war eine Nummer des Computermagazins WIRED, und der leuchtend orangefarbene Umschlag zeigte die schwarzen Umrisse eines zusammengekrümmten Fetus mit einem grünen Fragezeichen in der Mitte. Darunter stand: »Mensch 3.0: kein Virus, sondern ein Upgrade?«
Oliver stieß zu ihnen. »Das habe ich auch gesehen«, sagte er.
»WIRED hat allerdings in Washington zurzeit nicht viel zu sagen.
Es gibt fast nur trübe Nachrichten, Kaye.«
»Das wissen wir«, erwiderte Kaye und wischte sich eine Haarsträhne aus der Stirn. Der Wind frischte auf.
»Aber hier mal was Positives. Brock sagt, National Geographic und Nature haben die Begutachtung seines Aufsatzes über die Neandertaler von Innsbruck abgeschlossen. Sie werden ihn in einem halben Jahr gemeinsam veröffentlichen. Er wird es als nachgewiesenes Evolutionsereignis bezeichnen, als Bildung einer Unterart.
Und er wird auch SHEVA erwähnen, allerdings nicht an hervorgehobener Stelle. Hat Christopher Ihnen von Daney erzählt?«
Kaye nickte.
»Wir gehen in den Endspurt«, sagte Oliver mit wildem Blick.
»Christopher muss nur dieses Virus in Mexiko dingfest machen und bessere Überlegungen anstellen als sieben nationale Forschungseinrichtungen.«
»Sie schaffen das«, sagte Mitch zu Christopher. »Sie waren der Erste, sogar noch vor Kaye.«
Die Besucher packten ihre Sachen zusammen und machten sich auf den langen Rückweg durch die Einöde im Norden und aus dem Reservat hinaus. Mitch half Christopher, auf der Beifahrerseite einzusteigen, und gab ihm die Hand. Während Kaye, die schlafende Stella im Arm, sich von den anderen verabschiedete, sah Mitch den Kleinlastwagen von Jack den Feldweg entlangkommen.
Sue war nicht bei ihm. Mit quietschenden Bremsen hielt er in der Einfahrt unmittelbar neben dem Kleinbus. Mitch ging zu ihm.
Jack öffnete die Tür, stieg aber nicht aus.
»Wie geht’s Sue?«
»Unverändert«, erwiderte Jack. »Chambers kann die Sache nicht mit Medikamenten beschleunigen. Dr. Galbreath beobachtet alles.
Wir können nur abwarten.«
»Wir möchten sie besuchen«, sagte Mitch.
»Es geht ihr nicht gut. Sie blafft mich an. Vielleicht morgen.
Jetzt schmuggle ich erst mal eure Freunde auf dem alten Schleichweg raus.«
»Das ist sehr nett von dir, Jack.«
Jack zwinkerte und ließ die Mundwinkel hängen — was bei ihm gleichbedeutend mit einem Achselzucken war. »Heute Nachmittag hat eine Sondersitzung stattgefunden«, sagte er. »Diese Frau von den Cayuse hält uns wieder auf Trab. Ein paar Kasinoangestellte haben sich zusammengetan und behaupten, die Quarantäne würde uns zugrunde richten. Auf mich hören sie nicht — sie sagen, ich sei voreingenommen.«
»Was können wir tun?«
»Sue bezeichnet sie als Hitzköpfe, aber es sind Hitzköpfe mit einem echten Argument. Ich wollte nur, dass ihr Bescheid wisst.
Wir müssen uns alle darauf einstellen.«
Mitch und Kaye winkten, während ihre Freunde davonfuhren.
Die Nacht senkte sich über die Landschaft. Kaye setzte sich auf den Klappstuhl unter der Eiche und stillte Stella. Dann war es an der Zeit, die Windeln zu wechseln.
Das Wickeln des Babys holte Mitch jedes Mal wieder auf den Boden der Tatsachen. Während er seine Tochter trocken legte, sang sie melodisch. Ihre Stimme klang so, als zwitschere ein Fink auf einem im Wind schwankenden Ast. Voller Freude, dass sie es jetzt wieder angenehmer hatte, liefen ihre Wangen und Augenbrauen fast dunkelrot an. Energisch griff sie nach seinem Finger.
Er trug sie umher, wiegte sich sanft in den Hüften und folgte Kaye, die die schmutzigen Windeln in einen Plastiksack steckte, um sie in die Waschküche zu bringen. Während sie zum Schuppen gingen, in der die Maschinen standen, sah sie sich um. »Was hat Jack gesagt?«, fragte sie.
Mitch erzählte es ihr.
»Dann müssen wir wieder aus dem Koffer leben«, sagte sie nüchtern. Sie hatte mit Schlimmerem gerechnet. »Lass’ uns gleich heute Abend packen!«
Mitch erwachte aus einem tiefen, traumlosen Schlaf, setzte sich im Bett auf und lauschte. »Was ist denn los?«, murmelte er.
Kaye lag regungslos neben ihm und schnarchte leise. Er blickte hinüber zu Stellas Körbchen auf dem Wandbrett und der batteriebetriebenen Uhr daneben, deren Zeiger im Dunkeln glühten. Es war Viertel nach zwei in der Nacht.
Ohne nachzudenken, rutschte er zum Fußende des Bettes, stand auf und rieb sich die Augen. Bis auf seine Boxershorts war er nackt. Er hätte schwören können, dass jemand etwas gesagt hatte, aber es war ganz still. Plötzlich begann sein Herz zu rasen, und er spürte in Armen und Beinen die Unruhe hochsteigen. Er drehte sich um, sah Kaye an, dachte daran, sie zu wecken, entschied sich dagegen.
Mitch wusste ganz genau, was er jetzt tun würde: den Wohnwagen überprüfen, sich vergewissern, dass niemand draußen herumschlich und einen Hinterhalt legte. Es war ihm klar, ohne dass er lange darüber nachdenken musste, und er stellte sich darauf ein, nach dem Moniereisen zu greifen, das er für genau diesen Fall unter dem Bett liegen hatte. Er hatte nie eine Pistole besessen und wusste auch nicht, wie man damit umging; als er jetzt ins Wohnzimmer ging, fragte er sich, ob das vielleicht dumm gewesen war.
Die Kälte ließ ihn zittern. Draußen zogen Wolken auf; er konnte durch das Fenster über dem Sofa keinen einzigen Stern erkennen. Im Badezimmer stolperte er über den Windeleimer. Und ganz plötzlich wurde ihm klar, dass jemand von innerhalb des Wohnwagens nach ihm gerufen hatte.
Er ging wieder ins Schlafzimmer. Das Babykörbchen, das auf Kayes Seite halb in, halb vor der Kammer neben dem Bett stand, hob sich im Dunkeln vom Hintergrund ab.
Seine Augen gewöhnten sich jetzt immer besser an die Dunkelheit, aber er nahm das Babykörbchen nicht mit den Blicken wahr.
Er schniefte — seine Nase lief. Er schniefte noch einmal, beugte sich nach vorn, lehnte sich dann plötzlich zurück und nieste laut.
Kaye setzte sich im Bett auf. »Was ist los? Mitch?«
»Ich weiß nicht«, sagte er.
»Hast du nach mir gerufen?«
»Nein.«
»Und Stella?«
»Die ist ganz still. Ich glaube, sie schläft.«
»Mach’ mal das Licht an.«
Das klang vernünftig. Er schaltete das Deckenlicht ein. Stella sah ihn aus dem Körbchen mit weit geöffneten rehbraunen Augen an. Die Hände hatte sie zu kleinen Fäusten geballt. Ihre Lippen waren leicht geöffnet, sodass sie ein wenig wie eine Miniaturausgabe von Marilyn Monroe aussah, aber sie war still.
Kaye krabbelte zur Bettkante und sah ihre Tochter an.
Stella gurrte leise. Sie verfolgte ihre Eltern aufmerksam mit Blicken, die scharf und wieder unscharf wurden und sich gelegentlich überkreuzten, wie es ihre Art war. Immerhin war deutlich zu erkennen, dass sie die beiden sah und dass sie nicht unglücklich war.
»Sie ist einsam«, sagte Kaye. »Ich habe sie vor einer Stunde gestillt.«
»Hat sie übersinnliche Kräfte?«, fragte Mitch und streckte sich.
»Hat sie mit ihrem Geist nach uns gerufen?« Wieder schniefte er, und dann musste er noch einmal niesen. Das Schlafzimmerfenster war geschlossen. »Was ist denn hier in der Luft?«
Kaye hockte sich vor das Körbchen und nahm Stella heraus. Sie rieb ihre Nase an der Kleinen und sah dann, die Lippen fast wie Zähne fletschend zurückgezogen, zu Mitch auf. Jetzt musste auch sie niesen.
Stella gurrte wieder.
»Ich glaube, sie hat Koliken«, sagte Kaye. »Riech’ mal.«
Mitch nahm ihr die Kleine ab. Stella wand sich und sah ihn mit gerunzelten Brauen an. Er hätte schwören können, dass sie heller wurde und dass jemand entweder im Zimmer oder draußen seinen Namen rief. Jetzt war ihm wirklich unheimlich zumute.
»Vielleicht stammt sie tatsächlich aus Star Trek«, sagte Mitch. Er schnupperte noch einmal an ihr und verzog dann die Lippen.
»Ganz bestimmt«, sagte Kaye skeptisch. »Übersinnliche Fähigkeiten hat sie jedenfalls nicht.« Sie nahm die Kleine, die, zufrieden über die Bewegung, die Fäuste schwenkte, und trug sie in die Küche.
»Menschen haben angeblich keins, aber vor ein paar Jahren haben Wissenschaftler herausgefunden, dass wir es doch besitzen.«
»Was besitzen?«, fragte Mitch.
»Ein aktives vomeronasales Organ. Am Ansatz der Nasenhöhle.
Es verarbeitet bestimmte Moleküle … die Vomeropherine. Wie Pheromone. Ich vermute, unsere Kleine kann es erheblich besser.«
Sie setzte das Baby auf ihre Hüfte. »Du hast die Lippen zurückgezogen …«
»Du auch«, erwiderte Mitch abwehrend.
»Das ist eine vomeronasale Reaktion. Unsere Katze zu Hause hat das auch gemacht, wenn sie etwas Interessantes gerochen hat — eine Maus zum Beispiel oder die Achselhöhle meiner Mutter.«
Kaye hob das leise jammernde Baby hoch und schnupperte an Kopf, Hals und Bauch. Dann hielt sie die Nase noch einmal hinter Stellas Ohr. »Riech’ mal hier«, sagte sie.
Mitch schnupperte, fuhr zurück und unterdrückte ein Niesen.
Vorsichtig tastete er hinter dem Ohr seiner Tochter. Sie zuckte zusammen, fühlte sich offensichtlich nicht mehr ganz wohl und gab ein Glucksen von sich, als ob sie gleich weinen wollte. »Nein«, sagte er entschieden. »Nein.«
Kaye öffnete ihren Büstenhalter und legte Stella an, bevor sie sich richtig ärgerte.
Mitch zog den Finger zurück. Die Spitze war ein wenig schmierig, als hätte er nicht einem Baby, sondern einem Teenager hinter das Ohr gefasst. Aber die Schmiere war eigentlich kein Hauttalg.
Sie fühlte sich beim Reiben rau und wachsartig an, und sie roch nach Moschus.
»Pheromone«, sagte er. »Oder wie würdest du es nennen?«
»Vomeropherine. Einladung à la Baby. Wir müssen noch eine Menge lernen«, erwiderte Kaye schläfrig, während sie Stella ins Schlafzimmer trug und neben sich legte. »Du bist zuerst aufgewacht«, murmelte sie. »Du hattest schon immer eine ausgezeichnete Nase. Gute Nacht!«
Mitch tastete hinter seinen eigenen Ohren und schnupperte dann an seinem Finger. Plötzlich musste er wieder niesen, und dann blieb er hellwach am Fußende des Bettes stehen. Seine Nase und sein Gaumen prickelten.
Nachdem er es geschafft hatte, wieder einzuschlafen, verging noch nicht einmal eine Stunde, dann wachte er erneut auf, stand eilig auf und zog sich sofort die Hose an. Draußen war es noch dunkel.
Er tippte an Kayes Fuß.
»Lastwagen«, sagte er. Gerade hatte er sich das Hemd zugeknöpft, da trommelte jemand gegen die Tür. Kaye schob Stella in die Mitte des Bettes und schlüpfte eilig in Hose und Pullover.
Mitch öffnete, ohne sich auch nur die Manschetten zuzuknöpfen. Draußen stand Jack, die Mundwinkel weit heruntergezogen und die Mütze so tief in der Stirn, dass man die Augen kaum erkennen konnte. »Sue liegt in den Wehen«, sagte er. »Ich muss wieder in die Klinik.«
»Wir kommen sofort«, sagte Mitch. »Ist Galbreath schon da?«
»Sie kommt nicht. Und ihr solltet jetzt auch hier verschwinden.
Die Treuhänder haben gestern Abend abgestimmt, während ich bei Sue war.«
»Wie …«, setzte Mitch an, aber dann sah er drei Lastwagen und sieben Männer auf dem Schotter des Vorplatzes stehen.
»Sie sind zu dem Schluss gelangt, dass die Babys krank sind«, sagte Jack jämmerlich. »Sie wollen, dass die Regierung sich um sie kümmert.«
»Sie wollen ihre blöden Jobs wiederhaben«, entgegnete Mitch.
»Mit mir reden sie nicht mehr.« Jack berührte seine Maske mit einem kräftigen, dicken Finger. »Immerhin habe ich die Treuhänder dazu gebracht, dass sie euch gehen lassen. Ich kann nicht mitkommen, aber diese Männer werden euch auf dem Feldweg bis zur Hauptstraße begleiten.« Jack hob hilflos die Hände. »Sue wollte Kaye bei sich haben. Es wäre schön, wenn ihr dort sein könntet.
Aber ich muss los.«
»Danke«, sagte Mitch.
Kaye kam hinter ihm aus dem Wohnwagen. Das Baby trug sie im Kindersitz. »Ich bin so weit«, sagte sie. »Ich will zu Sue.«
»Nein«, sagte Jack. »Es liegt an der alten CayuseFrau. Wir hätten sie zum Teufel jagen sollen.«
»Es ist nicht nur sie«, erwiderte Mitch.
»Aber Sue braucht mich!«, schrie Kaye.
»Sie werden euch nicht mehr in ihre Nähe lassen«, entgegnete Jack unglücklich. »Zu viele Leute. Sie haben es in den Nachrichten gehört — Tote in Mexiko bei San Diego. Ausgeschlossen. Mit dem, was sie jetzt denken, sind sie hart wie Stein. Als Nächstes sind wir wahrscheinlich dran.«
Kaye wischte sich voller Wut und Enttäuschung über die Augen.
»Sag’ ihr, dass wir sie lieb haben«, sagte sie. »Und danke für alles, Jack. Sag’ ihr das.«
»Mache ich. Ich muss los.«
Die sieben Männer traten zurück, als Jack zu seinem Kleinlaster ging und einstieg. Er ließ den Motor an und brauste in einer Wolke aus Staub und Schottersteinen davon.
»Der Toyota ist in besserem Zustand«, sagte Mitch. Er wuchtete die beiden Gepäckstücke unter den wachsamen Blicken der sieben Männer in den Kofferraum. Sie tuschelten und hielten sich ein Stück entfernt, als Kaye mit Stella auf dem Arm herauskam und den Kindersitz auf der Rückbank befestigte. Manche Männer vermieden sogar den Blickkontakt und machten mit den Händen kleine Zeichen. Kaye setzte sich neben die Kleine.
Auf zwei der Lieferwagen befanden sich Gestelle mit Schrotflinten und Jagdgewehren. Als sie sich auf dem Rücksitz neben Stella einrichtete, schnürte sich ihre Kehle zu. Sie kurbelte das Fenster hoch, schnallte sich an und spürte um sich herum den durchdringenden, säuerlichen Geruch ihrer eigenen Angst.
Mitch schleppte ihren Laptop und eine Kiste voller Papiere heraus, schob sie in den Kofferraum und knallte die Klappe zu. Kaye bediente die Tasten ihres Handys.
»Tu das nicht, sonst wissen sie sofort, wo wir sind«, sagte Mitch.
»Wir rufen irgendwo von einer Telefonzelle an der Landstraße an.«
Die Flecken in Kayes Gesicht wurden einen Augenblick lang rot.
Verblüfft und staunend sah Mitch sie an. »Wir sind Ausgestoßene«, murmelte er und ließ den Motor an. Die sieben Männer stiegen in ihre Kleinlaster und eskortierten sie die Straße entlang.
»Hast du Bargeld für Benzin?«, fragte Mitch.
»In meiner Handtasche. Du willst keine Kreditkarten benutzen?«
Mitch vermied es, darauf zu antworten. »Der Tank ist noch fast voll.«
Stella schrie kurze Zeit und wurde dann still. Die Morgendämmerung stieg rosafarben über die niedrigen Hügel und hinter den vereinzelten Eichen hoch. Am Horizont lagen zerklüftete Wolkenberge, und vor sich sahen sie schon die Regenvorhänge. Das helle Morgenlicht wirkte unwirklich vor den niedrig hängenden schwarzen Wolken.
Der Feldweg in Richtung Norden war uneben, aber nicht unpassierbar. Die Lastwagen begleiteten sie bis zum Ende, wo ein Schild die Grenze des Reservats kennzeichnete und nebenbei auch den Weg zum Golden Eagle Kasino wies. Gegen einen verwitterten, verbogenen Stacheldrahtzaun drückten sich traurige, mitgenommene Büsche und Wüstenpflanzen.
Aus den tief hängenden Wolkenbergen nieselte der Regen auf die Windschutzscheibe und verschmierte den Staub zu Schlamm.
Vom Feldweg bogen sie über die Straßenböschung auf den nach Osten führenden Highway ein. Als Mitch den Toyota auf dem zweispurigen Asphaltband beschleunigte, fing eine Säule aus leuchtendem Sonnenlicht — dem letzten, das sie an diesem Tag sahen — sie ein wie ein Suchscheinwerfer.
»Hier war es schön«, sagte Kaye mit rauer Stimme. »Ich kann mich nicht erinnern, dass ich irgendwann in meinem Leben irgendwo schon einmal so glücklich war wie in diesem Wohnwagen.«
»Unter widrigen Umständen blühst du auf«, sagte Mitch, griff über die Schulter nach hinten und nahm ihre Hand.
»Ich blühe mit dir auf«, erwiderte Kaye. »Und mit Stella.«
Kaye kam von der Telefonzelle zurück. Sie hatten vor einem kleinen Einkaufszentrum in Bend gehalten, um etwas zu essen zu besorgen. Kaye hatte die Einkäufe erledigt und dann Maria Konig angerufen. Mitch war solange bei Stella im Auto geblieben.
»Arizona hat noch keine Notstandsverwaltung eingerichtet«, sagte Kaye.
»Was ist mit Idaho?«
»Die haben seit vorgestern eine. Kanada auch.«
Stella gurrte und zwitscherte in ihrem Kindersitz. Mitch hatte sie vor ein paar Minuten gewickelt, und danach gab sie in der Regel eine kurze Vorstellung. Er hatte sich schon fast an ihre musikalischen Äußerungen gewöhnt. Sie konnte mittlerweile sehr geschickt zwei verschiedene Töne gleichzeitig hervorbringen und dann einen davon steigen oder fallen lassen. Das Ganze ähnelte verblüffend einem Duo für zwei elektronische Musikinstrumente.
Kaye sah aus dem Autofenster. Es war, als lebe die Kleine in einer anderen Welt, als entdecke sie hingebungsvoll, welche Geräusche sie hervorbringen konnte.
»Im Supermarkt haben sie mich angestarrt«, sagte Kaye. »Ich habe mich gefühlt wie eine Aussätzige — nein, schlimmer noch, wie ein Nigger.« Sie stieß das Wort zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Dann verstaute sie die Einkaufstüte auf dem Beifahrersitz und wühlte mit einer Hand nervös darin herum. »Ich habe am Automaten Geld geholt und dann das hier gekauft«, sagte sie und holte Flaschen mit Makeup, Grundierung und Puder heraus. »Für die Flecken. Was wir mit ihrem Gesang machen, weiß ich noch nicht.«
Mitch klemmte sich wieder hinter das Lenkrad.
»Fahren wir«, sagte Kaye. »Sonst holt noch irgendjemand die Polizei.«
»So schlimm ist es doch nicht«, sagte Mitch, während er den Motor anließ.
»Nicht schlimm?«, schrie Kaye. »Wir sind gebrandmarkt! Du lieber Himmel, wenn sie uns finden, stecken sie Stella in ein Lager!
Und wer weiß, was Augustine mit uns und mit all den anderen Eltern vorhat. Mach’ schnell, Mitch!«
Schweigend setzte Mitch den Wagen aus der Parklücke.
»Tut mir Leid«, sagte Kaye mit versagender Stimme. »Es tut mir wirklich Leid, Mitch, aber ich habe solche Angst. Wir müssen nachdenken, wir brauchen einen Plan.«
Die Wolken verfolgten sie — grauer Himmel und Nieselregen ohne Pause. Spät abends überquerten sie die Grenze nach Kalifornien, und dann bogen sie in einen einsamen Feldweg ein. Sie schliefen im Auto, während der Regen auf das Dach trommelte.
Am nächsten Morgen trug Kaye bei Mitch das Makeup auf.
Auch er bestrich ihr Gesicht unbeholfen mit der Grundierung, und anschließend schminkte sie sich vor dem Rückspiegel.
»Heute nehmen wir uns ein Zimmer in einem Motel«, sagte Mitch.
»Warum sollen wir das Risiko eingehen?«
»Ich finde, wir sehen ganz gut aus«, sagte er mit einem aufmunternden Lächeln. »Stella muss baden, und wir auch. Wir sind keine Tiere, und ich lehne es ab, mich wie ein Tier zu benehmen.«
Kaye dachte darüber nach, während sie Stella stillte. »Na gut«, sagte sie.
»Wir fahren nach Arizona, und wenn es nötig ist, auch nach Mexiko oder noch weiter nach Süden. Irgendwo werden wir einen Ort finden, wo wir bleiben können, bis sich alles eingespielt hat.«
»Wann wird das sein?«, fragte Kaye leise.
Darauf wusste auch Mitch keine Antwort. Er fuhr den verlassenen Feldweg zurück zur Landstraße. Die Wolken rissen auf, und die Morgensonne tauchte Wälder und Wiesen neben der Straße in gleißendes Licht.
»Sonne!«, sagte Stella und schwenkte vergnügt die Fäuste.