TEIL 1 Herodes-Winter

1 Österreichische Alpen, nahe der italienischen Grenze August

Mit der Farbe trüber, irrer Hundeaugen breitete sich der blasse Nachmittagshimmel wie eine Theaterkulisse über den schwarz-grauen Bergen aus.

Mitch Rafelsons Knöchel schmerzten und sein Rücken war wund gescheuert von dem schlecht angebrachten Nylonseil. Er folgte der flinken weiblichen Gestalt Tildes entlang der Grenze zwischen dem weißen Firn und einer Fläche neuen Pulverschnees.

Zwischen den Eisbrocken vom letzten Herbst standen Scharten und Spitzen aus altem Eis, die der Sommer zu milchigen, flint-steinscharfen Messern geformt hatte.

Links von Mitch erhoben sich die Berge über dem Gewirr schwarzen Gerölls beiderseits der vom Eisabsturz zerklüfteten Böschung. Rechts, im gleißenden Sonnenlicht, stieg das blendend leuchtende Eis zur großartigen Kettenlinie des Kars auf.

Etwa zwanzig Meter weiter südlich, für Mitch durch den Rand der Schneebrille verborgen, stand Franco. Mitch konnte ihn hören, aber nicht sehen. Ein paar Kilometer hinter ihnen und jetzt ebenfalls außer Sichtweite befand sich das leuchtend orangefarbene, runde Biwakzelt aus Aluminium und Fiberglas, in dem sie die letzte Rast gemacht hatten. Wie weit sie schon von der Hütte entfernt waren, wusste er nicht, und auch ihren Namen hatte er vergessen; aber die Erinnerung an die strahlende Sonne und den heißen Tee in der Gaststube verliehen ihm ein wenig Kraft. Wenn diese Tortur hinter ihnen lag, würde er wieder mit einer Tasse starkem Tee dort sitzen und Gott danken, dass er es warm hatte und am Leben war.

Sie näherten sich der Felswand und einer Schneebrücke, die über eine vom Schmelzwasser gegrabene Kluft führte. Diese mittlerweile gefrorenen Wasserläufe bildeten sich vom Frühjahr bis zum Sommer und fraßen sich in die Kante des Gletschers. Jenseits der Brücke hing von einer U-förmigen Vertiefung in der Wand etwas hinab, das so aussah, als hätte man die Burg eines Berggeistes auf den Kopf gestellt — oder eine Orgel aus dem Eis gemeißelt: ein gefrorener Wasserfall, der zu vielen dicken Säulen erstarrt war.

Um das schmutzige Weiß an seinem Fuß hatten sich Eisbrocken und Schneeverwehungen gesammelt, das leicht gelbliche Weiß an seiner Spitze hatte die Sonne glatt poliert.

Als tauche er plötzlich aus einem Nebel auf, kam Franco in Sicht und schloss zu Tilde auf. Bisher hatten sie sich auf relativ ebenem doch bewegt, jetzt wollten Tilde und Franco offensichtlich an den Orgelpfeifen hochklettern.

Mitch blieb einen Augenblick stehen und griff hinter sich, um den Eispickel herauszuziehen. Er schob die Brille hoch, kauerte sich hin und ließ sich mit einem Grunzen auf den Hintern fallen, um seine Steigeisen zu überprüfen. Die Eisbrocken zwischen den Spitzen mussten seinem Messer weichen.

Tilde kam ein paar Meter zurück, um mit ihm zu reden. Als er zu ihr aufsah, bildeten seine buschigen, dunklen Augenbrauen eine Brücke über der Himmelfahrtsnase, während die runden grünen Augen wegen der Kälte zwinkerten.

»Damit sparen wir eine Stunde«, sagte Tilde und zeigte auf die Orgel. »Es ist schon spät. Deinetwegen sind wir langsam vorangekommen.« Das Englisch kam präzise und mit einem verführerischen österreichischen Akzent von ihren schmalen Lippen. Sie war schmächtig, aber gut proportioniert. Die hellblonden Haare hatte sie unter einer dunkelblauen Polartec-Mütze versteckt, und aus dem Elfengesicht blickten klare, graue Augen. Attraktiv, aber nicht Mitchs Typ; dennoch hatten sie kurz etwas miteinander gehabt, ehe Franco aufgetaucht war.

»Ich sag’ dir doch, ich bin seit acht Jahren nicht geklettert«, erwiderte Mitch. Franco stellte ihn mit Leichtigkeit in den Schatten.

Der Italiener lehnte nahe der Orgel auf seinem Eispickel.

Tilde erwog und beurteilte alles, nahm nur das Beste, verwarf das Zweitbeste, zerriss aber niemals alte Bande — für den Fall, dass ihre früheren Verbindungen sich noch einmal als nützlich erweisen sollten. Franco besaß einen kantigen Unterkiefer, weiße Zähne, einen eckigen Schädel mit dickem schwarzen, seitlich rasierten Haar, eine Adlernase, mediterran-olivbraune Haut, breite Schultern, muskelbepackte Arme und feingliedrige Hände. Er war sehr stark. In Tildes Augen war er nicht allzu schlau, aber auch kein Dummkopf. Mitch konnte sich vorstellen, wie sie sich von der Aussicht, mit Franco ins Bett zu gehen, aus ihrem dichten österreichischen Wald hatte locken lassen; wie sich, Tortenschichten gleich, das Helle und das Dunkle übereinander gelegt hatten. Diese Vorstellung machte ihm seltsamerweise nur wenig aus. Tilde gab sich dem Sex mit einer mechanischen Gründlichkeit hin, die Mitch eine Zeit lang getäuscht hatte, bis ihm klar geworden war, dass sie die Bewegungen eine nach der anderen schlicht als eine Art geistige Übung vollzog. Genauso aß sie auch. Nichts berührte sie wirklich tief, aber manchmal war sie ganz schön gewitzt und zeigte ein reizendes Lächeln, das Linien in die Winkel ihrer dünnen, scharf konturierten Lippen grub.

»Wir müssen vor Sonnenuntergang unten sein«, erklärte Tilde.

»Ich weiß nicht, wie das Wetter wird. Bis zur Höhle sind es noch zwei Stunden. Nicht weit, aber viel Kletterei. Wenn wir Glück haben, bleibt dir eine Stunde, um unseren Fund zu untersuchen.«

»Ich werde mein Bestes tun«, erwiderte Mitch. »Wie weit sind wir von den Touristenrouten entfernt? Seit Stunden habe ich keine rote Markierung mehr gesehen.«

Während Tilde die Schneebrille abnahm und sie putzte, schenkte sie ihm ein flüchtiges Lächeln, in dem jedoch keine Wärme lag.

»Hier oben gibt es keine Touristen. Meistens kommen nicht einmal die guten Bergsteiger hier hinauf. Aber ich kenne den Weg.«

»Eine Göttin des Schnees«, bemerkte Mitch.

Sie nahm es als Kompliment. »Was hast du erwartet? Schon als kleines Mädchen bin ich hier herumgeklettert.«

»Du bist immer noch ein Mädchen«, erwiderte Mitch. »Fünfundzwanzig? Sechsundzwanzig?«

Sie hatte Mitch nie verraten, wie alt sie war. Jetzt taxierte sie ihn wie einen Schmuckstein, den sie nach längerem Abwägen vielleicht doch noch kaufen wollte. »Ich bin zweiunddreißig. Franco ist vierzig, aber er ist schneller als du.«

»Zum Teufel mit Franco«, sagte Mitch ohne Wut.

Tilde verzog amüsiert die Lippen. »Wir sind heute alle ein bisschen merkwürdig drauf«, sagte sie und wandte sich ab. »Das spürt sogar Franco. Aber noch so ein Eismensch … was wäre der wert?«

Schon der Gedanke daran ließ Mitch schwerer atmen, und das konnte er jetzt nicht gebrauchen. Seine Aufregung legte sich gleich wieder und mischte sich mit der Erschöpfung. »Weiß ich nicht«, sagte er.

Damals in Salzburg hatten sie ihn in ihre kleinen Krämerseelen blicken lassen. Sie waren ehrgeizig, aber nicht dumm; Tilde war sich völlig sicher, dass sie dieses Mal nicht einfach wieder einen toten Bergsteiger gefunden hatten. Sie musste es wissen. Mit vierzehn hatte sie beim Abtransport von zwei Leichen geholfen, die eine Gletscherzunge ausgespuckt hatte. Eine war über hundert Jahre alt gewesen.

Mitch fragte sich, was wohl geschehen würde, falls sie wirklich einen echten Eismenschen gefunden hatten. Auf lange Sicht würde Tilde mit Ruhm und Erfolg nicht fertig werden, da war er sicher. Franco besaß den nötigen Gleichmut, aber Tilde war auf eine bestimmte Art zerbrechlich. Zwar konnte sie wie ein Diamant Stahl zerschneiden, aber ein Schlag aus der falschen Ecke, und sie würde zerbrechen.

Mit dem Ruhm mochte Franco zurecht kommen, aber würde er auch mit Tilde fertig werden? Trotz allem mochte Mitch den Italiener.

»Noch drei Kilometer«, erklärte ihm Tilde. »Los!«

Gemeinsam mit Franco zeigte sie ihm, wie man an dem gefrorenen Wasserfall hochklettern konnte. »Der hier ist nur im Hochsommer flüssig«, sagte Franco. »Jetzt ist er schon seit einem Monat fest. Verstehst du, wie er gefriert? Hier unten ist er dick.« Er schlug mit seinem Pickel gegen die blassgrauen Orgelpfeifen. Das Eis klickte, ein paar Splitter lösten sich. »Aber weiter oben ist er dünn, voller Blasen, brüchig. Wenn man falsch dagegen schlägt, fallen große Brocken runter und können jemanden verletzen. Tilde könnte ein paar Stufen hineinhauen, aber du nicht. Du kletterst zwischen Tilde und mir.«

Tilde ging als Erste, ein ehrliches Eingeständnis von Franco, dass sie die bessere Bergsteigerin war. Als der Italiener die Seile knotete, bewies Mitch ihnen, dass er sich noch an die Schleifen und Knoten aus der Zeit erinnerte, als er in den Cascades im Staat Washington geklettert war. Tilde zog eine Grimasse und knüpfte ihm das Seil im Alpinstil um Taille und Schultern. »Du kannst den größten Teil der Strecke vorwärts gehen. Denk’ dran, ich schlage Stufen, wenn du sie brauchst. Ich möchte nicht, dass du Eis auf Franco runtertrittst«, sagte sie und übernahm die Führung.

Als Mitch die Hälfte der Säule hinter sich hatte und sich mit den Spitzen seiner Steigeisen eingrub, überschritt er eine Schwelle: Ihm war, als falle die Erschöpfung in wellenartigen Schüben von ihm ab, verlasse ihn auf dem Weg über seine Füße. Einen Augenblick lang war ihm schwindelig. Dann fühlte sein Körper sich sauber an, als habe reines Wasser ihn durchspült, und sein Atem ging leicht. Er folgte Tilde, rammte die Steigeisen ins Eis, beugte sich weit nach vorn und griff nach jedem verfügbaren Halt. Den Pickel setzte er nur sparsam ein. Die Luft war knapp über dem Eis tatsächlich wärmer.

Bis zur halben Höhe brauchten sie eine Viertelstunde, danach wetterten sie auf das leicht gelbliche Eis zu. Die Sonne schien hinter niedrigen grauen Wolken hervor, beleuchtete den gefrorenen Wasserfall im spitzen Winkel und schien Mitch an einer Mauer aus durchscheinendem Gold festzunageln.

Er wartete, bis Tilde ihm sagte, sie sei heil oben angekommen.

Franco gab, wie so oft, eine einsilbige Antwort. Mitch bahnte sich den Weg zwischen zwei Säulen hindurch. Das Eis war hier tatsächlich unberechenbar. Er krallte sich mit den seitlichen Spitzen ein und schickte eine Wolke aus Splittern zu Franco hinunter.

Franco fluchte, aber Mitch brach kein einziges Mal ein und stürzte nicht ins Seil; das war ein Segen.

Während er auf allen Vieren vorwärts über die unebene, abgerundete Kante des Wasserfalls kroch, glitten seine Handschuhe beängstigend leicht an den Eisrinnen ab. Er strampelte mit den Füßen, bekam mit dem rechten Stiefel eine Felskante zu fassen, krallte sich fest, fand auf weiterem Fels einen festen Punkt, wartete einen Augenblick, um wieder zu Atem zu kommen, und zog sich, schwerfällig wie ein Walross, zu Tilde hinauf.

Schmutziggraue Brocken auf beiden Seiten ließen erkennen, wo sich das Bett des gefrorenen Baches befand. Er blickte auf das halb im Schatten liegende, enge Felstal, in dem früher ein kleiner Gletscher von Osten her heruntergeflossen war und die charakteristische, U-förmige Kerbe gegraben hatte. In den letzten Jahren hatte es nur wenig geschneit, und der Gletscher hatte sich auf seiner weiteren Wanderung aus der Kerbe zurückgezogen, sodass sie jetzt ein paar Dutzend Meter über seiner Hauptmasse lag.

Mitch wälzte sich auf den Bauch und half Franco herauf, während Tilde an der Seite stehen blieb, so nah am Rand, als kenne sie keine Angst. Völlig gleichmütig, schlank und schön anzuschauen stand sie da.

Mit gerunzelter Stirn sah sie Mitch an. »Es wird spät«, sagte sie.

»Was kannst du in einer halben Stunde schon herausfinden?«

Mitch zuckte die Schultern.

»Wir müssen uns spätestens bei Sonnenuntergang auf den Rückweg machen«, sagte Franco zu Tilde. Dann grinste er Mitch an. »Gar nicht so teuflisch schwer, das Eis, wie?«

»War halb so schlimm«, erwiderte Mitch.

»Er lernt schnell«, sagte Franco zu Tilde, die jetzt den Blick hob.

»Bist du schon mal im Eis geklettert?«

»So nicht«, sagte Mitch.

Sie gingen ein paar Dutzend Meter auf dem gefrorenen Bach entlang. »Noch zwei Mal klettern«, erklärte Tilde. »Franco, du gehst voraus.«

Mitch blickte durch die kristallklare Luft über die Kante der Kerbe auf die sägezahnartigen Spitzen der höheren Berge. Immer noch hatte er keine Ahnung, wo er sich befand. Franco und Tilde wollten ihn lieber im Unklaren lassen. Seitdem sie in der großen, steingefliesten Gaststube Tee getrunken hatten, hatten sie mindestens zwanzig Kilometer hinter sich gebracht.

Als er sich umdrehte, konnte er etwa vier Kilometer entfernt und Hunderte von Metern unter sich das orangefarbene Biwakzelt ausmachen. Es stand unmittelbar hinter einem Bergsattel und lag jetzt im Schatten.

Der Schnee wirkte sehr dünn. Die Berge hatten gerade den wärmsten Sommer der modernen Alpingeschichte erlebt — einen Sommer mit verstärkter Gletscherschmelze, plötzlichen Überschwemmungen der Täler aufgrund heftiger Regenfälle und nur wenig Altschnee. Die globale Erwärmung war in den Medien mittlerweile ein Gemeinplatz, aber von seinem jetzigen Standpunkt aus erschien sie ihm nur allzu real, auch wenn er kein Fachmann war. Vielleicht würden die Alpen in wenigen Jahrzehnten nackt und bloß daliegen.

Das relativ warme, trockene Wetter hatte die alte Höhle wieder zugänglich gemacht. Nur deshalb waren Franco und Tilde auf eine geheime Tragödie gestoßen.

Franco verkündete, er sei gut oben angekommen. Während Mitch sich den letzten Felsen hinaufarbeitete, spürte er den Gneis unter seinen Stiefeln bröckeln und rutschen. Das Gestein war hier brüchig und an manchen Stellen weich wie Staub; lange Zeit, vielleicht Jahrtausende, hatte in diesem Gebiet Schnee gelegen.

Franco reichte ihm die Hand, und zusammen sicherten sie das Seil, während Tilde sich hinter ihnen abstrampelte. Dann stand sie auf der Kante und blickte mit schützend über die Augen gelegter Hand direkt in die Sonne, die jetzt knapp über dem Horizont stand. »Weißt du, wo wir sind?«, fragte sie Mitch.

Der schüttelte den Kopf. »So hoch war ich noch nie.«

»Ein Flachlandindianer«, grinste Franco.

Mitch zwinkerte.

Sie starrten auf eine abgerundete, glitschige Eisfläche, den dünnen Finger eines Gletschers, der früher in mehreren eindrucksvollen Abstürzen zwölf Kilometer weit zu Tal geflossen war. Jetzt verlangsamte der Ausläufer seine Wanderung. Der Gletscherkopf weiter oben wurde kaum noch mit Schnee gefüttert. Die sonnenbeschienene Felswand über dem vereisten Riss des Bergschrundes stieg fast tausend Meter senkrecht in die Höhe, und der Gipfel lag höher, als Mitch zu blicken wagte.

»Da«, sagte Tilde und wies auf die Felsen gegenüber, unterhalb eines Grats. Mit ein wenig Mühe konnte Mitch vor dem düsteren Schwarz und Grau einen winzigen roten Fleck ausmachen: eine Fahne aus Stoff, die Franco bei ihrem letzten Ausflug aufgestellt hatte. Sie machten sich über das Eis auf den Weg.

Die Höhle war eine natürliche Felsspalte. Sie hatte eine kleine Öffnung von nur einem Meter Durchmesser, und die war künstlich hinter einer niedrigen Mauer aus kopfgroßen Steinen verborgen. Tilde holte die Digitalkamera heraus und fotografierte den Eingang aus mehreren Blickwinkeln. Während sie hin und her ging, baute Franco die Mauer ab, und Mitch überblickte den Eingang.

»Wie tief?«, fragte Mitch, als Tilde wieder bei ihnen war.

»Zehn Meter«, erwiderte Franco. »Sehr kalt da drin, besser als jede Gefriertruhe.«

»Aber nicht mehr lange«, sagte Tilde. »Ich glaube, das Gebiet war dieses Jahr zum ersten Mal so frei. Nächsten Sommer könnte es über Null gehen. Ein warmer Wind könnte hineinwehen.« Sie schnitt eine Grimasse und hielt sich die Nase zu.

Mitch packte seinen Rucksack aus und wühlte nach den Taschenlampen, der Schachtel mit den Messern, den Gummihandschuhen, alles Dinge, die er in den Läden im Ort aufgetrieben hatte. Er ließ sie in einen kleinen Plastikbeutel fallen, verschloss die Tüte, steckte sie in die Anoraktasche und sah zwischen Franco und Tilde hin und her.

»Alles klar?«, fragte er.

»Los«, sagte Tilde, tat so, als schiebe sie ihn nach vorn und schenkte ihm ein großzügiges Lächeln.

Er ließ sich auf alle Viere nieder und kroch als Erster in die Höhle. Ein paar Sekunden später kam Franco und unmittelbar nach ihm Tilde.

Die Halteschlaufe der kleinen Taschenlampe zwischen den Zähnen, schob und quetschte Mitch sich immer nur ein paar Zentimeter voran. Auf dem Höhlenboden lag eine dünne Decke aus Eis und feinem Pulverschnee. Die Wände waren glatt und bildeten ganz oben einen spitzen Winkel. Hier würde er nicht einmal kriechend vorankommen. »Es wird gleich breiter«, rief Franco von hinten.

»Gemütliches kleines Loch«, sagte Tilde; ihre Stimme klang hohl.

Die Luft roch nach gar nichts, völlig leer. Kalt war es, weit unter Null. Der Fels entzog ihm die Wärme, sogar durch die gefütterte Jacke und Skihose. Er überquerte eine milchige Eisader auf dem dunklen Gestein und kratzte mit den Fingern daran. Hart. Mindestens bis hierher mussten Schnee und Eis sich aufgetürmt haben, als die Höhle noch verschlossen gewesen war. Kurz nach der Eisader stieg der Höhlenboden an, und er spürte einen leichten Luftzug aus einer weiteren Felsspalte, die erst seit kurzem vom Eis befreit war.

Mitch hatte ein mulmiges Gefühl — nicht weil er an das dachte, was er gleich sehen würde, sondern wegen des durchaus ungewöhnlichen und sogar kriminellen Charakters seiner Untersuchung. Der kleinste falsche Schachzug — wenn nur ein Hauch davon durchsickerte, wenn bekannt wurde, dass er nicht auf legalem Weg vorgegangen war und dafür gesorgt hatte, dass alles seine Richtigkeit hatte …

Mitch hatte schon früher Probleme mit offiziellen Stellen gehabt. Ein halbes Jahr zuvor war er seine Stelle am Hayer Museum in Seattle los geworden, aber das war eine politische Angelegenheit gewesen, lächerlich und unfair.

Der Dame Wissenschaft selbst war er bisher nie zu nahe getreten.

Im Hotel in Salzburg hatte er stundenlang mit Franco und Tilde debattiert, aber sie hatten jedes Zugeständnis abgelehnt. Hätte er sich nicht entschlossen, mit ihnen zu gehen, hätten sie einen anderen gefunden — Tilde hatte sogar einen arbeitslosen Medizinstudenten ins Gespräch gebracht, mit dem sie einmal etwas gehabt hatte. Tilde, so schien es, verfügte über ein großes Repertoire von Exfreunden, alle viel weniger qualifiziert und weniger mit Skrupeln behaftet als Mitch.

Wie Tildes Motive und ethische Vorstellungen auch aussehen mochten: Er war nicht der Typ, der sie herumkriegen und beide unterbuttern konnte; jeder Mensch hat seine Beschränkungen, seine Grenzen in der Wildnis zwischenmenschlicher Beziehungen.

Mitchs Grenze lag bei der Aussicht, frühere Freundinnen in Schwierigkeiten mit der österreichischen Polizei zu stürzen.

Franco zupfte an einer Spitze von Mitchs Stiefelsohle. »Probleme?«, fragte er.

»Kein Problem«, erwiderte Mitch und schob sich wieder fünfzehn Zentimeter vorwärts.

Plötzlich hatte er ein Flimmern vor dem Auge, als sehe er undeutlich einen großen Mond. Gleichzeitig schien sich sein Körper aufzublähen. Er schluckte heftig. »Scheiße«, murmelte er und hoffte, es möge nicht das bedeuten, was er glaubte. Das Flimmern verschwand. Sein Körper normalisierte sich wieder.

Die Höhle verengte sich hier zu einem engen Schlund, keine dreißig Zentimeter hoch und fünfzig bis fünfundfünfzig Zentimeter breit. Mit seitwärts gedrehtem Kopf bekam er eine Vertiefung knapp hinter der Engstelle zu fassen und robbte hindurch. Sein Anorak blieb hängen, und als er sich bemühte, ihn zu lösen und weiter zu kommen, hörte er ein reißendes Geräusch.

»Das ist der schlimmste Teil«, sagte Franco. »Den schaffe ich kaum.«

»Warum bist du so weit mitgekommen?«, fragte Mitch, der allen Mut zusammengenommen hatte und bis zum breiteren, aber immer noch dunklen, engen Raum vor Franco vorgedrungen war.

»Weil es hier war, oder?«, sagte Tilde mit einer Stimme, die wie der Ruf eines Vogels in der Ferne klang. »Ich habe Franco herausgefordert. Er hat mich herausgefordert.« Sie lachte, und ihr Kichern hallte im Dunkeln wider. Mitchs Nackenhaare sträubten sich. Der neue Eismensch lachte sie an, oder vielleicht aus. Er war lange tot. Er brauchte sich um nichts mehr zu kümmern und konnte sich über so manches amüsieren — über die vielen Menschen, die sich unglücklich machten, um seine sterblichen Überreste zu sehen.

»Wie lange ist es her, seit du zuletzt hier warst?«, erkundigte sich Mitch. Er wunderte sich, dass er die Frage nicht schon früher gestellt hatte. Vielleicht hatte er bis jetzt nicht richtig daran geglaubt. Sie waren bis hierher gekommen, und es gab keine Anzeichen, dass sie ihm einen Streich spielten — ohnehin hatte er seine Zweifel, ob Tilde von ihrer Veranlagung her dazu in der Lage war.

»Eine Woche, acht Tage«, erwiderte Franco. Der Durchlass war jetzt so breit, dass er sich neben Mitchs Beine schieben konnte, und Mitch konnte ihm mit der Taschenlampe ins Gesicht leuchten. Franco ließ mit mediterranem Lächeln die Zähne sehen.

Mitch blickte nach vorn. Er konnte etwas erkennen, dunkel, wie ein kleiner Aschehaufen.

»Seid ihr da?«, fragte Tilde. »Mitch, zuerst ist es nur ein Fuß.«

Mitch versuchte, diesen Satz zu deuten. Tilde drückte sich stets in metrischen Größen aus. Mit »Fuß«, das wurde ihm klar, war hier jedoch kein Abstand, sondern ein Körperteil gemeint. »Ich sehe ihn noch nicht.«

»Zuerst kommt die Asche«, sagte Franco. »Das hier könnte sie sein.« Er zeigte auf den kleinen schwarzen Haufen. Mitch spürte, wie die Luft vor ihm langsam niedersank, an seinen Seiten entlangströmte, den hinteren Teil der Höhle ungestört ließ.

Er bewegte sich mit ehrfürchtiger Langsamkeit vorwärts und besah sich alles. Jeden noch so geringen Anhaltspunkt, der auf einen früheren Besuch hinweisen mochte — Steinchen, Zweige oder Holzstücke, Spuren an den Wänden …

Nichts. Mit einem Gefühl großer Erleichterung ließ er sich auf Hände und Knie nieder und kroch vorwärts. Franco wurde ungeduldig.

»Es ist gleich da vorn«, sagte der Italiener und tippte wieder an die Steigeisen.

»Verdammt noch mal, ich lasse es langsam angehen, damit ich nichts übersehe, verstanden?«, gab Mitch zurück und unterdrückte dabei das Bedürfnis, wie ein Maultier nach hinten auszuschlagen.

»Schon gut«, erwiderte Franco versöhnlich.

Mitch konnte jetzt um die Ecke sehen. Der Boden wurde ein wenig flacher. Es roch nach Gras und Salz, wie nach frischem Fisch. Wieder sträubten sich seine Nackenhaare, und vor seinen Augen wallten Nebel. Das alte Leiden.

»Ich sehe es«, erklärte er. Über eine Kante ragte ein Fuß, zurückgebogen und klein wie von einem Kind, sehr runzelig und dunkelbraun, fast schwarz. Die Höhle wurde hier breiter, und auf dem Boden waren Stücke von getrockneten, geschwärzten Fasern verstreut — Gras vielleicht. Schilf. Ötzi, der Original-Eismensch, hatte eine Schilfmütze auf dem Kopf gehabt.

»Oh Gott«, sagte Mitch. Wieder ein weißes Leuchten, das langsam verblasste, und ein schmerzhaftes Flüstern in seiner Schläfe.

»Da drüben ist mehr Platz«, sagte Tilde. »Wir passen alle hinein, ohne die beiden zu stören.«

»Die beiden?«, fragte Mitch und leuchtete mit der Taschenlampe zwischen seinen Beinen hindurch.

Franco lächelte zwischen Mitchs Knien hindurch. »Das ist die eigentliche Überraschung«, bemerkte er. »Es sind zwei.«

2 Republik Georgien

Kaye kauerte sich im Beifahrersitz des jaulenden kleinen Fiat zusammen, den Lado durch die halsbrecherischen Kurven und Windungen der georgischen Militärstraße steuerte. Obwohl sie zu viel Sonne abbekommen hatte und erschöpft war, konnte sie nicht schlafen. Ihre langen Beine zuckten in jeder Kurve. Auf ein unflätiges Quietschen der fast blank gefahrenen Reifen hin strich sie sich mit den Händen durch die kurz geschnittenen braunen Haare und gähnte bedeutungsvoll.

Lado spürte, dass das Schweigen zu lange gedauert hatte. Er wandte Kaye das runzelige, sonnengebräunte Gesicht mit den sanften braunen Augen zu, hob seine Zigarette über das Lenkrad und streckte das Kinn vor. »In der Scheiße liegt die Rettung, was?«, fragte er.

Kaye musste trotz allem lächeln. »Bitte versuch’ nicht, mich aufzuheitern«, sagte sie.

Lado ging darüber hinweg. »Gut für uns. Georgien hat der Welt etwas zu bieten. Wir haben tolles Abwasser.« Er rollte elegant das r, und »Abwasser« klang wie »Abb-wa-serrr«.

»Abwasser«, murmelte sie. »Abb-wa-serrr.«

»Habe ich es richtig gesagt?«, fragte Lado.

»Vollkommen richtig«, erwiderte Kaye.

Lado Jakeli war leitender Wissenschaftler am Eliava-Institut in Tiflis. Dort gewannen sie Bakteriophagen — Viren, die nur Bakterien befallen — aus dem Abwasser der Stadt und der Krankenhäuser, aber auch aus Proben aus der ganzen Welt. Jetzt stand der Westen einschließlich Kaye demütig Schlange, um von den Georgiern etwas über die therapeutischen Wirkungen von Phagen zu lernen.

Mit dem Personal des Eliava-Instituts verstand sie sich prächtig.

Nach einer Woche voller Tagungen und Laborbesichtigungen hatten ein paar jüngere Wissenschaftler sie eingeladen, mit ihnen zu den Hügeln und leuchtend grünen Schafweiden am Fuß des Kazbeg-Berges zu fahren.

Alles hatte sich so schnell verändert. Erst heute Vormittag war Lado die ganze Strecke von Tiflis zu ihrem Basislager bei der alten, einsam gelegenen orthodoxen Gergeti-Kirche gefahren. In einem Umschlag hatte er ein Fax vom Hauptquartier der UN-Friedenstruppen in der Hauptstadt Tiflis mitgebracht.

Im Lager hatte Lado einen Becher Kaffee hinuntergeschüttet und ihr dann — ganz Gentleman und nebenbei auch ihr Aufpasserangeboten, sie nach Gordi zu bringen, einer Kleinstadt 120 Kilometer südwestlich des Kazbeg.

Kaye hatte keine Wahl gehabt. Unerwartet und zum denkbar schlechtesten Zeitpunkt hatte die Vergangenheit sie eingeholt.

Die UN-Mannschaft war die Einreiselisten durchgegangen, um nichtgeorgische Medizinexperten mit einer gewissen Fachkenntnis zu finden. Dabei war ihr Name als einziger aufgefallen: Kaye Lang, 34, Partnerin ihres Ehemannes Saul Madsen in der Firma EcoBacter Research. Anfang der Neunzigerjahre hatte sie an der State University in New York Gerichtsmedizin studiert, weil sie in die Kriminalistik gehen wollte. Aber schon nach einem Jahr hatte sie es sich anders überlegt und auf Mikrobiologie mit Schwerpunkt Gentechnik umgeschwenkt; in Georgien war sie die einzige Ausländerin, die auch nur entfernt so etwas wie die von den UN benötigte Ausbildung besaß.

Lado fuhr mit ihr durch die schönsten ländlichen Gebiete, die sie in ihrem Leben gesehen hatte. Im Schatten des Zentralkaukasus waren sie an terrassenförmig angelegten Bergweiden vorübergekommen, an kleinen steinernen Bauernhäusern, steinernen Getreidespeichern und Kirchen, Häusern mit freundlichen, kunstvoll verzierten Vordächern, die sich auf enge Schotter- oder Erdstraßen öffneten, an Kleinstädten, die in loser Folge zwischen hügeligen Schaf- oder Ziegenweiden und dichten Wäldern auftauchten.

Aber wie alle Regionen, die sie in West- und jetzt auch in Osteuropa gesehen hatte, so waren selbst diese scheinbar leeren Weiten im Lauf der Jahrhunderte immer wieder überrannt und umkämpft worden. Manchmal fühlte sie sich erstickt durch die schiere Nähe ihrer Mitmenschen, durch das Zahnlückenlächeln alter Männer und Frauen, die am Straßenrand standen und dem Verkehr von und nach einer neuen, unbekannten Welt zusahen.

Runzelige, freundliche Gesichter, knotige Hände, die dem kleinen Auto zuwinkten.

Die jungen Leute waren alle in den Städten, nur die Alten waren zurückgeblieben und bestellten das Land, außer in den Urlaubsorten im Gebirge. Georgien hatte vor, zu einem Land der Urlaubsorte zu werden. Die Wirtschaft des Landes wuchs jedes Jahr mit zweistelligen Raten; seine Währung, der Lari, wurde immer stärker und war längst an die Stelle des Rubels getreten; bald würde er auch den westlichen Dollar ersetzen. Man baute Ölpipelines vom Kaspischen zum Schwarzen Meer; und der Wein wurde für das Land, in dem er seinen Namen erhalten hatte, zu einem wichtigen Exportartikel.

In den nächsten Jahren würde Georgien ein neues, ganz anderes Gebräu exportieren: Phagenlösungen zur Heilung einer Welt, die im Begriff war, den Krieg gegen die Bakterieninfektionen zu verlieren.

In einer unübersichtlichen Kurve geriet der Fiat kurz auf die Gegenspur. Kaye schluckte heftig, sagte aber nichts. Lado hatte sich im Institut fürsorglich um sie gekümmert. Letzte Woche hatte sie ihn ein paar Mal dabei ertappt, wie er sie mit einem Ausdruck mürrischer, der alten Welt verhafteten Erwartungshaltung angesehen hatte, die Augen zu runzeligen Schlitzen verengt, wie ein aus Olivenholz geschnitzter, braun gebeizter Satyr. Unter den am Institut tätigen Frauen — insbesondere den jüngeren — stand er im Ruf, nicht immer vertrauenswürdig zu sein. Aber er hatte Kaye stets mit dem größten Anstand behandelt, ja sogar — wie jetzt — mit Besorgnis. Er wollte nicht, dass sie traurig war, aber er konnte sich auch keinen Grund vorstellen, warum sie fröhlich sein sollte.

Bei aller Schönheit hatte Georgien viele Schattenseiten: Bürgerkrieg, Attentate, und jetzt auch Massengräber.

Sie tuckerten in einen Regenvorhang. Die Scheibenwischer zogen schwarze Schlieren hinter sich her und reinigten etwa ein Drittel von Lados Gesichtsfeld. »Ein Hoch auf Jossif Stalin, er hat uns das Abwasser hinterlassen«, grübelte er. »Guter Sohn Georgiens. Unser berühmtester Exportartikel, besser als Wein.« Lado grinste sie unaufrichtig an. Er wirkte beschämt und abwehrend zugleich.

Kaye konnte nicht umhin, ihn aus der Reserve zu locken.

»Er hat Millionen ermordet«, murmelte sie. »Er hat Dr. Eliava umgebracht.«

Lado starrte grimmig durch die Scheibe und versuchte zu sehen, was hinter der kurzen Kühlerhaube lag. Er schaltete herunter, bremste und umfuhr ein Loch, in dem eine Kuh Platz gehabt hätte. Kaye gab ein leises Stöhnen von sich und krallte sich an der Seite ihres Sitzes fest. Es gab auf diesem Stück keine Leitplanken, und neben der Straße gähnte ein steiler Abgrund von mindestens dreihundert Metern; unten floss ein Gletscherschmelzbach. »Es war Beria, der Dr. Eliava zum Volksfeind erklärte«, sagte Lado nüchtern, als erzähle er eine alte Familiengeschichte. »Beria war damals in Georgien der Leiter des KGB, Provinzarschloch und Kinderschänder, kein großes Tier in ganz Russland.«

»Er war Stalins Mann«, erwiderte Kaye und versuchte, nicht an die Straße zu denken. Sie begriff nicht, wie die Leute in Georgien noch auf Stalin stolz sein konnten.

»Alle waren Stalins Männer, oder sie kamen ums Leben«, sagte Lado. Er zuckte die Achseln. »Als Chruschtschow sagte, Stalin sei schlecht, gab es hier großen Stunk. Was wissen wir schon? Er hat uns so viele Jahre lang auf so vielfältige Art aufs Kreuz gelegt, dass wir dachten, er verhalte sich nicht anders als ein Ehemann.«

Das amüsierte Kaye. Lado nahm ihr Grinsen als Ermutigung.

»Manche wollen immer noch unter dem Kommunismus wieder zu Wohlstand kommen. Oder wir holen den Wohlstand aus der Scheiße.« Er rieb sich die Nase. »Ich bin für die Scheiße.«

Während der folgenden Stunden fuhren sie in weniger Furcht erregende Vorgebirge und Ebenen hinunter. Auf den Wegweisern in verschnörkelter georgischer Schrift sah man die rostigen Pocken Dutzender von Schusslöchern. »Noch eine halbe Stunde, mehr nicht«, sagte Lado.

Der strömende Regen ließ kaum die Grenze zwischen Tag und Nacht erkennen. Als sie an eine Kreuzung und die Abzweigung zu der Kleinstadt Gordi kamen, schaltete Lado die trüben Scheinwerfer des Fiat ein.

Vor der Kreuzung, beiderseits der Straße, standen zwei gepanzerte Mannschaftswagen. Fünf russische Friedensschützer mit Regenmänteln und runden Nachttopfhelmen bedeuteten ihnen mürrisch, sie sollten halten.

Lado brachte den Fiat in leichter Schräglage am Straßenrand zum Stehen. Ein paar Meter weiter, genau auf der Kreuzung, erkannte Kaye eine weitere Grube. Um sie zu umgehen, würden sie über die Böschung fahren müssen.

Lado kurbelte das Fenster herunter. Ein russischer Soldat mit rosigen Chorknabenwangen, höchstens neunzehn oder zwanzig Jahre alt, spähte ins Innere. Von seinem Helm tropfte Wasser auf Lados Ärmel. Lado unterhielt sich auf Russisch mit ihm.

»Amerikanerin?«, wollte der junge Russe von Kaye wissen. Sie zeigte ihm ihren Pass, ihre Gewerbelizenzen der EU und der Gemeinschaft der Blockfreien und das Fax mit der Bitte — oder eigentlich dem Befehl —, nach Gordi zu kommen. Der Soldat nahm das Fax, runzelte beim Versuch, es zu lesen, die Stirn und machte es gründlich nass. Dann zog er sich zurück und beriet sich mit einem Offizier, der in der Hecktür des am nächsten stehenden Transportwagens hockte.

»Die sind nicht gerne hier«, murmelte Lado, »und wir wollen sie auch nicht hier haben. Aber wir haben um Hilfe gebeten … Wem sollen wir einen Vorwurf machen?«

Der Regen hörte auf. Kaye starrte in das nebelige Dunkel vor ihnen. Durch das Winseln des Motors hörte sie Grillen und Vogelgezwitscher.

»Da runter, nach links« sagte der Soldat, stolz auf sein Englisch, zu Lado. Er schenkte Kaye ein Lächeln und winkte sie weiter zu einem anderen Soldaten, der wie ein Zaunpfahl in der grauen Düsternis neben dem Loch stand. Lado kuppelte ein, und das kleine Auto zockelte um die Grube herum an dem dritten Friedensschützer vorbei in die Seitenstraße.

Lado kurbelte das Fenster ganz herunter. Kühle, feuchte Abendluft wehte durch den Wagen und ließ die kurzen Haare über Kayes Nacken in die Höhe wirbeln. An den Straßenrändern standen die Birken dicht bei dicht. Für kurze Zeit roch die Luft faulig.

Hier waren Menschen in der Nähe. Dann kam Kaye der Gedanke, es seien vielleicht nicht die Abwässer der Stadt, die so stanken. Sie rümpfte die Nase, und ihr Magen drehte sich um. Aber das war unwahrscheinlich. Ihr Ziel lag etwa eineinhalb Kilometer außerhalb der Stadt, und bis nach Gordi waren es auf der Landstraße noch mindestens drei.

Sie kamen an einen kleinen Bach; langsam durchquerte Lado das schnell fließende, seichte Wasser. Die Räder versanken bis zu den Radkappen, aber der Wagen kam unbeschadet wieder heraus und fuhr noch hundert Meter weiter. Zwischen den rasch dahingleitenden Wolken blinzelten Sterne. Die Berge standen wie eine zerklüftete schwarze Leere vor dem Himmel. Der Wald rückte heran, zog sich wieder zurück, und dann sahen sie Gordi: Gebäude aus Stein, einige neuere, klobige Holzhäuser mit zwei Stockwerken und winzigen Fenstern, ein einzelner, schmuckloser Betonwürfel als Rathaus, Straßen mit löchrigem Asphalt und altem Kopfsteinpflaster. Kein Licht, schwarze, blinde Fenster. Der Strom war wieder einmal ausgefallen.

»Ich kenne diese Stadt nicht«, murmelte Lado. Er trat heftig auf die Bremse und holte Kaye mit einem Ruck aus ihren Träumen.

Der Leerlauf des Wagens dröhnte auf dem kleinen, von zweistöckigen Gebäuden umgebenden Hauptplatz des Ortes. Über einem Gasthofnamens »Rustaveli-Tiger« konnte Kaye ein verblichenes Intourist-Schild ausmachen.

Lado schaltete die winzige Leselampe ein und zog das Fax mit dem Lageplan hervor. Angewidert warf er das Papier von sich und stieß die Tür des Fiat auf. Die Scharniere gaben ein lautes, metallisches Knarren von sich. Er beugte sich hinaus und rief auf Georgisch: »Wo ist das Grab?«

Die Dunkelheit sprach für sich selbst.

»Na toll«, sagte Lado. Er musste die Tür zweimal zuknallen, damit das Schloss einschnappte. Während der Wagen vorwärts schlich, presste Kaye die Lippen zusammen. Mit quietschender Kupplung fuhren sie durch eine kleine Straße, deren dunkle Geschäfte mit rostigen Stahlrollos verschlossen waren. Als sie das Dorf am anderen Ende verließen, kamen sie an zwei verlassenen Baracken, Kieshaufen und verstreuten Strohballen vorüber.

Nach wenigen Minuten sahen sie Lichter — Taschenlampen und ein einziges kleines Lagerfeuer; kurz darauf hörten sie das Knattern eines tragbaren Generators und Stimmen, die laut durch die Leere der Nacht hallten.

Das Grab war näher, als es nach der Karte schien, noch nicht einmal eineinhalb Kilometer von der Stadt entfernt. Kaye fragte sich, ob die Dorfbewohner wohl das Schreien gehört hatten und ob es überhaupt Schreie gegeben hatte.


Jetzt war Schluss mit lustig.

Das UN-Team trug Gasmasken mit Filtern für industrielle Aerosole. Die nervösen Soldaten des Sicherheitsdienstes der Republik Georgien mussten sich mit Tüchern begnügen, die sie sich vor das Gesicht gebunden hatten. Sie sahen finster aus, und unter anderen Bedingungen hätten sie komisch gewirkt. Ihre Offiziere trugen chirurgische Gesichtsmasken.

Der Leiter des örtlichen sakrebulo, des Gemeinderates, ein untersetzter Mann mit großen Fäusten, einem gewaltigen Schopf schwarzer, drahtiger Haare und einer vorspringenden Nase, stand mit mürrischer, unglücklicher Miene neben den Sicherheitsoffizieren.

Der Kommandeur des UN-Teams, ein Colonel der US-Armee aus South Carolina namens Nicholas Beck, stellte Kaye eilig vor und gab ihr eine UN-Maske. Sie fühlte sich befangen, legte den Schutz aber an. Becks Adjutantin, eine Schwarze namens Hunter im Rang eines Corporal, reichte ihr ein Paar weiße Latex-Chirurgenhandschuhe, die ein vertrautes Klatschen an den Handgelenken von sich gaben, als Kaye sie überstreifte.

Beck und Hunter führten Kaye und Lado vom Lagerfeuer und den weißen Jeeps weg einen schmalen Pfad entlang. Durch verwildertes Wald- und Buschland gelangten sie zu den Gräbern.

»Der Ratsvorsitzende da drüben hat Feinde. Ein paar örtliche Oppositionelle haben die Gruben ausgehoben und dann das UN-Hauptquartier in Tiflis angerufen«, erzählte Beck. »Ich glaube nicht, dass die Leute vom Sicherheitsdienst der Republik uns gern hier haben. Wir finden in Tiflis keinerlei Unterstützung. So kurzfristig waren Sie die einzige fachkundige Person, die wir auftreiben konnten.«

Man hatte drei parallel nebeneinander liegende Gruben wieder geöffnet und mit Scheinwerfern auf hohen Masten ausgeleuchtet; sie steckten in dem Sandboden und bezogen Strom aus einem tragbaren Generator. Zwischen den Masten hingen lange, rot-gelbe Kunststoffbänder reglos in der stillen Luft.

Kaye umrundete die erste Grube und hob die Maske an. Mit erwartungsvoll gerümpfter Nase schnupperte sie. Außer Erde und Schlamm war nichts Besonderes zu riechen.

»Sie sind über zwei Jahre alt«, sagte sie. Dann reichte sie Beck die Maske. Lado blieb etwa zehn Schritte hinter ihnen stehen — es widerstrebte ihm, in die Nähe der Gräber zu kommen.

»Das müssen wir genau wissen«, sagte Beck.

Kaye ging zu der zweiten Grube, stieg hinunter und ließ den Strahl ihrer Taschenlampe über die Haufen aus Stoff, dunklen Knochen und trockener Erde wandern. Der Boden war sandig und ausgedörrt — er gehörte vermutlich zu einem alten Schmelzwasserfluss aus den Bergen. Die Leichen waren fast nicht zu erkennen, blassbraune, erdverkrustete Knochen mit runzeligem, braunem und schwarzem Fleisch. Die Kleidung hatte die Farbe des Bodens angenommen, aber die Flicken und Fetzen gehörten nicht zu Uniformen: Es waren Damenkleider, Hosen, Mäntel.

Wolle und Baumwolle hatten sich noch nicht völlig aufgelöst.

Kaye suchte nach bunteren Kunstfasern; sie konnten ein Indiz für das maximale Alter des Grabes sein. Auf den ersten Blick sah sie keine.

Sie ließ das Licht auf die Wände der Grube fallen. Die dicksten von den Spaten durchtrennten Wurzeln waren einen guten Zentimeter dick. Zehn Meter weiter standen die ersten Bäume wie große, schlanke Gespenster.

Ein Sicherheitsoffizier mittleren Alters mit dem eindrucksvollen Namen Vakhtang Chikurishvili, ein auf seine Weise gut aussehender, stämmiger Mann mit breiten Schultern und dicker, mehrmals gebrochener Nase, trat vor. Er trug keine Maske und hielt etwas Dunkles in die Höhe. Kaye brauchte ein paar Sekunden, um es zu erkennen: ein Stiefel. In konsonantenreichem Georgisch wandte Chikurishvili sich an Lado.

»Er sagt, die Schuhe seien alt«, übersetzte Lado. »Er sagt, die Leute hier seien vor fünfzig Jahre gestorben. Vielleicht noch früher.«

Chikurishvili wedelte verärgert mit dem Arm und ließ einen schnellen, aus Georgisch und Russisch gemischten Wortschwall auf Lado und Beck los.

Lado dolmetschte. »Er sagt, die Georgier, die das hier ausgegraben haben, sind dumm. Das ist nichts für die UN. Das stammt aus der Zeit lange vor dem Bürgerkrieg. Er sagt, das hier waren keine Ossetier.«

»Wer hat denn etwas von Ossetiern gesagt?«, fragte Beck trocken.

Kaye untersuchte den Stiefel. Er hatte eine dicke Ledersohle.

Auch das Obermaterial war Leder. Die herunterhängenden Schnürbänder waren verrottet und dick mit Erdklumpen verkrustet. Das Leder fühlte sich steinhart an. Sie spähte hinein. Schmutz, aber weder Socken noch Stoff- den Stiefel hatte man nicht von einem verwesten Fuß gezogen. Chikurishvili erwiderte trotzig ihren forschenden Blick, zückte plötzlich ein Streichholz und zündete sich eine Zigarette an.

Eine Inszenierung, dachte Kaye. Sie erinnerte sich noch an die Lektionen, die sie in der Bronx gelernt hatte und durch die sie schließlich von der Gerichtsmedizin abgekommen war. Die Ortstermine an echten Mordschauplätzen. Die Schutzmasken gegen den Verwesungsgeruch.

Beck sprach in gebrochenem Georgisch und besserem Russisch beruhigend auf den Offizier ein. Lado übersetzte leise seine Sprachversuche. Dann griff Beck nach Kayes Ellenbogen und führte sie zu einem langen Segeltuchdach, das man ein paar Meter von den Gruben entfernt aufgebaut hatte.

Unter dem Dach lagen Leichenteile auf zwei ramponierten Klapptischen. Völlig laienhaft, dachte Kaye. Vielleicht hatten die Feinde des sakrebulo-Leiters die Leichen dort platziert und Fotos gemacht, um ihre Behauptungen zu belegen.

Sie umrundete den Tisch: zwei Rümpfe und ein Schädel. An den Körpern war noch ziemlich viel mumifiziertes Fleisch übrig, und an dem Schädel, um Stirn, Augen und Wangen, hingen ein paar seltsam aussehende Bänder. Sie suchte nach Spuren von Insektenpuppen und fand in dem verwesten Hals einige tote Schmeißfliegenlarven, aber viele waren es nicht. Die Leichen waren wenige Stunden nach dem Tod bestattet worden. Sie vermutete, dass man sie nicht gerade im tiefsten Winter vergraben hatte, denn dann gibt es keine Schmeißfliegen. Natürlich war der Winter in dieser Höhenlage in Georgien mild.

Sie griff nach einem kleinen Taschenmesser, das neben einem der Rümpfe lag, und hob damit einen Fetzen Stoff an — früher einmal war es weiße Baumwolle gewesen. Dann löste sie am Bauch einen steifen, gewölbten Hautlappen. In dem Stoff und der Haut über dem Beckenknochen waren Einschusslöcher. »Du lieber Gott«, sagte sie.

Im Becken, zusammengekauert in Schmutz und harten Gewebeschichten, lag ein kleinerer Körper; er war zusammengerollt, kaum mehr als ein Haufen winziger Knochen mit eingedrücktem Schädel.

»Colonel.« Sie machte Beck darauf aufmerksam. Sein Gesicht wurde zu Stein.

Die Leichen konnten ohne weiteres fünfzig Jahre alt sein, aber dafür waren sie in bemerkenswert gutem Zustand. Ein wenig Baumwolle und Wolle waren noch erhalten, und alles war sehr trocken. Heute floss Abwasser durch das Gebiet. Die Gräben waren tief. Aber die Wurzeln …

Wieder sagte Chikurishvili etwas. Es hörte sich verbindlicher und fast ein wenig schuldbewusst an. Über die Jahrhunderte musste man mit einer Menge Schuld fertig werden.

»Er sagt, es sind beides Frauen«, flüsterte Lado in Kayes Richtung.

»Das sehe ich auch«, murmelte sie.

Sie ging um den Tisch und untersuchte den zweiten Rumpf.

Hier war die Bauchhaut nicht mehr vorhanden. Als sie den Schmutz abkratzte, wackelte der Torso mit einem Geräusch wie von einem getrockneten Kürbis. Auch in seinem Becken lag ein kleiner Schädel, ein Fetus von etwa sechs Monaten, genau wie bei dem anderen. Die Gliedmaßen zu dem Rumpf fehlten; ob die Beine im Grab eng nebeneinander gelegen hatten, konnte Kaye nicht feststellen. Keiner der beiden Feten war durch den Druck der Verwesungsgase ausgetrieben worden.

»Beide schwanger«, sagte sie. Lado übersetzte ins Georgische.

Leise sagte Beck: »Wir haben über sechzig Personen gezählt. Die Frauen sind anscheinend erschossen worden. Und die Männer hat man entweder erschossen oder erschlagen.«

Chikurishvili deutete auf Beck und dann wieder auf das Lager; sein Gesicht leuchtete rötlich im Widerschein der Taschenlampen.

»Jugashvili, Stalin.« Der Offizier sagte, die Gräber seien während der Säuberungen ausgehoben worden, wenige Jahre vor dem großen vaterländischen Krieg. Also Ende der dreißiger Jahre. Demnach wären sie fast siebzig Jahre alt, uralte Neuigkeiten, nichts was die UN etwas anging.

Lado sagte: »Er will, dass Russen und UN hier verschwinden. Er sagt, es sei eine innere Angelegenheit, nichts für Friedenstruppen.«

Wieder redete Beck auf den georgischen Offizier ein, dieses Mal weniger sanft. Lado gelangte zu dem Schluss, er wolle nicht im Mittelpunkt dieser Auseinandersetzung stehen, und ging hinüber zu Kaye. Sie beugte sich gerade über den zweiten Rumpf. »Üble Geschichte«, sagte er.

»Zu lange.« Kaye sprach leise.

»Was ist zu lange?«

»Siebzig Jahre sind viel zu lange«, erwiderte sie. »Worüber diskutieren die?« Sie stach mit dem Taschenmesser in die seltsamen Gewebebänder an den Augenhöhlen, die fast eine Art Maske bildeten. Hatte man ihnen vor der Exekution die Augen verbunden?

Das glaubte sie nicht. Die Verbände waren dunkel, klebrig und widerstandsfähig.

»Der UN-Mann sagt, für Kriegsverbrechen gibt es keine Grenze«, erklärte ihr Lado. »Keine — wie sagt man — Verjährung.«

»Da hat er Recht«, erwiderte Kaye. Vorsichtig drehte sie den Schädel um. Der Hinterkopf war seitlich zertrümmert und drei Zentimeter tief eingedrückt.

Dann wandte sie sich dem winzigen Skelett zu, das zusammengerollt im Becken des zweiten Rumpfes lag. Im dritten und vierten Semester ihres Medizinstudiums hatte sie ein paar Kurse in Embryologie belegt. Der Knochenbau des Fetus sah ein wenig seltsam aus, aber sie wollte den Schädel nicht aus dem verbackenen Boden und trockenen Gewebe lösen, denn dabei hätte sie ihn beschädigt.

Sie war schon weit genug vorgedrungen.

Kaye hatte ein ungutes Gefühl. Ihr war nicht nur übel von den eingeschrumpften, vertrockneten menschlichen Überresten, sondern auch von dem, was sie in ihrer Fantasie bereits rekonstruierte.

Sie richtete sich auf und machte Beck durch Winken aufmerksam.

»Diesen Frauen hat man in den Bauch geschossen«, sagte sie.

Tötet alle erstgeborenen Kinder. Grausige Ungeheuer. »Es war Mord.« Sie biss die Zähne zusammen.

»Wie lange ist es her?«

»Mit dem Alter des Stiefels könnte er ungefähr richtig liegen, wenn er von hier stammt, aber das Grab ist nicht so alt. Dazu sind die Wurzeln an den Grubenwänden zu klein. Nach meiner Schätzung sind die Opfer erst vor zwei oder drei Jahren gestorben. Die Erde hier sieht trocken aus, aber der Boden enthält vermutlich Säure, und darin lösen sich alle Knochen nach ein paar Jahren auf.

Und dann der Stoff. Er sieht aus wie Wolle und Baumwolle, das heißt, das Grab ist höchstens ein paar Jahre alt. Wenn es Kunstfasern wären, könnte es älter sein, aber auch dann stammt es aus der Zeit nach Stalin.«

Beck kam näher und schob seine Maske hoch. »Können Sie uns helfen, bis die anderen hier sind?«, fragte er flüsternd.

»Wie lange?«, wollte Kaye wissen.

»Vier, fünf Tage«, erwiderte er. Chikurishvili stand ein paar Schritte entfernt und ließ den Blick zwischen ihnen hin- und herwandern, widerwillig und mit verkrampftem Unterkiefer, als hätten Polizisten sich in einen Familienstreit eingemischt.

Kaye ertappte sich dabei, wie sie den Atem anhielt. Sie wandte sich ab, trat zurück, sog ein wenig Luft ein and fragte: »Wollen Sie Ermittlungen wegen Kriegsverbrechen einleiten?«

»Die Russen finden, wir sollten es tun«, sagte Beck. »Sie sind ganz scharf darauf, die neuen Kommunisten zu Hause in Misskredit zu bringen. Ein paar alte Gräueltaten könnten ihnen frische Munition liefern. Wenn Sie raten sollten, was würden Sie sagen: zwei Jahre, fünf, dreißig, oder wie viele?«

»Weniger als zehn. Vermutlich noch nicht einmal fünf. So etwas habe ich schon lange nicht mehr gemacht«, sagte sie. »Ich kann nur wenig tun. Ein paar Proben nehmen, Gewebestücke. Natürlich keine vollständige Obduktion.«

»Das ist tausend Mal besser, als wenn die Leute aus dem Ort hier herumpfuschen«, erwiderte Beck. »Von denen traue ich keinem. Ich bin mir noch nicht einmal sicher, ob wir den Russen trauen können. Die haben alle dieses oder jenes Schäfchen ins Trockene zu bringen.«

Lado hörte unbewegt zu und sagte nichts, aber er übersetzte auch nicht für Chikurishvili.

Kaye spürte das kommen, was sie die ganze Zeit geahnt und gefürchtet hatte: Die alte, düstere Stimmung kroch in ihr hoch.

Sie hatte geglaubt, sie könnte durch die Reise und die Trennung von Saul die schlechten alten Zeiten, die schlechten Gefühle abschütteln. Als sie den Ärzten und Assistentinnen am Eliava-Institut bei der Arbeit zusah, hatte sie sich befreit gefühlt — sie taten mit so wenig Mitteln so viel Gutes und holten buchstäblich Gesundheit aus der Gosse. Das war die prächtige, glänzende Seite Georgiens. Und jetzt … die Kehrseite der Medaille. Papa Josip Stalin oder ethnische Säuberer, Georgier, die Armenier und Ossetier vertreiben wollen, Abchasen, die Georgier loswerden möchten, Russland schickt Soldaten, Tschetschenien mischt sich ein. Ein schmutziger kleiner Krieg zwischen alten Nachbarn mit altem Groll.

Es würde für sie nicht gut laufen, aber ablehnen konnte sie nicht.

Lado legte das Gesicht in Falten und starrte Beck an. »Es waren werdende Mütter?«

»Die meisten«, antwortete Beck. »Und ein paar waren vielleicht auch werdende Väter.«

3 Alpen

Das Höhlenende war sehr eng. Tilde lag mit angezogenen Beinen unter einem niedrigen Felsvorsprung und sah Mitch vor denen knien, deretwegen sie hergekommen waren. Hinter ihm kauerte Franco.

Mitch hatte den Mund halb offen wie ein erstaunter kleiner Junge. Eine Zeit lang brachte er kein Wort heraus. Hier hinten in der Höhle war es völlig still. Nur der Lichtstrahl bewegte sich, als er mit der Taschenlampe an den beiden Gestalten auf und ab leuchtete.

»Wir haben nichts angerührt«, sagte Franco.

Die geschwärzte Asche, die uralten Überreste von Holz, Gras und Schilf sahen aus, als würden sie beim ersten Lufthauch zerfallen, aber sie bildeten immer noch die Reste eines Feuers. Der Haut der beiden Körper war es besser ergangen. Einen so verblüffenden Fall von Tiefkühl-Mumifizierung hatte Mitch noch nie gesehen. Das Gewebe war hart und ausgedörrt — die trockene, eiskalte Luft hatte alle Feuchtigkeit herausgesogen. Unterhalb der Köpfe, wo sie einander zugewandt lagen, waren Haut und Muskeln kaum eingeschrumpft und sofort fixiert worden. Die Gesichtszüge wirkten fast lebendig, nur die Augenlider waren aufgerissen, und die Augen darunter, eingeschrumpft und dunkel, sahen unsagbar schläfrig aus. Auch die Körper waren gut erhalten; nur an den Beinen erschien das Fleisch runzelig und nachgedunkelt, vielleicht weil zwischendurch aus dem vorderen Teil des Schachtes ein Lüftchen hereingedrungen war. Die Füße waren verschrumpelt und schwarz wie getrocknete kleine Pilze.

Mitch konnte nicht glauben, was er hier sah. Ihre Haltung hatte vielleicht gar nichts Ungewöhnliches — sie lagen auf der Seite, ein Mann und eine Frau, die sich im Tod angesehen hatten und schließlich erfroren waren, als die Asche ihres letzten Feuers erkaltete. Es war nichts Überraschendes an den Händen des Mannes, die sich zum Gesicht der Frau ausstreckten, nichts Überraschendes an den Armen der Frau, die nach unten gestreckt vor ihr lagen, als hätte sie sich an den Bauch gegriffen. Nichts Außergewöhnliches an dem Tierfell zwischen ihnen oder an dem zweiten Fell, das zerknüllt neben ihnen lag, als habe der Mann es beiseite gestoßen.

Am Ende, als das Feuer erloschen war und bevor sie erfroren, war es dem Mann zu warm geworden, und er hatte das Fell weggeschoben.

Mitch blickte auf die verschränkten Finger der Frau hinunter und schluckte. Das Gefühl, das in ihm hochstieg, konnte er weder erklären noch begründen.

»Wie alt?« Mit ihrer Frage unterbrach Tilde seine Konzentration. Ihre Stimme klang nüchtern, klar und vernünftig, fast schneidend.

Mitch zuckte zusammen. »Sehr alt«, sagte er leise. »Ja, aber so wie der Ötzi?«

»Nicht so wie der Ötzi«, erwiderte Mitch. Fast hätte seine Stimme versagt.

Die Frau war verletzt. Seitlich, in Hüfthöhe, hatte man ihr ein Loch in den Bauch gestoßen. Es war von Blutflecken umgeben, und es kam Mitch so vor, als könne er auch auf dem Felsen unter ihr noch Flecken erkennen. Vielleicht war das die Todesursache.

In der Höhle gab es keine Waffen.

Er rieb sich die Augen, um den kleinen, gezackten weißen Mond beiseite zu drängen, der ihn abzulenken drohte. Dann blickte er noch einmal in die Gesichter mit ihren kurzen, breiten, schräg nach oben weisenden Nasen. Der Unterkiefer der Frau hing herab, bei dem Mann war er geschlossen. Die Frau hatte im Sterben nach Luft geschnappt. Das konnte Mitch zwar nicht mit Sicherheit behaupten, aber er stellte seine Beobachtung nicht infrage. Es passte.

Erst jetzt schob er sich vorsichtig hinter die Gestalten. Mit langsamen Bewegungen, die gebeugten Knie ein paar Zentimeter über der Hüfte des Mannes, robbte er vorwärts.

»Sie wirken alt«, sagte Franco, nur um die Stille der Höhle zu durchbrechen. Seine Augen funkelten. Mitch blickte zu ihm hinüber und dann nach unten auf das Profil des Mannes.

Dicke Brauenwülste, breite, flache Nase, fliehendes Kinn. Kräftige Schultern, Verjüngung nach unten bis zu einer relativ schlanken Taille. Dicke Arme. Die Gesichter waren glatt und nahezu unbehaart. Vom Hals an abwärts jedoch war die Haut von einem feinen, dunklen Fell bedeckt, das nur bei genauem Hinsehen zu erkennen war. An den Schläfen waren die kurz geschnittenen Haare offenbar in einem bestimmten Muster rasiert worden, eine fachkundige Barbierarbeit.

So viel zu den zottigen Rekonstruktionen der Museen.

Die kalte Luft schwer in der Nase, beugte Mitch sich näher hinüber und stützte sich dabei mit der Hand an der Höhlendecke ab.

Zwischen den Körpern lag so etwas wie eine Maske, eigentlich waren es zwei Masken — die eine neben dem Mann und halb unter ihm begraben, die andere unter der Frau. Ihre Ränder sahen aus, als seien sie zerrissen worden. Beide hatten Öffnungen für Augen und Nase, die Nachbildung einer Oberlippe — alles von feinen Haaren bedeckt —, und darunter einen noch stärker behaarten Lappen, der wohl einst um Hals und Unterkiefer gewickelt war.

Wahrscheinlich waren sie von den Gesichtern gerissen und weggeworfen worden, aber an den Köpfen fehlte keine Haut.

Die Maske neben der Frau war anscheinend noch mit dünnen Fasern wie der Bart einer Muschel mit Stirn und Schläfen verbunden.

Mitch wurde klar, dass er sich hier auf die kleinen Rätsel konzentrierte, um eine große Unmöglichkeit zu umschiffen.

»Wie alt sind sie?«, fragte Tilde noch einmal. »Kannst du das sagen?«

»Ich glaube, solche Menschen gibt es seit Zehntausenden von Jahren nicht mehr«, erwiderte Mitch.

Tilde schien seine Aussage über die entfernte Vergangenheit nicht zu beachten. »Sie sind doch Europäer wie der Ötzi?«

»Ich weiß nicht«, sagte Mitch, schüttelte dabei aber den Kopf und hob die Hand. Er wollte nicht reden; er wollte denken. Das hier war ein äußerst gefährlicher Ort, gefährlich in beruflicher, seelischer, jeglicher Hinsicht. Gefährlich, wie ein Traum und unmöglich.

»Sag’ etwas, Mitch«, bettelte Tilde überraschend sanft. »Sag’ mir, was du siehst.« Sie streckte die Hand aus und streichelte sein Knie. Franco sah der Zärtlichkeit gelassen zu.

Mitch setzte an: »Es ist ein Mann und eine Frau, beide etwa einen Meter sechzig groß.«

»Kleine Menschen«, sagte Franco, aber Mitch überging ihn völlig.

»Sie scheinen zur Gattung Homo zu gehören, Spezies sapiens.

Aber sie sind nicht wie wir. Sie könnten an einer Art Kleinwuchs gelitten haben, mit abweichendem Gesichtsschnitt …« Er hielt inne und sah wieder die Köpfe an. Anzeichen für Kleinwuchs waren nicht zu erkennen, aber die Masken beunruhigten ihn.

Die klassischen Merkmale. »Das sind keine Kleinwüchsigen«, sagte er. »Es sind Neandertaler.«

Tilde hustete. Die trockene Luft dörrte ihnen die Kehle aus.

»Wie bitte?«

»Höhlenmenschen?«, fragte Franco.

»Neandertaler«, wiederholte Mitch, nicht nur um Franco zu korrigieren, sondern auch um sich selbst zu überzeugen.

»Das ist doch Quatsch«, sagte Tilde, und ihre Stimme klang rau vor Wut. »Wir sind keine kleinen Kinder.«

»Das ist überhaupt kein Quatsch. Ihr habt zwei gut erhaltene Neandertaler gefunden, einen Mann und eine Frau. Die ersten Neandertaler-Mumien … auf der Welt. Aller Zeiten.«

Tilde und Franco dachten einen Augenblick nach. Draußen, am Höhleneingang, heulte der Wind. »Wie alt?«, fragte Franco.

»Nach allgemeiner Ansicht sind die Neandertaler irgendwann vor hunderttausend bis vierzigtausend Jahren ausgestorben«, sagte Mitch. »Vielleicht ist die allgemeine Ansicht falsch. Aber ich bezweifle, dass sie in diesem guterhaltenen Zustand vierzigtausend Jahre in dieser Höhle überdauert haben.«

»Vielleicht waren es die letzten«, sagte Franco und bekreuzigte sich andächtig.

»Unglaublich«, sagte Tilde, und ihr Gesicht rötete sich. »Wie viel sind sie wert?«

Mitch bekam einen Krampf im Bein. Er kroch zurück und kauerte sich neben Franco. Mit dem behandschuhten Knöchel rieb er sich die Augen. Kalt. Er bibberte. Der Lichtmond verschwamm und verschob sich. »Sie sind überhaupt nichts wert«, sagte er.

»Mach’ keine Witze«, erwiderte Tilde. »Sie sind selten — so etwas gibt es noch nicht, stimmt’s?«

»Selbst wenn wir — ich meine, wenn ihr — sie vollständig und unbeschädigt aus der Höhle holen und den Berg hinunterbringen könntet, wo wolltet ihr sie verkaufen?«

»Es gibt Leute, die sammeln so was«, sagte Franco. »Leute mit viel Geld. Wir haben schon mit jemandem über einen Eismenschen gesprochen. Ein Mann und eine Frau, das würde sicher …«

»Ich muss wohl ein bisschen direkter werden«, sagte Mitch.

»Wenn das hier nicht wissenschaftlich korrekt gehandhabt wird, gehe ich zu den Behörden in der Schweiz, in Italien, wo wir hier auch sein mögen, und erzähle es ihnen.«

Wieder Schweigen. Mitch konnte Tildes Gedanken fast hören; sie arbeiteten wie ein kleines Schweizer Uhrwerk.

Franco schlug mit der behandschuhten Hand auf den Höhlenboden und sah Mitch an. »Warum willst du uns alles vermasseln?«

»Weil diese Menschen euch nicht gehören«, antwortete Mitch.

»Sie gehören niemandem.«

»Sie sind tot!« schrie Franco. »Sie gehören sich selbst nicht mehr, oder?«

Tildes Lippen bildeten eine gerade, schmale Linie. »Mitch hat Recht. Wir werden sie nicht verkaufen.«

Ein wenig erschrocken sprudelten Mitchs nächste Worte heraus.

»Ich weiß nicht, was ihr sonst vielleicht mit ihnen vorhabt, aber ich glaube, ihr werdet keinen Einfluss auf sie haben und auch keine Rechte verkaufen, damit dann Höhlenmenschen-Barbiepuppen oder sonst was hergestellt werden.« Er atmete tief durch.

»Nein, noch einmal, ich habe gesagt: Mitch hat Recht«, verkündete Tilde langsam. Franco blickte sie mit erwartungsvollem Zwinkern an. »Das ist eine ganz große Sache. Wir werden brave Staatsbürger sein. Sie sind die Vorfahren von allen. Papa und Mama der ganzen Welt.«

Mitch spürte eindeutig, wie die Kopfschmerzen kamen. Die länglichen Lichterscheinungen waren eine altvertraute Warnung gewesen: Der Zug kam und zermalmte seinen Kopf. Wenn er einen Migräneanfall bekam, ein richtiges Messer im Kopf, würde der Abstieg schwierig oder unmöglich werden. Er hatte keinerlei Medikamente dabei. »Wollt ihr mich hier oben umbringen?«, fragte er Tilde.

Franco warf ihm einen Blick zu, wälzte sich herum und sah in Erwartung einer Antwort zu Tilde hinüber.

Tilde grinste und fasste sich ans Kinn. »Ich denke gerade nach«, sagte sie. »Was wären wir für tolle Bösewichter, das gäbe den Stoff für glorreiche Geschichten ab. Freibeuter der Vorgeschichte. He, ho, und ’ne Flasche voll Rum.«

»Folgendes ist zu tun«, sagte Mitch in der Annahme, sie habe seine Frage verneint. »Wir müssen von jeder Leiche eine Gewebeprobe entnehmen, wobei wir sie möglichst wenig beschädigen. Dann …«

Er griff nach der Taschenlampe und ließ den Lichtkegel jenseits der eng nebeneinander liegenden, schlaftrunkenen Köpfe des Mannes und der Frau in die rund drei Meter entfernte Nische am Ende der Höhle gleiten. Dort lag, in Fell eingewickelt, etwas Kleines.

»Was ist denn das?«, fragten er und Franco wie aus einem Mund.

Mitch überlegte. Er konnte sich um die Frau herum robben und schlängeln, ohne etwas anderes aufzuwirbeln als den Staub. Andererseits war es am besten, alles völlig unberührt zu lassen, sich jetzt aus der Höhle zurückzuziehen und die wirklichen Fachleute zu holen. Die Gewebeproben würden als Beweis ausreichen, davon war er überzeugt. Aus den Knochenuntersuchungen wusste man genug über die DNA der Neandertaler. Man konnte es bestätigen und die Höhle verschließen, bis …

Er presste die Hände gegen die Schläfen und schloss die Augen.

Tilde tippte ihm auf die Schulter und schob ihn sanft beiseite.

»Ich bin kleiner«, erklärte sie und kroch an der Frau vorbei zum hinteren Ende der Höhle.

Mitch sah zu und sagte nichts. So fühlte man sich, wenn man eine richtige Sünde beging — die Sünde ungezügelter Neugier. Er würde es sich nie verzeihen, aber wie, so überlegte er, konnte er sie aufhalten, ohne die Leichen zu beschädigen? Außerdem war sie vorsichtig.

Tilde legte sich so flach, dass ihr Gesicht neben dem Bündel den Boden berührte. Sie griff mit zwei Fingern nach dem Fell und drehte es langsam um. Mitchs Kehle schnürte sich vor Wut zusammen. »Leuchte mal hierher«, verlangte sie. Mitch gehorchte.

Auch Franco richtete seine Taschenlampe auf die Stelle.

»Es ist eine Puppe«, sagte Tilde.

Aus dem oberen Ende des Bündels blickte ein kleines Gesicht wie ein dunkler, runzeliger Apfel mit zwei winzigen, eingesunkenen Augen.

»Nein«, erwiderte Mitch. »Es ist ein Baby.«

Tilde zuckte ein paar Zentimeter zurück und gab ein leises, überraschtes hmm von sich.

Der Kopfschmerz überrollte Mitch wie eine Dampfwalze.


Franco stand am Höhleneingang und hielt Mitch am Arm. Tilde war noch drin. Mitchs Migräne hatte die Stärke 9 mit visuellen Begleiterscheinungen und allem Drum und Dran erreicht, und er musste sich am Riemen reißen, um sich nicht zusammenzukrümmen und zu schreien. Das trockene Würgen hatte er an der Höhlenwand bereits hinter sich gebracht, und jetzt hatte er heftigen Schüttelfrost.

Er wusste ganz genau, dass er hier oben sterben würde, an der Schwelle zur ungewöhnlichsten anthropologischen Entdeckung aller Zeiten, und dass er sie in den Händen von Tilde und Franco lassen musste, die eigentlich nur bessere Diebe waren.

»Was macht sie da drin?«, stöhnte Mitch mit gesenktem Kopf.

Selbst die Dämmerung war ihm zu hell. Aber es wurde jetzt schnell dunkel.

»Nicht deine Sache«, sagte Franco und griff noch fester nach seinem Arm.

Mitch trat zurück und tastete blind nach den Gefäßen mit den Gewebeproben in seiner Tasche. Er hatte es geschafft, aus dem Oberschenkel des Mannes und der Frau zwei kleine Stücke zu entnehmen, bevor der Schmerz seinen Höhepunkt erreichte; jetzt konnte er kaum noch geradeaus blicken.

Als er mühsam die Augen öffnete, sah er ein himmlisches Saphirblau, das den Berg, das Eis, den Schnee präzise nachzeichnete, aber es war in den Augenwinkeln von einem Aufleuchten überlagert, das kleinen Blitzen ähnelte.

Tilde kam aus der Höhle, in der einen Hand die Kamera, in der anderen den Rucksack. »Wir haben genug zusammen, um alles zu beweisen«, sagte sie. Mit Franco sprach sie ein schnelles, leises Italienisch. Mitch verstand sie nicht, und es war ihm auch egal.

Er wollte einfach nur herunter von dem Berg, in ein warmes Bett, schlafen und abwarten, bis die quälenden Schmerzen, die ihm so vertraut und doch immer wieder neu waren, nachließen.

Sterben war auch eine Möglichkeit, und sie war nicht ohne Reiz.

Geschickt seilte Franco ihn an. »Komm, alter Junge«, sagte der Italiener und ruckte dabei freundlich am Seil. Mitch taumelte vorwärts und ballte neben dem Körper die Fäuste, um sich nicht gegen den Kopf zu hämmern. »Den Pickel«, sagte Tilde. Franco zog Mitchs Eispickel aus seinem Gürtel, wo er ständig den Beinen in die Quere kam, und steckte ihn in den Rucksack. »Dir geht’s nicht gut«, sagte Franco. Mitch hielt die Augen krampfhaft geschlossen; die Dämmerung war voller Blitze, und der Schmerz war wie Donner, der mit jedem Schritt seinen Kopf zermalmte. Tilde ging voraus, und Franco folgte ihm auf den Fersen. »Wir nehmen einen anderen Weg«, sagte Tilde. »Es friert böse, und die Brücke ist brüchig.«

Mitch öffnete die Augen. Der Grat war eine kohlrabenschwarze Messerschneide vor dem reinen Ultramarin des Himmels, das zu sternenübersätem Dunkel wurde. Jeder Atemzug war kälter und schwerer als der vorige. Er schwitzte heftig.

Wie ein Automat trottete er dahin, versuchte einen mit Firnschneeflecken übersäten Felsabhang hinabzusteigen, rutschte aus und stürzte ins Seil, zog Franco ein paar Meter die Böschung hinunter. Der Italiener beklagte sich nicht, sondern seilte Mitch erneut fest und tröstete ihn wie ein Kind. »Alles klar, alter Freund.

So ist es besser. So ist es besser. Pass auf, wo du hintrittst.« »Ich kann nicht mehr, Franco«, flüsterte Mitch. »Ich hatte seit über zwei Jahren keine Migräne mehr. Ich habe nicht mal Tabletten mitgenommen.« »Macht nichts. Achte nur auf deine Füße und tu was ich dir sage.« Franco rief Tilde etwas zu. Mitch spürte, dass sie in der Nähe war, und blickte in ihre Richtung. Ihr Gesicht war von Wolken eingerahmt, aber auch von seinen eigenen Lichtern und Funken. »Schnee im Anmarsch«, sagte sie. »Wir müssen uns beeilen.« Sie sprachen Italienisch und Deutsch, und Mitch glaubte, sie berieten darüber, ob sie ihn hier im Eis zurücklassen sollten.

»Ich kann gehen«, sagte er. »Ich kann noch laufen.« Also gingen sie weiter über den Gletscherabhang, begleitet vom Geräusch des Eises, das als uralter Fluss im Abstieg langsam weiterströmte, splitterte und knatterte, ratterte und knackte. Es hörte sich an, als applaudierten irgendwo riesige Hände. Der Wind frischte auf, und Mitch wandte sich davon ab. Franco drehte ihn wieder um und schob ihn weniger sanft weiter. »Keine Zeit für Dummheiten, alter Freund. Weitergehen.«

»Ich versuch’s doch.«

»Einfach gehen.« Der Wind drückte sich wie eine Faust in sein Gesicht. Er lehnte sich dagegen. Eiskristalle stachen ihm in die Wangen, und als er versuchte, die Mütze hochzuziehen, fühlten sich die Finger in den Handschuhen an wie Würste. »Er schafft es nicht«, sagte Tilde, und Mitch sah, wie sie, eingehüllt vom Schnee, um ihn herumging. Plötzlich flog der Schnee waagerecht, und alle drei zuckten zusammen, als der Wind sie packte. Francos Taschenlampe beleuchtete Millionen Flocken, die in horizontalen Streifen vorüberhuschten. Sie überlegten, ob sie ein Schneebiwak bauen sollten, aber das Eis war zu hart, und das Graben würde zu lange dauern. »Weiter! Bloß runter!« schrie Franco in Tildes Richtung, und sie willigte schweigend ein. Mitch wusste nicht, wohin sie gingen, und es war ihm auch ziemlich gleichgültig. Franco fluchte ständig auf Italienisch, aber der Wind war lauter, und Mitch, der sich voranschleppte, die Stiefel hochzog und wieder absetzte, der seine Steigeisen einsetzte und sich aufrecht zu halten versuchte, Mitch merkte nur an dem straffen Seil, dass Franco noch da war. »Die Götter sind zornig!« rief Tilde, ein halb triumphierender, halb scherzhafter Schrei voller Erregung und sogar Begeisterung. Franco musste gestürzt sein, denn plötzlich spürte Mitch von hinten ein heftiges Zerren. Irgendwie bekam er den Pickel zu fassen, und als er hinüberging, fiel er auf den Bauch. Aber sein Wille war noch so klar, dass er den Pickel einsetzte und das Abrutschen bremste. Einen Augenblick lang sah es aus, als hinge Franco ein paar Meter weiter unten an der Böschung im Seil.

Mitch blickte in seine Richtung. Die Lichter waren aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Irgendwie fror er — ihm war richtig kalt, und das linderte die Migräneschmerzen. Franco war zwischen den geraden, parallelen Schneestreifen nicht zu sehen. Der Wind pfiff und heulte, und Mitch drückte das Gesicht ans Eis. Der Pickel löste sich aus dem Loch, und er rutschte zwei oder drei Meter weit. Als die Schmerzen nachließen, fragte er sich, wie er hier lebend herauskommen sollte. Er presste die Steigeisen ins Eis und zog sich wieder die Böschung hinauf, wobei er Franco mit letzter Kraft hinter sich herzog. Tilde half Franco, wieder auf die Beine zu kommen. Er blutete aus der Nase und wirkte benommen. Offenbar war er mit dem Kopf auf das Eis geschlagen. Tilde sah Mitch an, lächelte und berührte ihn an der Schulter. Ganz freundlich. Keiner sagte etwas. Der geteilte Schmerz und die schleichende, böse Wärme schweißten sie eng zusammen. Franco gab ein schluchzendes, saugendes Geräusch von sich, leckte an seiner blutigen Lippe, zog die Seile fest. Sie waren völlig ungeschützt. Der Hang knackte in dem jaulenden Wind, rumpelte, rasselte, machte Geräusche wie ein Traktor auf einem Kiesweg. Mitch spürte, wie das Eis hinter ihm bebte. Sie waren zu nahe an dem Abhang, und der war sehr aktiv, machte eine Menge Krach. Er zog an dem zu Tilde führenden Seil, und es kam lose zurück — abgeschnitten.

Franco kam aus Wind und Schnee angestapft, das Gesicht voller Blut, die Augen starr hinter der Schneebrille. Er kniete sich neben Mitch, fiel über die behandschuhten Hände nach vorn und rollte auf die Seite. Mitch griff nach seiner Schulter, aber er rührte sich nicht. Jetzt stand Mitch auf und machte sich bergab auf den Weg.

Der Wind blies von oben, und er kippte vornüber. Er versuchte es noch einmal, lehnte sich ungeschickt nach hinten, stürzte. Es gab nur eine Möglichkeit: kriechen. Er zog Franco hinter sich her, aber das erwies sich schon nach wenigen Metern als unmöglich.

Nun kroch er zurück zu Franco und schob ihn vor sich her. Das Eis war nicht glatt, sondern rau, es nützte ihm nichts. Mitch wusste nicht mehr, was er tun sollte. Sie mussten sich vor dem Wind in Sicherheit bringen, aber er konnte nicht richtig sehen, wo sie waren, und sich deshalb auch nicht für eine Richtung entscheiden.

Er war froh, dass Tilde sie verlassen hatte. So konnte sie davonkommen, und vielleicht würde ihr eines Tages jemand Kinder machen, natürlich keiner von ihnen; sie waren jetzt aus dem alten Evolutionsspiel ausgeschieden. Keine Verantwortung mehr. Dass Franco so in Mitleidenschaft gezogen war, tat ihm Leid. »He, alter Freund«, schrie er dem Italiener ins Ohr. »Wach auf und hilf mir, sonst gehen wir hops.« Franco reagierte nicht. Vielleicht war er schon tot, aber Mitch glaubte nicht daran, dass jemand an einem einfachen Sturz sterben kann. Er fand die Taschenlampe an Francos Handgelenk, nahm sie ihm ab, schaltete sie ein und starrte seinem Begleiter in die Augen, die er mit den dicken Handschuhen zu öffnen versuchte. Es war nicht einfach, aber die Pupillen sahen klein und ungleich aus. Na also. Er war hart auf das Eis geknallt, hatte sich eine Gehirnerschütterung geholt und die Nase gebrochen. Daher kam das ganze Blut. Zusammen mit dem Schnee bildete es auf Francos Gesicht eine rötliche Masse. Mitch gab es auf, mit ihm zu reden. Er kam auf die Idee, sich loszuschneiden, aber das brachte er nicht übers Herz. Franco war nett zu ihm gewesen.

Rivalen, vereint durch den Tod im Eis. Mitch bezweifelte, dass irgendeine Frau romantischen Schmerz empfinden würde, wenn sie das hörte. Nach seiner Erfahrung kümmerten Frauen sich kaum um so etwas. Sterben, ja, aber nicht die Kameradschaft unter Männern. Auf einmal war alles so verwirrend, und ihm wurde schnell wärmer. Sein Mantel war sehr warm, die Skihose auch.

Und die Krönung war, dass er pinkeln musste. In Würde zu sterben, das kam offenbar nicht infrage. Franco stöhnte. Nein, es war nicht Franco. Das Eis unter ihnen zitterte, dann ruckte es, sodass sie nach einer Seite taumelten und rutschten. Im Licht der Taschenlampe sah Mitch einen großen Eisblock hochsteigen, oder fielen sie? Ja, sie fielen, und erwartungsvoll schloss er die Augen.

Aber er stieß nicht mit dem Kopf an, obwohl ihm der Aufprall den Atem nahm. Sie landeten im Schnee, und der Wind hörte auf.

Schneeklumpen fielen auf sie herab, und ein paar schwere Eisbrocken klemmten Mitchs Bein ein. Plötzlich wurde es still. Mitch versuchte das Bein zu bewegen, aber weiche Wärme leistete Widerstand, und das andere Bein war steif. Die Entscheidung war gefallen.

Im nächsten Augenblick, so schien es ihm, öffnete er die Augen unter dem himmelsumspannenden Gleißen einer blendend blauen Sonne.

4 Cordi

Verlegen und traurig schüttelte Lado den Kopf. Dann verließ er Kaye, die in Becks Obhut nach Tiflis zurückkehren sollte. Er konnte am Eliava-Institut nicht so lange fehlen.

Die UN übernahmen den kleinen »Rustaveli-Tiger« in Gordi und mieteten alle Zimmer. Die Russen bauten weitere Zelte auf und schliefen zwischen dem Dorf und den Gräbern.

Unter der gequälten, aber lächelnden Aufmerksamkeit der Wirtin, einer stämmigen, schwarzhaarigen Frau namens Lika, nahmen die UN-Friedensschützer ein spätes Abendessen aus Brot und Kuttelnsuppe ein. Dazu gab es Wodka in großen Gläsern. Wenig später gingen alle zu Bett, ausgenommen Kaye und Beck.

Beck zog sich einen Stuhl an den hölzernen Tisch und stellte ihr ein Glas Wein hin. Den Wodka hatte sie nicht angerührt.

»Ein Manawi. Der Beste, den sie hier haben — jedenfalls für uns.« Beck setzte sich und lenkte einen Rülpser in seine Faust.

»Entschuldigung. Was wissen Sie über die Geschichte Georgiens?«

»Nicht viel«, erwiderte Kaye. »Aktuelle Politik. Wissenschaft.«

Beck nickte und verschränkte die Arme. »Unsere toten Mütter hier könnten durchaus während der Unruhen ermordet worden sein — im Bürgerkrieg«, sagte er. »Aber von Zwischenfällen in oder um Gordi ist mir nichts bekannt.« Er machte eine unschlüssige Miene. »Es könnten Opfer aus den Dreißiger-, Vierziger- oder Fünfzigerjahren sein. Aber Sie sagen nein. Das mit den Wurzeln war ein gutes Argument.« Er rieb sich die Nase und kratzte sich dann am Kinn. »Dafür, dass es so ein herrliches Land ist, hat es eine ganz schön grausige Vergangenheit.«

Kaye musste bei Becks Anblick an Saul denken. Die meisten Männer in seinem Alter erinnerten sie irgendwie an Saul, der damals in Long Island zwölf Jahre lang ihr Vorgesetzter gewesen war und jetzt nicht nur wegen der räumlichen Entfernung weit weg wirkte. Saul der Intelligente, Saul der Schwache, Saul, in dessen Geist es von Monat zu Monat stärker knirschte. Sie richtete sich auf, streckte die Arme aus und ließ die Beine ihres Stuhls über den Fliesenfußboden kratzen.

»Ich interessiere mich mehr für die Zukunft«, sagte Kaye. »Die Hälfte aller pharmazeutischen und medizinischen Firmen in den USA unternehmen Wallfahrten hierher. Georgiens Fachkunde könnte Millionen Menschenleben retten.«

»Nützliche Viren.«

»Genau«, sagte Kaye. »Phagen.«

»Greifen nur Bakterien an.«

Kaye nickte.

»Ich habe gelesen, die georgischen Soldaten hätten während der Unruhen kleine Gefäße mit Phagen bei sich gehabt«, sagte Beck.

»Die haben sie geschluckt, wenn sie in den Kampf zogen, oder man hat sie auf Wunden gesprüht, bevor sie ins Krankenhaus kamen.«

Wieder nickte Kaye. »Die Phagentherapie ist hier seit den zwanziger Jahren in Gebrauch, als Felix d’Herelle herkam und bei George Eliava arbeitete. D’Herelle war nachlässig; man gelangte damals nicht zu eindeutigen Befunden, und wenig später hatten wir zuerst die Sulfonamide und dann das Penicillin. Die Phagen haben wir bisher nicht groß beachtet. Und jetzt gibt es tödliche Bakterien, die gegen alle bekannten Antibiotika resistent sind. Aber nicht gegen Phagen.«

Durch das Fenster der kleinen Hotelhalle, über die Dächer der niedrigen Häuser auf der anderen Straßenseite hinweg, sah sie die Berge im Mondlicht leuchten. Sie wollte schlafen gehen, aber sie wusste, dass sie in dem schmalen, harten Bett noch stundenlang wach liegen würde.

»Auf eine bessere Zukunft«, sagte Beck, hob sein Glas und leerte es. Kaye nahm einen kleinen Schluck. Süße und Säure des Weines standen in einem angenehm ausgewogenen Verhältnis wie bei nicht ganz reifen Aprikosen.

»Dr. Jakeli hat mir erzählt, Sie seien auf den Kazbeg geklettert«, sagte Beck. »Höher als der Montblanc. Ich komme aus Kansas.

Keinerlei Berge. Und sogar kaum Felsen.« Er lächelte die Tischplatte an, als sei es ihm peinlich, wenn sich ihre Blicke kreuzten.

»Ich liebe Berge. Ich muss mich entschuldigen, dass ich Sie von Ihrer Arbeit abgehalten habe … und von Ihrem Vergnügen.«

»Ich bin nicht geklettert«, sagte sie. »Nur gewandert.«

»Ich werde versuchen, Sie hier in ein paar Tagen rauszubringen«, sagte Beck. »In Genf gibt es Aufzeichnungen über Vermisste und mutmaßliche Gräueltaten. Wenn da etwas passt und wenn wir es auf die Dreißigerjahre datieren können, werden wir es den Georgiern und Russen übergeben.« Beck wollte, dass die Gräber alt waren, und sie konnte es ihm eigentlich nicht verdenken.

»Und wenn sie neu sind?« fragte Kaye.

»Dann werden wir aus Wien eine richtige Untersuchungskommission holen.«

Kaye warf ihm einen klaren, kühlen Blick zu. »Sie sind neu«, sagte sie.

Beck leerte sein Glas, stand auf und umklammerte seine Stuhllehne. »Ich bin Ihrer Meinung«, sagte er mit einem Seufzen. »Was hat Sie veranlasst, die Kriminologie aufzugeben? Wenn ich Ihnen nicht zu nahe trete …«

»Ich habe zu viel über Menschen erfahren«, erwiderte Kaye.

Grausame, kaputte, dreckige, entsetzlich dumme Menschen. Sie erzählte Beck von dem Lieutenant der Mordkommission, der ihren Kurs geleitet hatte. Er war gläubiger Christ gewesen. Einmal hatte er ihnen Bilder von einem besonders grausigen Tatort mit zwei toten Männern, drei toten Frauen und einem toten Kind gezeigt und den Studenten dann erklärt: »Die Seelen dieser Verbrechensopfer sind nicht mehr in ihrem Körper. Sie brauchen kein Mitleid mit ihnen zu haben. Haben Sie Mitleid mit den Hinterbliebenen.

Kommen Sie darüber hinweg. Gehen Sie an die Arbeit. Und denken Sie immer daran: Sie arbeiten für Gott.«

»Er ist durch seinen Glauben bei Verstand geblieben«, sagte Kaye.

»Und Sie? Warum haben Sie die Fachrichtung gewechselt?«

»Ich war nicht gläubig«, erwiderte sie.

Beck nickte und drückte die Hände auf die Stuhllehne. »Kein Schutzpanzer. Nun ja, tun Sie, was Sie können. Im Augenblick haben wir niemanden außer Ihnen.« Er sagte gute Nacht, ging zu der engen Treppe und stieg mit schnellen, leichten Schritten hinauf.

Kaye blieb noch ein paar Minuten am Tisch sitzen und trat dann durch den Haupteingang des Gasthofes. Sie stand auf der schmalen Stufe aus Granitplatten neben dem Kopfsteinpflaster der Straße und sog die Nachtluft mit ihrem schwachen Abwassergeruch ein. Über dem Dachfirst des Hauses gegenüber sah sie den schneebedeckten Bergkamm so deutlich, als brauchte sie nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren.

Am Morgen erwachte sie eingehüllt in warme Laken und eine Decke, die schon seit einiger Zeit nicht mehr gereinigt worden war. Sie starrte ein auf paar vereinzelte Haare — ihre waren es nicht —, die sich in der dicken grauen Wolle nicht weit von ihrem Gesicht verfangen hatten. Das schmale Holzbett mit seinen geschnitzten, rot lackierten Pfosten stand in einem Zimmer mit roh verputzten Wänden, das etwa zweieinhalb Meter breit und drei Meter lang war. Ein einziges Fenster über dem Bett, ein einziger hölzerner Stuhl, ein einfacher Eichentisch mit einer Waschschüssel. In Tiflis gab es moderne Hotels, aber Gordi lag abseits der neuen Touristenrouten, zu weit weg von der Militärstraße.

Sie glitt aus dem Bett, schüttete sich Wasser ins Gesicht und zog dann Jeans, Bluse und Mantel an. Gerade als sie nach der eisernen Türklinke griff, hörte sie ein kräftiges Klopfen. Beck rief ihren Namen. Sie öffnete die Tür und sah ihn verschlafen an.

»Sie werfen uns aus der Stadt«, sagte er mit unbewegtem Gesicht. »Sie wollen, dass wir alle morgen wieder in Tiflis sind.«

»Warum?«

»Wir sind nicht erwünscht. Soldaten der regulären Armee sind hier und sollen uns eskortieren. Ich habe ihnen gesagt, dass Sie nicht zum Team gehören, sondern eine private Beraterin sind. Aber das kümmert sie nicht.«

»Du lieber Gott«, sagte Kaye. »Wieso diese Kehrtwendung?«

Beck machte ein angewidertes Gesicht. »Das sakrebulo, der Gemeinderat, nehme ich an. Nervös wegen ihrer hübschen kleinen Gemeinde. Oder vielleicht kommt es auch von weiter oben.«

»Klingt nicht gerade nach dem neuen Georgien«, meinte Kaye.

Sie fragte sich, wie sich so etwas auf ihre Zusammenarbeit mit dem Institut auswirken würde.

»Ich bin auch überrascht«, erwiderte Beck. »Wir sind irgendjemandem auf den Schlips getreten. Bitte packen Sie Ihren Koffer und kommen Sie zu uns nach unten.«

Er wandte sich um und wollte gehen, aber Kaye griff nach seinem Arm. »Funktioniert das Telefon?«

»Ich weiß es nicht«, sagte er, »aber Sie können gern eines von unseren Satellitentelefonen benutzen.«

»Danke. Und — Dr. Jakeli ist jetzt wieder in Tiflis. Ich würde ihn nicht gern bitten, noch einmal hierher zu fahren.«

»Wir nehmen Sie nach Tiflis mit«, sagte Beck. »Falls Sie dorthin wollen.«

»Das wäre großartig«, antwortete Kaye.


Die weißen Geländewagen der UN leuchteten vor dem Gasthof in der Sonne. Kaye betrachtete sie durch die Fenster der Eingangshalle und wartete, dass die Wirtin ihr ein altmodisches schwarzes Telefon mit Wählscheibe brachte und in die Dose an der Rezeption einstöpselte. Die Frau nahm den Hörer ab, hielt ihn ans Ohr und gab ihn dann Kaye: tot. In ein paar Jahren würde Georgien auf dem Stand des einundzwanzigsten Jahrhunderts sein. Aber im Augenblick gab es noch nicht einmal hundert Leitungen in die Außenwelt, und da alle Gespräche über Tiflis liefen, klappte es nur selten mit der Verbindung.

Die Wirtin lächelte nervös. Sie war nervös, seit sie angekommen waren.

Kaye brachte ihre Reisetasche nach draußen. Das UN-Team, sechs Männer und drei Frauen, war versammelt. Kay stand neben einer Kanadierin namens Doyle, als Hunter das Satellitentelefon brachte.

Als Erstes rief Kaye in Tiflis bei Tamara Mirianishvili an, ihrer wichtigsten Kontaktperson am Institut. Nach mehreren Versuchen kam die Verbindung zustande. Tamara war verständnisvoll und wunderte sich über das ganze Durcheinander; dann sagte sie, Kaye könne sehr gern zurückkommen und noch ein paar Tage bleiben. »Es ist eine Schande, dass sie dich so auflaufen lassen. Wir machen uns ein paar schöne Tage und muntern dich auf«, sagte Tamara.

»Hat Saul angerufen?« fragte Kaye.

»Zwei Mal«, erwiderte Tamara. »Er sagt, du sollst mehr Fragen über Biofilme stellen. Wie arbeiten Phagen in Biofilmen, wo die Bakterien alle eine Gemeinschaft bilden?«

»Und werdet ihr es uns sagen?« scherzte Kaye.

Tamara ließ ein helles, warmes Lachen hören. »Müssen wir euch alle Geheimnisse verraten? Wir haben noch keine Verträge, meine liebe Kaye!«

»Saul hat Recht. Es könnte ein großes Thema werden«, sagte Kaye. Selbst in den schlimmsten Augenblicken war Saul wissenschaftlich und beruflich auf dem richtigen Gleis.

»Komm zurück, dann zeige ich dir etwas von unserer Biofilm-Forschung, extra für dich, einfach weil du eine nette Frau bist«, lachte Tamara.

»Großartig.«

Kaye bedankte sich bei Tamara und gab Hunter das Telefon zurück.

Ein georgischer Dienstwagen, ein alter Wolga, rollte heran, und auf der linken Seite stiegen sieben Soldaten aus. Rechts kam Major Chikurishvili heraus, das Gesicht aufgebrachter denn je. Er sah aus, als könne er jeden Augenblick in einer Wolke aus Blut und Spucke explodieren.

Ein junger Offizier — Kaye hatte keine Ahnung, welcher Dienstrang — kam zu Beck und sprach ihn in gebrochenem Russisch an. Als sie fertig waren, winkte Beck, und das UN-Team stieg in die Jeeps. Kaye fuhr im gleichen Wagen wie Beck.

Als sie Gordi in westlicher Richtung verließen, versammelten sich ein paar Stadtbewohner und sahen ihrer Abreise zu. Ein kleines Mädchen stand vor einer verputzten Steinmauer und winkte: braune Haare, hellbraunes Gesicht, graue Augen, kräftig und hübsch. Ein ganz normales, entzückendes Mädchen.


Sie sprachen wenig im Führungsfahrzeug der kleinen Karawane, das Hunter auf der Landstraße nach Süden steuerte. Der hart gefederte Jeep holperte über Unebenheiten, rumpelte in Furchen und wich Schlaglöchern aus. Kaye saß auf dem rechten Rücksitz und hatte das Gefühl, sie könne reisekrank werden. Das Radio spielte Popmelodien aus Alania, einen recht guten Blues aus Aserbeidschan und dann ein unverständliches Gespräch, das Beck hin und wieder ganz lustig fand. Er wandte sich zu Kaye um, und sie versuchte tapfer zu lächeln.

Nach ein paar Stunden döste sie ein und träumte von Bakterien, die sich im Inneren der Leichen aus den Massengräbern ansammelten. Biofilme — die meisten Leute würden »Schleim« sagen: kleine, geschäftige Bakterienstädte, die diese Leichen, diese einst riesengroßen Hervorbringungen der Evolution, wieder in ihr Ausgangsmaterial zerlegen. Wunderhübsche Polysaccharidgebäude, aufgebaut in den inneren Kanälen, in Darm und Lunge, Herz und Arterien, Augen und Gehirn; Bakterien, die ihr wildes Leben aufgeben, zu Bürgern werden und alles wieder verwerten; große Abfallaufbereitungsstädte aus Bakterien, in fröhlicher Unkenntnis über Philosophie, Geschichte und Charakter der toten Körper, die sie jetzt wieder für sich vereinnahmen.

Bakterien haben uns gemacht. Sie holen uns am Ende wieder. Willkommen zu Hause.

Schweißgebadet wachte sie auf. Sie fuhren in ein langes, tiefes Tal hinunter, und es wurde wärmer. Wie schön wäre es, wenn man nichts über die ganzen Vorgänge in unserem Inneren wüsste.

Die Arglosigkeit von Tieren; das unerforschte Leben ist am schönsten. Aber dann geht etwas schief und gibt den Anlass zu Nabelschau und Untersuchungen. Die Wurzel allen Bewusstseins.

»Träumen Sie?« fragte Beck, als sie an einer kleinen, aus verrostetem Blech zusammengeflickten Tankstelle und Autowerkstatt vorüberkamen.

»Albträume«, sagte Kaye. »Ich glaube, ich stecke zu tief in meiner Arbeit.«

5 Innsbruck

Mitch sah, wie die blaue Sonne wanderte und sich verdunkelte. Er dachte, es müsse wohl Nacht sein, aber die Luft war dämmriggrün und überhaupt nicht kalt. Er spürte einen stechenden Schmerz im Oberschenkel und ein allgemeines Unwohlsein im Magen.

Er war nicht mehr auf dem Berg. Um die klebrige Masse aus den Augen zu bekommen, wollte er nach oben langen und sich über das Gesicht reiben. Eine Hand hinderte ihn daran, und eine leise Frauenstimme sagte auf Deutsch, er solle ein braver Junge sein. Als die Frau ihm mit einem kalten, feuchten Tuch die Stirn abwischte, erklärte sie auf Englisch, er sei ein bisschen mitgenommen, Nase und Finger hätten Erfrierungen, und ein Bein sei gebrochen. Ein paar Minuten später schlief er wieder ein.

Scheinbar im nächsten Augenblick wachte er auf, und dieses Mal schaffte er es, sich in dem ordentlichen, soliden Krankenhausbett aufzusetzen. Er lag in einem Zimmer mit vier anderen Patienten, zwei neben ihm und zwei gegenüber, alles Männer und alle noch keine vierzig Jahre alt. Bei zweien steckten die gebrochenen Beine in Schlingen wie in einer Comedysendung, die beiden anderen hatten sich den Arm gebrochen. Mitchs Bein war eingegipst, lag aber nicht in einer Schlinge.

Die Männer waren alle blauäugig und sahen mit ihren dünnen Hälsen und langen Kinnpartien ansehnlich und wie Adler aus. Sie musterten ihn aufmerksam.

Jetzt konnte Mitch das Zimmer deutlich erkennen: gestrichene Betonwände, weiß emaillierte Bettgestelle, an einem verchromten Ständer eine tragbare Lampe, die er fälschlich für die Sonne gehalten hatte, ein gescheckter brauner Fliesenfußboden, der dumpfe Geruch von Sterilisationsdampf und Desinfektionsmitteln, ein allgemeiner Duft nach Pfefferminz.

Rechts von Mitch beugte sich ein Mann mit starkem Gletscherbrand, dessen Haut sich von den babyrosa Wangen schälte, zu ihm hinüber und sagte: »Sie sind der Amerikaner, der Glück gehabt hat, stimmt’s?« Die Rollen und Gewichte an seinem hochgezogenen Bein quietschten.

»Ich bin Amerikaner« krächzte Mitch, »und Glück habe ich wohl auch gehabt, denn ich bin nicht tot.«

Die Männer tauschten ernste Blicke aus. Mitch wurde klar, dass er schon seit einiger Zeit das Gesprächsthema war.

»Wir sind uns alle einig, dass es am besten ist, wenn Bergsteigerkameraden es Ihnen sagen.«

Bevor Mitch einwenden konnte, er sei eigentlich kein Bergsteiger, berichtete ihm der junge Mann mit dem Gletscherbrand, seine beiden Begleiter seien tot. »Der Italiener, mit dem Sie in der Gletscherspalte gefunden wurden, hat sich den Hals gebrochen.

Die Frau wurde viel weiter unten unter dem Eis entdeckt.«

Und dann, mit energisch forschendem Blick-Augen in der Farbe jenes Himmels, der Mitch an die Farbe trüber, irrer Hundeaugen erinnert hatte — fragte der junge Mann: »Es steht in der Zeitung, es kommt im Fernsehen. Woher hatte sie die kleine Babyleiche?«

Mitch musste husten. Er sah auf dem Tisch neben seinem Bett einen Krug mit Wasser stehen und goss sich ein Glas ein. Die Bergsteiger beobachteten ihn wie athletische, an ihre Betten gefesselte Kobolde.

Mitch erwiderte ihren Blick. Er versuchte, sein Entsetzen zu verbergen. Es tat ihm nicht gut, Tilde jetzt zu verurteilen; überhaupt nicht gut.


Gegen Mittag kam der Inspektor zusammen mit einem Beamten der örtlichen Polizei; er setzte sich neben das Bett und begann Fragen zu stellen. Der andere Polizist, der besser englisch sprach, dolmetschte. Die Fragen, so der Inspektor, seien reine Routine und gehörten zu den Unfallermittlungen. Mitch sagte, er wisse nicht, wer die Frau sei, aber darauf erwiderte der Inspektor nach einer angemessenen Pause, sie seien alle drei gemeinsam in Salzburg gesehen worden. »Sie, Franco Maricelli und Mathilda Berger.«

»Sie war Francos Freundin«, sagte er. Ihm war übel, aber er wollte es nicht zeigen. Der Inspektor seufzte und verzog missbilligend die Lippen, als sei eigentlich alles ganz einfach und nur ein wenig lästig.

»Sie hatte die Mumie eines Kindes bei sich. Möglicherweise eine sehr alte Mumie. Haben Sie eine Ahnung, woher sie die hatte?«

Er hoffte, dass die Polizei nicht seine Habseligkeiten durchsucht, die Gefäße gefunden und deren Inhalt identifiziert hatte. Vielleicht hatte er den Rucksack auf dem Gletscher verloren. »Es ist so seltsam, dass man es nicht in Worte fassen kann«, sagte er.


Der Inspektor zuckte die Schultern. »Ich bin kein Fachmann für Leichen im Eis. Mitchell, ich gebe Ihnen einen väterlichen Rat.

Dazu bin ich doch alt genug?«

Mitch räumte ein, der Inspektor könne alt genug sein. Die Bergsteiger gaben sich keine Mühe, ihre Neugier zu verbergen.

»Wir haben mit Ihrem früheren Arbeitgeber gesprochen, dem Hayer-Museum in Seattle.«

Mitch blinzelte langsam.

»Die haben uns erzählt, dass Sie am Diebstahl von Altertümern beteiligt waren, die der amerikanischen Bundesregierung gestohlen wurden. Skelettreste eines Indianers, des Pasco-Menschen, sehr alt. Zehntausend Jahre, entdeckt am Ufer des Columbia River. Sie haben sich geweigert, die Funde dem Army Corpse of Engineers zu übergeben.«

»Corps«, sagte Mitch leise.

»Deshalb wurden Sie nach dem Altertümergesetz festgenommen, und das Museum warf Sie hinaus, weil das Ganze an die Öffentlichkeit kam.«

»Die Indianer haben behauptet, die Knochen gehörten einem Vorfahren«, sagte Mitch, das Gesicht vor Ärger über die Erinnerung gerötet. »Sie wollten sie noch einmal bestatten.«

Der Inspektor las aus seinen Notizen vor. »Ihnen wurde der Zutritt zu den Museumssammlungen verweigert, und die Knochen wurden in Ihrer Wohnung beschlagnahmt. Mit vielen Fotos und noch mehr Öffentlichkeit.«

»Das war juristischer Mist! Das Army Corps of Engineers hatte kein Recht auf diese Knochen. Sie waren von unschätzbarem wissenschaftlichem Wert …«

»Wie das mumifizierte Baby aus dem Eis vielleicht?«, fragte der Inspektor.

Mitch schloss die Augen und wandte sich ab. Jetzt erkannte er alles ganz deutlich. Dumm ist nicht das richtige Wort. Das ist schlicht und einfach Schicksal.

»Müssen Sie sich übergeben?«, fragte der Inspektor und trat zurück.

Mitch schüttelte den Kopf.

»Was wir schon wissen — Sie wurden mit der Frau in der Braunschweiger Hütte gesehen, keine zehn Kilometer von der Stelle, wo man Sie gefunden hat. Eine auffällige Frau, gut aussehend und blond, sagen die Zeugen.«

Die Bergsteiger nickten, als wären sie dabei gewesen.

»Am besten erzählen Sie uns alles, und zwar uns als ersten. Ich benachrichtige dann die italienische Polizei, und die Polizei hier in Österreich wird Sie verhören. Vielleicht ist ja alles harmlos.«

»Es waren Bekannte«, sagte er. »Sie war meine Freundin — früher. Ich meine, wir hatten ein Verhältnis.«

»Aha. Warum ist sie zu Ihnen zurückgekehrt?«

»Sie hatten etwas gefunden. Sie dachte, ich könnte ihnen vielleicht sagen, was sie da entdeckt hatten.«

»Ja?«

Mitch wurde klar, dass er keine Wahl hatte. Er trank noch ein Glas Wasser und berichtete dem Inspektor fast alles, was sich abgespielt hatte, und das so genau und klar, wie es ihm möglich war.

Von den Gefäßen hatten sie nichts gesagt, also erwähnte er sie ebenfalls nicht. Der Polizist machte sich Notizen und nahm sein Geständnis mit einem kleinen Tonbandgerät auf.

Als er geendet hatte, sagte der Inspektor: »Irgendjemand wird sicher wissen wollen, wo die Höhle liegt.«

»Tilde — Mathilda hatte eine Kamera«, sagte Mitch matt. »Sie hat Fotos gemacht.«

»Wir haben keine Kamera gefunden. Es wäre viel einfacher für Sie, wenn Sie wüssten, wo die Höhle liegt. So ein Fund … sehr aufregend.«

»Sie haben doch schon das Baby«, sagte Mitch. »Das müsste eigentlich aufregend genug sein. Ein Neandertalersäugling.«

Der Inspektor sah ihn zweifelnd an. »Von Neandertalern spricht niemand. Ist das alles vielleicht eine Sinnestäuschung oder ein Witz?«

Mitch hatte längst alles verloren, was ihm wichtig war — seine Karriere, seinen Ruf als Paläontologe. Wieder einmal hatte er alles großartig vermasselt. »Vielleicht waren es die Kopfschmerzen. Ich bin einfach fertig. Natürlich helfe ich, die Höhle zu finden«, sagte er.

»Dann ist es kein Verbrechen, sondern nur eine Tragödie.« Der Inspektor erhob sich und wollte gehen. Der Polizist tippte sich zum Abschied an die Mütze.

Als sie weg waren, sagte der Bergsteiger mit den Schälwangen:

»Sie fahren noch nicht so bald nach Hause.«

»Die Berge wollen Sie wiederhaben«, meinte der Zimmergenosse mit dem geringsten Sonnenbrand, der Mitch gegenüber lag. Dazu nickte er viel sagend, als hätte er nun alles erklärt.

»Blödmann«, murmelte Mitch und drehte sich in dem adretten weißen Bett um.

6 Eliava-lnstitut, Tiflis

Lado, Tamara und Zamphyra standen mit sieben anderen Wissenschaftlern und Studenten um die beiden großen Tische am Südende des Labortraktes. Alle hoben die Cognacschwenker und tranken auf Kaye. Kerzen flackerten und spiegelten sich als goldene Funken in den bernsteinfarben gefüllten Gläsern. Das Festessen war erst zur Hälfte vorüber, und es war schon das achte Mal, dass Lado als tamada oder Zeremonienmeister des Abends einen Toast ausbrachte. »Auf unser Schätzchen Kaye«, sagte er, »die unsere Arbeit zu würdigen weiß … und versprochen hat, uns reich zu machen.«

Aus den Käfigen hinter dem Tisch sahen Kaninchen, Mäuse und Hühner mit schläfrigem Blick zu. Lange schwarze Labortische voller Glasgeräte und Reagenzglasgestelle, Brutschränke und Computer, die mit Sequenzierapparaten und Analyseautomaten verbunden waren, verloren sich im Dunkel des unbeleuchteten hinteren Laborteils.

»Auf Kaye«, fügte Tamara hinzu, »die von Sakartvelo, von Georgien mehr gesehen hat … als uns lieb sein kann. Auf eine tapfere, verständnisvolle Frau.«

»Seit wann bringst du hier die Trinksprüche aus?«, fragte Lado gereizt. »Warum erinnerst du uns an unangenehme Sachen?«

»Und warum redest du bei einer solchen Gelegenheit von Reichtum, von Geld?«, blaffte Tamara zurück.

»Ich bin hier der tamada!«, brüllte Lado. Er stand jetzt neben dem Klapptisch aus Eichenholz und schwenkte sein Glas mit der schwappenden Flüssigkeit in Richtung der Studenten und Wissenschaftler. Keiner von ihnen durchbrach das matte Lächeln mit einem Wort des Widerspruchs.

»Schon gut«, lenkte Tamara ein. »Dein Wunsch ist uns Befehl.«

»Sie haben keinen Respekt!« beklagte sich Lado bei Tamara.

»Zerstört Wohlstand die Tradition?«

Die Labortische bildeten aus Kayes engem Blickwinkel ein schmales V. Alle Apparaturen hingen an einem Generator, der in dem Hof neben dem Gebäude leise brummte. Saul hatte zwei Sequenzierautomaten und einen Computer beigesteuert; der Generator stammte von Aventis, einem großen, internationalen Konzern.

Die städtische Stromversorgung war in Tiflis seit dem späten Nachmittag abgeschaltet. Das Abschiedsessen hatten sie auf Bunsenbrennern und in einem Gasofen gekocht.

»Mach weiter, Zeremonienmeister«, sagte Tamara mit sanfter Resignation. Sie winkte mit den Fingern in Lados Richtung.

»Das mache ich auch.« Lado stellte das Glas ab und strich sich den Anzug glatt. Sein dunkles, faltiges Gesicht, rot wie eine Rübe mit Gletscherbrand, leuchtete im Kerzenlicht wie Edelholz. Er erinnerte Kaye an einen Spielzeugtroll, den sie als Kind sehr geliebt hatte. Aus einer unter dem Tisch versteckten Schachtel brachte er ein kleines, kunstvoll geschliffenes und facettiertes Kristallglas zum Vorschein. Er nahm ein schönes, in Silber gefasstes Steinbockhorn und ging zu einer großen Amphore, die hinter der Ecke des Tisches in einer großen Holzkiste steckte. Die Amphore, die er kürzlich aus der Erde seines eigenen kleinen Weinberges bei Tiflis geborgen hatte, war mit einer ziemlich gewaltigen Weinmenge gefüllt. Er nahm eine Schöpfkelle voll aus der Öffnung und füllte den Inhalt langsam in das Horn, dann wieder und wieder, insgesamt sieben Mal, bis das Horn voll war. Dabei ließ er den Wein sanft kreisen, damit er atmen konnte. Rote Flüssigkeit spritzte über sein Handgelenk.

Schließlich füllte er das Glas aus dem Horn bis zum Rand und gab es Kaye. »Wenn du ein Mann wärst, würde ich dich auffordern, das ganze Horn zu leeren und dabei einen Trinkspruch auszubringen«, sagte er.

»Lado!« heulte Tamara und gab ihm einen Klaps auf den Arm.

Er ließ fast das Horn fallen und wandte sich ihr in gespielter Überraschung zu.

»Was ist denn?«, fragte er. »Gefällt dir das Glas nicht?«

Zamphyra erhob sich und drohte ihm mit erhobenem Finger.

Lado grinste noch breiter und verwandelte sich von einem Troll in einen karmesinroten Satyr. Langsam drehte er sich zu Kaye. »Was soll ich machen, liebste Kaye?«, sagte er geziert. Wieder tropfte Wein aus dem oberen Ende des Horns. »Sie verlangen, dass du alles austrinkst.«

Kaye hatte bereits ihr Quantum Alkohol genossen und traute ihrem eigenen Stehvermögen nicht mehr. Sie fühlte sich köstlich warm und geborgen, unter Freunden und umgeben von einer urtümlichen Dunkelheit voll Bernstein und goldener Sterne.

Die Gräber, Saul und die Schwierigkeiten, die in New York auf sie warteten, hatte sie fast vergessen.

Sie streckte die Hände aus, und mit überraschender Anmut, die seine Unbeholfenheit von eben Lügen strafte, tänzelte Lado vorwärts. Ohne einen Tropfen zu verschütten, gab er ihr das Steinbockhorn in die Hände. »Jetzt bist du dran«, sagte er.

Kaye wusste, was von ihr erwartet wurde. Feierlich erhob sie sich. Lado hatte an diesem Abend schon viele Trinksprüche ausgebracht, die sich poetisch und mit unbegrenztem Erfindungsreichtum minutenlang hinzogen. Dass sie mit seiner Beredsamkeit mithalten konnte, bezweifelte sie, aber sie wollte sich Mühe geben, und sie hatte vieles zu sagen, Dinge, die ihr in den zwei Tagen seit ihrer Rückkehr vom Kazbeg ständig im Kopf herumgegangen waren.

»Kein Land auf Erden kommt der Heimat des Weines gleich«, setzte sie an und hielt das Horn in die Höhe. Alle lächelten und hoben die Gläser. »Kein Land bietet mehr Schönheit und verspricht so viel jenen, die krank im Herzen oder am Körper sind.

Ihr habt den Nektar des jungen Weines destilliert, um Verwesung und Krankheit zu verbannen, welche dem Fleisch zugedacht sind.

Ihr habt Tradition und Wissen aus siebzig Jahren bewahrt und für das einundzwanzigste Jahrhundert gerettet. Ihr seid die Magier und Alchemisten des Mikroskopzeitalters, und nun vereinigt ihr euch mit den Entdeckern des Westens, mit denen ihr einen gewaltigen Schatz zu teilen habt.«

Tamara übersetzte laut flüsternd für die Studenten und Wissenschaftler, die sich um den Tisch drängten.

»Es ist mir eine Ehre, hier als Freundin und Kollegin aufgenommen zu werden. Ihr habt mich an diesem Schatz teilhaben lassen, und am Schatz von Sakartvelo — an Bergen, Gastfreundschaft, Geschichte und, auf keinen Fall zu vergessen, am Wein.«

Sie hob mit einer Hand das Horn und sagte: »Gaumarjos phage!«

Das letzte Wort sprach sie georgisch aus: Phagä. »Gaumarjos Sakartvelos!«

Dann trank sie. Sie konnte Lados aus der Erde geholtem, im Boden gealterten Wein nicht die gebührende Ehre zuteil werden lassen und ihre Augen tränten, aber sie wollte weder Schwäche zeigen noch diesen Augenblick beenden, und deshalb setzte sie nicht ab. Schluck um Schluck schüttete sie in sich hinein. Feuer breitete sich aus dem Magen in Arme und Beine aus, und die Benommenheit drohte sie zu überwältigen. Aber sie behielt die Augen offen und schaffte es bis zum Boden des Horns. Schließlich drehte sie es um und hielt es in die Höhe.

»Auf das Königreich der Kleinen und alle Mühen, die sie für uns auf sich nehmen! Auf den Ruhm, die Notwendigkeiten, und auf die, denen wir vergeben müssen … die Schmerzen …« Die Zunge wurde ihr schwer, und sie stolperte über die Worte. Mit einer Hand stützte sie sich auf den Klapptisch — Tamara hielt ihn leise und unaufdringlich fest, damit er nicht umkippte. »Auf alles, was wir … wir alle … geerbt haben. Auf die Bakterien, unsere edlen Gegner, die kleinen Mütter der Welt!«

Lado und Tamara klatschten als erste. Zamphyra half Kaye, wieder hinunter auf ihren hölzernen Klappstuhl zu kommen — aus gewaltiger Höhe, wie ihr schien.

»Großartig, Kaye«, murmelte Zamphyra ihr ins Ohr. »Du kannst jederzeit wieder nach Tiflis kommen. Hier hast du eine Heimat in sicherer Entfernung von deinem eigenen Zuhause.«

Kaye lächelte und rieb sich die Augen. In ihrem benebelten Gefühlszustand, befreit vom Stress der letzten Tage, musste sie weinen.


Am nächsten Morgen fühlte Kaye sich melancholisch und benommen, aber ansonsten hatte die Abschiedsfeier keine schlimmen Nachwirkungen. In den zwei Stunden bevor Lado sie zum Flughafen brachte, wanderte sie durch die Flure von zwei der drei Labortrakte, die jetzt fast menschenleer waren. Die Angestellten und die meisten Doktoranden saßen im Hörsaal des Instituts bei einer Versammlung, auf der die verschiedenen Angebote amerikanischer, britischer und französischer Firmen erörtert wurden.

Es war für das Institut ein sehr wichtiger, euphorischer Augenblick: In den nächsten beiden Monaten würde man wahrscheinlich entscheiden, wann und mit wem man zusammenarbeiten wollte. Aber jetzt konnte es ihr noch niemand sagen. Die Bekanntmachung würde erst später erfolgen.

An dem Institut war die jahrzehntelange Vernachlässigung deutlich zu erkennen. In den meisten Labors war die glänzend dicke, weiße Farbe abgeblättert, und rissiger Putz kam zum Vorschein.

Die neuesten Installationen stammten aus den Sechzigerjahren, zum größten Teil aber noch aus den Zwanzigern und Dreißigern.

Der leuchtend weiße Kunststoff und der Edelstahl moderner Gerätschaften ließen Bakelit und schwarzes Emaille ebenso deutlich hervortreten wie das Messing und Holz uralter Mikroskope und anderer Instrumente. Ein Gebäude beherbergte in seinem Allerheiligsten zwei Elektronenmikroskope — große, klobige Ungeheuer auf massiven vibrationsarmen Ständern.

Saul hatte ihnen für das Jahresende drei neue Spitzen-Rastertunnelmikroskope versprochen — falls sie EcoBacter zu einem ihrer Partner machten. Aventis oder Bristol-Myers Squibb hatten zweifellos noch mehr zu bieten.

Kaye ging zwischen Labortischen auf und ab, spähte durch die Glastüren der Brutschränke auf Stapel mit Petrischalen. Die Agarschicht auf dem Boden der Schalen war von wolkigen Bakterienkolonien bedeckt, und manchmal zeigten kleine durchsichtige Bereiche, Plaques genannt, wo Phagen die Bakterien getötet hatten.

Tag um Tag, Jahr um Jahr hatten die Wissenschaftler des Instituts natürlich vorkommende Bakterien und ihre Phagen analysiert und katalogisiert. Zu jedem Bakterienstamm gab es mindestens einen spezifischen Phagen, oftmals aber auch Hunderte, und wenn die Bakterien mutierten, um sich der unerwünschten Eindringlinge zu erwehren, stellten sich die Phagen ihrerseits durch Mutationen darauf ein, ein nie endender Wettlauf. Das Eliava-Institut besaß eine der größten Phagensammlungen der Welt und konnte zu einer Bakterienprobe innerhalb weniger Tage die zugehörigen Phagen produzieren.

An der Wand über den neuen Apparaturen zeigten Plakate die bizarre, raumschiffähnlich-geometrische Struktur von Kopf und Schwanz der allgegenwärtigen geradzahligen T-Phagen — T2, T4, T6, die Bezeichnungen stammten aus den Zwanzigerjahren —, die über vergleichsweise riesigen Escherichia coli-Bakterien schwebten.

Alte Fotos, alte Vorstellungen — dass Phagen die Bakterien einfach vereinnahmen und ihre DNA nur zur Produktion neuer Phagen unter ihre Kontrolle bringen. Viele Phagen tun tatsächlich nichts anderes und halten damit die Bakterienpopulation in Schach. Andere, lysogene Phagen genannt, werden zu blinden Passagieren im Erbgut: Sie verstecken sich in den Bakterien und bauen ihre genetische Information in die DNA der Wirtszelle ein. Etwas ganz ähnliches tun Retroviren in den größeren Pflanzen und Tieren.

Lysogene Phagen unterdrücken die Ausprägung ihrer Gene und ihren Zusammenbau. Sie werden mit der Bakterien-DNA vermehrt und von Generation zu Generation weitergegeben. Erst wenn sie bei ihrem Wirt eindeutige Anzeichen für eine Belastung erkennen, verlassen sie das sinkende Schiff: Jetzt entstehen in jeder Zelle Hunderte oder Tausende von Phagennachkommen, die sich schließlich aus dem platzenden Wirt befreien.

Lysogene Phagen sind für die Phagentherapie so gut wie nutzlos.

Sie sind keineswegs nur einfache Räuber: Vielfach machen sie ihren Wirt resistent gegen andere Phagen. Manchmal tragen sie auch Gene von einer Zelle zur anderen — Gene, die eine Zelle verwandeln können. Man kennt lysogene Phagen, die relativ harmlose Bakterien — beispielsweise gutartige Stämme der Gattung Vibrio — in bösartige Erreger der Spezies Vibrio cholerae verwandeln können. Auch Epidemien von tödlichen E. coli-Stämmen in Rindfleisch hatte man auf giftstoffproduzierende, von Phagen übertragene Gene zurückgeführt. Das Institut verwandte große Mühe darauf, solche Phagen zu identifizieren und aus den Präparaten zu beseitigen.

Kaye dagegen war von ihnen fasziniert. Während eines großen Teils ihrer Berufslaufbahn hatte sie lysogene Phagen von Bakterien sowie Retroviren bei Menschenaffen und Menschen untersucht.

Entschärfte Retroviren dienten in Gentherapie und genetischer Forschung häufig als Transportmittel für heilende Gene, aber Kayes Interesse richtete sich weniger auf solche praktischen Dinge.

Viele Metazoen — nichtbakterielle Lebensformen — tragen die schlummernden Überreste uralter Retroviren in ihren Genen. Bis zu einem Drittel unseres Genoms, unserer gesamten Genausstattung, besteht aus diesen so genannten endogenen Retroviren.

Sie hatte drei Fachartikel über solche humane endogene Retroviren (HERVs) geschrieben und darin die Vermutung geäußert, sie könnten zu Neuerungen im Genom beitragen — und auch zu vielem anderen. Saul war ebenfalls dieser Ansicht. »Jeder weiß, dass sie kleine Geheimnisse in sich tragen«, hatte er einmal zu ihr gesagt, während sie sich umeinander bemühten. Es war ein merkwürdiges, liebevolles Werben gewesen. Saul selbst war manchmal merkwürdig, manchmal aber auch liebevoll und freundlich. Sie wusste nur nie, wann dieser Zeitpunkt war.

Kaye blieb einen Augenblick neben einem hohen metallenen Laborstuhl stehen und stützte die Hand auf seinen Plastiksitz. Saul hatte sich immer für die größeren Zusammenhänge interessiert; sie dagegen war mit kleineren Erfolgen zufrieden, mit winzigen Erkenntnisbrocken. Sein Wissenshunger hatte zu vielen Enttäuschungen geführt. Stumm hatte er zugesehen, wie seine jüngere Frau viel mehr erreichte. Sie wusste, dass es ihm wehtat. Keinen Riesenerfolg zu haben, kein Genie zu sein, war für Saul gleichbedeutend mit Versagen.

Kaye hob den Kopf und sog die Luft ein: Chlorbleiche, Heißdampf, ein Hauch von frischer Farbe und Schreinerarbeit aus der benachbarten Bibliothek. Sie mochte dieses betagte Labor mit seinen Altertümern, seiner Bescheidenheit und seiner jahrzehntelangen Geschichte der Entbehrungen und Erfolge. Die Tage hier und im Gebirge hatten zu den angenehmsten in ihrer jüngeren Vergangenheit gehört. Tamara, Zamphyra und Lado hatten ihr nicht nur das Gefühl gegeben, willkommen zu sein, sie hatten ihr auch sofort großzügig ihr Herz geöffnet und waren so zur Familie der vagabundierenden Ausländerin geworden.

Saul hätte hier großen Erfolg gehabt. Einen doppelten Erfolg vielleicht. Alles, was er brauchte, um sich wichtig und nützlich zu fühlen.

Sie wandte sich um. Durch die offene Eingangstür sah sie Tengiz, den gebückten alten Laborhelfer, der mit einem kleinen, untersetzten jungen Mann in grauer Hose und Sweatshirt sprach.

Die beiden standen im Korridor zwischen Labor und Bibliothek.

Der junge Mann sah Kaye an und lächelte. Auch Tengiz machte ein freundliches Gesicht, nickte heftig und deutete auf Kaye. Daraufhin kam der Mann ins Labor geschlendert, als gehörte es ihm.

»Sind Sie Kaye Lang?«, fragte er in amerikanischem Englisch mit unverkennbarem Südstaaten-Zungenschlag. Er war einige Zentimeter kleiner als sie, ungefähr ebenso alt oder ein wenig älter, mit spärlichem schwarzem Bart und schwarzen Locken. Seine Augen, ebenfalls schwarz, wirkten klein und intelligent.

»Ja«, erwiderte sie.

»Freut mich, Sie kennen zu lernen. Christopher Dicken ist mein Name. Ich komme vom Epidemie-Erkennungsdienst der National Centers for Infectious Diseases in Atlanta — weit weg von hier, da Georgia, hier Georgien.«

Kaye lächelte und schüttelte ihm die Hand. »Ich wusste nicht, dass Sie herkommen würden«, sagte sie. »Was macht das NCID, die CDC …«

»Sie waren vor zwei Tagen in der Nähe von Gordi«, unterbrach Dicken.

»Sie haben uns weggejagt.«

»Ich weiß. Ich habe gestern mit Colonel Beck gesprochen.«

»Warum interessiert Sie das?«

»Vielleicht aus unangenehmen Gründen.« Er presste die Lippen zusammen und hob die Augenbrauen, aber dann lächelte er wieder und zuckte die Achseln. »Beck sagt, die UN und alle russischen Friedenstruppen hätten sich aus dem Gebiet zurückgezogen und seien wieder nach Tiflis gefahren, und zwar auf nachdrücklichen Wunsch des Parlaments und des Präsidenten Schewardnadse.

Seltsam, finden Sie nicht?«

»Peinlich fürs Geschäft«, murmelte Kaye. Tengiz hörte vom Korridor aus zu. Sie runzelte die Stirn in seiner Richtung, aber mehr aus Verwunderung denn aus Ärger. Er schlenderte ein Stück weiter.

»Ja«, sagte er. »Alte Probleme. Wie alt, was meinen Sie?«

»Was — das Grab?«

Dicken nickte.

»Fünf Jahre. Vielleicht weniger.«

»Die Frauen waren schwanger.«

»Jaaa …« Sie zog die Antwort in die Länge und versuchte sich auszumalen, warum jemand von den Centers for Disease Control sich dafür interessierte. »Jedenfalls die beiden, die ich gesehen habe.«

»Keine Fehlinterpretation möglich? Säuglinge, die nach der Geburt mit in das Grab gelegt wurden?«

»Nein«, erwiderte sie. »Die waren im sechsten oder siebten Monat.«

»Danke.« Dicken streckte wieder die Hand aus und schüttelte höflich die ihre. Dann drehte er sich um und wollte gehen. Tengiz ging draußen über den Flur und huschte beiseite, als Dicken durch die Tür spazierte. Der Ermittler des Epidemie-Erkennungsdienstes blickte zu Kaye zurück und salutierte kurz.

Tengiz hielt den Kopf schräg und grinste zahnlos. Er sah zutiefst schuldbewusst aus.

Kaye rannte zur Tür. Auf dem Hof hatte sie Dicken eingeholt.

Er stieg gerade in einen kleinen gemieteten Nissan.

»Entschuldigen Sie!« rief sie.

»Tut mir Leid. Muss weg.« Dicken knallte die Tür zu und ließ den Motor an.

»Du lieber Gott, Sie wissen aber, wie man Verdacht sät!« sagte Kaye so laut, dass er es durch das geschlossene Fenster hören konnte.

Dicken kurbelte die Scheibe herunter und schnitt eine liebenswürdige Grimasse. »Was für einen Verdacht?«

»Was um alles in der Welt tun Sie hier?«

»Gerüchte«, sagte er und vergewisserte sich mit einem Blick über die Schulter, ob hinter ihm Platz war. »Mehr kann ich nicht sagen.«

Er wendete den Wagen auf dem Kies und fuhr davon, zwischen dem Hauptgebäude und dem zweiten Labortrakt hindurch. Kaye verschränkte die Arme und sah ihm mit gerunzelter Stirn nach.

Lado beugte sich aus einem Fenster des Hauptgebäudes und rief:

»Kaye! Wir sind so weit. Bist du fertig?«

»Ja!«, erwiderte Kaye und ging zu dem Fenster. »Hast du ihn gesehen?«

»Wen?«, fragte Lado mit verblüffter Miene.

»Einen Mann von den Centers for Disease Control. Er sagt, sein Name sei Dicken.«

»Ich habe niemanden gesehen. Die haben ein Büro in der Abasheli-Straße. Da kannst du ja anrufen.«

Sie schüttelte den Kopf. Sie hatten keine Zeit mehr, und es ging sie ohnehin nichts an. »Spielt keine Rolle«, sagte sie.


Als Lado sie zum Flughafen brachte, war er ungewöhnlich melancholisch.

»Gute oder schlechte Nachrichten?«, fragte sie.

»Das darf ich nicht sagen«, antwortete er. »Wir müssen uns alle Optionen offen halten, wie ihr sagen würdet. Uns geht’s wie kleinen Kindern im großen Wald.«

Kaye nickte und starrte geradeaus, während sie auf den Parkplatz fuhren. Lado half ihr, das Gepäck zu dem neuen internationalen Terminal zu tragen, vorbei an Reihen von Taxis, deren Fahrer mit scharfem Blick ungeduldig warteten. Die Schlange vor dem Abfertigungsschalter der Mediterranean Airlines war kurz.

Schon jetzt hatte Kaye das Gefühl, zwischen den Welten zu stehen, näher an New York als an Lados Georgien, der Gergeti-Kirche oder dem Kazbeg.

Schließlich war sie an der Reihe. Während sie Pass und Tickets herauszog, stand Lado mit verschränkten Armen daneben und blinzelte in das blasse Sonnenlicht, das durch die Fenster der Abflughalle fiel.

Die Schalterbeamtin, eine blonde junge Frau mit gespenstisch weißer Haut, arbeitete sich langsam durch Tickets und Papiere.

Schließlich blickte sie auf und sagte: »Kein Abreisen. Kein Start.«

»Wie bitte?«

Die Frau hob den Blick zur Decke, als könne ihr das Kraft oder Klugheit verleihen, und versuchte es noch einmal.

»Nix Baku. Nix Heathrow. Nix JFK. Nix Wien.«

»Was, alle weg?«, fragte Kaye wütend. Hilflos blickte sie Lado an, der über die kunststoffummantelten Seile stieg und sich in schroffem, tadelndem Ton an die Frau wandte. Dann deutete er auf Kaye und hob die Brauen, als wollte er sagen: Very Important Person!

Die Wangen der blassen jungen Frau nahmen ein wenig Farbe an. Mit unendlicher Geduld richtete sie den Blick auf Kaye und erzählte in schnellem Georgisch etwas von Wetter, Hagel im Anmarsch, ungewöhnlichem Sturm. Lado übersetzte in Abständen einzelne Wörter: Hagel, ungewöhnlich, bald.

»Wann komme ich weg?«, fragte sie die Frau.

Lado hörte sich mit ernster Miene die ausführliche Antwort an, hob dann die Schultern und wandte sich zu Kaye. »Nächste Woche, nächster Flug. Oder der Flug nach Wien, Dienstag. Übermorgen.«

Kaye entschloss sich, nach Wien umzubuchen. Hinter ihr in der Schlange standen jetzt vier Personen, die sowohl Belustigung als auch Ungeduld erkennen ließen. Nach Kleidung und Sprache zu urteilen, wollten sie wohl nicht nach New York oder London.

Lado ging mit ihr die Treppe hinauf und setzte sich in dem widerhallenden Wartebereich ihr gegenüber. Sie musste nachdenken, ihre Pläne ordnen. Am Rand der Halle verkauften ein paar alte Frauen an ihren Ständen westliche Zigaretten, Parfüm und japanische Armbanduhren. In ihrer Nähe, auf zwei gegenüber stehenden Bänken, schliefen zwei junge Männer und schnarchten im Duett.

An den Wänden hingen Plakate auf Russisch, in der freundlichverschnörkelten georgischen Schrift, auf Deutsch und Französisch: Schlösser, Teeplantagen, Weinflaschen und die plötzlich ganz kleinen, weit entfernten Berge, deren reinen Farben sogar das Neonlicht nichts anhaben konnte.

»Ich weiß, du musst deinen Mann anrufen, er wird dich vermissen«, sagte Lado. »Wir können wieder zum Institut fahren — du bist uns jederzeit willkommen!«

»Nein danke«, sagte Kaye, und plötzlich war ihr ein wenig übel.

Es hatte nichts mit schlimmen Vorahnungen zu tun — sie konnte in Lado lesen wie in einem Buch. Was hatten sie falsch gemacht?

Hatte eine größere Firma ein noch besseres Angebot unterbreitet?

Was würde Saul tun, wenn er dahinter kam? Ihre gesamte Planung gründete sich auf seine optimistische Vorstellung, man kön-ne aus Freundschaft und Freigebigkeit eine handfeste Geschäftsbeziehung machen … Sie waren so dicht davor.

»Es gibt das Metechi Palace«, sagte Lado. »Das beste Hotel in Tiflis … das beste in Georgien. Ich bringe dich zum Metechi!

Jetzt bist du eine echte Touristin, wie im Reiseführer! Vielleicht hast du Zeit, in einer heißen Quelle zu baden … ruh’ dich aus, bevor du nach Hause fliegst.«

Kaye nickte lächelnd, aber es war deutlich zu merken, dass sie nicht bei der Sache war. Plötzlich beugte Lado sich ungestüm nach vorn und nahm ihre Hand in seine trockenen, rissigen Finger, die vom vielen Waschen und Desinfizieren rau geworden waren. Er klopfte mit seiner und ihrer Hand sanft auf ihr Knie. »Es ist nicht das Ende! Es ist ein Anfang! Wir müssen alle stark und geschickt sein!«

Das trieb Kaye die Tränen in die Augen. Sie blickte noch einmal zu den Plakaten — Elbrus und Kazbeg, von Wolken verhüllt, die Gergeti-Kirche, Weinberge und bestellte Felder.

Lado warf die Arme in die Luft, fluchte wortreich auf Georgisch und sprang auf die Füße. »Ich sage ihnen, dass es keine optimale Entscheidung ist«, beharrte er. »Ich sage den Bürokraten in der Regierung, dass wir seit drei Jahren mit dir und mit Saul zusammengearbeitet haben, und das kann man nicht über Nacht umwerfen! Wer braucht denn schon einen Exklusivvertrag? Ich bringe dich zum Metechi.«

Kaye dankte ihm mit einem Lächeln. Lado setzte sich wieder, beugte sich nach vorn, schüttelte niedergeschlagen den Kopf und faltete die Hände. »Es ist ein Unding, was die heutige Welt uns abverlangt!«, erklärte er.

Die jungen Männer schnarchten immer noch.

7 New York

Christopher Dicken kam zufällig am gleichen Abend auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen an wie Kaye Lang und sah sie vor der Zollkontrolle warten. Sie verstaute ihr Gepäck auf einer Kofferkarre, ohne ihn zu bemerken.

Sie sah mitgenommen und bleich aus. Dicken selbst war sechsunddreißig Stunden unterwegs gewesen — er kam gerade mit zwei verschlossenen Metallkisten und einem Seesack aus der Türkei zurück. Unter den derzeitigen Umständen wollte er Lang mit Sicherheit nicht über den Weg laufen.

Dicken wusste selbst nicht genau, warum er Kaye im Eliava-Institut aufgesucht hatte. Vielleicht weil sie unabhängig voneinander bei Gordi das gleiche Grauen erlebt hatten; vielleicht weil er herausfinden wollte, ob sie von den Vorgängen in den Vereinigten Staaten wusste, deretwegen man ihn zurückbeordert hatte; vielleicht aber auch nur, weil er die attraktive, intelligente junge Frau kennen lernen wollte, deren Foto er auf der Website von EcoBacter gesehen hatte.

Er zeigte dem Zollbeamten seinen CDC-Dienstausweis und die Einfuhrerlaubnis des NCID, füllte die einschlägigen fünf Formulare aus und schlenderte durch einen Nebenausgang in eine leere Halle. Seine kaffeegequälten Nerven verliehen allem einen bitteren Beigeschmack. Er hatte auf dem gesamten Flug kein Auge zugetan und sich in der Stunde vor der Landung fünf Tassen hineingeschüttet. Er wollte noch Zeit haben, um zu recherchieren, nachzudenken und sich auf das Treffen mit Mark Augustine vorzubereiten, dem Direktor der Centers for Disease Control and Prevention.

Augustine befand sich derzeit in Manhattan, um dort einen Vortrag über neue Therapieverfahren für AIDS zu halten.

Dicken trug die Kisten ins Parkhaus. Er hatte während des Fluges und auf dem Flughafen jegliches Zeitgefühl verloren; jetzt war er überrascht, dass in New York schon die Dämmerung hereinbrach.

Nachdem er ein Labyrinth von Treppen und Aufzügen hinter sich hatte, fuhr er mit seinem Dienst-Dodge aus dem Parkhaus für Dauerparker und hatte nun den grauen Himmel über der Jamaica Bay vor sich. Auf dem Van Wyck Expressway herrschte dichter Verkehr. Fürsorglich hielt er mit einer Hand die dicht verschlossenen Kisten auf dem Beifahrersitz fest. Die eine enthielt, in Trockeneis frisch gehalten, ein paar Gefäße mit dem Blut und Urin einer Patientin aus der Türkei sowie Gewebeproben ihres abgestoßenen Fetus. In der anderen waren zwei luftdicht verschlossene Plastikbeutel mit mumifiziertem Haut- und Muskelgewebe, ein Geschenk des diensthabenden Kommandanten der erweiterten UN-Friedensmission in der Republik Georgien, Colonel Nicholas Beck.

Das Gewebe aus den Gräbern bei Gordi war ein Schuss ins Dunkle, aber in Dickens Kopf fügte sich langsam eins zum anderen — eine verblüffende, beunruhigende Gesetzmäßigkeit kristallisierte sich heraus. Drei Jahre hatte er darauf verwendet, in der Welt der Viren das Gegenstück zum Höllenhund zu finden — eine sexuell übertragbare Krankheit, die ausschließlich schwangere Frauen befiel und unausweichlich zur Fehlgeburt führte. Es war eine Zeitbombe, genau das, was Dicken nach Augustines Auftrag finden sollte: etwas so Entsetzliches, so Aufwühlendes, dass die CDC garantiert Finanzmittel dafür auftreiben konnten.

Während dieser Jahre war Dicken immer wieder in der Ukraine, Georgien und der Türkei gewesen, jedes Mal in der Hoffnung, Proben zu sammeln und eine epidemiologische Kartierung vorzunehmen. Und immer wieder hatten die staatlichen Gesundheitsbehörden aller drei Länder ihn gegen eine Wand laufen lassen.

Dafür hatten sie ihre Gründe. Dicken hatte von mindestens drei, vielleicht sogar sieben Massengräbern mit den Leichen von Männern und Frauen erfahren, die man angeblich getötet hatte, um die Ausbreitung der Krankheit zu verhindern. Gewebeproben von örtlichen Krankenhäusern zu beschaffen, hatte sich als äußerst schwierig erwiesen, obwohl die betreffenden Staaten offizielle Abkommen mit den CDC und der Weltgesundheitsorganisation geschlossen hatten. Man hatte ihm einzig die Besichtigung des Grabes bei Gordi gestattet, und auch das nur deshalb, weil es sich um eine UN-Untersuchung handelte. Eine Stunde nachdem Kaye Lang dort gewesen war, hatte er den Opfern die Gewebeproben entnommen.

Mit einer Verschwörung zur Vertuschung einer Krankheit hatte Dicken es noch nie zu tun gehabt.

Alle seine Arbeiten waren sicher wichtig und genau das, was Augustine brauchte, aber etwas anderes sollte sie in den Schatten stellen und geradezu lächerlich erscheinen lassen. Während Dicken in Europa war, hatte das verfolgte Wild sich im Heimatrevier der CDC gezeigt. Am Medical Center der University of California in Los Angeles hatte ein junger Wissenschaftler bei mehreren abgestoßenen Feten nach Gemeinsamkeiten gesucht und dabei ein bislang unbekanntes Virus entdeckt. Entsprechende Materialproben hatte er an Epidemiologen geschickt, die in San Francisco mit Forschungsgeldern der CDC arbeiteten. Diese hatten das genetische Material des Virus kopiert und sequenziert. Die Befunde hatten sie sofort an Mark Augustine weitergeleitet.

Und Augustine hatte Dicken zu Hause angerufen. Mittlerweile machten schon Gerüchte die Runde, man habe das erste infektiöse humane endogene Retrovirus oder HERV entdeckt. Außerdem waren in den Medien vereinzelte Berichte über ein Virus erschienen, das Fehlgeburten verursachte. Bisher hatte niemand außerhalb der CDC hier einen Zusammenhang hergestellt. Auf dem Flug von London hatte Dicken eine teure halbe Stunde lang im Internet gesurft und wichtige fachspezifische Seiten und Newsgroups besucht; eine genaue Beschreibung der Entdeckung hatte er nirgendwo gefunden, aber überall war er erwartungsgemäß auf brennende Neugier gestoßen. Kein Wunder. Am Ende würde irgendjemand dafür womöglich den Nobelpreis bekommen — und Dicken hätte darauf wetten mögen, dass dieser Jemand Kaye Lang war.

Als professioneller Virusjäger war Dicken schon lange von den HERVs fasziniert, jenen genetischen Fossilien uralter Krankheiten. Auf Lang war er erstmals vor zwei Jahren aufmerksam geworden, als sie in drei Fachaufsätzen einige Stellen auf den Chromosomen 14 und 17 des menschlichen Genoms beschrieb, wo sich Teile möglicherweise vollständiger, infektiöser HERVs befanden.

Ihr genauester Bericht war in dem Fachblatt Virology erschienen und trug den Titel »Ein Modell für Expression, Zusammenbau und horizontale Übertragung chromosomal verteilter env-, pol- und gag- Gene: lebensfähige, alte Retroviruselemente bei Menschen und Affen«.

Art und mögliches Ausmaß der Epidemie waren derzeit ein gut gehütetes Geheimnis, aber ein paar Insider an den CDC wussten immerhin so viel: Die bei den Feten gefundenen Retroviren waren genetisch mit den HERVs identisch und gehörten zum menschlichen Genom, seit sich in der Evolution die Abstammungslinien von Altwelt- und Neuweltaffen aufgespalten hatten. Alle Menschen trugen sie in sich, aber sie waren inzwischen mehr als nur genetischer Abfall oder aufgegebene Bruchstücke. Irgendetwas hatte die verstreuten HERV-Fragmente dazu angeregt, ihre Gene auszuprägen, die in ihnen codierten Proteine und RNA-Moleküle zusammenzufügen und Partikel zu bilden, die den Organismus verlassen und einen anderen infizieren konnten.

Alle sieben abgestoßenen Feten zeigten schwere Fehlbildungen.

Die Partikel verursachten eine Krankheit — vermutlich genau jene, der Dicken bereits seit drei Jahren auf der Spur war. In den CDC hatte sie schon einen hauseigenen Namen: Herodes-Grippe.

Mit der Mischung aus Intelligenz und Glück, wie sie für die meisten großen Wissenschaftlerlaufbahnen typisch ist, hatte Lang genau die Lage jener Gene dingfest gemacht, die offensichtlich die Herodes-Grippe verursachten. Aber sie hatte keine Ahnung, was sie da gefunden hatte — das hatte er ihr in Tiflis an den Augen ablesen können.

Darüber hinaus hatte ihn noch etwas anderes an Langs Arbeit gereizt. Zusammen mit ihrem Mann hatte sie Fachartikel über die Bedeutung transponierbarer genetischer Elemente für die Evolution geschrieben. Diese Elemente, auch springende Gene genannt —

Transposons, Retrotransposons und sogar HERVs —, haben einen Einfluss darauf, wann, wo und wie oft Gene ausgeprägt werden.

Sie verursachen Mutationen und verändern letztlich die äußere Gestalt eines Lebewesens.

Solche transponierbaren Elemente, die Retrogene, sind höchstwahrscheinlich die Vorläufer der Viren; manche von ihnen sind mutiert und haben gelernt, wie man die Zelle verlässt: Man wickelt sich in schützende Kapseln und Hüllen, die genetische Entsprechung zu einem Raumanzug. Einige kehrten später wie verlorene Söhne als Retroviren zurück; und einige infizierten im Laufe der Jahrtausende auch Zellen der Keimbahn — Ei- oder Samenzellen und ihre Vorläufer —, wobei sie irgendwie die Gefährlichkeit verloren. Sie wurden zu HERVs.

Auf seinen Reisen in die Ukraine hatte Dicken aus zuverlässiger Quelle von Frauen erfahren, die Kinder mit mehr oder weniger geringfügigen Besonderheiten zur Welt gebracht hatten, von Kindern, die unbefleckt empfangen worden waren, von ganzen Dörfern, deren Bewohner man getötet oder sterilisiert hatte … stets nach einer Epidemie von Fehlgeburten.

Alles nur Gerüchte, aber Dicken erschienen sie aufschlussreich und sogar plausibel. Bei seiner Suche verließ er sich auf seinen gut ausgebildeten Instinkt. Die Geschichten ließen in ihm etwas anklingen, über das er schon seit über einem Jahr nachdachte.

Vielleicht hatte es eine Verschwörung der Mutagene gegeben.

Vielleicht hatte Tschernobyl oder eine andere Strahlenkatastrophe in der Sowjetzeit die Freisetzung der endogenen Retroviren ausgelöst, die jetzt die Herodes-Grippe verursachten. Aber über diese Theorie hatte er bisher noch mit niemandem gesprochen.


Im Midtown-Tunnel wurde er von einem großen, mit glücklich tanzenden Kühen verzierten Lieferwagen geschnitten und fast gestreift. Er trat scharf auf die Bremse. Das Quietschen der Reifen und die Tatsache, dass er an einem Unfall nur knapp vorbeigeschrammt war, ließen ihm den Schweiß auf die Stirn treten und seinen ganzen Frust und Zorn zum Ausbruch kommen. »Idiot!«, schrie er dem unsichtbaren Fahrer nach. »Das nächste Mal habe ich Ebola an Bord!«

Ihm war absolut nicht nach Milde. Die CDC würden vielleicht schon in wenigen Wochen an die Öffentlichkeit gehen müssen.

Wenn die Tabellen stimmten, würde es bis dahin allein in den Vereinigten Staaten schon über fünftausend Fälle der Herodes-Grippe geben.

Und Christopher Dicken würde man wohl kaum mehr zugute halten als die Arbeit eines guten Fußsoldaten.

8 Long Island, New York

Das grünweiße Haus — mittelgroß, aber stattlich, Kolonialstil der Vierzigerjahre — stand oben auf einem kleinen Hügel, umgeben von alten Eichen und Pappeln sowie den Rhododendronbüschen, die sie vor drei Jahren gepflanzt hatte.

Kaye hatte vom Flughafen aus angerufen und eine Nachricht von Saul abgehört. Er war im Labor eines Kunden in Philadelphia und würde im Laufe des Abends zurückkommen. Jetzt war es sieben, und über Long Island lag prächtiges Zwielicht. Flauschige Wolken lösten sich von einer verschwimmenden Masse aus Unheil verkündendem Grau. Die Stare machten in den Eichen Lärm wie eine Horde Kinder in einem Kindergarten.

Sie schloss die Tür auf, schob ihre Reisetaschen hindurch und tippte ihre Geheimzahl ein, um die Alarmanlage auszuschalten. Im Haus roch es muffig. Gerade hatte sie die Taschen wieder abgesetzt, da stürmte der orange gescheckte Crickson, einer ihrer beiden Kater, aus dem Wohnzimmer in den Flur. Seine Pfoten tappten leise auf dem warmen Teakfußboden. Kaye nahm ihn auf den Arm und kraulte ihn am Hals, woraufhin er schnurrte und leise miaute. Temin, der andere Kater, war nirgendwo zu sehen. Sie nahm an, dass er draußen auf der Pirsch war.

Der Anblick des Wohnzimmers dämpfte ihre Stimmung. Überall war schmutzige Wäsche verstreut. Auf dem Couchtisch und dem Perserteppich vor dem Sofa lagen die leeren Verpackungen von Fertiggerichten. Der Esstisch quoll über von Büchern, Zeitungen und gelben, aus einem alten Telefonbuch herausgerissenen Seiten. Der muffige Gestank kam aus der Küche und stammte von verfaultem Gemüse, abgestandenem Kaffeesatz und Verpackungsresten.

Saul war nicht gut drauf gewesen. Und wie üblich war sie gerade im richtigen Augenblick gekommen, um aufzuräumen.

Kaye öffnete die Eingangstür und alle Fenster.

Sie briet sich ein kleines Steak und machte sich einen grünen Salat mit Dressing aus der Flasche. Als sie einen Pinot Noir entkorkte, entdeckte sie auf der weiß gefliesten Anrichte neben der Espressomaschine einen Briefumschlag. Sie stellte den Wein hin, damit er atmen konnte, und riss das Kuvert auf. Es enthielt eine blumenbedruckte Grußkarte, auf die Saul eine Nachricht gekritzelt hatte:


Kaye,

liebste Kaye, mein Schatz, mein Schatz, es tut mir Leid. Ich habe dich vermisst, und das ist diesmal im ganzen Haus zu sehen. Bitte räum nicht auf. Das lasse ich Caddy morgen machen. Ich bezahle ihr zusätzlich etwas. Ruh dich nur aus. Das Schlafzimmer ist makellos. Wenigstens dafür habe ich gesorgt.

Dein verrückter alter Saul


Kaye klappte die Karte mit unzufrieden gerümpfter Nase zu und starrte auf Anrichte und Schränke. Ihr Blick fiel auf einen ordentlichen Stapel alter Zeitschriften, der seltsamerweise auf dem Hackblock für das Fleisch lag. Als sie die Magazine anhob, fand sie darunter etwa ein Dutzend Computer-Ausdrucke und eine weitere Notiz. Sie schaltete den Herd aus, legte einen Deckel auf die Pfanne, um das Steak warm zu halten, griff nach dem Stapel und las das erste Blatt.


Kaye!

Du hast gespinxt! Vielleicht entschuldigt mich dieser Stapel. Äußerst spannend. Ich habe die Sachen von Virion. Ferris und Farmkhan Mkebe am UCI habe ich gefragt, was sie wissen. Sie wollten mir nicht alles sagen, aber ich glaube, sie wissen Bescheid, wie wir vermutet haben. Sie nennen es Scattered Human Endogenous Retrovirus Activation oder kurz SHERVA — Aktivierung verstreuter humaner endogener Retroviren. Die Webseiten geben kaum etwas her, aber das hier ist die Diskussion. Voller Liebe und Bewunderung,

Saul


Kaye wusste nicht genau warum, aber plötzlich musste sie weinen.

Mit Tränen in den Augen blätterte sie die Papiere durch; dann legte sie den Stapel auf das Tablett neben Steak und Salat. Sie trug alles zum Essen ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.

Saul hatte sich vor sechs Jahren eine bestimmte Art transgener Mäuse patentieren lassen und ein kleines Vermögen damit verdient; im folgenden Jahr hatten sie sich kennen gelernt und geheiratet, und Saul hatte sofort den größten Teil des Geldes in EcoBacter gesteckt. Auch Kayes Eltern hatten einen erheblichen Betrag beigesteuert, kurz bevor sie bei einem Autounfall ums Leben kamen. Dreißig Angestellte und fünf Führungskräfte tummelten sich in dem grau-blauen Gebäudequader im Gewerbepark von Long Island, Tür an Tür mit einem halben Dutzend weiterer Biotechnologiefirmen. Der Park war sechs Kilometer von ihrem Haus entfernt.

Bei EcoBacter wurde sie erst morgen Mittag erwartet. Sie hoffte, Saul würde durch irgendetwas aufgehalten werden, sodass sie mehr Zeit für sich hatte, um nachzudenken und sich auf ihn einzustellen, aber dieser Wunsch trieb ihr wieder das Würgen in den Hals.

Sie schüttelte den Kopf vor Abscheu über ihre ungezügelten Ge-fühle und trank den Wein mit tränennassen, salzigen Lippen.

Eigentlich wünschte sie sich nur eines: dass Saul gesund war, dass es ihm besser ging. Sie wollte ihren Mann wiederhaben, den Mann, der ihre Einstellung zum Leben verändert hatte, der ihre Inspiration und ihr Partner war, ein ruhender Pol in einer immer schneller wirbelnden Welt.

Während sie kleine Bissen des Steaks kaute, las sie die Beiträge aus der Diskussionsgruppe »Virion«. Es waren über hundert, ein paar von Wissenschaftlern, die meisten jedoch von Laien und Studenten, die vereinzelte Nachrichten wiederkäuten und Spekulationen anstellten.

Sie verteilte ein wenig Fertigsauce auf dem letzten Stück Fleisch und atmete tief durch.

Das alles konnte wichtig werden. Saul war zu Recht so aufgeregt. Aber man wusste nichts Genaues, und es gab keinerlei Anhaltspunkte, wo die Arbeiten stattgefunden hatten, wo sie veröffentlicht werden sollten oder wer die Informationen durchsickern ließ.

Als sie gerade dabei war, das Tablett in die Küche zurück zu tragen, klingelte das Telefon. Nachdem sie auf den bestrumpften Füßen eine kleine Pirouette vollführt hatte, balancierte sie mit einer Hand das Tablett und nahm mit der anderen den Hörer ab.

»Willkommen zu Hause!«, sagte Saul. Seine tiefe Stimme ließ sie immer noch ein wenig beben. »Meine liebe, weit gereiste Kaye!«

Er wurde kleinlaut. »Bitte entschuldige das Durcheinander. Caddy konnte gestern nicht kommen.« Caddy war ihre Haushälterin.

»Es ist schön, wieder zu Hause zu sein«, sagte sie. »Arbeitest du noch?«

»Ich hänge hier fest und kann nicht weg.«

»Ich habe dich vermisst.«

»Räum’ bloß das Haus nicht auf!«

»Ich hab’ nicht aufgeräumt. Jedenfalls nicht viel.«

»Hast du die Ausdrucke gelesen?«

»Ja. Sie waren auf der Anrichte versteckt.«

»Ich wollte, dass du sie morgen früh beim Kaffee liest, wenn dein Verstand am schärfsten ist. Bis dahin habe ich wahrscheinlich handfestere Informationen. Ich bin morgen früh um elf zurück.

Geh’ nicht sofort ins Labor.«

»Ich warte auf dich«, sagte sie.

»Du klingst müde. Langer Flug?«

»Schreckliche Luft. Ich habe Nasenbluten bekommen.«

»Armes Mädchen«, sagte er. »Mach dir nichts draus. Mir geht’s gut, jetzt wo du da bist. Hat Lado …?« Er hielt mitten im Satz inne.

»Keinerlei Anhaltspunkte«, log Kaye. »Ich habe mir wirklich Mühe gegeben.«

»Ich weiß. Schlaf schön, und morgen bin ich bei dir. Es gibt aufregende Neuigkeiten.«

»Du weißt schon mehr. Sag es mir«, beharrte Kaye.

»Jetzt nicht. Vorfreude ist die schönste Freude.«

Kaye hasste seine Spielchen. »Saul …«

»Da bin ich beinhart. Außerdem habe ich noch nicht alle Bestätigungen, die ich brauche. Ich liebe dich. Du fehlst mir.« Er machte das Geräusch eines Gutenachtkusses, und nach mehrfacher Verabschiedung legten sie gleichzeitig auf — eine alte Gewohnheit.

Saul reagierte empfindlich, wenn er der Letzte in der Leitung war.

Kaye sah sich in der Küche um, nahm einen Lappen und fing an zu putzen. Auf Caddy wollte sie nicht warten. Nachdem sie mit der Ordnung zufrieden war, duschte sie, wusch sich die Haare, wickelte ein Handtuch darum, zog ihren Lieblings-Satinpyjama an und machte sich in dem Kamin oben im Schlafzimmer ein Feuer.

Dann hockte sie sich im Lotussitz auf das Fußende des Bettes, um die beruhigende Wirkung der leuchtenden Flammen und des weichen Satins zu genießen. Draußen frischte der Wind auf, und hinter den gestreiften Gardinen sah sie einen einzelnen Blitz. Das Wetter wurde unfreundlicher.

Kaye legte sich lang und zog die Daunendecke bis unter das Kinn.

»Wenigstens bemitleide ich mich selbst nicht mehr«, sagte sie mit fester Stimme. Crickson kam zu ihr und drapierte seinen flauschigen, orangefarbenen Schwanz quer über das Bett. Auch Temin kam angesprungen, allerdings mit mehr Würde. Er war ein wenig feucht und geruhte, sich mit ihrem Handtuch abrubbeln zu lassen.

Zum ersten Mal seit sie am Kazbeg gewesen war, fühlte sie sich geborgen und ausgeglichen. Armes kleines Mädchen, sagte sie vorwurfsvoll. Wartet, dass ihr Ehemann heimkommt. Wartet, dass ihr wahrer Ehemann heimkommt.

9 New York City

Mark Augustine stand am Fenster seines kleinen Hotelzimmers, einen Gute-Nacht-Bourbon mit Wasser on the Rocks in der Hand, und hörte sich Dickens Bericht an.

Augustine war ein stämmiger, tüchtiger Mann mit fröhlichen braunen Augen, einem kräftigen Kopf mit dichten grauen Haaren, einer kleinen, aber vorstehenden Nase und ausdrucksvollen Lippen. Seine Haut war von einem jahrelangen Aufenthalt in Äquatorialafrika und den Jahren in Atlanta stets sonnengebräunt, die Stimme klang sanft und melodisch. Er war energisch und fantasievoll, als Politiker ebenso begnadet wie als Direktor, und an den CDC hörte man vielfach die Ansicht, er werde als nächster Leiter des staatlichen Gesundheitswesens aufgebaut.

Als Dicken geendet hatte, setzte Augustine das Glas ab. »Sehr-r-r inter-r-r-essant«, sagte er mit einer Stimme wie Artie Johnson.

»Tolle Arbeit, Christopher.«

Christopher lächelte und wartete auf die ausführliche Beurteilung.

»Es passt zu dem meisten, was wir schon wissen. Ich habe mit der Leiterin des Gesundheitswesens gesprochen«, fuhr Augustine fort. »Sie ist der Meinung, wir sollten in kleinen Schritten an die Öffentlichkeit gehen, und zwar sehr bald. Ich denke das auch. Zuerst lassen wir den Wissenschaftlern ihren Spaß. Sie sollen es in ein romantisches Mäntelchen kleiden, Sie wissen schon, winzige Eindringlinge aus dem eigenen Körper, iiih, ist das nicht aufregend, wir wissen noch nicht, was sie anrichten. So etwas. Doel und Davison in Kalifornien können das für uns übernehmen und ihre Entdeckung umreißen. Sie haben genug Arbeit damit gehabt, da verdienen sie sicher ein bisschen Ruhm.« Augustine griff wieder nach dem Whiskyglas und schwenkte Eis und Wasser, sodass es leise klirrte. »Hat Dr. Mahy gesagt, bis wann sie Ihre Proben analysieren können?«

»Nein«, erwiderte Dicken.

Augustine lächelte mitfühlend. »Sie wären sicher lieber mit ihnen nach Atlanta geflogen.«

»Ich wäre lieber allein dorthin geflogen und hätte die Arbeit selbst erledigt«, sagte Dicken.

»Ich muss am Donnerstag nach Washington«, erklärte Augustine.

»Ich werde der Leiterin des Gesundheitswesens vor dem Kongress Schützenhilfe geben. Die NIH werden wohl auch kommen. Den HHS-Minister bringen wir noch nicht mit. Ich möchte, dass Sie dabei sind. Ich werde Francis und John sagen, sie sollen morgen ihre Pressemitteilung rausgeben. Sie ist schon seit einer Woche fertig.«

Dicken äußerte seine Anerkennung mit einem in sich gekehrten, leicht ironischen Lächeln. HHS — Health and Human Services — war das riesige Ressort der Regierung, dem die NIH (National Institutes of Health) und die CDC (Centers for Disease Control and Prevention) in Atlanta in Georgia unterstanden. »Ein gut geölter Apparat«, sagte er.

Augustine nahm es als Kompliment. »Wir kommen immer noch mit dem Hut in der Hand daher. Wir haben den Kongress mit unserer Haltung zu Tabak und Feuerwaffen geärgert, und jetzt halten uns die Idioten in Washington für eine schöne dicke Zielscheibe. Sie kürzen unseren Etat um ein Drittel, um die nächste Steuersenkung zu finanzieren. Und jetzt kommt da was ganz Großes, und zwar nicht aus Afrika oder aus dem Regenwald. Es hat nichts mit unserer niedlichen Vergewaltigung von Mutter Natur zu tun. Es ist ein Keim, und er kommt aus unserem eigenen heiligen kleinen Körper.« Augustines Lächeln wurde blutrünstig. »Es lässt mir die Haare zu Berge stehen, Dicken. Das ist ein Geschenk des Himmels. Wir müssen es im richtigen Augenblick präsentieren, mit Dramatik. Wenn wir das nicht richtig machen, besteht die Gefahr, dass in Washington keiner auf uns hört, bis wir eine ganze Generation von Babys verloren haben.«

Dicken fragte sich, wie er auf diesen fahrenden Zug aufspringen konnte. Irgendwie musste er doch seine Freilandarbeit ins rechte Licht rücken können, die ganzen Jahre, in denen er dem Ungeheuer auf der Spur gewesen war. »Ich habe über regional auftretende Mutationen nachgedacht«, bemerkte er mit trockenem Mund. Dann berichtete er, was er in der Ukraine über mutierte Babys gehört hatte, und umriss seine Theorie über die strahleninduzierte Freisetzung von HERVs.

Augustine kniff die Augen zusammen und schüttelte den Kopf.

»Die Geburtsfehler von Tschernobyl kennen wir schon. Das ist nichts Neues«, murmelte er. »Aber hier gibt es keine Strahlung.

Das läuft nicht, Christopher.« Als er das Fenster öffnete, drang der Lärm des Verkehrs, der zehn Stockwerke tiefer vorbeiströmte, stärker zu ihnen hinauf. Der Wind blähte die weißen Innengardinen.

Dicken versuchte hartnäckig, seine Argumentation zu retten, aber gleichzeitig war er sich bewusst, dass seine Beweise entsetzlich unzureichend waren. »Es besteht durchaus die Möglichkeit, dass der Herodes-Erreger nicht nur Fehlgeburten verursacht. Offensichtlich taucht er in relativ isolierten Bevölkerungsgruppen auf.

Er ist mindestens seit den Sechzigerjahren aktiv, oft hat er extreme politische Reaktionen ausgelöst. Niemand würde ein ganzes Dorf auslöschen oder Dutzende von Müttern und Vätern samt ihrer ungeborenen Kinder umbringen, nur weil irgendwo mehrere Fehlgeburten hintereinander aufgetreten sind.«

Augustine zuckte die Achseln. »Viel zu vage«, sagte er und starrte auf die Straße hinunter.

»Für eine Untersuchung reicht es«, schlug Dicken vor.

Augustine runzelte die Stirn. »Wir reden hier über ungelegte Eier, Christopher«, sagte er leise. »Wir müssen denen mit einem großen, schaurigen Gedanken kommen, nicht mit Gerüchten und Science-Fiction.«

10 Long Island, New York

Kaye hörte Schritte auf der Treppe. Sie setzte sich im Bett auf und strich sich noch rechtzeitig die Haare aus dem Gesicht, dass sie Saul sehen konnte. Auf Zehenspitzen schlich er über den Läufer ins Schlafzimmer. Er hatte ein kleines, in rotes Zellophan eingewickeltes, mit einem Band verschnürtes Paket und einen Strauß aus Rosen und Schleierkraut bei sich.

»Mist«, sagte er, als er merkte, dass sie schon wach war. Er schwenkte die Rosen schwungvoll zur Seite, beugte sich über das Bett und küsste sie. Seine Lippen öffneten sich und waren ein wenig feucht, aber überhaupt nicht zudringlich. Das war sein Signal, dass ihre Bedürfnisse an erster Stelle standen, dass er aber auch Lust hatte, große Lust. »Willkommen zu Hause. Ich habe dich vermisst, meine Kleine.«

»Danke. Es ist schön, wieder hier zu sein.«

Saul setzte sich auf die Bettkante und starrte die Rosen an. »Ich bin gut gelaunt. Mein Schatz ist zu Hause.« Er lächelte breit, schwang die Beine mit den bestrumpften Füßen auf das Bett und legte sich neben sie. Kaye roch die Rosen, eindringlich und süß, fast zu intensiv so früh am Morgen. Er überreichte ihr das Geschenk. »Für meine brillante Freundin.«

Als Kaye sich aufsetzte, faltete Saul ihr Kissen zu einem Rückenpolster zusammen. Dass sie Saul in so guter Verfassung sah, hatte auf sie die übliche Wirkung: Sie empfand Hoffnung und Freude, wieder zu Hause zu sein, näher an dem, was ihr Leben wirklich ausmachte. Unbeholfen schlang sie ihm die Arme um die Schultern und rieb sich an seinem Hals.

»Aah«, sagte er. »Jetzt mach’ die Schachtel auf.«

Sie hob die Brauen, schürzte die Lippen und zog an der Schleife.

»Womit habe ich das verdient?«, fragte sie.

»Du hast nie begriffen, welch wunderbarer Schatz du bist«, erwiderte Saul. »Vielleicht will ich dir nur sagen, dass ich dich liebe.

Vielleicht ist heute ein besonderer Tag, weil du wieder da bist.

Kann aber auch sein, dass wir noch etwas anderes feiern.«

»Was?«

»Mach’s auf!«

Plötzlich wurde ihr immer deutlicher bewusst, dass sie mehrere Wochen lang weg gewesen war. Sie zog die rote Folie beiseite und küsste langsam, den Blick auf sein Gesicht gerichtet, seine Hand.

Dann sah sie in die Schachtel.

Darin lag ein großes Medaillon, das mit dem vertrauten Brustbild eines bekannten Sprengstofffabrikanten geschmückt war. Es war ein Nobelpreis — aus Schokolade.

Kaye musste laut lachen: »Wo … hast du denn das her?«

»Stan hat mir seinen geliehen, und ich habe einen Abguss gemacht«.

»Und du willst mir nicht sagen, was eigentlich los ist?«, fragte Kaye, wobei sie mit den Fingern an seinem Schenkel spielte.

»Du musst dich noch ein Weilchen gedulden«, erwiderte Saul, legte die Rosen beiseite und zog seinen Pullover aus. Kaye knöpfte ihm das Hemd auf.


Die Vorhänge waren noch geschlossen, und die Morgensonne hatte das Zimmer erreicht. Sie lagen auf dem Bett, um sich herum die zerknüllten Laken und Decken. Kaye sah Berge in der zerwühlten Bettwäsche und ließ die Finger über einen geblümten Gipfel gleiten. Saul streckte mit ein wenig Knorpelknacken den Rücken und sog ein paar Mal tief die Luft ein. »Ich bin nicht mehr in Form«, sagte er. »Ich werde zum Schreibtischhengst. Wird Zeit, dass ich mal wieder ein paar Pipetten stemme.«

Kaye spreizte Daumen und Zeigefinger, sodass ein paar Zentimeter Abstand dazwischen lagen, und bewegte sie rhythmisch auf und ab. »Reagenzglastraining«, sagte sie.

»Rechtes Gehirn, linkes Gehirn«, entgegnete Saul, wobei er sich an die Schläfen griff und den Kopf von einer Seite zur anderen neigte. »Du hast drei Wochen Internet-Witze versäumt.«

»Wie schrecklich«, sagte Kaye.

»Frühstück!«, rief Saul und schwang die Beine aus dem Bett.

»Unten im Wohnzimmer, frisch, muss nur aufgebacken werden.«

Kaye folgte ihm im Morgenmantel. Saul ist wieder da, redete sie sich ein. Mein guter Saul ist wieder da.

Er hatte an der Ecke beim Laden angehalten und Croissants mit Schinken-Käse-Füllung mitgebracht. Jetzt stellte er die Teller zwischen Kaffeetassen und Orangensaftgläsern auf dem kleinen Tisch hinter dem Haus ab. Die Terrasse war sonnenüberstrahlt, nach dem nächtlichen Gewitter war die Luft klar und wärmte angenehm. Es würde ein herrlicher Tag werden.

Mit jeder Stunde bei ihrem guten Saul schwand für Kaye die Verlockung der Berge. Sie brauchte nicht wegzugehen. Saul plauderte über die Geschehnisse bei EcoBacter, über seine Reise nach Kalifornien und Utah und dann nach Philadelphia, wo er bei ihren Kunden und Partnerfirmen Gespräche geführt hatte. »Unser Sachbearbeiter bei der FDA hat vier neue präklinische Tests in Auftrag gegeben«, sagte er sarkastisch. »Aber zumindest haben wir ihnen gezeigt, dass man feindliche Bakterien zur Konkurrenz um Ressourcen veranlassen und damit zwingen kann, chemische Waffen zu produzieren. Wir haben nachgewiesen, dass wir die Bacteriocine isolieren, reinigen und sowohl in großen Mengen als auch in abgeschwächter Form produzieren können — und dass sie sich dann wieder aktivieren lassen. Ungefährlich bei Ratten, ungefährlich bei Hamstern und Grünen Meerkatzen, wirksam gegen drei resistente Stämme von üblen Krankheitserregern. Wir sind Merck und Aventis so weit voraus, dass die uns nicht mehr in die Suppe spucken können.«

Bacteriocine sind chemische Substanzen, die von Bakterien produziert werden und andere Bakterien abtöten. Im rapide schwindenden Arsenal wirksamer Antibiotika stellen sie eine viel versprechende neue Waffe dar.

Kaye hörte begeistert zu. Die versprochenen Neuigkeiten hatte er ihr noch nicht erzählt; er bereitete den entscheidenden Augenblick auf seine eigene Weise vor und ließ sich dafür genüsslich viel Zeit. Kaye kannte die Masche und gönnte ihm nicht das Vergnügen, neugierig zu erscheinen.

»Aber damit nicht genug!«, fuhr er mit leuchtenden Augen fort, »Mkebe behauptet außerdem, dass wir bald einen Weg finden werden, um bei Staphylococcus aureus das ganze Befehls-, Kontroll- und Kommunikationssystem zuzukleistern. Wir greifen die kleinen Viecher aus drei Richtungen gleichzeitig an. Bum!« Er zog seine beredten Hände zurück und schlang sich wie ein zufriedener kleiner Junge die Arme um die Brust. Aber plötzlich schwang seine Stimmung um.

»So«, sagte er, und sein Gesicht wurde plötzlich ausdruckslos.

»Jetzt erzähl mir ohne Umschweife von Lado und dem Eliava-Institut.«

Einen Augenblick lang starrte Kaye ihn so bohrend an, dass ihr fast die Augen brannten. Dann senkte sie den Blick und sagte:

»Ich glaube, sie haben sich für die Zusammenarbeit mit jemand anderem entschieden.«

»Mit Mr. Bristol Myers-Squibb«, ergänzte Saul und machte eine wegwerfende Handbewegung. »Verknöcherte Firmenhierarchie gegen junges Blut. Die machen einen Riesenfehler.« Er ließ den Blick über den Garten zur Bucht schweifen und blinzelte in Richtung der Segelboote, die in der Morgenbrise den Schaumkronen der Wellen auswichen. Dann trank er den Orangensaft aus und schmatzte dramatisch. Er wand sich regelrecht auf dem Stuhl, beugte sich nach vorn, fixierte sie mit seinen tiefgründigen grauen Augen und griff nach ihren Händen.

Jetzt kommt’s, dachte Kaye.

»Sie werden es bereuen. Wir werden in den nächsten Monaten viel zu tun haben. Die CDC haben gerade heute morgen die Nachricht veröffentlicht. Sie haben bestätigt, dass das erste lebensfähige endogene menschliche Retrovirus existiert. Sie haben nachgewiesen, dass es horizontal zwischen Menschen übertragen werden kann. Sie nennen es Scattered Human Endogenous Retrovirus Activation oder kurz SHERVA. Das R haben sie aus dramaturgischen Gründen weggelassen, dann wird daraus SHEVA. Guter Name für ein Virus, findest du nicht?«

Kaye sah ihn forschend an. »Im Ernst?«, fragte sie. »Es ist wirklich bestätigt?«

Saul grinste und breitete die Arme aus wie Mose. »Völlig. Die Wissenschaft rückt jetzt ins gelobte Land vor.«

»Was ist es? Wie wichtig ist die Sache?«

»Es ist ein Retrovirus, ein richtiges Monster, zweiundachtzig Kilobasen, dreißig Gene. Seine gag- und pol-Bestandteile liegen auf dem Chromosom 14, und env ist auf 17 angesiedelt. Die CDC sagen, es könne ein schwacher Krankheitserreger sein, und Menschen haben dagegen nur geringe oder gar keine Abwehrkräfte.

Deshalb konnte es sich so lange versteckt halten.«

Er legte seine Hand auf die ihre und drückte sie sanft. »Du hast es vorhergesagt, Kaye. Du hast die Gene beschrieben. Genau auf deinen Hauptkandidaten, ein zerstückeltes HERV-3, zielen sie ab, und sie nennen deinen Namen. Sie haben deine Artikel zitiert.«

»Wow«, sagte Kaye und erbleichte. Sie beugte sich über ihren Teller; in ihren Schläfen pochte das Blut.

»Alles in Ordnung?«

»Mir geht’s gut«, sagte sie benommen.

»Genießen wir unser Privatleben, solange wir es noch können«, sagte Saul triumphierend. »Demnächst werden sämtliche Wissenschaftsjournalisten hier anrufen. Ich gebe ihnen zwei Minuten, damit sie ihre Adresskarteien durchsuchen und bei MedLine recherchieren können. Du wirst im Fernsehen auftreten, bei CNN, bei Good Morning America.«

Kaye konnte einfach nicht glauben, dass die Ereignisse eine solche Wendung genommen hatten. »Was für eine Krankheit verursacht es?«, konnte sie gerade noch fragen.

»Das weiß offenbar noch niemand so genau.«

In Kayes Geist überschlugen sich die Möglichkeiten. Wenn sie Lado im Institut anrief, wenn sie es Tamara und Zamphyra erzählte, dann würden sie es sich womöglich anders überlegen und sich mit EcoBacter zusammentun. Und Saul würde auch weiterhin der gute Saul bleiben, ein fröhlicher, produktiver Mensch.

»Du lieber Gott, da sind wir ja irrsinnig aktuell«, sagte Kaye, immer noch ein wenig verwirrt. Sie hob die Finger, la di da.

»Du bist aktuell, mein Schatz. Es ist deine Arbeit, und irrsinnig ist die bestimmt nicht.«

In der Küche klingelte das Telefon.

»Das wird die schwedische Akademie sein«, sagte Saul mit weisem Nicken. Er hielt das Medaillon in die Höhe, und Kaye biss ein Stück davon ab.

»Quatsch!«, sagte sie fröhlich und stand auf, um den Anruf entgegenzunehmen.

11 Innsbruck

Aufgrund seines neu erworbenen Bekanntheitsgrades, so zwielichtig sein Ruf auch sein mochte, hatte Mitch im Krankenhaus inzwischen ein Einzelzimmer erhalten. Ihm war es durchaus recht, den Bergsteigern zu entrinnen — allerdings scherte sich kaum jemand darum, wie er sich fühlte oder was er selbst dachte.

In den letzten beiden Tagen hatte ihn eine fast vollständige emotionale Lähmung befallen. Er sah sein Bild in den Fernsehnachrichten, auf BBC und Sky World ebenso wie in der Lokalzeitung, und das bewies, was er bereits wusste: Es war vorbei. Er war erledigt.

Einer Züricher Zeitung zufolge war er »der einzige Überlebende einer Bergexpedition von Grabräubern«. In München wurde er als »Kidnapper des VorzeitEisbabys« bezeichnet, und in Innsbruck hieß er einfach »Wissenschaftler und Dieb«. Alle gaben seine absurde Geschichte von den NeandertalerMumien wieder, die von der dienstbeflissenen Innsbrucker Polizei bekannt gemacht worden war. Und alle berichteten, er habe »im Nordwesten der USA Indianerknochen gestohlen«.

Allgemein beschrieb man ihn als verrückten Amerikaner, der eine Pechsträhne hatte und unbedingt Publicity brauchte.

Das Eisbaby hatte man der Universität Innsbruck übergeben, und dort wurde es von einer Arbeitsgruppe unter Leitung des Herrn Professor Doktor Emiliano Luria untersucht. Luria selbst würde im Laufe des Nachmittags erscheinen, um sich mit Mitch über den Fund zu unterhalten.

Solange Mitch über Informationen verfügte, die sie brauchten, war er noch mit von der Partie — als eine Art Wissenschaftler, Forscher, Anthropologe. Er war mehr als ein Dieb. Die größere, tiefere Leere würde erst kommen, wenn er nicht mehr nützlich war.

Er starrte gerade mit ausdruckslosem Blick die Wand an, als eine ältere ehrenamtliche Krankenhausmitarbeiterin kam und ihm auf einem Servierwagen das Mittagessen brachte. Sie war eine fröhliche, zwergenhafte Frau, etwa einen Meter fünfzig groß, über siebzig, mit einem weisen Runzelgesicht. Ihr Deutsch kam schnell und mit Wiener Dialekt. Mitch verstand kaum etwas.

Die Frau faltete seine Serviette auseinander und steckte eine Ecke in seinen Schlafanzug. Dann presste sie die Lippen zusammen, lehnte sich zurück und sah ihn prüfend an. »Essen Sie«, riet sie ihm. Sie runzelte die Stirn und fügte hinzu: »Dummer junger Amerikaner, wie? Mir ist egal, wer Sie sind. Essen Sie, sonst werden Sie noch kränker.«

Mitch griff nach der Plastikgabel, hob sie kurz in ihre Richtung und fing an, Huhn und Kartoffelpüree vom Teller zu nehmen.

Bevor die alte Frau ihn verließ, schaltete sie den Fernseher ein, der gegenüber dem Bett an der Wand hing. »Viel zu ruhig hier«, sagte sie und bewegte die Hand in seiner Richtung hin und her, als wollte sie ihm aus der Entfernung eine tadelnde Ohrfeige geben.

Dann schob sie den Servierwagen durch die Tür.

Der Fernseher war auf Sky News eingestellt. Als erstes kam ein Bericht über die endgültige, jahrelang hinausgezögerte Zerstörung eines großen militärischen Satelliten. Die letzten feurigen Minuten des künstlichen Himmelskörpers hatte man auf der Insel Sachalin in spektakulären Aufnahmen eingefangen. Mitch starrte auf die Teleobjektivbilder des taumelnden, Funken sprühenden Feuerballes. Veraltet, nutzlos, in Flammen aufgegangen.

Er griff nach der Fernbedienung und wollte das Gerät gerade abschalten, da erschien das Bild einer attraktiven jungen Frau mit kurzen dunklen Haaren, Ponyfrisur und großen Augen als Hintergrund zu einem Bericht über eine wichtige biologische Entdeckung in den Vereinigten Staaten.

»Eine Virusvorstufe, die wie ein blinder Passagier seit Jahrmillionen in der DNA der Menschen lauert, wurde mit einer neuen Art der Grippe in Verbindung gebracht, an der nur Frauen erkranken«, begann der Sprecher. »Der Molekularbiologin Dr. Kaye Lang aus Long Island im Staat New York kommt das Verdienst zu, diesen unglaublichen Eindringling aus der Vergangenheit der Menschen vorhergesehen zu haben. Wir schalten jetzt zu Michael Hertz auf Long Island.«

Hertz war voller höflichem Respekt, als er sich vor dem Hintergrund eines großen, modisch grünweißen Hauses mit der jungen Frau unterhielt. Lang wirkte der Kamera gegenüber misstrauisch.

»Wir haben von den Centers for Disease Control und jetzt auch von den National Institutes of Health gehört, dass die neue Art der Grippe in San Francisco und Chicago eindeutig nachgewiesen wurde und dass der gleiche Nachweis auch in Los Angeles unmittelbar bevorsteht. Glauben Sie, dass es die größte Grippeepidemie seit 1918 werden könnte?«

Lang blinzelte nervös in die Kamera. »Zunächst einmal ist es eigentlich keine Grippe. Der Erreger ähnelt keinem Influenzavirus und übrigens auch keinem anderen Virus, das mit Erkältung oder grippalen Erkrankungen in Verbindung gebracht wird. … Er ist ganz anders. Vor allem ruft er die Symptome offenbar ausschließlich bei Frauen hervor.«

»Können Sie dieses neue, oder vielmehr sehr alte Virus genauer beschreiben?«, fragte Hertz.

»Es ist groß, etwa achtzig Kilobasen, das heißt …«

»Genauer gefragt, was für Symptome verursacht es?«

»Es ist ein Retrovirus. Es vermehrt sich, indem es sein genetisches Material, seine RNA, in DNA umschreibt und dann in die DNA der Wirtszelle einbaut. Wie HIV. Es scheint spezifisch für den Menschen zu sein.«

Die Augenbrauen des Reporters schossen in die Höhe. »Ist es so gefährlich wie das AIDS-Virus?«

»Ich habe keine Anhaltspunkte dafür, dass es gefährlich ist. Wir tragen es seit Jahrmillionen in unserer DNA; in dieser Hinsicht hat es also keinerlei Gemeinsamkeiten mit dem HIVRetrovirus.«

»Woran können unsere Zuschauerinnen erkennen, ob sie sich diese Grippe zugezogen haben?«

»Die Symptome wurden von den CDC beschrieben, und ich weiß nicht mehr als das, was dort bekannt gegeben wurde. Leichtes Fieber, Halsschmerzen, Husten.«

»Das trifft auch auf hundert andere Viren zu.«

»Stimmt«, sagte Lang und lächelte. Mitch studierte ihr Gesicht, ihr Lächeln und war wie vor den Kopf gestoßen. »Ich kann nur raten, die Sache im Auge zu behalten.«

»Was ist dann so bedeutsam an diesem Virus, wenn man nicht daran stirbt und wenn es nur so leichte Symptome verursacht?«

»Es ist das erste Mal, dass ein HERV — ein humanes endogenes Retrovirus — aktiv wird, sich aus den menschlichen Chromosomen befreit und horizontal übertragen wird.«

»Horizontal übertragen — was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass es ansteckend ist. Es kann von einem Menschen auf den anderen übergehen. Jahrmillionen lang wurde es nur vertikal übertragen — über die Gene der Eltern auf die Kinder.«

»Gibt es in unseren Zellen noch andere alte Viren?«

»Nach den neuesten Schätzungen könnte bis zu einem Drittel unseres Genoms aus endogenen Retroviren bestehen. Manchmal bilden sie Partikel in den Zellen, als wollten sie wieder ausbrechen, aber solche Partikel sind immer wirkungslos geblieben — bis jetzt.«

»Könnte man sagen, dass diese übrig gebliebenen Viren schon vor langer Zeit zerstört oder unschädlich gemacht wurden?«

»Die Sache ist kompliziert, aber so kann man es ausdrücken.«

»Wie sind sie in unsere Gene gelangt?«

»Irgendwann in unserer Vergangenheit hat ein Virus die Keimbahnzellen infiziert, also Geschlechtszellen wie Ei- oder Samenzelle. Welche Symptome die Infektion damals hervorgerufen hat, wissen wir nicht. Irgendwie wurde das Provirus, der in unserer DNA versteckte Bauplan des Virus, im Laufe der Zeit zerstückelt, verändert oder ganz einfach zum Schweigen gebracht. Solche Abschnitte von RetrovirusDNA sind heute angeblich nur noch Trümmer. Aber vor drei Jahren habe ich die Vermutung geäußert, ProvirusFragmente in verschiedenen Chromosomen des Menschen könnten alle Teile eines aktiven Retrovirus erzeugen. Und wenn alle erforderlichen Protein- und RNAMoleküle in der Zelle herumschwimmen, könnten sie sich zu vollständigen, infektiösen Viruspartikeln zusammenlagern.«

»Und das hat sich als richtig erwiesen. Kühne wissenschaftliche Spekulationen, die der Erkenntnis von Tatsachen voraus sind …«

Was der Reporter sagte, bekam Mitch kaum mit. Er konzentrierte sich auf Langs Augen: Sie waren groß und immer noch misstrauisch, aber ihnen entging nichts. Sehr kühn. Die Augen einer Frau, die bestimmt schon einiges durchgestanden hatte.

Er schaltete den Fernseher aus und drehte sich im Bett auf die andere Seite, um zu schlafen und zu vergessen. Sein Bein schmerzte in dem langen Gipsverband.

Kaye Lang war im Begriff, sich ihre Lorbeeren zu verdienen, eine wichtige Runde im großen Spiel der Wissenschaft für sich zu entscheiden. Mitch dagegen hatte schon den kompletten Lorbeerkranz in der Hand gehabt … aber er war schlecht damit umgegangen, hatte ihn aus den Fingern gleiten lassen und für immer verloren.


Eine Stunde später weckte ihn energisches Klopfen an der Tür.

»Herein«, sagte er und räusperte sich.

Ein Pfleger in gestärktem Grün kam herein, begleitet von zwei Männern und einer Frau, alle nicht mehr ganz jung, alle konservativ gekleidet. Sie sahen sich im Zimmer um, als wollten sie mögliche Fluchtwege ausfindig machen. Der kleinste der beiden Männer trat einen Schritt vor, streckte die Hand aus und stellte sich vor.

»Ich bin Emiliano Luria vom Institut für Anthropologie«, sagte er. »Das hier sind meine Kollegen von der Universität Innsbruck, Herr Professor Friedrich Brock …«

Die Namen vergaß Mitch fast sofort wieder. Der Pfleger brachte zwei weitere Stühle aus dem Flur und stellte sich dann in Habachtstellung neben die Tür, wobei er die Arme verschränkte und die Nase wie ein Palastwächter hob.

Luria drehte die Lehne seines Stuhles nach vorn und setzte sich dann darauf. Seine dicken runden Brillengläser blitzten in dem grauen Licht, das durch die Fenstervorhänge drang. Er fixierte Mitch, ließ ein leises hm hören und starrte dann den Pfleger an.

»Wir kommen allein zurecht«, erklärte er. »Bitte gehen Sie. Es werden keine Geschichten an die Zeitungen verkauft, und es wird auf den Gletschern keine blöde Moorhuhnjagd nach Leichen geben.«

Der Pfleger nickte freundlich und verließ das Zimmer.

Dann bat Luria die Frau — sie war in mittleren Jahren, hager, mit strengem, energischem Gesicht und üppigen, zu einem Knoten gebundenen Haaren —, sie solle nachsehen, ob der Pfleger nicht lauschte. Sie ging zur Tür und spähte hinaus.

»Inspektor Haas aus Wien hat mir versichert, dass die Angelegenheit ihn nicht mehr interessiert«, sagte Luria zu Mitch, nachdem diese Formalitäten erledigt waren. »Es ist also eine Sache zwischen Ihnen und uns, und wenn wir irgendwelche Grenzen passieren müssen, werde ich mit den Italienern und Schweizern zusammenarbeiten.« Er zog eine große, zusammengefaltete Landkarte aus der Tasche, und Dr. Block oder Brock oder wie er auch heißen mochte, hielt Mitch eine Kiste mit mehreren Bildbänden über die Alpen hin.

»So, junger Mann«, sagte Luria, dessen Augen hinter den dicken Gläsern verschwammen, »jetzt können Sie uns helfen, den Schaden zu reparieren, den Sie am Gewebe der Wissenschaft angerichtet haben. Die Berge, in denen Sie gefunden wurden, sind uns nicht unbekannt. Nur einen Gebirgszug weiter wurde der richtige Eismensch gefunden. Seit Jahrtausenden gibt es dort ziemlich viel Verkehr, einen Handelsweg vielleicht oder Pfade für die Jäger.«

»Ich glaube nicht, dass sie sich auf einem Handelsweg befanden«, bemerkte Mitch. »Ich glaube eher, sie sind weggelaufen.«

Luria blickte auf seine Notizen. Die Frau rückte näher ans Bett.

»Zwei Erwachsene, in sehr gutem Zustand, abgesehen davon, dass die Frau am Bauch eine Art Verletzung hatte.«

»Eine Wunde von einem Speer«, sagte Mitch. Einen Augenblick lang herrschte Schweigen im Zimmer.

»Ich habe mit ein paar Leuten telefoniert, die Sie kennen. Ich habe gehört, Ihr Vater wolle kommen und Sie aus dem Krankenhaus holen, und ich habe auch mit ihrer Mutter gesprochen.«

»Bitte kommen Sie zur Sache, Professor«, sagte Mitch.

Luria hob die Augenbrauen und kramte in seinen Papieren.

»Man hat mir gesagt, Sie seien ein sehr guter Wissenschaftler, gewissenhaft, ein Experte für die Planung und Durchführung heikler Grabungsprojekte. Sie haben das Skelett gefunden, das als Pasco-Menschen bekannt ist. Als die amerikanischen Ureinwohner protestierten und ihn als einen ihrer Vorfahren für sich beanspruchten, haben Sie die Knochen von der Fundstelle entfernt.«

»Um sie zu schützen. Sie waren an einer Böschung ausgewaschen worden und lagen am Flussufer. Die Indianer wollten sie wieder in der Erde vergraben. Die Knochen waren für die Wissenschaft von großer Bedeutung. Ich konnte das nicht zulassen.«

Luria beugte sich nach vorn. »Ich glaube, der Pasco-Menschen ist an einer infizierten Speerwunde im Oberschenkel gestorben, oder?«

»Möglicherweise«, erwiderte Mitch.

»Sie haben eine Nase für Vorzeittragödien«, sagte Luria und kratzte sich mit einem Finger am Ohr.

»Das Leben damals war ganz schön hart.«

Luria nickte zustimmend. »Wenn wir hier in Europa ein Skelett finden, gibt es solche Probleme nicht.« Er lächelte seinen Kollegen zu. »Wir haben keinen Respekt vor unseren Toten — sie werden ausgegraben und ausgestellt, und die Touristen zahlen Eintritt, um sie zu sehen. Was Sie getan haben, ist also für uns nicht unbedingt ein großer Makel, aber offensichtlich war es das Ende der Beziehung zu Ihrem Arbeitgeber.«

»Politische Korrektheit«, sagte Mitch. Er bemühte sich, keine Verbitterung anklingen zu lassen.

»Möglicherweise. Ich bin durchaus bereit, einem Mann mit Ihrer Erfahrung zuzuhören — aber, Doktor Rafelson, zu unserem Bedauern haben Sie etwas sehr Unwahrscheinliches erzählt.« Luria deutete mit seinem Kugelschreiber auf Mitch. »Welcher Teil Ihrer Geschichte ist gelogen, und welcher ist die Wahrheit?«

»Warum sollte ich lügen?«, fragte Mitch. »Mein Leben ist doch ohnehin schon verpfuscht.«

»Vielleicht um wissenschaftlich einen Fuß in der Tür zu behalten? Um nicht so schnell aus dem Haus der Anthropologie ausgesperrt zu sein?«

Mitch lächelte wehmütig. »Das würde ich vielleicht sogar tun«, sagte er, »aber dann würde ich mir nicht eine so verrückte Geschichte ausdenken. Der Mann und die Frau in der Höhle hatten eindeutig die Merkmale von Neandertalern.«

»Auf welche Kriterien stützen Sie diese Einordnung?«, fragte Brock, der sich damit zum ersten Mal in das Gespräch einmischte.

»Dr. Brock ist Experte für Neandertaler«, sagte Luria respektvoll.

Mitch beschrieb die Leichen langsam und ausführlich. Wenn er die Augen schloss, konnte er sie vor sich sehen, als schwebten sie über dem Bett.

»Ihnen ist sicher bewusst, dass die einzelnen Wissenschaftler bei der Beschreibung der so genannten Neandertaler unterschiedliche Kriterien verwenden«, sagte Brock. »Früh, mittel, spät, aus verschiedenen Regionen, grazil oder robust, vielleicht verschiedene Rassengruppen innerhalb der Subspezies. Manchmal sind die Abgrenzungen so geartet, dass ein Beobachter in die Irre gehen kann.«

»Es waren keine Homo sapiens sapiens.« Mitch goss sich Wasser ein und bot auch den anderen ein Glas an. Luria und die Frau nahmen an. Brock schüttelte den Kopf.

»Nun ja, wenn sie wirklich gefunden werden, können wir die Sache ohne weiteres aufklären. Ich bin neugierig, wie Ihre zeitliche Einteilung für die Evolution des Menschen aussieht …«

»Da bin ich nicht dogmatisch«, erwiderte Mitch.

Luria wiegte den Kopf — comme ci, comme ça — und steckte ein paar Seiten mit Notizen weg. »Clara, gib mir doch bitte das große Buch da. Ich habe ein paar Fotos und Karten angestrichen — an den Stellen könnten Sie gewesen sein, bevor Sie gefunden wurden.

Kommt Ihnen irgendetwas davon bekannt vor?«

Mitch nahm das Buch und schlug es auf der Bettdecke unbeholfen auf. Die Bilder waren bunt, scharf und wunderschön. Die meisten waren am helllichten Tag bei blauem Himmel aufgenommen worden. Er sah sich die markierten Seiten an und schüttelte den Kopf. »Hier ist nirgendwo ein gefrorener Wasserfall.«

»Kein einziger Bergführer kennt in der Nähe der Gletschernadel oder überhaupt auf der Hauptmasse des Gletschers einen gefrorenen Wasserfall. Vielleicht können Sie uns einen anderen Anhaltspunkt nennen …«

Mitch schüttelte den Kopf. »Ich würde sehr gerne, wenn ich könnte, Professor.«

Luria faltete energisch seine Papiere zusammen. »Ich glaube, Sie sind ein ehrlicher junger Mann und vielleicht auch ein guter Wissenschaftler. Ich werde Ihnen etwas sagen, wenn Sie darüber nicht mit den Zeitungen oder dem Fernsehen sprechen. Einverstanden?«

»Ich habe keinen Anlass, mit denen zu sprechen.«

»Das Baby wurde tot oder schwer verletzt geboren. Sie hat einen Bruch am Hinterkopf, vielleicht von einem Schlag mit einem im Feuer gehärteten spitzen Stab.«

Sie. Der Säugling war ein Mädchen. Aus irgendeinem Grund war Mitch darüber tief erschüttert. Er nahm noch einen Schluck Wasser. Alle Gefühle in seiner augenblicklichen Lage, der Tod von Tilde und Franco … die traurigen Umstände dieser ganzen Vorzeitgeschichte. Seine Augen wurden feucht und drohten überzufließen. »Entschuldigung«, sagte er und tupfte sich die Tränen mit dem Schlafanzugärmel ab.

Luria sah ihn mitfühlend an. »Das verleiht Ihrer Geschichte doch eine gewisse Glaubwürdigkeit, oder? Aber …« Der Professor hob die Hand, zeigte zur Decke und machte eine kleine, stoßende Bewegung: »Schwer zu glauben ist sie dennoch.«

»Der Säugling ist eindeutig kein Homo sapiens neanderthalensis«, sagte Brock. »Sie hat interessante Merkmale, ist aber in jeder Hinsicht ein Jetztmensch. Allerdings sieht sie nicht sonderlich europäisch aus. Eher anatolisch oder sogar türkisch, aber das ist im Augenblick nur eine Mutmaßung. Und ich kenne kein derartiges Exemplar, das so jung ist. Es wäre unglaublich.«

»Ich muss es geträumt haben«, sagte Mitch und blickte beiseite.

Luria zuckte die Achseln. »Wenn Sie wieder gesund sind, wären Sie dann bereit, mit uns auf den Gletscher zu gehen und selbst nach der Höhle zu suchen?«

Mitch zögerte keinen Augenblick. »Natürlich«, erwiderte er.

»Ich werde versuchen, es einzurichten. Aber erst einmal …« Luria sah Mitchs Bein an.

»Mindestens vier Monate«, sagte er.

»Keine gute Zeit zum Klettern, in vier Monaten. Dann also nächstes Jahr im Spätfrühling.« Luria stand auf. Die Frau namens Clara stellte Lurias Glas und ihr eigenes auf Mitchs Tablett ab.

»Danke«, sagte Brock. »Ich hoffe, Sie haben Recht, Dr. Rafelson. Es wäre ein großartiger Fund.«

Mit einer angedeuteten, höflichen Verbeugung verließen sie das Zimmer.

12 Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta September

»Jungfrauen bekommen unsere Grippe nicht«, sagte Dicken und blickte von den Papieren und Diagrammen auf seinem Schreibtisch auf. »Wollten Sie mir das erzählen?« Er hob die schwarzen Augenbrauen, sodass seine breite Stirn zu einem Waschbrett voller zweifelnder Furchen wurde.

Jane Salter griff noch einmal nach den Papieren, schob sie zusammen und legte sie nervös, gleichzeitig aber mit energischer Endgültigkeit auf den Tisch. Die Betonwände seines Kellerbüros verstärkten das Rascheln noch.

Viele Büros im Trakt 1 der Centers for Disease Control and Prevention waren umgebaute Versuchstierlabors und -ställe. An den Wänden liefen Betonvorsprünge entlang. Manchmal hatte Dicken das Gefühl, als könne er noch die Desinfektionsmittel und Affenscheiße riechen.

»Das ist die größte Überraschung, die ich aus den Daten ableiten kann«, bestätigte Salter. Sie war eine der besten Statistikerinnen im Haus und ging virtuos mit den verschiedenen Computern um, auf denen sie die meisten Rekonstruktionen vornahm, Modelle entwickelte und Daten verwaltete. »Männer bekommen sie manchmal oder sind im Test positiv, haben aber keine Symptome.

Sie werden Überträger für die Frauen, vermutlich aber nicht für andere Männer. Und …«, ihre Finger erzeugten einen Trommelwirbel auf der Tischplatte, »… wir kennen niemanden, der sich selbst infiziert.«

»SHEVA ist also ein Spezialist«, sagte Dicken und schüttelte den Kopf. »Woher, zum Teufel, wissen wir das?«

»Sehen Sie sich die Fußnote und die Formulierung an. ›Frauen in häuslicher Gemeinschaft mit einem Partner oder solche mit umfangreichen sexuellen Erfahrungen.‹«

»Wie viele Fälle bisher? Fünftausend?«

»Sechstausendzweihundert Frauen und nur etwa sechzig oder siebzig Männer, alles Partner von infizierten Frauen. Das Retrovirus wird nur bei häufig wiederholtem Kontakt übertragen.«

»Klingt gar nicht so verrückt«, sagte Dicken. »Dann ist es nicht viel anders als bei HIV.«

»Richtig«, sagte Salter, und ihre Mundwinkel zuckten. »Gott hat die Frauen auf dem Kieker. Die Infektion beginnt in Nasenhöhlenund Bronchienschleimhaut, setzt sich mit einer leichten Entzündung der Lungenbläschen fort, geht dann ins Blut über — leichte Entzündung der Eierstöcke … und dann ist sie weg. Schmerzen, ein bisschen Husten, Bauchweh. Und wenn die Frau schwanger wird, hat sie mit großer Wahrscheinlichkeit eine Fehlgeburt.«

»Das müsste Mark eigentlich gut verkaufen können«, sagte Dicken. »Aber stärken wir ihm noch ein wenig den Rücken — er muss eine zuverlässigere Wählergruppe ängstigen als nur junge Frauen. Wie steht es mit der Gruppe der Älteren?«

»Ältere Frauen bekommen es nicht. Niemand, der jünger als vierzehn oder älter als sechzig ist. Sehen Sie sich die Altersverteilung an.« Sie beugte sich nach vorn und zeigte auf ein Tortendiagramm. »Durchschnittsalter einunddreißig.«

»Es ist schon verrückt. Mark verlangt, dass ich bis vier Uhr heute Nachmittag einen Sinn in allem finde und die Argumente der Leiterin des Gesundheitswesens unterstütze.«

»Schon wieder eine Besprechung?«

»Mit dem Stabschef und dem wissenschaftlichen Berater. Das Ganze ist gut, es ist beängstigend, aber ich kenne Mark. Gehen Sie noch einmal die Berichte durch — vielleicht finden wir ein paar tausend geriatrische Todesfälle in Zaire.«

»Verlangen Sie von mir, dass ich die Aufzeichnungen frisiere?«

Dicken grinste verschlagen.

»Dann stecken Sie sich den Gedanken sonstwo hin, Sir«, sagte sie sanft und mit schief gelegtem Kopf. »Andere Statistiken aus Georgien haben wir nicht. Vielleicht können Sie ja in Tiflis anrufen«, schlug sie vor. »Oder in Istanbul.«

»Die sind verschlossen wie die Austern«, erwiderte Dicken. »Ich konnte ihnen ja noch nie viel aus der Nase ziehen. Außerdem geben sie bis jetzt nicht einmal zu, dass sie solche Fälle haben.« Er blickte Salter an.

Ihre Nase legte sich in Falten.

»Bitte, nur ein einziger älterer Passagier aus Tiflis, der im Flugzeug zusammengesackt ist«, schlug er vor.

Salter brach in lautes Gelächter aus. Sie nahm die Brille ab, putzte die Gläser und setzte sie wieder auf. »Es ist alles andere als lustig. Die Diagramme sehen ernst aus.«

»Mark will, dass das Drama sich langsam entfaltet. Er spielt damit wie ein Schwertfisch mit der Angel.«

»Ich habe nicht viel Ahnung von Politik.«

»Ich tue zwar so, als hätte ich keine Ahnung«, sagte Dick, »aber je länger ich mich hier herumtreibe, desto mehr schwant mir.«

Salter sah sich in dem kleinen Zimmer um, als könne es über ihr zusammenbrechen. »Sind wir fertig, Christopher?«

Dicken grinste. »Kommt die Platzangst hoch?«

»Es liegt an diesem Zimmer«, erwiderte Salter. »Hören Sie es nicht?« Sie beugte sich mit geheimnisvollem Blick über den Schreibtisch. Dicken wusste nicht immer genau, ob sie es ernst meinte oder Spaß machte. »Wie die Affen schreien?.«

»Ja«, sagte Dicken, ohne eine Miene zu verziehen. »Ich will so lange wie möglich in der Branche bleiben.«


In der Vorstandsetage im Gebäude 4 sah Augustine sich rasch die statistischen Befunde an. Er blätterte die zwanzig Seiten mit Zahlen und Computerdiagrammen durch und warf sie dann auf den Schreibtisch. »Alles sehr beruhigend«, erklärte er. »Wenn wir so weitermachen, sind wir Ende des Jahres arbeitslos. Wir wissen noch nicht einmal, ob SHEVA bei allen schwangeren Frauen eine Fehlgeburt auslöst, oder ob es nur ein schwaches Teratogen ist. Du lieber Gott. Ich dachte, es wäre der große Knaller, Christopher.«

»Es ist gut. Es ist beängstigend, und es ist mittlerweile öffentlich bekannt.«

»Sie unterschätzen den Hass der Republikaner auf die CDC«, sagte Augustine. »Die National Rifle Association hasst uns. Die Tabakkonzerne hassen uns, weil wir in ihrem Hinterhof wühlen.

Haben Sie diese blöde Werbetafel da draußen an der Autobahn gesehen? Und am Flughafen? ›Endlich eine, die man gerne küsst.‹

Welche Marke war es — Camel? Marlboro?«

Dicken lachte und schüttelte den Kopf.

»Die Leiterin des Gesundheitswesens begibt sich direkt in die Höhle des Löwen. Sie ist nicht besonders zufrieden mit mir, Christopher.«

»Es gibt immer noch die Befunde, die ich aus der Türkei mitgebracht habe«, erwiderte Dicken.

Augustine streckte die Hände in die Höhe, lehnte sich in seinem Stuhl nach hinten und griff nach der Tischkante. »Ein Krankenhaus. Fünf Fehlgeburten.«

»Fünf bei fünf Schwangerschaften, Sir.«

Augustine beugte sich vor. »Sie sind in die Türkei geflogen, weil Ihre Kontaktperson gesagt hat, sie hätten ein Virus, das Fehlgeburten verursacht. Aber warum Georgien?«

»In Tiflis gab es vor fünf Jahren eine Häufung von Fehlgeburten. Ich konnte dort keine Informationen beschaffen, nichts Offizielles. Nur mit einem Leichenbestatter bin ich einen trinken gegangen — inoffiziell. Er hat mir erzählt, dass es ungefähr zur gleichen Zeit auch in Gordi viele Fehlgeburten gab.«

Diesen Teil der Geschichte kannte Augustine noch nicht. Dicken hatte in seinem Bericht nichts davon erwähnt. »Weiter«, forderte er mit mäßigem Interesse.

»Es gab irgendwie Schwierigkeiten, da wollte er nicht so richtig mit der Sprache raus. Also bin ich nach Gordi gefahren, aber die Stadt war von der Polizei abgeriegelt. Ich habe in ein paar Läden an der Straße herumgefragt und etwas von einer UNUntersuchung mit russischer Beteiligung gehört. Daraufhin habe ich die UN angerufen, und die haben mir gesagt, sie hätten eine Amerikanerin um Hilfe gebeten.«

»Das war …«

»Kaye Lang.«

»Du liebe Güte«, bemerkte Augustine und presste die Lippen zu einem dünnen Lächeln zusammen. »Die Heldin des Tages. Sie kennen ihre Arbeiten über HERV?«

»Natürlich.«

»Sie … Sie glauben also, jemand von den UN war einer Sache auf der Spur und brauchte ihren Rat.«

»Der Gedanke ist mir auch schon durch den Kopf gegangen, Sir. Aber man hat sich an sie gewandt, weil sie sich in forensischer Pathologie auskennt.«

»Was halten Sie denn nun von der Sache?«

»Mutationen. Induzierte Geburtsfehler. Teratogene Viren vielleicht. Und ich habe mich gefragt, warum der Staat die Eltern nicht leben lassen wollte.«

»Damit sind wir wieder am Anfang«, sagte Augustine. »Wieder einmal wilde Spekulationen.«

Dicken verzog das Gesicht. »Da sollten Sie mich besser kennen, Mark.«

»Manchmal habe ich wirklich keinen Schimmer, wie Sie zu derart guten Ergebnissen kommen.«

»Ich war mit meiner Arbeit noch nicht fertig. Sie haben mich zurückbeordert und gesagt, wir hätten etwas Handfestes.«

»Herrgott, ich habe mich schon manchmal geirrt«, erwiderte Augustine.

»Ich glaube nicht, dass Sie sich geirrt haben. Das hier ist vermutlich nur der Anfang. Wir werden bald noch mehr vorzuweisen haben.«

»Sagt Ihnen das Ihr Instinkt?«

Dicken nickte.

Mark zog die Augenbrauen zusammen und legte die fest gefalteten Hände auf den Schreibtisch. »Wissen Sie noch, was 1963 los war?«

»Damals war ich noch ein Baby, Sir. Aber ich habe davon gehört. Malaria.«

»Ich selbst war damals sieben. Der Kongress strich sämtliche Mittel für die Bekämpfung von Krankheiten, die von Insekten übertragen werden, einschließlich der Malaria. Die dümmste Maßnahme in der Geschichte der Epidemiologie. Millionen Tote auf der ganzen Welt, neue Stämme resistenter Krankheitserreger … eine Katastrophe.«

»Das DDT hätte ohnehin nicht mehr lange gewirkt, Sir.«

»Woher wollen Sie das wissen?« Augustine hob zwei Finger.

»Die Menschen denken wie Kinder. Sie springen von einer Leidenschaft zur nächsten. Plötzlich ist die Gesundheit der Weltbevölkerung kein Thema mehr. Vielleicht sind wir mit unseren Behauptungen zu weit gegangen. Jetzt wenden wir dem Sterben der Regenwälder den Rücken zu, und die globale Erwärmung brodelt nicht mehr, sondern köchelt nur vor sich hin. Verheerende, weltweite Seuchen hat es nicht gegeben, und Otto Normalverbraucher hat sich die Schuldgefühle gegenüber der Dritten Welt nie angezogen. Die Apokalypse hängt den Leuten zum Halse raus. Wenn wir nicht bald eine politisch vertretbare Krise in unserem Heimatrevier bekommen, werden sie uns im Kongress einseifen, Christopher, und dann könnte es genauso kommen wie 1963.«

»Ich verstehe, Sir.«

Augustine schnaubte durch die Nase und hob den Blick zu den Reihen der Leuchtstoffröhren an der Decke. »Die Leiterin des Gesundheitswesens meint, unser Apfel sei noch so grün, dass wir ihn dem Präsidenten nicht auf den Tisch packen können, und deshalb hat sie sich eine Migräne zugelegt. Die Besprechung ist von heute Nachmittag auf nächste Woche verschoben.«

Dicken unterdrückte ein Lächeln. Dass die Leiterin des Gesundheitswesens Kopfschmerzen vortäuschte, war ein köstlicher Gedanke.

Augustine heftete den Blick auf Dicken. »Na gut, Sie riechen etwas, also machen Sie es dingfest. Prüfen Sie alle Berichte aus dem letzten Jahr über Fehlgeburten in amerikanischen Krankenhäusern. Drohen Sie der Türkei und Georgien mit einer Anzeige bei der Weltgesundheitsorganisation. Sagen Sie, wir würden ihnen den Bruch aller Kooperationsabkommen vorwerfen. Ich gebe Ihnen Rückendeckung. Stellen Sie fest, wer nach einem Aufenthalt in Europa oder dem Nahen Osten an SHEVA erkrankt ist und vielleicht eine oder zwei Fehlgeburten hatte. Wir haben eine Woche, und wenn Sie nicht mit einem noch gefährlicheren SHEVA kommen, werde ich es mit einem unbekannten Spirochäten versuchen, den sich ein paar Schafhirten in Afghanistan zugezogen haben … nach dem Beischlaf mit Schafen.« Augustine täuschte eine Armesündermiene vor. »Retten Sie mich, Christopher.«

13 Cambridge, Massachusetts

Kaye war erschöpft, fühlte sich aber wie eine Königin. Seit einer Woche behandelten die Kollegen sie mit Respekt und freundlicher Bewunderung, als wollten sie nach vielen Widrigkeiten anerkennen, dass sie einen tieferen Einblick in die Wahrheit gewonnen hatte. Sie hatte nicht unter den Angriffen und Ungerechtigkeiten zu leiden, die andere in der biologischen Forschung während der letzten 150 Jahre erlebt hatten — sicher nicht das, womit ihr großes Vorbild Charles Darwin sich auseinander setzen musste, und noch nicht einmal das, was Lynn Margulis mit ihrer Theorie der symbiotischen Evolution eukaryotischer Zellen durchgemacht hatte.

Aber es gab noch genug …

Skeptische und verärgerte Leserbriefe von Genetikern der alten Garde, die überzeugt waren, sie jage einem Phantom hinterher; auf Tagungen die Anmerkungen von leicht herablassenden, lächelnden Männern und Frauen, die überzeugt waren, sie stünden dichter vor einer großen Entdeckung … weiter oben auf der Erfolgsleiter, näher an den Lorbeeren von Wissen und Anerkennung.

Das alles ließ Kaye kalt. So war die Wissenschaft nun einmal: nur allzu menschlich, und das war gut so. Aber dann hatte Saul eine persönliche Auseinandersetzung mit dem Herausgeber von Cell, die für sie jede Aussicht zunichte machte, in diesem angesehenen Blatt publizieren zu können. Stattdessen musste sie sich an Virology wenden, auch das eine gute Fachzeitschrift, aber doch eine Leitersprosse tiefer. Bis in Science oder Nature hatte sie es nie geschafft. Sie war ein ganzes Stück nach oben geklettert und dann ausgebremst worden.

Jetzt, so schien es, wollten Dutzende von Labors und Instituten ihr unbedingt die Ergebnisse von Arbeiten zeigen, die ihre Spekulationen bestätigten. Um ihres inneren Friedens willen entschloss sie sich, Einladungen von jenen Fakultäten, Instituten und Labors anzunehmen, von denen sie in den letzten Jahren eine gewisse Ermutigung erfahren hatte — insbesondere vom Carl Rose Center for Domain Research in Cambridge, Massachusetts.

Das Rose Center lag auf einem Anwesen von fast fünfzig Hektar, das man in den Fünfzigerjahren mit Kiefern bepflanzt hatte.

Dichter Wald umgab das würfelförmige Laborgebäude, das aber nicht flach auf der Erde stand, sondern an einer Kante erhöht war.

Zwei Laboretagen lagen unterirdisch unmittelbar unter dem erhöhten Würfel und östlich davon. Finanziert wurde das Rose Center zum größten Teil von einer Stiftung der ungeheuer reichen Familie Van Buskirk aus Boston, und es befasste sich schon seit dreißig Jahren mit Molekularbiologie.

Drei Wissenschaftler des Rose Center hatten Forschungsmittel aus dem HumanGenomProjekt erhalten, jenem umfangreichen, reichlich mit Geld ausgestatteten Gemeinschaftsvorhaben, mit dem man die gesamte Erbinformation des Menschen sequenzieren und kennen lernen wollte. Sie sollten uralte Genbruchstücke analysieren, die in den so genannten Introns lagern, den »SchrottAbschnitten« des menschlichen Genoms. Die leitende Wissenschaftlerin, die den Etat verwaltete, war Judith Kushner, die früher in Stanford Kayes Promotion betreut hatte.

Die knapp einen Meter fünfundsiebzig große Judith Kushner hatte üppige, gelockte Haare, ein rundes, versonnenes Gesicht, das immer ein wenig zu lächeln schien, und kleine, leicht vorstehende schwarze Augen. International war sie als wahre Zauberkünstlerin bekannt: Sie konnte Experimente planen und jeden Apparat dazu bringen, das Gewünschte zu tun — mit anderen Worten: Sie konnte die wiederholbaren Experimente ausführen, die für eine funktionierende Naturwissenschaft unentbehrlich sind.

Dass sie mittlerweile ihre Zeit zum größten Teil damit zubrachte, Papierkram zu erledigen oder Doktoranden und Postdocs anzuleiten, lag einfach im Wesen der modernen Wissenschaft.

Kushners Assistentin und Sekretärin, ein entsetzlich magerer junger Rotschopf namens Fiona Bierce, führte Kaye durch das Labyrinth der Laborräume und fuhr mit ihr in einem zentralen Aufzug abwärts.

Kushners Büro befand sich auf Stockwerk 0, unter der Straßenhöhe, aber noch über dem Keller: fensterlos, die Betonwände in einem angenehmen Beige gestrichen. Rundherum in den Regalen standen dicht bei dicht säuberlich geordnete Bücher und gebundene Fachzeitschriften. In einer Ecke summten leise vier Computer, darunter ein »Sim Engine«-Superrechner, den die Firma Mind Design aus Seattle gestiftet hatte.

»Kaye Lang, ich bin stolz auf dich!« Kushner erhob sich von ihrem Stuhl, strahlte und breitete die Arme aus, um Kaye in der Tür zu umarmen. Sie ließ ein leises Quieken hören, schwenkte ihre frühere Studentin durch den Raum und lächelte voller professoraler Freude. »Erzähl — wer hat sich schon bei dir gemeldet? Lynn?

Der alte Mann selbst?«

»Lynn hat gestern angerufen«, sagte Kaye und errötete.

Kushner legte die Hände zusammen und schüttelte sie in Richtung der Decke wie ein Boxer, der seinen Sieg feiert. »Großartig!«

»Es ist echt zu viel«, sagte Kaye; auf Kushners Aufforderung hin setzte sie sich auf einen Stuhl neben dem breiten Flachbildschirm des SimRechners.

»Nimm es hin! Freu’ dich drüber!«, riet Kushner schwungvoll.

»Du hast es wirklich verdient, mein Schatz. Ich habe dich drei Mal im Fernsehen gesehen. Jackie Oniama auf Triple C, und sie hat versucht, über Wissenschaft zu reden — wirklich lustig! Sieht sie auch in natura wie eine kleine Puppe aus?«

»Sie waren alle sehr nett, wirklich. Aber ich bin müde, weil ich dauernd etwas erklären soll.«

»Es gibt so viel zu erklären. Wie geht’s Saul?« Kushner gab sich Mühe, eine gewisse Besorgnis zu verbergen.

»Gut. Wir wissen immer noch nicht, ob die Georgier uns zu ihren Partnern machen wollen.«

»Wenn sie euch jetzt nicht als Partner nehmen, haben sie noch einen langen Weg vor sich, bis sie zu Kapitalisten werden«, sagte Kushner und setzte sich neben Kaye.

Fiona Bierce machte es offenbar Spaß, einfach zuzuhören. Sie grinste und ließ dabei die Zähne sehen.

»Dann …«, sagte Kushner und sah Kaye durchdringend an, »…war es eine Art Abkürzung, oder?«

Kaye lachte. »Ich fühle mich noch so jung

»Ich bin wahnsinnig neidisch. Von meinen verrückten Theorien hat keine auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit gefunden.«

»Nur einen Haufen Geld«, erwiderte Kaye.

»Viele Haufen. Brauchst du was?«

Kaye lächelte. »Ich möchte unsere Stellung in der Branche nicht schmälern.«

»Ach ja, die große neue Welt der Bargeldbiologie, die so wichtig ist, so geheimnisvoll und selbstgenügsam. Denk dran, meine Liebe, Frauen betreiben Wissenschaft angeblich auf andere Art. Wir hören zu und schuften, hören zu und schuften, genau wie die arme Rosalind Franklin, aber nicht wie vorlaute kleine Jungs. Und alles aus Beweggründen von höchster ethischer Reinheit. Also — wann geht ihr, Saul und du, an die Börse? Mein Sohn versucht gerade, mir eine Altersvorsorge aufzubauen.«

»Vermutlich überhaupt nicht«, sagte Kaye. »Es wäre Saul ein Gräuel, den Aktionären Rechenschaft zu geben. Übrigens müssen wir zuerst mal Erfolg haben und ein bisschen Geld verdienen, und bis dahin ist es noch ein weiter Weg.«

»Schluss mit dem Smalltalk«, sagte Kushner energisch. »Ich kann dir etwas Interessantes zeigen. Fiona, würdest du bitte unsere hübsche kleine Simulation laufen lassen?«

Kaye zog ihren Stuhl zur Seite. Bierce setzte sich an die Tastatur des SimRechners und ließ die Fingergelenke knacken wie eine Pianistin. »Daran ackert Judith jetzt seit drei Monaten«, erklärte sie.

»Zum größten Teil hat sie sich dabei auf unsere Veröffentlichungen gestützt und das Übrige beruht auf Daten aus drei anderen Genomprojekten. Als dann die Nachricht kam, waren wir so weit.«

»Wir haben unsere Marker aufgesucht und die Anweisungen für den Zusammenbau gefunden«, sagte Kushner. »Die Hülle von SHEVA und sein niedliches Übertragungssystem für alle Menschen. Das hier ist die Simulation einer Infektion, nach Befunden von John Dawsons Arbeitsgruppe in der fünften Etage. Sie haben Hepatocyten in dichten Gewebekulturen infiziert. Und das ist dabei herausgekommen.«

Kaye sah zu, wie Bierce noch einmal den simulierten Zusammenbau ablaufen ließ. SHEVATeilchen drangen in Hepatocyten — Leberzellen in einer LaborKulturschale — ein, schalteten bestimmte Zellfunktionen ab, nutzten andere für ihre Zwecke, schrieben ihre RNA in DNA um und bauten sie in die ZellDNA ein; dann fingen sie an, sich zu vermehren. In leuchtend simulierten Farben bildeten sich im Cytosol, dem strömenden Zellinhalt, neue, nackte Viruspartikel. Die Viren wanderten zur Membranhülle der Zelle, durchstießen sie und gelangten nach außen, jedes einzelne säuberlich eingehüllt in ein Hautstück der Zelle.

»Sie dezimieren die Membran, aber alles läuft ziemlich sanft und kontrolliert ab. Das Virus belastet die Zelle, aber es bringt sie nicht um. Und es sieht so aus, als sei eines von zwanzig Viruspartikeln lebensfähig — fünfmal besser als HIV.«

Plötzlich fuhr die Simulation in Nahaufnahme an Moleküle heran, die zusammen mit den Viren entstanden waren. Sie waren in Vesikel verpackt, die kleinen Transportbläschen der Zelle, und wurden mit den neuen, infektiösen Virusteilchen nach außen geschleust. Beschriftet waren sie in leuchtendem Orange: PGA?

PGE?

»Halt’ da mal an, Fiona.« Kushner streckte den Finger aus und tippte auf die orangefarbenen Buchstaben. »SHEVA bringt nicht alles mit, was es braucht, um die Herodes-Grippe auszulösen. Wir finden in den infizierten Zellen immer wieder einen großen Klumpen mit Proteinen, die nicht von dem Virus codiert werden — etwas Ähnliches habe ich noch nie gesehen. Dann zerfällt der Klumpen, und in der Zelle sind lauter kleine Proteine, die da nicht hingehören.«

»Wir haben nach Proteinen gesucht, die unsere Zellkulturen verändern«, sagte Bierce. »Wir haben wirklich viele ausprobiert.

Darüber haben wir zwei Wochen lang gerätselt, und dann haben wir ein paar infizierte Zellen zum Vergleich an eine kommerzielle Gewebesammlung geschickt. Dort haben sie die neuen Proteine abgetrennt, und dabei fanden sie …«

»Das ist meine Geschichte, Fiona«, sagte Kushner und hob warnend den Zeigefinger.

»Entschuldigung«, antwortete Fiona mit verlegenem Lächeln.

»Es ist einfach toll, dass wir es so schnell geschafft haben.«

»Schließlich kamen wir zu dem Schluss, dass SHEVA ein Gen auf einem anderen Chromosom anschaltet. Aber wie? Wir haben weiter gesucht … und ein SHEVAaktiviertes Gen auf dem Chromosom 21 gefunden. Es codiert unser Polyprotein, das wir als LPC oder large protein complex — großen Proteinkomplex — bezeichnen. Die Expression dieses Gens wird ganz spezifisch von einem besonderen Transkriptionsfaktor gesteuert. Wir haben nach dem Faktor gesucht und ihn im Genom von SHEVA entdeckt.

Eine verschlossene Schatztruhe im Chromosom 21, und der Schlüssel liegt im Virus. Sie sind Partner.«

»Erstaunlich«, sagte Kaye.

Bierce ließ die Simulation erneut ablaufen und konzentrierte sich diesmal auf die Vorgänge am Chromosom 21 — auf die Bildung des Polyproteins.

»Aber Kaye — liebste Kaye, das ist bei weitem nicht alles. Wir stehen vor einem Rätsel. Die SHEVAProtease spaltet den LPC zu drei neuen Cyclooxygenasen und Lipooxygenasen, und die synthetisieren drei verschiedene, einzigartige Prostaglandine. Zwei davon kannten wir vorher nicht, wirklich erstaunlich. Und alle scheinen sehr wirksam zu sein.« Mit einem Kugelschreiber zeigte sie auf die Prostaglandine, die aus der Zelle ausgeschleust wurden. »Das wäre eine Erklärung für die Berichte über Fehlgeburten.«

Kaye runzelte konzentriert die Stirn.

»Nach unseren Berechnungen könnten die Prostaglandine bei einer voll ausgeprägten SHEVAInfektion in so großer Menge gebildet werden, dass jeder Fetus innerhalb einer Woche abgestoßen wird.«

»Und als ob das noch nicht seltsam genug wäre«, fügte Bierce hinzu, wobei sie auf Reihen von Glycoproteinen zeigte, »produzieren die Zellen das hier als Nebenprodukt. Wir haben sie noch nicht vollständig analysiert, aber sie sehen stark wie FSH und LH aus, das follikelstimulierende und das luteinisierende Hormon.

Und diese Peptide scheinen ReleasingHormone zu sein.«

»Die altvertrauten Herren über das Schicksal der Frauen«, sagte Kushner. »Reifung und Freisetzung der Eizellen.«

»Aber warum?«, fragte Kaye. »Wenn sie gerade eine Fehlgeburt verursacht haben — warum erzwingen sie dann einen Eisprung?«

»Wir wissen noch nicht, was zuerst aktiviert wird. Es könnte auch erst der Eisprung und dann die Fehlgeburt sein«, sagte Kushner. »Denk dran, das hier ist eine Leberzelle. Mit der Untersuchung der Infektion von Keimzellgewebe haben wir noch nicht einmal angefangen.«

»Es ergibt keinen Sinn!«

»Genau das ist die Schwierigkeit«, erwiderte Kushner. »Was dieses kleine endogene Retrovirus auch sein mag, es ist alles andere als harmlos — zumindest für uns Frauen. Es sieht aus, als sei es dazu konstruiert, uns zu besiedeln, unter seine Kontrolle zu bringen und nach allen Regeln der Kunst fertig zu machen.«

»Seid ihr die Einzigen, die solche Analysen angestellt haben?«, fragte Kaye.

»Vermutlich«, erwiderte Kushner.

»Wir schicken die Ergebnisse noch heute an die NIH und an das Genomprojekt«, erklärte Bierce.

»Und du bekommst die Vorabinformation«, fügte Kushner hinzu, wobei sie Kaye die Hand auf die Schulter legte. »Ich möchte nicht, dass man auf dir herumtrampelt.«

Kaye runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht.«

»Sei nicht naiv, meine Liebe«, antwortete Kushner mit funkelndem Blick, der Besorgnis verriet. »Was wir hier vor uns haben, könnten schlechte Nachrichten von biblischem Ausmaß sein. Ein Virus, das Babys umbringt. Eine Menge Babys. Man könnte dich als die Botin betrachten. Und du weißt, wie es dem Überbringer schlechter Nachrichten ergeht.«

14 Atlanta Oktober

Dr. Michael Voight schritt auf langen Spinnenbeinen durch den Flur ins Arztzimmer. Dicken folgte ihm. »Witzig, dass Sie danach fragen«, sagte Dr. Voight. »Hier in der Geburtshilfe sehen wir viele Anomalien, und wir haben auch schon im Kollegenkreis darüber gesprochen. Aber nicht über die Herodes-Grippe. Wir erleben alle möglichen Infektionskrankheiten, natürlich auch Grippe, aber die TestKits für SHEVA haben wir noch nicht.« Er drehte sich halb um und fragte: »Tasse Kaffee?«

Das Olympic City Hospital in Atlanta war sechs Jahre alt. Man hatte es mit Mitteln von Stadt und Bund errichtet, um die anderen Krankenhäuser in der Innenstadt zu entlasten. Durch private Spender und eine Sonderrücklage aus den Einnahmen der Olympischen Spiele war es zur bestausgerüsteten Klinik des ganzen Bundesstaates geworden, die besonders gute, intelligente Ärzte anzog, aber auch ein paar ältere, verdrossene. Das Umfeld der Krankenversicherungen und Kostendämpfungsmaßnahmen forderte seinen Tribut von den hochqualifizierten Spezialisten, deren Einkommen während der letzten zehn Jahre in den Keller gegangen war, während die Patientenversorgung gleichzeitig von Finanzexperten überwacht wurde.

Das Olympic City zollte den Spezialisten wenigstens Respekt.

Voight dirigierte Dicken in das Ärztezimmer und zapfte aus einer Edelstahlmaschine eine Tasse Kaffee. Gleichzeitig erklärte er, Praktikanten und Assistenzärzte könnten das Zimmer gleichermaßen benutzen. »Abends um diese Zeit ist es meistens leer. Da haben wir draußen Hochbetrieb — es sind die Stunden, in denen das Leben ins Schlingern gerät und seine unvorsichtigen Opfer anliefert.«

»Was für Anomalien?«, gab Dicken ihm das Stichwort.

Voight zuckte die Achseln, zog einen Stuhl von dem Resopaltisch weg und wand seine langen Beine umeinander wie Fred Astaire. Sein grüner Kittel raschelte; er bestand aus kräftigem Papier, wegzuwerfen nach einmaligem Gebrauch. Die Tasse in der Hand, nahm Dicken ebenfalls Platz. Er wusste, dass er nach dem Kaffee vielleicht nicht schlafen konnte, aber er brauchte die Konzentration und Energie.

»Ich befasse mich mit extremen Fällen, und die meisten Unregelmäßigkeiten fallen nicht in meine Zuständigkeit. Aber in den beiden letzten Wochen … sieben Frauen, die ihre Schwangerschaft nicht erklären können, würden Sie mir das glauben?«

»Ich bin ganz Ohr«, erwiderte Dicken.

Voight spreizte die Hände und zählte die Fälle an den Fingern ab. »Zwei haben ihre Verhütungspillen sozusagen mit religiösem Eifer genommen, und sie haben nicht gewirkt … Vielleicht nicht so ungewöhnlich. Aber dann war da eine, die hat nicht verhütet, aber sie sagt, sie hätte keinen Sex gehabt. Und wissen Sie was?«

»Was?«

»Sie war virgo intacta. Hatte einen Monat lang starke Blutungen, die dann wieder verschwanden, anschließend morgendliche Übelkeit, die Periode blieb aus, sie ging zum Arzt, der sagte ihr, sie sei schwanger, und als die ganze Sache schief ging, kam sie zu uns.

Eine schüchterne junge Frau, die mit einem älteren Mann zusammenlebt, eine wirklich seltsame Beziehung. Sie behauptet steif und fest, sexuell sei nichts gelaufen.«

»Wiederkehr Christi?«, fragte Dicken.

»Werden Sie nicht blasphemisch. Ich bin ein Wiedergeborener«, sagte Voight, und seine Mundwinkel zuckten.

»Entschuldigung«, antwortete Dicken.

Voight lächelte nachsichtig. »Dann kommt ihr ›alter Herr‹ herein und erzählt uns die ganze Geschichte. Es stellt sich heraus, dass er sehr besorgt um sie ist — er will uns die Wahrheit mitteilen, damit wir sie behandeln können. Sie hat zugelassen, dass er zu ihr ins Bett kam und sich einen rubbelte — Mitgefühl, wissen Sie. Auf diese Weise wurde sie zum ersten Mal schwanger.«

Dicken nickte. Nichts Erschreckendes bisher — nur die vielen Gesichter des Lebens und der Liebe.

Voight fuhr fort. »Es wird eine Fehlgeburt. Aber drei Monate später steht sie wieder hier — wieder schwanger. Im zweiten Monat. Ihr ältlicher Freund ist wieder dabei, sagt, dass er sich keinen gerubbelt hat und gar nichts, und er weiß auch, dass sie mit keinem anderen Mann zusammen war. Glauben wir ihm?«

Dicken legte den Kopf schräg und hob die Augenbrauen.

»Es geschehen alle möglichen seltsamen Dinge«, sagte Voight sanft, »und zwar mehr als sonst, wie ich meine.«

»Haben sie über Krankheitserscheinungen geklagt?«

»Das Übliche. Erkältung, Fieber, Gliederschmerzen. Ich glaube, wir haben im Labor noch ein paar Proben, wollen Sie sie sehen?

Sind Sie schon drüben im Northside gewesen?«

»Noch nicht.«

»Warum nicht das Midtown? Da gibt es viel mehr Gewebe für Sie.«

Dicken schüttelte den Kopf. »Wie viele junge Frauen mit unerklärlichen Fiebererkrankungen oder nichtbakteriellen Infektionen?«

»Dutzende. Auch das ist nichts Ungewöhnliches. Wir heben die Tests höchstens eine Woche lang auf; wenn keine Bakterien drin sind, werfen wir sie weg.«

»Na gut. Sehen wir uns das Gewebe an.«

Dicken nahm den Kaffee mit und ging hinter Voight zum Aufzug. Das Biopsie- und Analyselabor war im Keller, nur zwei Türen neben der Leichenkammer.

»Die technischen Assistentinnen gehen um neun nach Hause.«

Voight knipste das Licht an und durchsuchte schnell einen kleinen stählernen Karteischrank.

Dicken sah sich im Labor um: drei lange weiße Tische mit Spülbecken, zwei Abzüge, Brutschränke und Regale mit säuberlich aufgereihten, braunen und weißen Glasflaschen voller Reagenzien, ordentliche Stapel mit den üblichen TestKits in flachen, orangefarbenen und grünen Pappschachteln, zwei Edelstahlkühlschränke und eine ältere weiße Gefriertruhe; ein Computer mit angeschlossenem Tintenstrahldrucker und einem angehefteten Zettel AUSSER BETRIEB; und eingezwängt in einem Nebenraum hinter einer zweiflügeligen Tür mehrere ausziehbare, stählerne Lagerregale in dem üblichen Grau und Hellbraun.

»Die hier haben sie noch nicht in den Computer eingegeben; dauert bei uns etwa drei Wochen. Sieht aus, als wäre noch eines übrig … Es ist hier im Krankenhaus Routine — wir überlassen es den Müttern. Sie können das Gewebe von einem Bestattungsunternehmen abholen lassen und eine Trauerfeier veranstalten. Ist ein besserer Abschluss. Aber wir hatten auch eine Mittellose, kein Geld, keine Angehörigen … hier.« Er zog eine Karte heraus, ging in den Nebenraum, drehte an einem Rad, fand die Regalnummer auf der Karte.

Dicken wartete an der zweiflügeligen Tür. Voight kam mit einem kleinen Gefäß zurück und hielt es im helleren Licht des Labors in die Höhe. »Falsche Nummer, aber es ist der gleiche Typ.

Dieser hier ist von vor sechs Monaten. Der, den ich gesucht habe, liegt vermutlich noch in kalter Salzlösung.« Er gab Dicken den Kolben und ging zum ersten Kühlschrank.

Dicken starrte den Fetus an: zwölf Wochen alt, ungefähr so groß wie sein Daumen, eingerollt, ein winziger, blasser Außerirdischer, der mit seinem Versuch, auf der Erde zu leben, gescheitert war.

Sofort fielen ihm Anomalien auf. Die Gliedmaßen waren nur Knötchen, und an dem aufgedunsenen Bauch befanden sich Auswüchse, wie er sie auch bei schwer missgebildeten Feten noch nie gesehen hatte.

Das winzige Gesicht wirkte ungewöhnlich eingedrückt und leer.

»Irgendetwas stimmt mit dem Knochenbau nicht«, sagte Dicken, während Voight den Kühlschrank schloss. Der Assistenzarzt hob einen anderen Fetus in einem feucht beschlagenen, mit Plastikfolie abgedeckten Kolben in die Höhe; er war mit Gummiband verschlossen und trug ein beschriftetes Klebeband.

»Eine Menge Probleme, ohne Zweifel«, sagte Voight, tauschte die Gefäße aus und besah sich das ältere Exemplar. »Gott hat in jeder Schwangerschaft kleine Kontrollpunkte eingebaut. Die beiden hier haben ihre Prüfung nicht bestanden.« Er blickte bedeutungsschwer nach oben. »Zurück in die himmlische Kinderstube.«

Dicken wusste nicht genau, ob Voight tiefe philosophische Überzeugungen oder den typischen Medizinerzynismus zum Ausdruck brachte. Er verglich den kalten Kolben und das Gefäß mit Zimmertemperatur. Beide Feten waren zwölf Wochen alt und ähnelten sich stark.

»Kann ich den hier mitnehmen?«, fragte er und hob den kalten Kolben hoch.

»Was, Sie wollen unsere Medizinstudenten bestehlen?« Voight zuckte die Achseln. »Geben Sie Ihre Unterschrift, bezeichnen Sie es als Leihgabe an die CDC, das dürfte kein Problem sein.« Er sah sich noch einmal das Gefäß an. »Etwas Bedeutsames?«

»Vielleicht«, erwiderte Dicken mit einem leichten Anflug von Erregung, in die sich Traurigkeit mischte. Voight gab ihm ein weniger zerbrechliches Gefäß, eine kleine Pappschachtel, Watte und ein Stück Eis in einem verschweißten Plastikbeutel, damit die Probe kalt blieb. Schnell überführten sie das Material mit zwei hölzernen Zungenspateln, danach verschloss Dicken die Schachtel mit Klebeband.

»Wenn Sie noch mehr von der Sorte bekommen, sagen Sie mir sofort Bescheid, okay?«, fragte Dicken.

»Aber sicher.« Im Aufzug fragte Voight: »Sie sehen ein bisschen merkwürdig aus. Gibt es etwas, das ich schon frühzeitig wissen sollte, einen kleinen Hinweis, damit ich meine Aufgabe gegenüber den Patienten besser erfüllen kann?«

Dicken wusste, dass er die ganze Zeit ein ausdrucksloses Gesicht gemacht hatte; deshalb lächelte er Voight nur an und schüttelte den Kopf. »Erfassen Sie alle Fehlgeburten«, sagte er, »vor allem diesen Typ. Jeder Zusammenhang mit der Herodes-Grippe wäre eine tolle Sache.«

Voight verzog enttäuscht die Lippen. »Bisher nichts Offizielles?«

»Bisher nicht«, erwiderte Dicken. »Ich arbeite an einer recht langfristigen Sache.«

15 Boston

Das Abendessen — Spaghetti und Pizza mit Sauls alten Kollegen vom MIT — verlief großartig. Saul war am Nachmittag nach Boston geflogen, und sie hatten sich im »Pagliacci« getroffen. Es war noch früh am Abend, und die Gesprächsthemen in dem alten, düsteren italienischen Restaurant reichten von der mathematischen Analyse des menschlichen Genoms bis zur chaosgestützten Voraussage für Systole und Diastole der Datenströme im Internet.

Kaye war von Grissini und grünem Paprika schon satt, bevor ihre Lasagne überhaupt kam. Saul mummelte an einem Stück Brot mit Butter.

Um neun Uhr, unberechenbar wie immer, erschien Dr. Drew Miller, eine der Berühmtheiten aus dem MIT. Er hörte aufmerksam zu und streute ein paar Bemerkungen über das aktuelle Thema des Sozialverhaltens von Bakterien ein. Saul lauschte gespannt, was der sagenumwobene Wissenschaftler, ein Experte für künstliche Intelligenz und selbstorganisierende Systeme, zu sagen hatte.

Miller wechselte mehrmals den Stuhl und tippte schließlich Sauls altem Zimmerkollegen Derry Jacobs auf die Schulter. Jacobs grinste, stand auf und suchte sich einen anderen Platz, während Miller sich neben Kaye setzte. Er nahm eine Gebäckstange von Jacobs’ Teller, starrte sie mit großen Kinderaugen an, verzog die Lippen und sagte: »Da hast du den alten Gradualisten ganz schön eins auf den Hut gegeben!«

»Ich?«, fragte Kaye lachend. »Wieso denn das?«

»Die Zöglinge von Ernst Mayr schwitzen Blut und Wasser, wenn sie überhaupt etwas merken. Dawkins ist völlig außer sich.

Ich sage ihnen schon seit Monaten, dass wir nur noch ein einziges Kettenglied brauchen, und schon haben wir eine Rückkopplungsschleife.«

Gradualismus ist die Lehre, wonach Evolution in kleinen Schritten verläuft: Über Jahrtausende oder Jahrmillionen hinweg sammeln sich Mutationen an, die für das Individuum in der Regel schädlich sind. Selektioniert werden aber nur die nützlichen Mutationen, die ihrem Träger einen Vorteil verschaffen, weil er Ressourcen besser nutzen und sich effizienter fortpflanzen kann. Ernst Mayr war ein wortgewaltiger Fürsprecher dieser Auffassung gewesen, und Richard Dawkins hatte sie in der modernen Synthese des Darwinismus ausgezeichnet vertreten; außerdem hatte er die so genannten egoistischen Gene beschrieben.

Als Saul das hörte, stand er auf und stellte sich hinter Kaye. Er beugte sich über den Tisch, um kein Wort von Miller zu verpassen. »Sie glauben, SHEVA erzeugt eine Rückkopplungsschleife?«, fragte sie.

»Ja. Einen geschlossenen Kommunikationskreislauf zwischen den Individuen einer Population, und zwar außerhalb der Sexualität. Unsere Entsprechung zu den Plasmiden der Bakterien, aber es ähnelt natürlich eher den Phagen.«

»Drew, SHEVA hat nur achtzig kb und dreißig Gene«, wandte Saul ein. »Viel Information kann es nicht tragen.«

Kaye und Saul waren das Thema bereits durchgegangen, bevor sie ihren Artikel in Virology veröffentlicht hatten. Über ihre speziellen Theorien hatten sie mit niemandem gesprochen. Kaye war ein wenig überrascht, dass Miller so etwas aufs Tapet brachte. Er stand nicht gerade im Ruf, fortschrittlich zu sein.

»Es braucht nicht die ganze Information mitzubringen«, sagte Miller. »Es muss nur den Erkennungscode tragen. Einen Schlüssel.

Wir wissen noch nicht, was SHEVA alles bewirkt.«

Kaye blickte Saul an und erwiderte: »Sagen Sie uns, was Sie denken, Dr. Miller.«

»Sag’ bitte Drew zu mir. Es ist wirklich nicht mein Fachgebiet, Kaye.«

»Solche Vorsicht ist doch sonst nicht deine Art, Drew«, erwiderte Saul. »Wir wissen, dass du nicht bescheiden bist.«

Miller grinste über das ganze Gesicht. »Na ja, wahrscheinlich hast du schon einen Verdacht. Und deine Frau hat mit Sicherheit einen. Ich habe deine Artikel über transponierbare Elemente gelesen.«

Kaye nippte an ihrem fast leeren Wasserglas. »Wir wissen nie genau, wem wir was sagen können«, murmelte sie. »Entweder beleidigt man jemanden, oder man verrät zu viel.«

»Mach’ dir nicht zu viel Sorgen wegen der ursprünglichen Idee«, sagte Miller. »Es gibt immer jemanden, der dir voraus ist, aber der hat meistens seine Hausaufgaben nicht gemacht. Die Entdeckung gelingt dem, der die ganze Zeit arbeitet. Du bist fleißig und schreibst gute Artikel, das ist ein gewaltiger Schritt vorwärts.«

»Aber wir sind uns nicht sicher, ob es der große Schritt ist«, erwiderte Kaye. »Vielleicht ist es nur eine Anomalie.«

»Ich möchte niemandem einen Nobelpreis andichten«, sagte Miller, »aber SHEVA ist eigentlich kein Krankheitserreger. Evolutionsbiologisch macht es keinen Sinn, sich so lange im menschlichen Genom zu verstecken und dann herauszukommen, nur um eine leichte Grippe zu verursachen. Letztlich ist SHEVA doch nur ein bewegliches genetisches Element, oder? Ein Promotor?«

Kaye dachte an die Unterhaltung mit Judith über die Symptome, die SHEVA auslösen konnte.

Miller war durchaus bereit, ihr Schweigen mit weiterem Reden zu überbrücken. »Alle glauben, Viren und insbesondere Retroviren könnten in der Evolution als Überträger oder Auslöser wirken, oder vielleicht auch nur als zufällige Triebkraft«, sagte er. »Das ist so, seit man weiß, dass manche Viren kleine Schnipsel des genetischen Materials von einem Wirt zum anderen transportieren. Ich denke allerdings, ihr solltet euch hier ein paar Fragen stellen, oder vielleicht habt ihr es auch schon getan. Was löst SHEVA aus? Nehmen wir einmal an, der Gradualismus sei tot. Wir bekommen eine Welle der Anpassung und Artbildung, sobald sich eine Nische auftut — ein neuer Kontinent, ein Meteor, der die alten Arten wegfegt. Das geschieht dann sehr schnell, in noch nicht einmal zehntausend Jahren; das gute alte unterbrochene Gleichgewicht. Wo ist diese ganze zukünftige Evolution mit ihren Veränderungen gespeichert?«

»Ausgezeichnete Frage«, sagte Kaye.

Millers Augen blitzten. »Ihr habt schon darüber nachgedacht?«

»Wer hätte das nicht?«, erwiderte Kaye. »Ich überlege, wie Viren und Retroviren zu Neuerungen im Genom beitragen. Aber es läuft auf das Gleiche hinaus. Vielleicht gibt es in jeder Spezies einen MasterComputer, eine Art Prozessor, der potenziell nützliche Mutationen gespeichert hat. Er trifft die Entscheidung darüber, was sich verändert, und wo und wann … Er stellt Vermutungen an, wenn man so will, und dabei stützt er sich auf die Erfolgsquoten aus früheren Evolutionserfahrungen.«

»Was setzt die Veränderung in Gang?«

»Wir wissen, dass Stresshormone die Expression bestimmter Gene auslösen können. Diese Evolutionsbibliothek möglicher neuer Formen …«

Miller grinste breit. »Weiter«, gab er das Stichwort.

»… reagiert auf Hormone, die bei Stress ausgeschüttet werden«, führt Kaye fort. »Wenn ausreichend viele Individuen unter Stress stehen, tauschen sie Signale aus und erreichen eine Art Schwellenwert. Das setzt einen genetischen Algorithmus in Gang, der die Ursachen der Belastung mit einer Liste von Anpassungsmöglichkeiten vergleicht, entwicklungsgeschichtlichen Reaktionen.«

»Die Evolution der Evolution«, sagte Saul. »Arten mit einem Anpassungscomputer können sich schneller und effizienter wandeln als abgewrackte alte Arten, die ihre Mutationen nicht steuern, sondern ausschließlich auf den Zufall angewiesen sind.«

Miller nickte. »Gut. Viel effizienter, als wenn einfach jede alte Mutation ausgeprägt wird und dann wahrscheinlich ein Individuum zugrunde richtet oder die Population schädigt. Nehmen wir einmal an, dieser genetische Anpassungscomputer, dieser Evolutionsprozessor lässt nur die Nutzung ganz bestimmter Mutationen zu. Die Ergebnisse seiner Tätigkeit werden in den Individuen gespeichert — und zwar vermutlich als …« Miller blickte Kaye Hilfe suchend an und machte eine zweifelnde Handbewegung.

»… grammatikalisch richtige Mutationen«, sagte sie, »als physiologische Aussagen, die keine wichtigen Strukturgesetze eines Lebewesens verletzen.«

Miller lächelte entzückt, fasste sich ans Knie und begann, auf seinem Stuhl vor und zurück zu wippen. Sein großer, kantiger Schädel glänzte im rötlichen Licht der Deckenlampe. Die Sache machte ihm ganz offensichtlich Spaß.

»Wo könnte die Evolutionsinformation gespeichert sein — wie ein Hologramm überall im Genom, in Teilstücken in verschiedenen Individuen, oder nur in Keimbahnzellen, oder … woanders?«

»Markierungen in einem dafür abgestellten Genomabschnitt in jedem Individuum«, sagte Kaye und biss sich dann auf die Zunge.

Miller — und übrigens auch Saul — betrachtete eine Idee als eine Art Nahrung, die man teilen und gründlich durchkauen musste, bevor sie nützlich werden konnte. Kaye war sich ihrer Sache lieber sicher, bevor sie etwas sagte. Sie suchte nach einem nahe liegenden Beispiel. »Wie die Hitzeschockreaktion bei Bakterien oder die Anpassung an Klimaveränderungen in einer einzigen Generation von Taufliegen.«

»Aber bei Menschen müsste der abgestellte Genomabschnitt riesengroß sein. Wir sind doch viel komplizierter als Taufliegen«, sagte Miller. »Haben wir ihn schon gefunden und wissen nur nicht, was wir da vor uns haben?«

Kaye griff nach Sauls Arm und mahnte ihn damit zur Vorsicht.

Sie standen jetzt im Ruf, auf einer ganz bestimmten Welle zu schwimmen, und selbst gegenüber Miller, einem altgedienten Wissenschaftler, der eigene Leistungen für ein Dutzend Karrieren unter Dach und Fach hatte, mochte sie ihre neuesten Überlegungen nicht einfach preisgeben. Es könnte sich herumsprechen: Kaye Lang sagt dieses und jenes …

»Bisher hat ihn niemand gefunden«, erwiderte sie.

»Ach ja?« Miller musterte ihr Gesicht mit kritischem Blick. Sie fühlte sich wie ein Reh, das wie angewurzelt im Scheinwerferlicht eines Autos stehen bleibt.

Miller zuckte die Achseln. »Vielleicht nicht. Ich vermute, dass er nur in Keimbahnzellen exprimiert wird. Geschlechtszellen. Haploid zu haploid. Er wird nicht exprimiert, er wird nicht aktiv, solange nicht die Bestätigung von anderen Individuen kommt.

Durch Pheromone. Vielleicht auch Blickkontakte.«

»Wir glauben etwas anderes«, sagte Kaye. »Nach unserer Vermutung trägt der abgestellte Genomabschnitt nur Anweisungen für kleine Veränderungen, die zu einer neuen Spezies führen. Alle übrigen Einzelheiten sind nach wie vor im Genom codiert, die üblichen Anweisungen für alles, was unterhalb dieser Ebene liegt … Die funktionieren bei Schimpansen wahrscheinlich ebenso gut wie bei uns.«

Miller runzelte die Stirn und hörte auf zu wippen. »Das muss ich mir einen Augenblick durch den Kopf gehen lassen.« Er blickte nach oben zu der dunklen Decke. »Klingt vernünftig. Schütze die Konstruktion, die bekanntermaßen funktioniert, und das auf einem Minimalstandard. Glaubt ihr, die geringfügigen Änderungen in dem abgestellten Abschnitt werden als Einheiten exprimiert, immer nur eine Abwandlung auf einmal?«

»Das wissen wir nicht«, sagte Saul. Er faltete seine Serviette zusammen, legte sie neben den Teller und trommelte mit dem Daumen darauf. »Und mehr werden wir dir nicht sagen, Drew.«

Miller grinste über das ganze Gesicht. »Ich habe mit Jay Niles gesprochen. Seiner Ansicht nach befindet sich das unterbrochene Gleichgewicht im Aufwind, und er sieht hier ein Systemproblem, ein Netzwerkproblem. Die Intelligenz selektiver neuronaler Netze in voller Aktion. Ich hatte für das Gerede von den neuronalen Netzen nie viel übrig. Man vernebelt damit das Thema nur, aber es beschreibt nicht das, was man beschreiben muss.« Und ohne jeden Hintergedanken fügte Miller hinzu: »Ich glaube, ich kann euch helfen, wenn ihr wollt.«

»Danke, Drew. Vielleicht kommen wir darauf zurück«, sagte Kaye, »aber im Augenblick wollen wir uns lieber allein damit vergnügen.«

Miller zuckte viel sagend die Achseln, tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn und ging wieder zum anderen Ende des Tisches. Dort griff er nach einer weiteren Gebäckstange und begann eine andere Unterhaltung.


Im Flugzeug nach La Guardia ließ Saul sich in seinen Sitz fallen.

»Drew hat keine Ahnung, keine Ahnung.«

Kaye blickte von ihrem Bordmagazin auf.

»Wovon?« fragte sie. »Mir schien er ziemlich auf der richtigen Spur zu sein.«

»Wenn ich oder irgendein anderer in der Biologie von einer Art Intelligenz hinter der Evolution reden würde …«

»Ach so«, sagte Kaye mit gespieltem Schaudern. »Der Vitalismus, das alte Ungeheuer.«

»Wenn Drew von Intelligenz oder Geist redet, meint er damit natürlich kein bewusstes Denken.«

»Nein?«, fragte Kaye, genüsslich müde und satt von den Nudeln. Sie schob das Magazin in die Tasche unter dem Klapptisch und lehnte sich in ihrem Sitz zurück. »Was meint er dann?«

»Du hast dich doch schon mit ökologischen Netzwerken befasst.«

»Nicht meine originellsten Arbeiten«, sagte Kaye. »Und was können wir damit voraussagen?«

»Vielleicht gar nichts«, erwiderte Saul, »aber es bringt eine nützliche Ordnung in meine Gedanken. Die Knoten oder Neuronen in einem Netzwerk führen zu neuronalen Netzmustern, führen die Ergebnisse jeder Netzwerktätigkeit per Rückkopplung wieder zu den Knoten, das führt für jeden Knoten und insbesondere für das ganze Netz zu gesteigerter Effizienz.«

»Na dann ist ja alles klar«, sagte Kaye und verzog ungehalten das Gesicht.

Saul wiegte den Kopf und erkannte ihre Kritik an. »Du bist klüger, als ich es je sein werde, Kaye Lang«, sagte er. Sie beobachtete ihn genau und sah nur das, was sie an ihm bewunderte. Die Ideen hatten Besitz von ihm ergriffen; es ging ihm nicht um die Zuschreibung, sondern nur um das Erkennen einer neuen Wahrheit.

Ihr Blick verschwamm, und mit fast schmerzlicher Heftigkeit fiel ihr ein, welche Gefühle Saul in ihrem ersten gemeinsamen Jahr in ihr geweckt hatte. Er hatte sie angespornt, ermutigt und fast zum Wahnsinn getrieben, bis sie sich endlich klar ausdrückte und den ganzen Bogen eines Gedankens, einer Hypothese begriff. »Sag’ es ganz klar, Kaye. Genau das kannst du gut.«

»Na ja …« Kaye runzelte die Stirn. »So funktioniert das menschliche Gehirn, oder eine Spezies, oder von mir aus auch ein Ökosystem. Und es ist auch die grundlegende Definition des Denkens.

Neuronen tauschen Unmengen von Signalen aus. Die Signale können sich addieren oder subtrahieren, einander aufheben oder zusammenwirken und zu einer Entscheidung gelangen. Sie vollziehen die fundamentalen Tätigkeiten der Natur: Kooperation und Konkurrenz; Symbiose, Parasitismus, Räuberei. Nervenzellen sind Knoten im Gehirn, und Gene sind Knoten im Genom — sie konkurrieren und kooperieren, um sich in die nächste Generation fortzupflanzen. Individuen sind Knoten in einer Spezies, und Spezies sind Knoten in einem Ökosystem.«

Saul kratzte sich am Kinn und sah sie voller Stolz an.

Kaye erhob warnend den Finger. »Die Kreationisten werden aus ihren Löchern kommen und krähen, wir redeten endlich von Gott.«

»Wir haben alle unser Päckchen zu tragen«, seufzte Saul.

»Miller hat gesagt, SHEVA würde die Rückkopplungsschleife für einzelne Lebewesen schließen — das heißt, für einzelne Menschen. Dann wäre SHEVA eine Art Neurotransmitter«, sagte Kaye grübelnd.

Saul rückte näher zu ihr, und seine Hände waren eifrig damit beschäftigt, eine Fülle von Ideen zu beschreiben. »Werden wir mal ein bisschen genauer. Menschen arbeiten zu ihrem Vorteil zusammen und bilden eine Gesellschaft. Sie treten sexuell und chemisch in Austausch, aber auch sozial — durch Sprache, Schrift, Kultur. Moleküle und Meme. Dass Duftstoffe — Pheromone — das Verhalten beeinflussen, wissen wir. Frauengruppen bekommen zur gleichen Zeit die Periode. Männer meiden Stühle, auf denen andere Männer gesessen haben, und Frauen fühlen sich genau von diesen Stühlen angezogen. Wir verfeinern nur die Signale, die ausgesandt werden können, die Art der Nachrichten und ihre Übertragungsmechanismen. Jetzt haben wir den Verdacht, dass unsere Körper auch endogene Viren austauschen können, genau wie Bakterien. Ist das eigentlich so verwunderlich?«

Kaye hatte Saul bisher nichts von ihrem Gespräch mit Judith erzählt. Sie wollte sich die Pointe jetzt noch nicht verderben, vor allem weil man bisher erst so wenig wusste, aber es musste bald geschehen. Sie richtete sich in ihrem Sitz auf. »Und was ist, wenn SHEVA mehrere Ziele verfolgt?«, schlug sie vor. »Könnte es sein, dass es schädliche Nebenwirkungen hat?«

»In der Natur kann alles schief gehen«, sagte Saul.

»Und wenn es schon schief gegangen ist? Wenn es fälschlich exprimiert wird, seinen eigentlichen Zweck völlig verloren hat und uns nur noch krank macht?«

»Durchaus möglich«, erwiderte Saul in einem Ton, der auf höfliches Desinteresse schließen ließ. Seine Gedanken kreisten immer noch um die Evolution. »Ich glaube wirklich, wir sollten kommende Woche daran arbeiten und einen neuen Artikel schreiben.

Das Material ist fast fertig — wir sollten die ganzen spekulativen Grundlagen abdecken, ein paar Leute aus Cold Spring Harbor und Santa Barbara hinzuziehen — vielleicht sogar Miller. Ein Angebot von jemandem wie Drew lehnt man nicht einfach ab. Auch mit Jay Niles sollten wir sprechen. Damit wir ein wirklich handfestes Fundament legen. Sollen wir weitermachen, unsere Karten auf den Tisch legen, die Evolution angehen?«

In Wirklichkeit fürchtete Kaye sich vor diesem Gedanken. Es schien gefährlich, und sie wollte Judith mehr Zeit lassen, die Aktivität von SHEVA zu untersuchen. Genauer gesagt, stand das Thema in keinem Zusammenhang mit ihrem Kerngeschäft, dem Aufspüren neuer Antibiotika.

»Ich bin jetzt zu müde zum Nachdenken«, sagte Kaye. »Frag’ mich morgen noch mal.«

Saul seufzte glücklich. »So viele Fragen, so wenig Zeit.«

Kaye hatte Saul seit Jahren nicht so energiegeladen und zufrieden erlebt. Er trommelte mit den Fingern in schnellem Rhythmus auf die Armlehne und summte leise vor sich hin.

16 Innsbruck

Sam, Mitchs Vater, traf seinen Sohn in der Eingangshalle des Krankenhauses. Mitch hatte seine Reisetasche gepackt, das Bein steckte in einem klobigen Gipsverband. Die Operation war gut verlaufen, vor zwei Tagen hatte man die Nägel entfernt, und das Bein heilte planmäßig. Er wurde entlassen.

Sam stützte Mitch auf dem Weg zum Parkplatz und trug ihm die Tasche. Sie schoben den Beifahrersitz des gemieteten Opel ganz nach hinten. Mitch bugsierte das Bein ein wenig beschwerlich schräg hinein, und dann chauffierte sein Vater ihn durch den dünnen Verkehr des späten Vormittags. Sams unsteter Blick schoss nervös in alle Richtungen.

»Das ist gar nichts im Vergleich zu Wien«, bemerkte Mitch.

»Ja, na gut, aber ich weiß nicht, wie Ausländer hier behandelt werden. Ich nehme an, nicht so schlecht wie in Mexico City«, sagte Sam. Mitchs Vater hatte störrische braune Haare und ein stark geflecktes, breites, irisches Gesicht, das scheinbar jeden Augenblick zu lächeln beginnen konnte. In Wirklichkeit lächelte Sam selten, und seine grauen Augen hatten etwas Hartes, das Mitch nie zu ergründen vermocht hatte.

Mitch hatte am Rand von Innsbruck eine Zweizimmerwohnung gemietet, in der er aber seit dem Unfall nicht mehr gewesen war.

Sam zündete sich eine Zigarette an und rauchte eilig, während sie die Betontreppe zur zweiten Etage hochstiegen.

»Mit dem Bein kommst du ja ganz gut zurecht«, sagte Sam.

»Es bleibt mir kaum etwas anderes übrig«, erwiderte Mitch.

Sam half ihm, um die Ecke zu kommen und wieder sicher auf den Krücken zu stehen. Mitch kramte den Schlüssel heraus und schloss die Tür auf. Die kleine Wohnung mit der niedrigen Decke und den nackten Betonwänden war seit Wochen nicht geheizt worden. Mitch zwängte sich in das Badezimmer und erkannte, dass er sein Geschäft aus einer gewissen schrägen Höhe erledigen musste: Der Gips passte nicht zwischen Toilette und Wand.

»Ich muss wohl zielen lernen«, sagte er zu seinem Vater, als er wieder herauskam. Sam musste grinsen.

»Nimm dir das nächste Mal ein größeres Bad. Raumsparwunder, aber sauber.« Sam steckte die Hände in die Hosentasche.

»Deine Mutter und ich gehen davon aus, dass du nach Hause kommst. Es wäre uns lieb.«

»Vermutlich werde ich das tun, jedenfalls eine Zeit lang«, sagte Mitch. »Ich fühle mich ein bisschen wie ein geprügelter Hund, Daddy.«

»Quatsch«, murmelte Sam. »Dich hat nie jemand geprügelt.«

Mitch sah seinen Vater mit mattem Gesichtsausdruck an, wirbelte dann auf den Krücken herum und betrachtete den Goldfisch, den Tilde ihm vor Monaten geschenkt hatte. Sie hatte ein kleines Glasgefäß und eine Dose Futter mitgebracht und alles auf den Tisch der kleinen Küche gestellt. Er hatte ihn auch dann noch versorgt, als ihre Beziehung zu Ende war.

Der Fisch war gestorben und schwamm jetzt wie eine kleine Schimmelpilzflocke auf dem Wasser des nur noch halbvollen Gefäßes. Linien aus Algen zeigten, wie das Wasser verdunstet war.

Ziemlich ekelhaft.

»Scheiße«, sagte Mitch. Er hatte den Fisch völlig vergessen.

»Was war das?«, fragte Sam und beäugte das Gefäß.

»Der letzte Rest von einer Beziehung, an der ich fast gestorben wäre«, sagte Mitch.

»Ziemlich dramatisch.«

»Ziemlich enttäuschend«, korrigierte Mitch. »Vielleicht wäre es besser ein Hai gewesen.« Er bot seinem Vater ein Carlsberg aus dem winzigen Kühlschrank unter der Küchenspüle an. Sam nahm das Bier und trank ungefähr ein Drittel davon, während er im Wohnzimmer auf und ab ging.

»Hast du hier noch unerledigte Verpflichtungen?«

»Ich weiß nicht«, erwiderte Mitch und trug seine Tasche in das lächerlich kleine Schlafzimmer mit den nackten Betonwänden und einer einzigen Deckenleuchte aus geripptem Glas. Er schob sie auf den Bettvorleger, quetschte sich auf den Krücken daran vorbei und kam wieder ins Wohnzimmer. »Ich soll ihnen helfen, die Mumien zu finden.«

»Dann sollen sie dich wieder hierher fliegen lassen«, sagte Sam.

»Jetzt fahren wir nach Hause.«

Mitch kam auf die Idee, den Anrufbeantworter abzuhören. Der kleine Zähler hatte seine Kapazitätsgrenze erreicht: dreißig Anrufe.

»Es ist Zeit, dass du nach Hause kommst und wieder groß und stark wirst«, sagte Sam.

Das klang tatsächlich nicht schlecht. Mit siebenunddreißig Jahren nach Hause kommen und einfach dort bleiben, Mama kochen lassen und von Papa lernen, wie man Angelfliegen knüpfte oder was Sam auch sonst gerade tat; ihre Freunde besuchen und wieder zu dem kleinen Kind werden, das für nichts Wichtiges verantwortlich ist.

Mitch spürte Übelkeit im Magen. Er drückte die Rückspultaste des Anrufbeantworters. Während das Band surrend zurücklief, ertönte das Telefon. Mitch nahm ab.

»Entschuldigen Sie«, sagte eine männliche Tenorstimme auf Englisch, »ist dort Mitch Rafelson?«

»Genau der«, erwiderte Mitch.

»Ich sage Ihnen nur eines, und dann lege ich auf. Vielleicht erkennen Sie meine Stimme, aber … das spielt keine Rolle. Sie haben die Leichen in der Höhle gefunden. Die Leute von der Universität Innsbruck. Ohne Ihre Hilfe, nehme ich an. Sie sagen es noch niemandem, warum weiß ich nicht. Ich mache keine Scherze, und das hier ist kein Joke, Herr Rafelson.«

Es folgte ein deutliches Klicken, dann war die Leitung tot.

»Wer war das?«, fragte Sam.

Mitch schniefte und versuchte, den Unterkiefer zu entspannen.

»Arschlöcher«, sagte er. »Die versuchen sich einzumischen. Ich bin berühmt, Dad. Ein berühmter, verrückter Idiot.«

»Quatsch«, wiederholte Sam noch einmal, das Gesicht verzogen vor Ekel und Ärger. Mitch sah seinen Vater mit einer Mischung aus Liebe und Beschämung an; das war Sam, so betroffen und beschützend wie er nur sein konnte.

»Raus hier, aus diesem Rattenloch«, sagte Sam angewidert.

17 Long Island, New York

Kurz nach Sonnenaufgang machte Kaye für Saul das Frühstück.

Er wirkte mitgenommen. An dem unbehandelten Kieferntisch in der Küche nippte er langsam an einer Tasse mit schwarzem Kaffee. Er hatte schon drei Tassen getrunken — kein gutes Zeichen.

Wenn er guter Laune war — der gute Saul — trank er höchstens eine Tasse am Tag. Wenn er jetzt auch noch wieder mit dem Rauchen anfängt …

Kaye stellte ihm die Rühreier mit Toast hin und setzte sich neben ihn. Ohne sie zu beachten, beugte er sich vor und aß langsam und bedächtig, wobei er nach jedem Bissen einen Schluck Kaffee nahm. Als er fertig war, schob er mit angewidertem Gesicht den Teller zurück.

»Waren die Eier nicht gut?«, fragte Kaye leise.

Saul warf ihr einen langen Blick zu und schüttelte den Kopf. Er bewegte sich langsam, auch das kein gutes Zeichen. »Ich habe gestern bei BristolMyers Squibb angerufen«, sagte er. »Sie haben noch kein Abkommen mit Lado und Eliava, und offensichtlich rechnen sie auch nicht damit. In Georgien spielt sich etwas Politisches ab.«

»Vielleicht ist das ja eine gute Nachricht?«

Saul schüttelte den Kopf und drehte seinen Stuhl in Richtung Terrassentür. Der Morgen draußen war grau. »Ich habe auch einen Bekannten bei Merck angerufen. Er sagt, am Eliava-Institut braut sich etwas zusammen, aber was, das wusste er nicht. Lado Jakeli ist in die Vereinigten Staaten geflogen und hat sich mit ihnen getroffen.«

Kaye hielt mitten in einem Seufzer inne und ließ ihn dann langsam und unhörbar heraus. Wir bewegen uns wieder mal auf dünnem Eis … Der Körper merkte es, ihr Körper merkte es. Saul litt wieder, und zwar schlimmer, als es den Anschein hatte. Sie hatte so etwas schon mindestes fünf Mal durchgemacht. Irgendwann demnächst würde er eine Schachtel Zigaretten auftreiben und das heiße, stechende Nikotin inhalieren, um seine Gehirnchemie ein wenig zu glätten. Und das, obwohl er das Rauchen hasste, den Tabak hasste.

»Dann … sind wir aus dem Rennen«, sagte sie.

»Das weiß ich noch nicht«, sagte Saul. Er schielte nach einem kurzen Sonnenstrahl. »Du hast mir noch nichts von dem Grab erzählt.«

Kaye errötete wie ein kleines Mädchen. »Nein«, sagte sie linkisch. »Habe ich nicht.«

»Und es stand auch nicht in der Zeitung.«

»Nein.«

Saul rückte mit seinem Stuhl zurück, griff nach der Tischkante, stand halb auf und machte mehrere schräge Liegestützen, wobei er den Blick auf die Tischplatte richtete. Als er mit dreißig Stück fertig war, setzte er sich wieder hin und wischte sich das Gesicht mit dem zusammengefalteten Papierhandtuch ab, das er als Serviette benutzte.

»Du lieber Gott, es tut mir Leid, Kaye«, sagte er mit rauer Stimme. »Weißt du, welche Gefühle mir das einjagt?«

»Was?«

»Dass meine Frau so etwas erlebt.«

»Du weißt doch, dass ich an der State University of New York forensische Medizin belegt hatte.«

»Trotzdem fühle ich mich komisch dabei.«

»Du willst mich beschützen«, sagte Kaye, legte ihre Hand auf seine und strich über seine Finger. Er zog den Arm langsam zurück.

»Vor allem Möglichen«, sagte Saul und wischte mit der Hand über den Tisch, als wollte er die ganze Welt einstreichen. »Vor Grausamkeit und Versagen. Vor Dummheit.« Sein Redefluss beschleunigte sich. »Es ist etwas Politisches. Wir sind verdächtig.

Wir haben uns mit den Vereinten Nationen verbündet. Lado kann sich nicht mit uns zusammentun.«

»Ich hatte nicht den Eindruck, dass es so läuft, die Politik in Georgien«, erwiderte Kaye.

»Was, du bist mit der UNMannschaft dorthin gegangen und hast dich nicht gefragt, ob es uns schaden könnte?«

»Natürlich habe ich mich das gefragt.«

»Klar.« Saul nickte und bewegte dann den Kopf nach vorn und hinten, als wollte er eine Verspannung im Nacken lösen. »Ich werde noch ein paar Leute anrufen. Ich muss herausfinden, wann Lado seine Gespräche führt. Offensichtlich hat er nicht vor, uns zu besuchen.«

»Dann machen wir mit den Leuten von Evergreen weiter«, sagte Kaye. »Die haben eine Menge Knowhow, und manche Laborbefunde sind …«

»Das reicht nicht. Wir müssen mit dem Eliava konkurrieren und mit allen, die sich mit ihnen zusammentun. Sie werden als Erste die Patente bekommen und die Sachen auf den Markt bringen.

Sie werden das Kapital an Land ziehen.« Saul rieb sich am Kinn.

»Wir haben zwei Banken und ein paar Partner und … eine Menge Leute erwarten, dass wir es schaffen, Kaye.«

Kaye stand auf, und ihre Hände zitterten. »Es tut mir Leid«, sagte sie, »aber das Grab — das waren Menschen, Saul. Irgendjemand musste helfen, damit man herausfinden konnte, wie sie gestorben sind.« Sie wusste, dass es nach Verteidigung klang, und das irritierte sie. »Ich war dabei. Ich habe mich nützlich gemacht.«

»Wärst du hingegangen, wenn man es dir nicht befohlen hätte?«, fragte Saul.

»Man hat es mir nicht befohlen. Jedenfalls nicht ausdrücklich.«

»Wärst du hingegangen, wenn es keine offizielle Angelegenheit gewesen wäre?«

»Natürlich nicht.«

Saul streckte die Hand aus, und sie griff wieder danach. Er hielt ihre Finger fast schmerzhaft fest, und dann wurden seine Augenlider schwer. Er ließ los, stand auf und goss sich noch eine Tasse Kaffee ein.

»Kaffee hilft nicht, Saul«, sagte Kaye. »Sag’ mir, wie es dir geht.

Was du empfindest.«

»Mir geht’s gut«, erwiderte er abwehrend. »Das Medikament, das ich jetzt vor allem brauche, heißt Erfolg.«

»Das hat doch nichts mit dem Geschäft zu tun. Es ist wie die Gezeiten. Du hast mit deiner eigenen Ebbe zu kämpfen. Das hast du mir selbst gesagt.«

Saul nickte, sah sie aber nicht an. »Gehst du heute ins Labor?«

»Ja.«

»Ich ruf dich von hier aus an, wenn ich meine Nachforschungen angestellt habe. Wir setzen heute Abend in der Firma eine Besprechung mit den Arbeitsgruppenleitern an. Bestell Pizza. Und ein Fässchen Bier.« Er machte einen heldenhaften Versuch zu lächeln.

»Wir brauchen eine Rückzugsposition, und zwar schnell«, sagte er.

»Ich werde nachsehen, wie die neuen Arbeiten laufen«, sagte Kaye. Sie wussten beide, dass Gewinne aus den derzeitigen Projekten einschließlich der BacteriocinForschung noch mindestens ein Jahr auf sich warten lassen würden. »Wie schnell werden wir …«

»Lass das meine Sorge sein«, fiel Saul ihr ins Wort. Er schlich sich mit einer krebsartigen Bewegung zu ihr, wackelte mit den Schultern und machte sich über sich selbst lustig, wie nur er es konnte. Dann umarmte er sie mit einem Arm und ließ das Gesicht auf ihre Schulter sinken. Sie streichelte seinen Kopf.

»Ich finde es furchtbar«, sagte er. »Ich finde es ganz, ganz furchtbar, wenn ich so bin.«

»Du bist sehr stark, Saul«, flüsterte Kaye ihm ins Ohr.

»Du bist meine Stärke«, sagte er, schob sie weg und rieb sich die Wange wie ein kleiner Junge, der gerade geküsst worden ist. »Ich liebe dich mehr als mein Leben, Kaye, und das weißt du. Mach’ dir meinetwegen keine Sorgen.«

Einen kurzen Augenblick lang lag eine einsame, urtümliche Wildheit in seinem Blick, als sei er in die Enge getrieben und könne sich nirgendwo verstecken. Dann war es vorüber, seine Schultern sanken herab, und er zuckte die Achseln.

»Es geht mir gut, Kaye. Wir werden es schon schaffen. Ich muss nur ein paar Telefonate führen.«

Debra Kim war eine schlanke Frau mit breitem Gesicht und einem dichten Schopf schwarzer Haare. Sie war Eurasierin und neigte dazu, auf stille Weise ihre Autorität geltend zu machen. Mit Kaye kam sie sehr gut aus, aber gegenüber Saul und den meisten anderen Männern war sie reizbar.

Kim leitete das CholeraQuarantänelabor bei EcoBacter mit einer eisernen Hand, die im Samthandschuh steckte. Ihr Labor, das zweitgrößte der ganzen Firma, arbeitete nach der biologischen Sicherheitsstufe 3, aber damit sollten eher Kims übersensible Mäuse als die Angestellten geschützt werden, auch wenn mit Cholera nicht zu spaßen war. Für ihre Forschung benutzte sie die schwer immungeschädigten SCIDMäuse, deren Immunsystem gentechnisch ausgeschaltet war.

Kim führte Kaye durch das Arbeitszimmer im äußeren Bereich des Labors und bot ihr eine Tasse Tee an. Sie unterhielten sich ein paar Minuten über Nebensächliches und blickten dabei durch eine Acrylglasscheibe auf die an einer Wand aufgereihten sterilen Spezialbehälter aus Kunststoff und Edelstahl mit den darin herumwuselnden Mäusen.

Kim wollte ein wirksames, auf Phagen aufbauendes Therapieverfahren für Cholera finden. Den SCIDMäusen hatte man menschliches Darmgewebe eingepflanzt, das sie nicht abstoßen konnten.

Damit wurden sie zu kleinen Modellen für eine Cholerainfektion beim Menschen. Das Projekt hatte schon mehrere hunderttausend Dollar gekostet und nur magere Ergebnisse gebracht, aber noch ließ Saul es weiterlaufen.

»Nicki im Personalbüro sagt, wir haben vielleicht noch drei Monate«, sagte Kim ohne Vorwarnung. Sie setzte ihre Tasse ab und sah Kim mit gezwungenem Lächeln an. »Stimmt das?«

»Wahrscheinlich«, sagte Kaye. »Drei oder vier. Es sei denn, wir kriegen die Partnerschaft mit dem Eliava-Institut unter Dach und Fach. Das hätte so viel Reiz, dass wir neues Kapital auftreiben könnten.«

»Scheiße«, sagte Kim. »Ich habe letzte Woche ein Angebot von Procter and Gamble abgelehnt.«

»Ich hoffe, du hast noch nicht alle Brücken abgebrochen«, erwiderte Kaye.

Kim schüttelte den Kopf. »Ich bin gern hier, Kaye. Mit dir und Saul würde ich lieber weiterarbeiten als mit jedem anderen. Aber ich werde nicht jünger und habe noch ein paar ziemlich ehrgeizige Projekte im Kopf.«

»Das haben wir alle«, sagte Kaye.

»Ich bin ziemlich dicht davor, eine zweigleisige Therapie zu entwickeln.« Kim ging zum Acrylfenster. »Ich habe die genetische Verbindung zwischen Endotoxinen und Adhesinen gefunden. Die cholerae- Zellen heften sich an unsere kleinen Darmschleimhautzellen und machen sie besoffen. Dagegen wehrt sich der Körper, indem er die Schleimhaut abstößt. Reiswasserstuhl. Ich kann einen Phagen mit einem Gen herstellen, das bei den Cholerabakterien die Pilinproduktion abschaltet. Dann stellen sie zwar noch das Toxin her, aber nicht die Pili, und deshalb können sie sich nicht mehr an die Schleimhautzellen heften. Wir applizieren Kapseln mit den Phagen an den cholerainfizierten Bereichen, und das war’s. Man kann sie sogar bei der Wasseraufbereitung einsetzen.

Sechs Monate, Kaye. Nur noch ein halbes Jahr, dann können wir es für 75 Cents je Dosis an die Weltgesundheitsorganisation liefern. Für vierhundert Dollar kann man ein ganzes Wasserwerk behandeln. Ergibt einen hübschen Gewinn und rettet jeden Monat mehrere tausend Menschenleben.«

»Zur Kenntnis genommen«, sagte Kaye.

»Warum ist der Zeitpunkt immer so entscheidend?«, fragte Kim leise und schenkte sich noch eine Tasse Tee ein.

»Deine Arbeit hört hier nicht auf. Wenn wir eingehen, kannst du sie mitnehmen. Geh zu einer anderen Firma. Und nimm die Mäuse mit. Bitte.«

Kim lachte und runzelte dann die Stirn.

»Das ist ja geradezu krankhaft großzügig von dir. Und was ist mit euch? Wollt ihr in den sauren Apfel beißen und in den Schulden ertrinken oder lieber Konkurs anmelden und dann bei Squibb arbeiten? Du bekommst ohne weiteres Arbeit, Kaye, vor allem wenn du zuschlägst, bevor der Medienrummel nachlässt. Aber was ist mit Saul? Die Firma ist sein Lebenswerk.«

»Wir haben durchaus Möglichkeiten«, sagte Kaye.

Kim ließ die Mundwinkel besorgt herabsinken und legte die Hand auf Kayes Arm. »Wir alle kennen seine Phasen«, sagte sie.

»Macht es ihm zu schaffen?«

Daraufhin musste Kaye zittern, und sie schüttelte sich, als wollte sie alles Unerfreuliche von sich werfen. »Ich kann nicht über Saul sprechen, Kim, das weißt du.«

Kim hob die Arme. »Du lieber Gott, Kaye, vielleicht solltet ihr die Publicity nutzen und die Firma an die Börse bringen, Geld auftreiben. Helft uns noch über ein Jahr hinweg …«

Für Geschäftliches hatte Kim kaum ein Gespür. In dieser Hinsicht war sie untypisch: Die meisten Wissenschaftler in privaten Biotechnologiefirmen verstanden eine Menge vom Geschäft. Keine Dollars, keine Dollys, hatte sie einmal von einem Kollegen gehört.

»Wir könnten niemanden dazu bringen, uns bei einem Börsengang zu unterstützen«, sagte Kaye. »SHEVA hat mit EcoBacter nichts zu tun, jedenfalls im Augenblick nicht. Und Cholera ist DritteWeltKram. Das hat keinen Reiz, Kim.«

»Hat es nicht?«, fragte Kim und wedelte angewidert mit den Händen. »Na, was hat denn heutzutage Reiz in der großen alten Geschäftswelt?«

»Allianzen und hohe Gewinne und Aktienkurse«, erwiderte Kaye. Sie stand nahe bei einem der Mauskäfige und klopfte gegen die Kunststoffscheibe. Die Mäuse schreckten hoch und wackelten mit der Nase.


Kaye ging ins Labor 6, wo ihre eigenen Forschungsarbeiten zum größten Teil stattfanden. Die BacteriocinUntersuchungen hatte sie einen Monat zuvor ein paar Postdocs im Labor 5 anvertraut.

Labor 6 wurde derzeit eigentlich von Kayes Assistenten genutzt, aber die waren gerade auf einer Tagung in Houston; der Raum war abgeschlossen und dunkel.

Wenn sie sich nicht mit Antibiotika befasste, waren Henle-407-Gewebekulturen ihr Lieblingsobjekt, Zellen, die ursprünglich aus dem Darm stammten; mit ihrer Hilfe hatte sie verschiedene Aspekte des Säugergenoms untersucht und potenziell aktive HERV lokalisiert. Saul hatte sie dazu ermutigt, und das war möglicherweise falsch gewesen; sie hätte sich ausschließlich auf die BacteriocinForschung konzentrieren können, aber Saul hatte ihr versichert, sie sei ein Goldkind: Alles, was sie anfasste, würde der Firma von Nutzen sein.

Und jetzt hatte sie eine Menge Ruhm, aber kein Geld.

Die Biotechnologiebranche war, gelinde gesagt, unnachsichtig.

Vielleicht hatten sie und Saul schlicht und einfach nicht das, was man dazu brauchte.

Kaye saß mitten im Labor auf einem Bürostuhl, der aus irgendwelchen Gründen eine Rolle verloren hatte. Die Hände auf den Knien, beugte sie sich zur Seite, und Tränen rannen ihr über die Wangen. Eine leise, hartnäckige Stimme im Hinterkopf sagte ihr, so könne es nicht weitergehen. Dieselbe Stimme warnte sie auch ständig, sie habe in ihrem Privatleben die falschen Entscheidungen getroffen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, was sie hätte anders machen sollen. Saul war trotz allem nicht ihr Feind; er war keineswegs ein brutaler oder gewalttätiger Mann, sondern schlicht das Opfer eines tragischen biologischen Ungleichgewichts. Seine Liebe zu ihr war rein und ehrlich.

Was sie zu Tränen rührte, war diese hinterhältige innere Stimme, die darauf beharrte, sie könne sich aus der gegenwärtigen Situation befreien, Saul verlassen, von vorn anfangen; einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht. Sie konnte sich eine Stelle an einem Universitätsinstitut suchen, Mittel für ein zu ihr passendes Grundlagenforschungsprojekt beantragen und diesem blöden Mäusezirkus — im wahrsten Sinne des Wortes — entkommen.

Aber Saul war so liebevoll, so gut drauf gewesen, als sie aus Georgien zurückkam. Es schien, als habe der Aufsatz über Evolution sein Interesse an der Wissenschaft unabhängig vom Profit wieder geweckt. Und dann … die Rückschläge, die Entmutigung, die tödliche Spirale, die den bösen Saul neu erweckt hatten.

Mit dem, was sich vor acht Monaten abgespielt hatte, wollte sie sich nicht noch einmal auseinander setzen. Bei Sauls schlimmstem Zusammenbruch war auch sie an ihre Grenzen gestoßen. Nach seinen beiden Selbstmordversuchen war sie erschöpft und — mehr als sie es sich selbst eingestehen mochte — verbittert gewesen. In ihrer Fantasie hatte sie sich ausgemalt, mit anderen Männern zusammenzuleben, mit ruhigen, normalen Männern, mit Männern, die eher in ihrem Alter waren.

Von solchen Wünschen, solchen Träumen hatte sie Saul nie etwas gesagt; sie fragte sich, ob sie vielleicht selbst einen Psychiater aufsuchen sollte, hatte sich dann aber dagegen entschieden. Saul hatte zigtausend Dollar für psychiatrische Behandlungen ausgegeben und sich fünf Mal einer medikamentösen Therapie unterzogen, wobei er ein Mal völlig die Sexualfunktion einbüßte und wochenlang nicht mehr klar denken konnte. Wunderarzneien halfen bei ihm nicht.

Was blieb ihnen noch, was blieb ihr noch an Reserven, wenn die Zeiten sich wieder änderten und sie den Guten Saul verlor? In schlechten Zeiten in seiner Nähe zu sein, hatte bei ihr auch an einer anderen Reserve gezehrt — an der spirituellen Reserve, die in ihrer Kindheit entstanden war, als die Eltern ihr gesagt hatten: Du bist selbst verantwortlich für dein Leben, für das, was du tust. Gott hat dir bestimmte Gaben mitgegeben, wunderbare Hilfsmittel …

Sie wusste, dass sie gut war; früher war sie selbstständig gewesen, stark, von sich überzeugt, und so wollte sie sich auch jetzt wieder fühlen.

Saul hatte einen äußerlich gesunden Körper und einen scharfen Verstand, aber zu manchen Zeiten konnte er, ohne dass es seine Schuld war, sein Dasein nicht mehr steuern. Was besagte das über Gott und die erhabene Seele, das Ich? Wenn schon ein paar chemische Stoffe so vieles durcheinander bringen konnten.


Kaye hatte zu der Sache mit Gott, zum Glauben nie eine starke Bindung gehabt. Der Anblick der Verbrechen in Brooklyn hatte ihren Glauben an jede Art von Märchenreligion zu stark strapaziert — strapaziert und dann ausgelöscht.

Aber ihr letzter spiritueller Halt, ihr letzter Anker in der Welt der Ideale, war die Überzeugung, dass jeder Mensch selbst über sein Verhalten bestimmt.

Sie hörte jemanden ins Labor kommen. Das Licht ging an. Als sie sich umdrehte, schabte der kaputte Stuhl über den Fußboden.

Es war Kim.

»Ach hier bist du!«, sagte sie mit bleichem Gesicht. »Wir haben dich schon überall gesucht.«

»Wo sollte ich sonst sein?«, fragte Kaye. Kim hielt ihr ein schnurloses Telefon hin. »Jemand ruft von eurem Haus aus an.«

18 Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta

»Mr. Dicken, das ist kein Baby. Es wäre niemals ein Baby geworden.«

Dicken überflog die Fotos und Analysen der Fehlgeburt aus dem Crown City Hospital. Tom Scarrys mitgenommener alter Metallschreibtisch stand seitlich in einem kleinen Zimmer mit blassblauen Wänden, das ansonsten mit Computerterminals vollgestellt war; es lag neben Scarrys Labor für Viruspathologie im Gebäude 15. Die Tischplatte war mit Disketten, Fotos und Ordnern voller Fachartikel übersät. Irgendwie gelang es Scarry, Ordnung in seinen Projekten zu halten; er war an den CDC einer der besten Gewebeanalytiker.

»Was ist es dann?«, fragte Dicken.

»Es dürfte anfangs ein Fetus gewesen sein, aber fast alle inneren Organe sind stark unterentwickelt. Die Wirbelsäule hat sich nicht geschlossen — man könnte es als Spina bifida deuten, aber hier zweigt eine ganze Reihe von Nerven zu einer Follikelmasse ab, und die liegt an der Stelle, wo sonst die Bauchhöhle ist.«

»Follikel?«

»Wie ein Eierstock. Aber einer, der nur ein Dutzend Eizellen enthält.«

Dicken zog die Augenbrauen zusammen. Scarrys angenehm gedehnte Sprechweise passte zu seinem freundlichen Gesicht, aber es war ein eher trauriges Lächeln.

»Dann … wäre es also ein Mädchen geworden?«, fragte Dicken.

»Christopher, dieser Fetus wurde vorzeitig abgestoßen, weil er eine höchst seltsame Anordnung von Zellmaterial enthält. So etwas habe ich noch nie gesehen. Die Fehlgeburt war ein wahrer Segen. Es wäre wohl ein Mädchen geworden, aber irgendetwas ist schon in der ersten Schwangerschaftswoche ganz schrecklich schief gegangen.«

»Ich verstehe nicht -«

»Der Kopf ist schwer fehlgebildet. Das Gehirn ist nur ein kleiner Gewebeknoten am Ende eines verkürzten Rückenmarks. Ein Unterkiefer existiert nicht. Die Augenhöhlen öffnen sich nach der Seite wie bei einer jungen Katze. Der Schädel, oder was davon vorhanden ist, sieht fast aus wie der eines Halbaffen. Nach den ersten drei Wochen wäre keinerlei Gehirnfunktion möglich gewesen. Nach dem ersten Monat wäre kein Stoffwechsel in Gang gekommen. Dieses Ding funktioniert wie ein Organ, das Nährstoffe beansprucht, aber es hat keine Nieren, eine sehr kleine Leber, keinen Magen oder Darm, den man als solchen bezeichnen könnte … eine Art Herz, aber ebenfalls sehr klein. Die Extremitäten sind winzige, fleischige Verdickungen. Es ist kaum mehr als ein Eierstock mit Blutversorgung. Wo um alles in Welt kommt das her?«

»Crown City Hospital«, sagte Dicken, »aber hängen Sie es nicht an die große Glocke.«

»Ich schweige wie ein Grab. Wie viele von der Sorte hatten sie dort?«

»Ein paar«, erwiderte Dicken.

»Ich würde nach einer Quelle für starke Teratogene suchen.

Contergan ist nichts dagegen. Was auch die Ursache sein mag — das hier ist ein richtiger Albtraum.«

»Allerdings«, sagte Dicken und drückte sich die Finger auf den Nasenrücken. »Noch eine letzte Frage.«

»Gut. Und dann nehmen Sie es mit, damit ich in mein normales Leben zurückkehren kann.«

»Sie haben gesagt, es hat einen Eierstock. Würde der Eierstock funktionieren?«

»Die Eizellen waren ausgereift, wenn Sie das meinen. Und ein Follikel ist offensichtlich geplatzt. Das habe ich in meinem Bericht geschrieben …« Er blätterte ein paar Seiten durch und deutete dann ein wenig ungeduldig auf die Stelle — verärgert eher über die Natur als über mich, dachte Dicken. »Genau hier.«

»Wir haben es also mit einem Fetus zu tun, der einen Eisprung hatte, bevor er abgestoßen wurde?«, fragte Dicken ungläubig.

»Dass es so weit gekommen ist, bezweifle ich.«

»Die Plazenta haben wir nicht«, sagte Dicken.

»Wenn Sie eine bekommen, bringen Sie sie mir nicht«, erwiderte Scarry. »Mir gruselt es jetzt schon genug. Ach — noch eines.

Dr. Branch hat heute morgen ihre Gewebeanalyse abgegeben.«

Scarry schob ein einzelnes Blatt Papier über den Schreibtisch, wobei er es ein wenig anhob, damit die anderen Dinge nicht durcheinander gerieten.

Dicken nahm es in die Hand. »Du lieber Gott.«

»Glauben Sie, dass SHEVA so etwas anrichten kann?«, fragte Scarry und tippte auf den Befundbogen.

Branch hatte im Gewebe des Fetus eine hohe Konzentration von SHEVAPartikeln nachgewiesen — weit über eine Million Virusteilchen je Gramm. Die Partikel hatten den Fetus — oder wie man das bizarre Gebilde nennen wollte — geradezu überschwemmt; nur in der Follikelmasse, dem Eierstock, fehlten sie praktisch völlig.

An das Ende der Seite hatte sie einen kleinen Notizzettel geheftet.


Diese Partikel enthalten eine einzelsträngige RNA mit knapp 80000

Nucleotiden. Alle sind mit einem nicht identifizierten Proteinkomplex von über 12000 Kilodalton im Kern der Wirtszelle assoziiert. Das Virusgenom weist eine beträchtliche Homologie zu SHEVA auf. Bitte setzen Sie sich mit meinem Büro in Verbindung. Ich hätte gern frischeres Material für eine genaue PCR- und Sequenzanalyse.


»Na?«, beharrte Scarry, »wird es nun von SHEVA verursacht oder nicht?«

»Vielleicht«, erwiderte Dicken.

»Hat Augustine jetzt, was er braucht?«

In 1600 Clifton Road konnten sich Dinge schnell herumsprechen.

»Keinen Mucks zu irgendjemandem, Tom«, sagte Dicken. »Das meine ich wirklich so.«

»Aber nicht doch, Herr und Meister.« Scarry drückte seine Lippen mit den Fingern zusammen.

Dicken verstaute Bericht und Analysebefund in einem Ordner und sah auf die Uhr. Es war sechs. Möglicherweise befand sich Augustine noch in seinem Büro.

Auch sechs weitere Krankenhäuser in der Umgebung von Atlanta, die alle zu Dickens Netzwerk gehörten, berichteten über eine hohe Quote von Fehlgeburten mit ähnlichen Fetus-Überresten.

Die Mütter wurden immer häufiger auf SHEVA getestet — mit positivem Ergebnis.

Das würde die Leiterin des Gesundheitswesens auf jeden Fall wissen wollen.

19 Long Island, New York

Auf der Kieseinfahrt parkten ein leuchtend gelber FeuerwehrLkw und ein roter Rettungswagen. Die kreisenden roten und blauen Lichter erhellten blitzend den Schatten des Spätnachmittags, der über dem Haus lag. Kaye fuhr mit geweiteten Augen und feuchten Handflächen an dem Feuerwehrfahrzeug vorüber und parkte hinter dem Krankenwagen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Immer wieder flüsterte sie: »Oh Gott, Saul. Doch nicht jetzt.«

Von Osten zogen Wolken auf, legten sich vor die Nachmittagssonne und ragten wie eine graue Wand hinter den blitzenden Warnlichtern auf. Sie öffnete die Autotür, stieg aus und starrte zwei Feuerwehrleute an, die ihren Blick ausdruckslos erwiderten.

Eine schwächere, wärmere Brise fuhr sanft durch ihre Haare. Die Luft roch feucht und schwül; vielleicht würde es heute Abend noch ein Gewitter geben.

Ein junger Sanitäter kam näher. Er machte ein professionellbesorgtes Gesicht und hielt ein Klemmbrett in der Hand. »Mrs.

Madsen?«

»Lang«, erwiderte sie. »Kaye Lang. Die Ehefrau von Saul.« Sie drehte sich um, weil sie ihre Gedanken sammeln wollte. Erst jetzt bemerkte sie das Polizeiauto, das auf der anderen Seite des Feuerwehrwagens stand.

»Mrs. Lang, wir sind von einer Miss Caddy Wilson angerufen worden.«

Caddy stieß die Fliegentür am Eingang auf und kam, gefolgt von einem Polizeibeamten, auf die Veranda. Die Tür fiel hinter ihr mit hölzernem Krachen zu — ein vertrautes, freundliches Geräusch, das plötzlich unheilverkündend wirkte.

»Caddy!« Kaye winkte. Caddy stürzte die wenigen Stufen hinunter, den leichten Baumwollrock mit den Händen zusammengerafft; die blassblonden Haare wehten in Strähnen hinter ihr. Sie war Ende vierzig, schlank, hatte muskulöse Unterarme, die Hände eines Mannes und ein hübsches, ehrliches Gesicht. Die großen braunen Augen blickten jetzt besorgt auf Kaye, gleichzeitig wirkten sie leicht panisch wie bei einem Pferd, das gleich durchgehen wird.

»Kaye! Ich bin heute Nachmittag ins Haus gekommen, wie immer …«

Der Sanitäter unterbrach sie. »Mrs. Lang, Ihr Mann ist nicht im Haus. Wir haben ihn nicht gefunden.«

Caddy sah den jungen Mann gekränkt an, als stehe es nur ihr zu, die Geschichte zu erzählen. »Im Haus sieht es schrecklich aus, Kaye. Überall Blut …«

»Mrs. Lang, Sie sollten vielleicht zuerst mit der Polizei sprechen.«

»Bitte!«, schrie Caddy. »Sehen Sie denn nicht, wie erschrocken sie ist?«

Kaye nahm Caddys Hand und machte leise »Psst«. Caddy rieb sich mit der Hand über die Augen, nickte und schluckte zwei Mal.

Der Polizeibeamte kam zu ihnen, ein großer Mann mit kräftigem Bauch, tiefschwarzer Haut, sauber über der hohen Stirn zurückgekämmten Haaren und väterlichem Gesicht: kluge, müde Augen, in denen das Weiße golden schimmerte. Erstaunlich, dachte sie, viel anziehender als die anderen auf der Wache.

»Missus …«, setzte der Polizist an.

»Lang«, half der Sanitäter.

»Missus Lang, Ihr Haus ist in einem Zustand …«

Kaye ging die Stufen zur Veranda hinauf. Sollten die anderen doch den rechtlichen Kram und den Papierkrieg erledigen. Erst musste sie sehen, was Saul angerichtet hatte, damit sie sich eine Vorstellung davon machen konnte, wo er sein könnte, was er seitdem vielleicht getan hatte … oder jetzt noch tat.

Der Polizist folgte ihr. »Hat Ihr Mann sich früher schon einmal etwas angetan, Missus Lang?«

»Nein«, stieß Kaye zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Er kaut nur an den Fingernägeln.«

Im Haus war es still bis auf die Schritte eines zweiten Polizisten, der die Treppe herunterkam. Irgendjemand hatte die Wohnzimmerfenster geöffnet. Die weißen Vorhänge bauschten sich über dem Polstersofa. Der zweite Beamte — über fünfzig, schmächtig und blass, mit einem Gesicht, das ständige Sorge ausstrahlte — sah eher wie ein Bestattungsunternehmer oder Leichenbeschauer aus.

Er setzte mit distanzierten, flüssigen Worten zum Reden an, aber Kaye drängte hinter ihm die Treppe hinauf. Der dickbäuchige Beamte folgte ihnen.

Saul hatte das Schlafzimmer übel zugerichtet. Die Schubladen waren herausgerissen, seine Kleidung lag überall verstreut. Ohne näher nachzudenken, wusste sie, dass er nach der richtigen Unterwäsche gesucht hatte, nach den richtigen Socken, passend zu einer besonderen Gelegenheit.

Ein Aschenbecher auf der Fensterbank war noch voller Zigarettenkippen. Camel, ohne Filter. Der harte Stoff. Kaye fand Tabakgeruch widerlich.

Das Badezimmer war voller Blutspritzer. In der Badewanne stand rosafarbenes Wasser auf halber Höhe, blutige Fußabdrücke zogen sich von dem gelben Badevorleger über das schwarzweiße Schachbrettmuster der Fliesen zu dem alten Teakholzfußboden und dann ins Schlafzimmer, wo sich die Blutspuren verloren.

»Wie theatralisch«, murmelte sie und blickte in den Spiegel; kleine Blutspritzer bedeckten das Glas und das Waschbecken. »Du lieber Gott. Doch nicht jetzt, Saul.«

»Haben Sie eine Ahnung, wohin er gegangen sein könnte?«, fragte der dickbäuchige Polizist. »Hat er sich das selbst angetan, oder ist jemand anderes im Spiel?«

Es war sicher das Schlimmste, was sie bisher gesehen hatte. Er musste ihr seine dunkelsten Gemütszustände verheimlicht haben, oder vielleicht hatte der Schub auch heimtückisch schnell eingesetzt und jeden Rest von Vernunft oder Verantwortungsgefühl überlagert. Den Beginn einer schweren Depression hatte er einmal als lange, dunkle Schattendecke beschrieben — eine Schattendecke, die Teufel mit schlaffen Gesichtern und zerknüllter Kleidung ihm über den Kopf zogen.

»Das war nur er, nur er«, sagte sie und musste hinter vorgehaltener Faust husten. Seltsamerweise war ihr nicht übel. Sie sah das Bett, ordentlich hergerichtet, die weiße Decke hochgezogen und sauber unter den Kissen gefaltet — Saul hatte versucht, Sinn und Ordnung in seine verdüsterte Welt zu bringen. Bei einem kleinen Ring aus Blutstropfen auf dem Holz neben ihrem Nachttisch blieb sie stehen. »Er ganz allein.«

»Mr. Madsen war manchmal sehr traurig«, sagte Caddy. Sie stand in der Schlafzimmertür, die langfingerige weiße Hand flach gegen den dunklen Türpfosten aus Ahornholz gedrückt.

»Hat Ihr Mann schon früher Selbstmordversuche unternommen?«, fragte der Sanitäter.

»Ja«, sagte sie. »Aber so schlimm war es nie.«

»Sieht aus, als hätte er sich in der Badewanne die Handgelenke aufgeschnitten«, meinte der dünne Polizist und nickte weise. Kaye entschloss sich, ihn Mister Tod zu nennen; der andere war Mister Bulle. Mr. Bulle und Mr. Tod konnten über das Haus sicher genauso viel sagen wie sie, vielleicht sogar mehr.

»Er ist aus der Wanne gestiegen«, sagte Mr. Bulle, »und dann …«

»Hat er sich die Handgelenke wieder zugebunden wie ein Römer, der seine Zeit auf Erden verlängern will«, sagte Mr. Tod.

»‘Tschuldigung, Ma’am.«

»Dann hat er sich angezogen und ist aus dem Haus gegangen.«

Genau, dachte Kaye. Sie hatten völlig Recht.

Kaye setzte sich auf das Bett und wünschte sich, sie wäre der Typ, der in Ohnmacht fällt. Der hier und jetzt aus der Szene aussteigt und anderen die Verantwortung überlässt.

»Mrs. Lang, wir könnten Ihren Mann vielleicht finden …«

»Er hat sich nicht umgebracht«, sagte sie. Sie deutete auf das Blut und dann matt in Richtung von Flur und Badezimmer. Sie suchte nach einem winzigen Hoffnungsschimmer, und einen Augenblick lang glaubte sie ihn fassen zu können. »Es war schlimm, aber … wie Sie schon sagten, er hat von sich aus damit aufgehört.«

»Missus Lang …«, setzte Mr. Bulle an.

»Wir müssen ihn finden und ins Krankenhaus bringen«, sagte sie. Bei dem plötzlichen Gedanken an die Möglichkeit, ihn doch noch zu retten, versagte ihr die Stimme, und sie brach leise in Tränen aus.

»Das Boot ist weg«, erklärte Caddy. Kaye stand mit einem Ruck auf und ging zum Fenster. Sie kniete sich davor auf einen Stuhl und blickte auf den kleinen Steg hinunter, der sich von der steinernen Kaimauer in das graugrüne Wasser der Bucht schob. Das winzige Segelboot lag nicht an seinem Platz.

Kaye erschauerte wie bei einem Schüttelfrost. Jetzt fand sie sich langsam damit ab, dass die Sache endgültig war. Tapferkeit und Leugnen konnten die Tatsachen nicht aus der Welt schaffen — die Tatsache, dass alles ein Durcheinander und voller Blut war; die Tatsache, dass Saul ausgerastet war und der depressive/böse Saul, der Saul unter der schwarzen Decke, die Oberhand gewonnen hatte.

»Ich kann’s nicht sehen«, erklärte Kaye mit schriller Stimme und sah dabei auf das vom Wind aufgewühlte Meer hinaus. »Es hat ein rotes Segel. Da draußen ist es nicht.«

Sie fragten nach einer Beschreibung, einem Foto, und sie gab ihnen beides. Mr. Bulle ging nach unten und durch den Vordereingang zum Polizeiwagen. Kaye folgte ihm ein Stück weit und wandte sich dann zum Wohnzimmer. Sie hatte nicht vor, im Schlafzimmer zu bleiben. Mr. Tod und der Sanitäter waren noch da und stellten weitere Fragen, aber sie konnte ihnen kaum antworten. Ein Polizeifotograf und der Assistent des Leichenbeschauers gingen mit ihrer Ausrüstung die Treppe hoch.

Caddy beobachtete alles mit der Sorge einer Glucke und der Faszination einer Katze. Schließlich nahm sie Kaye in den Arm und sagte irgend etwas; ganz automatisch erwiderte Kaye, sie werde schon zurechtkommen. Caddy wollte eigentlich gehen, brachte es aber nicht übers Herz.

In diesem Augeblick kam Crickson ins Zimmer, der orangefarbene Kater. Kaye hob ihn hoch, streichelte ihn, fragte sich plötzlich, ob er es wohl gesehen hatte; dann bückte sie sich und ließ ihn sanft wieder auf den Fußboden gleiten.

Die Minuten dehnten sich zu Stunden. Das Tageslicht verdüsterte sich, Regen klatschte gegen die Wohnzimmerfenster.

Schließlich kam Mr. Bulle zurück, und jetzt war Mr. Tod an der Reihe zu gehen.

Caddy beobachtete alles mit schlechtem Gewissen, weil sie einerseits entsetzt, andererseits aber auch fasziniert war.

»Das Aufräumen können wir Ihnen nicht abnehmen«, sagte Mr.

Bulle. Er gab ihr eine Visitenkarte. »Die Leute hier haben eine kleine Firma. Die können so was sauber machen. Es ist nicht billig, aber sie arbeiten ordentlich. Mann und Frau. Christen. Nette Leute.«

Kaye nickte und nahm die Karte. Sie wollte jetzt nicht im Haus bleiben. Sie dachte daran, abzuschließen und wegzufahren.

Caddy ging als Letzte. »Wo willst du heute Nacht bleiben, Kaye?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht«, erwiderte Kaye.

»Du kannst gerne bei uns übernachten, Liebes.«

»Danke«, sagte Kaye. »Im Labor gibt es ein Feldbett. Ich glaube, heute Nacht werde ich dort schlafen. Könntest du dich um die Katzen kümmern? Ich kann jetzt nicht an sie denken.«

»Natürlich. Ich suche sie und nehme sie mit. Möchtest du, dass ich wiederkomme? Saubermachen, wenn … du weißt schon?

Wenn die anderen fertig sind?«

»Ich ruf dich an«, sagte Kaye, kurz vor einem neuen Zusammenbruch. Caddy umarmte sie so heftig, dass es wehtat, und machte sich dann auf die Suche nach den Katzen. Zehn Minuten später ging sie, und Kaye war allein im Haus.

Kein Brief, keine Notiz, nichts.

Das Telefon klingelte. Eine Zeit lang nahm sie nicht ab, aber es klingelte immer weiter, und der Anrufbeantworter war abgeschaltet — vielleicht hatte Saul das gemacht. Vielleicht war es Saul, dachte sie plötzlich erschrocken, und einen Augenblick lang hasste sie sich selbst, weil sie die Hoffnung für kurze Zeit aufgegeben hatte. Sofort nahm sie den Hörer ab.

»Sind Sie es, Kaye?«

»Ja.« Ihre Stimme klang heiser, sie räusperte sich.

»Mrs. Lang, hier ist Randy Foster von AKS Industries. Ich muss mit Saul sprechen. Über das Abkommen. Ist er zu Hause?«

»Nein, Mrs. Foster.«

Es entstand eine peinliche Pause. Was sollte sie sagen? Wem sollte sie es in dieser Situation sagen? Und wer war Randy Foster, und was für ein Abkommen?

»Schade. Sagen Sie ihm, wir haben es mit unseren Anwälten gerade geschafft. Die Verträge sind fertig. Sie werden morgen abgeliefert. Wir haben für 16 Uhr eine Besprechung angesetzt. Ich freue mich darauf, Sie kennen zu lernen, Mrs. Lang.«

Kaye murmelte etwas und legte auf. Einen Augenblick lang hatte sie das Gefühl, jetzt werde sie einen Zusammenbruch erleiden, und zwar einen großen. Stattdessen ging sie langsam und mit viel Willenskraft wieder die Treppe hinauf und packte die Kleidung, die sie in der kommenden Woche vielleicht brauchen konnte, in einen großen Koffer.

Dann ging sie aus dem Haus und fuhr mit dem Auto zu EcoBacter. Das Gebäude war zur Abendessenszeit fast leer, und sie hatte keinen Hunger. Sie schloss das kleine Büro auf, in dem Saul ein Feldbett und ein paar Decken deponiert hatte; bevor sie die Tür aufstieß, zögerte sie einen Augenblick. Schließlich ging sie langsam hinein.

Der kleine, fensterlose Raum war dunkel, leer und kühl. Es roch sauber. Alles in Ordnung.

Kaye zog sich aus und legte sich unter die beigefarbene Wolldecke mit den frischen weißen Laken.

Früh am Morgen, noch bevor es dämmerte, wachte sie schweißgebadet und zitternd auf; krank war sie nicht, aber entsetzt über das Gespenst ihres neuen Daseins — als Witwe.

20 London

Die Reporter stöberten Mitch schließlich in Heathrow auf. Sam saß ihm gegenüber an einem kleinen Tisch in dem abgegrenzten Bereich rund um die Meeresfrüchtebar, als fünf von ihnen — zwei Frauen und drei Männer — sich außerhalb der niedrigen Absperrung aus Plastikpflanzen zusammendrängten, um ihn mit Fragen zu bombardieren. Neugierige, irritierte Fluggäste sahen von den anderen Tischen aus zu oder hasteten mit ihren Gepäckkarren vorüber.

»Haben Sie als Erster bestätigt, dass sie prähistorisch waren?«, fragte eine ältere Frau, die Kamera mit einer Hand umklammert.

Unsicher wischte sie sich Strähnen ihrer hennagefärbten Haare aus dem Gesicht. Ihr Blick huschte nach rechts und links, bis er sich schließlich in Erwartung einer Antwort auf Mitch richtete.

Mitch stocherte in seinem Krabbencocktail.

»Glauben Sie, dass ein Zusammenhang mit dem Pasco-Menschen in den USA besteht?«, wollte einer der Männer wissen, ganz offensichtlich in der Hoffnung, Mitch zu provozieren.

Mitch konnte die drei Männer nicht auseinander halten. Alle waren zwischen dreißig und vierzig, in zerknitterte schwarze Anzüge gekleidet und mit Stenoblöcken und Digitalkassettenrecordern bewaffnet.

»Das war doch Ihr letztes Debakel, oder?«

»Wurden Sie aus Österreich abgeschoben?«, fragte ein anderer Mann.

»Wie viel haben die toten Bergsteiger Ihnen bezahlt, damit Sie die Sache für sich behalten? Was wollten sie für die Mumien verlangen?«

Mitch lehnte sich zurück, räkelte sich demonstrativ und lächelte.

Die Frau mit den Hennahaaren schrieb es pflichtschuldigst auf.

Sam schüttelte den Kopf und zog ihn dann ein, als ducke er sich vor einer Regenwolke.

»Fragen Sie mich nach dem Säugling«, sagte Mitch.

»Was für ein Säugling?«

»Fragen Sie mich nach dem Baby. Dem gesunden Baby.«

»Wie viele Fundstellen haben Sie geplündert?«, fragte Hennahaar fröhlich.

»Wir haben das Baby in der Höhle mit seinen Eltern gefunden«, sagte Mitch. Er stand auf und schob den Metallstuhl mit einem hässlich kratzenden Geräusch zurück. »Komm, Dad, wir gehen.«

»Gut«, sagte Sam.

»Welche Höhle? Die Höhlenmannhöhle?«, wollte der mittlere Mann wissen.

»Höhlenmann und Höhlenfrau«, korrigierte die jüngere Frau.

»Glauben Sie, dass sie das Baby gekidnappt hatten?«, fragte Hennahaar und leckte sich die Lippen.

»Ein Baby gekidnappt und ermordet, vielleicht als Proviant mit in die Alpen genommen … in einen Sturm geraten und gestorben!«, begeisterte sich der linke Mann.

»Das wäre eine Story!«, fügte Mann Nummer drei links hinzu.

»Fragen Sie die Wissenschaftler«, sagte Mitch und bahnte sich auf Krücken seinen Weg zur Kasse, um die Rechnung zu bezahlen.

»Die lassen Nachrichten so sparsam raus, als wären es Gottesgaben!«, rief die jüngere Frau ihnen nach.

21 Washington, D. C.

Dicken saß neben Augustine im Büro der Leiterin des Gesundheitswesens, Doktor Maxine Kirby. Kirby war mittelgroß und stämmig. Ihre klugen Mandelaugen waren in schokoladenbraune Haut eingebettet, die nur wenige Altersfalten hatte und ihre mehr als sechzig Jahre Lügen strafte; allerdings hatten sich die Falten in der letzten Stunde vertieft.

Es war elf Uhr abends, und sie hatten jetzt alle Einzelheiten zwei Mal durchgesprochen. Inzwischen ließ der Laptop schon zum dritten Mal automatisch eine Reihe von Diagrammen und Definitionen ablaufen, aber nur Dicken sah noch hin.

Frank Shawbeck, stellvertretender Leiter der National Institutes of Health, hatte gerade die Toilette auf dem Flur aufgesucht und kam jetzt durch die schwere graue Tür wieder ins Zimmer. Alle wussten, dass Kirby es nicht mochte, wenn andere ihr privates Badezimmer benutzten.

Die Leiterin des Gesundheitswesens starrte zur Decke. Augustine warf Dicken einen schnellen, finsteren Blick zu, als fürchtete er, die Präsentation sei nicht überzeugend ausgefallen.

Sie hob die Hand. »Christopher, schalten Sie das bitte ab. In meinem Kopf dreht sich alles.« Dicken drückte die »Escape«-Taste auf dem Laptop und knipste den Tageslichtprojektor aus. Shawbeck schaltete das Deckenlicht ein und vergrub die Hände in den Taschen. Ganz loyale Unterstützung, postierte er sich an einer Ecke von Kirbys breitem Ahornschreibtisch.

»Diese Inlandsstatistiken stammen alle aus Bezirkskrankenhäusern«, sagte Kirby. »Das ist ein wichtiges Argument … Es geschieht gleich um die Ecke, und wir bekommen ständig weitere Berichte aus anderen Städten, anderen Bundesstaaten herein.«

»Ständig«, bestätigte Augustine. »Wir bemühen uns, es nicht an die große Glocke zu hängen, aber …«

»Sie schöpfen allmählich Verdacht.« Kirby griff nach ihrem Zeigefinger und starrte den sauber geschnittenen, lackierten Fingernagel an. Er war himmelblau. Die Leiterin des Gesundheitswesens war einundsechzig, trug aber den Nagellack eines Teenagers. »Es kann jeden Augenblick in den Fernsehnachrichten auftauchen.

SHEVA ist mehr als nur eine Kuriosität. Es ist das gleiche wie die Herodes-Grippe. Die Herodes-Grippe verursacht Mutationen und Fehlgeburten. Übrigens, der Name …«

»Vielleicht ein bisschen zu reißerisch«, sagte Shawbeck. »Wer hat ihn aufgebracht?«

»Ich«, erwiderte Augustine.

Shawbeck hatte die Rolle des Aufpassers übernommen. Dicken hatte früher schon erlebt, wie er gegenüber Augustine die Rolle des Advocatus Diaboli übernommen hatte, und war sich nicht sicher, wie ernst es ihm damit war.

»Nun ja, Frank, Mark, ist das alles, was Sie mir an Munition zu bieten haben?«, fragte Kirby. Ehe die beiden antworten konnten, schürzte sie mit anerkennender, nachdenklicher Miene die Lippen und bemerkte: »Ist schon verdammt gruselig.«

»Allerdings«, erwiderte Augustine.

»Aber es ergibt keinen Sinn«, sagte Kirby. »Da hüpft irgendetwas aus unseren Genen und bringt MonsterBabys hervor — Babys mit einem einzigen riesigen Eierstock? Mark, was zum Teufel hat das zu bedeuten?«

»Den Entstehungsmechanismus kennen wir nicht, Ma’am«, erwiderte Augustine. »Da uns für jedes einzelne Projekt derzeit nur ein Minimum an Personal zur Verfügung steht, kommen wir überhaupt nicht mehr nach.«

»Wir fordern mehr Geld, Mark, das wissen Sie. Aber im Kongress herrscht eine entsetzliche Stimmung. Ich möchte mir da auf keinen Fall falschen Alarm vorwerfen lassen.«

»Biologisch sind die Arbeiten erste Sahne. Und politisch ist es eine Zeitbombe«, erwiderte Augustine. »Wenn wir nicht bald an die Öffentlichkeit gehen …«

»Verdammt, Mark«, warf Shawbeck ein, »wir haben keinen direkten Zusammenhang. Die Leute, die diese Grippe bekommen — bei denen sind alle Gewebe noch wochenlang mit SHEVA überschwemmt. Was ist, wenn es ganz alte, schwache Viren ohne jeden Pep sind? Sie werden ausgeprägt, weil« — er gestikulierte mit der Hand — »weniger Ozon da ist und wir alle mehr UV abbekommen oder so etwas, wie Herpes, der Lippenbläschen entstehen lässt?

Vielleicht sind sie harmlos, vielleicht haben sie mit den Fehlgeburten überhaupt nichts zu tun.«

»Ich glaube nicht, dass es ein zufälliges Zusammentreffen ist«, sagte Kirby. »Dazu sehen die Zahlen zu ähnlich aus. Aber eines möchte ich wissen: Warum frisst der Organismus diese Viren nicht, warum wird er sie nicht los?«

»Weil sie monatelang kontinuierlich freigesetzt werden«, antwortete Dicken. »Was der Organismus auch mit ihnen anstellt, sie werden immer noch in verschiedenen Geweben exprimiert.«

»In welchen Geweben?«

»Das wissen wir noch nicht genau«, sagte Augustine. »Wir beschäftigen uns mit Knochenmark und dem Lymphsystem.«

»Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Virämie«, fügte Dicken hinzu. »Keine Schwellung von Milz und Lymphknoten. Überall Viren, aber keine heftige Reaktion darauf.« Er kratzte sich nervös am Hals. »Eines möchte ich gern noch einmal besprechen.«

Die Leiterin des Gesundheitswesens sah ihn an. Shawbeck und Augustine, die ihre Konzentration bemerkten, wurden still.

Dicken zog seinen Stuhl ein paar Zentimeter vor. »Die Frauen bekommen SHEVA von ihrem dauerhaften männlichen Partner.

Allein stehende Frauen — also solche ohne festen Partner — ziehen sich SHEVA nicht zu.«

»Das ist doch Quatsch«, sagte Shawbeck, das Gesicht in angewiderte Falten gelegt. »Woher soll denn eine Krankheit wissen, ob eine Frau mit jemandem verbandelt ist oder nicht?« Jetzt war Kirby an der Reihe, die Stirn zu runzeln. Shawbeck entschuldigte sich. »Aber Sie wissen, was ich meine«, sagte er abwehrend.

»Es geht aus den Statistiken eindeutig hervor«, entgegnete Dicken. »Wir haben das sehr gründlich geprüft. Es wird von Männern bei langfristiger Exposition auf die Partnerinnen übertragen.

Homosexuelle Männer geben es nicht an ihre Partner weiter. Ohne heterosexuellen Kontakt gibt es keine Ansteckung. Es ist eine sexuell übertragbare Krankheit, aber eine sehr wählerische.«

»Du lieber Gott«, sagte Shawbeck — ob zweifelnd oder ehrfürchtig, konnte Dicken nicht erkennen.

»Nehmen wir einmal an, dass es stimmt«, sagte Kirby. »Wieso ist SHEVA gerade jetzt ausgebrochen?«

»Offensichtlich stehen SHEVA und die Menschen in einer sehr alten Beziehung zueinander«, erwiderte Dicken. »Es könnte beim Menschen die Entsprechung zu einem lysogenen Phagen sein. Bei Bakterien werden lysogene Phagen aktiv, wenn die Zelle einem Reiz ausgesetzt ist, der als lebensbedrohlich interpretiert wird — wenn sie also unter Stress steht. Vielleicht spricht SHEVA auf Dinge an, die Menschen unter Stress setzen. Überbevölkerung.

Gesellschaftliche Bedingungen. Strahlung.«

Augustine warf ihm einen warnenden Blick zu.

»Wir sind schließlich wahnsinnig viel komplizierter als Bakterien«, schloss er.

»Glauben Sie, dass SHEVA heute wegen der Überbevölkerung exprimiert wird?«, fragte Kirby.

»Vielleicht, aber darum geht es mir nicht«, antwortete Dicken.

»Lysogene Phagen erfüllen manchmal auch die Funktion von Symbionten. Sie helfen den Bakterien, sich an neue Umweltbedingungen anzupassen, sogar an neue Nahrungsquellen oder neue Gelegenheiten zum Austausch von Genen. Könnte SHEVA nicht auch bei uns eine nützliche Funktion erfüllen?«

»Indem es die Bevölkerungszahl niedrig hält?«, wagte Shawbeck skeptisch zu äußern. »Der Stress durch die Überbevölkerung veranlasst uns, kleine Abtreibungsexperten auszuprägen? Wow!«

»Vielleicht, ich weiß es nicht«, sagte Dicken und rieb sich die Hände nervös an der Hose. Kirby sah es und blickte kühl auf, als sei es ihr seinetwegen ein wenig peinlich.

»Wer weiß es denn?«, fragte sie.

»Kaye Lang«, erwiderte Dicken.

Ohne dass Kirby es sah, machte Augustine eine kleine Handbewegung. Dicken bewegte sich auf sehr dünnem Eis. Über dieses Thema hatten sie noch nicht gesprochen.

»Sie hatte offensichtlich früher als alle anderen bei SHEVA den Fuß in der Tür«, sagte Kirby. Mit großen Augen beugte sie sich über dem Schreibtisch nach vorn und warf ihm einen herausfordernden Blick zu. »Aber Christopher, woher wussten Sie … damals im August, in Georgien? Ihr Jagdinstinkt?«

»Ich hatte ihre Artikel gelesen. Was sie darüber schrieb, war schon für sich gesehen faszinierend.«

»Sie machen mich neugierig. Warum hat Mark Sie nach Georgien und in die Türkei geschickt?«, wollte Kirby wissen.

»Ich schicke Christopher nur selten irgendwohin«, warf Augustine ein. »Wenn es darum geht, unsere Art von Beute zu finden, hat er denn Instinkt eines Wolfes.«

Kirby hielt den Blick weiter auf Dicken geheftet.

»Raus mit der Sprache, Christopher. Mark hat Sie auf die Fährte einer gruseligen Krankheit gesetzt. Ich bewundere so etwas — vorbeugende Medizin, angewandt auf die Politik. Und in Georgien ist Ihnen zufällig Ms. Kaye Lang über den Weg gelaufen?«

»Es gibt in Tiflis eine Außenstelle der CDC«, versuchte Augustine zu helfen.

»Eine Außenstelle, die Mr. Dicken nicht einmal zu einem Höflichkeitsbesuch aufgesucht hat«, erwiderte die Leiterin des Gesundheitswesens, und ihre Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Ich habe nach ihr gesucht. Ich bewundere ihre Arbeiten.«

»Und Sie haben ihr nichts gesagt?«

»Nichts von Bedeutung.«

Kirby lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah Augustine an.

»Können wir sie herholen?«, fragte sie.

»Sie hat derzeit ein paar Probleme«, antwortete Augustine.

»Was für Probleme?«

»Ihr Mann wird vermisst, vermutlich Selbstmord.«

»Das war vor über einem Monat«, warf Dicken ein.

»Es scheinen noch mehr Schwierigkeiten dahinter zu stecken.

Bevor ihr Mann verschwunden ist, hat er hinter ihrem Rücken die Firma verkauft, um investiertes Risikokapital zurückzuzahlen, von dem sie offenbar nichts wusste.«

Davon hatte Dicken noch nichts gehört. Anscheinend hatte Augustine seine eigenen Nachforschungen über Kaye Lang angestellt.

»Großer Gott«, sagte Shawbeck, »dann ist sie jetzt also sozusagen ein seelisches Wrack, und wir sollten sie in Ruhe lassen, bis sie sich erholt hat?«

»Wenn wir sie brauchen, brauchen wir sie«, sagte Kirby. »Meine Herren, solche Gefühle mag ich nicht. Sie können es weibliche Intuition nennen, wegen der Eierstöcke und so. Ich möchte den Rat aller Experten, die wir bekommen können. Mark?«

»Ich ruf sie an«, gab Augustine untypisch schnell nach. Er hatte den Wind richtig gedeutet und gesehen, wie die Wetterfahne sich drehte; Dicken hatte einen Punkt gutgemacht.

»Tun Sie das«, sagte Kirby, drehte sich mit ihrem Stuhl herum und blickte Dicken scharf ins Gesicht. »Christopher, um alles in der Welt, ich glaube, Sie verheimlichen mir immer noch etwas.

Was?«

Dicken lächelte und schüttelte den Kopf. »Nichts Handfestes.«

»Ach?« Kirby hob die Augenbrauen. »Der beste Virusjäger im NCID? Mark sagt, er verlässt sich auf Ihre Nase.«

»Manchmal ist dieser Mark einfach zu ehrlich«, warf Augustine ein.

»Jaaa …«, erwiderte Kirby, »und Christopher sollte auch ehrlich sein. Was sagt Ihnen Ihre Nase?«

Dicken war über die Frage der Leiterin des Gesundheitswesens ein wenig bestürzt; er mochte die Karten nicht auf den Tisch legen, solange er so ein schwaches Blatt in der Hand hatte. »SHEVA ist alt, sehr alt«, wiederholte er noch einmal.

»Und?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob es eine Krankheit ist.«

Shawbeck stieß ein kurzes, zweifelndes Schnauben aus.

»Weiter«, forderte Kirby ihn auf.

»Es ist ein alter Teil unserer biologischen Ausstattung. Es war schon in unserer DNA, lange bevor es Menschen gab. Vielleicht tut es einfach das, was es tun muss.«

»Babys umbringen?«, schlug Shawbeck bissig vor.

»Eine größere Funktion auf der Ebene der Spezies steuern.«

»Bleiben wir mal bei den handfesten Dingen«, warf Augustine eilig ein. »SHEVA ist die Herodes-Grippe. Es verursacht umfassende Missbildungen und Fehlgeburten.«

»Nach meinem Dafürhalten ist der Zusammenhang eindeutig«, sagte Kirby. »Ich glaube, das kann ich dem Präsidenten und dem Kongress verkaufen.«

»Einverstanden«, sagte Shawbeck, »wenn auch mit einigen schweren Bedenken. Ich frage mich, ob alle diese Rätsel uns irgendwann auf dem weiteren Weg einholen und in den Arsch beißen werden.«

Dicken spürte eine gewisse Erleichterung. Er hatte sein Ziel fast erreicht und für später noch einen Trumpf im Ärmel behalten; SHEVASpuren in den georgischen Leichen. Die Befunde von Maria Konig an der University of Washington waren gerade eingetroffen.

»Ich bin morgen beim Präsidenten«, sagte die Leiterin des Gesundheitswesens. »Ich habe dort zehn Minuten Zeit. Gebt mir die Papierausdrucke der Inlandsstatistiken, zehn bunt kolorierte Exemplare.«

SHEVA würde bald offiziell zur Krise erklärt werden. In der Gesundheitspolitik löste man Krisen in der Regel mit altbekannter Wissenschaft und bürokratisch erprobten Routinemaßnahmen.

Solange sich nicht in vollem Umfang zeigte, wie seltsam die Lage wirklich war, würde niemand ihm seine Schlussfolgerungen abnehmen, dachte Dicken. Er konnte sie selbst kaum glauben.


Draußen, unter dem filzfarbenen Himmel des düsteren Novembernachmittags, öffnete Augustine die Tür der Dienstlimousine und sagte über das Wagendach hinweg: »Wenn Sie gefragt werden, was Sie wirklich denken, was tun Sie dann?«

»Ich schwimme mit dem Strom«, erwiderte Dicken.

»Sie haben es erfasst, geniales Bürschchen.«

Augustine saß am Steuer. Obwohl Dicken fast einen Patzer begangen hätte, war Augustine mit der Besprechung offenbar hochzufrieden. »Sie hat nur noch sechs Wochen bis zur Pensionierung.

Und als Vorschlag für einen Nachfolger hat sie dem Stabschef des Weißen Hauses meinen Namen genannt.«

»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Dicken.

»Mit Shawbeck dicht dahinter an zweiter Stelle«, fügte Augustine hinzu. »Aber damit könnte es klappen, Christopher. Das könnte die Eintrittskarte sein.«

22 New York

Kaye saß in dem teuer getäfelten Büro auf einem dunkelbraunen Ledersessel und fragte sich, warum die hoch bezahlten Ostküstenanwälte immer solche elegantdüsteren Statussymbole brauchten.

Ihre Finger pressten sich gegen die Messingknöpfe der Polsternägel auf der Armlehne.

Daniel Munsey, der Rechtsvertreter von AKS Industries, stand neben dem Schreibtisch von J. Robert Orbison, der seit dreißig Jahren der Anwalt ihrer Familie war. Nachdem Kayes Eltern vor fünf Jahren gestorben waren, hatte sie Orbisons Pauschalhonorar nicht weiter bezahlt. Aber als Saul verschwunden war und gleichzeitig von AKS und EcoBacters Firmenanwalt die höchst verblüffende Nachricht kam, die Firma werde von AKS geschluckt, hatte sie sich in einer Art Schockzustand an Orbison gewandt. Er hatte sich als anständiger, fürsorglicher Mann erwiesen und versprochen, er werde ihr nicht mehr berechnen als Mr. und Mrs. Lang in den dreißig Jahren ihrer Geschäftsbeziehung.

Orbison war nicht nur dünn wie eine Bohnenstange, sondern auch ausgestattet mit Hakennase, Glatze, Altersflecken auf Kopf und Wangen, Haaren an den Muttermalen, hängenden feuchten Lippen und verschlafenen blauen Augen. Aber immerhin trug er einen eleganten, maßgeschneiderten Nadelstreifenanzug mit weißen Aufschlägen und eine Krawatte, die den Ausschnitt seiner Weste fast völlig ausfüllte.

Munsey war Anfang dreißig, ein hübscher, dunkler Typ mit gewinnendem Wesen. Er trug einen glatten, dunkelbraunen Wollanzug und kannte sich in der Biotechnologie fast ebenso gut aus wie Kaye, in mancher Hinsicht sogar noch besser.

»AKS mag für die Fehler von Mr. Madsen nicht verantwortlich sein«, sagte Orbison in energischem, aber dennoch liebenswürdigen Ton, »aber unter den gegenwärtigen Umständen sind wir der Auffassung, dass Ihr Unternehmen Ms. Langs Interessen gebührend berücksichtigen muss.«

»Finanziell berücksichtigen?« Munsey hob überrascht die Hände. »Saul Madsen konnte seine Investoren nicht davon überzeugen, dass sie ihn weiter finanzieren sollten. Offensichtlich hatte er sich auf ein Abkommen mit einer Wissenschaftlergruppe in der Republik Georgien konzentriert.« Munsey schüttelte traurig den Kopf. »Meine Mandanten haben die Investoren ausgezahlt. Der Preis war mehr als fair angesichts dessen, was seither geschehen ist.«

»Kaye hat eine Menge Arbeit in das Unternehmen gesteckt. Ein Ausgleich für geistiges Eigentum …«

»Sie hat großartige Beiträge zur Wissenschaft geleistet, aber nicht zu einem Produkt, das ein potenzieller Käufer vermarkten könnte.«

»Dann doch sicher eine gerechte Gegenleistung für ihren Beitrag zum Wert des Namens EcoBacter.«

»Ms. Lang war rechtlich keine Mitinhaberin. Saul Madsen hat in seiner Frau anscheinend nie mehr als eine Verwaltungsangestellte gesehen.«

»Dass Ms. Lang darauf nicht bestanden hat, war sicher eine bedauerliche Unterlassung«, räumte Orbison ein. »Sie hat ihrem Mann vertraut.«

»Nach unserer Ansicht hat sie ein Recht an allen Gegenständen, die noch zu dem Vermögen gehören. Aber EcoBacter zählt schlicht und einfach nicht mehr zu den Vermögensgegenständen.«

Kaye blickte zur Seite.

Orbison starrte auf die Glasplatte des Schreibtisches. »Ms. Lang ist eine berühmte Wissenschaftlerin, Mr. Munsey.«

»Mr. Orbison, Ms. Lang, AKS Industries kauft und verkauft gut laufende Unternehmen. Nach Saul Madsens Tod ist EcoBacter kein gut laufendes Unternehmen mehr. Auf seinen Namen sind keine wertvollen Patente angemeldet, es gibt keine Beziehungen zu anderen Firmen oder Institutionen, die mit unserem Einverständnis neu verhandelt werden müssten. Das einzige möglicherweise marktfähige Produkt, eine Therapie für Cholera, gehört in Wirklichkeit einer so genannten Angestellten. Mr. Madsen war in seinen Verträgen bemerkenswert großzügig. Wenn wir Glück haben, decken die materiellen Vermögenswerte zehn Prozent unserer Kosten. Ms. Lang, wir können für diesen Monat nicht einmal die Gehälter bezahlen. Das kauft niemand.«

»Nach unserer Überzeugung könnte Ms. Lang mit ihrem Ruf im Laufe von fünf Monaten eine Gruppe solventer Geldgeber zusammenbringen und mit EcoBacter von vorn anfangen. Die Angestellten sind sehr loyal. Viele haben in Absichtserklärungen bekräftigt, dass sie bei Kaye bleiben und beim Wiederaufbau helfen wollen.«

Wieder hob Munsey die Hände: Es kam für ihn nicht in Frage.

»Meine Mandanten richten sich nach ihrem Instinkt. Vielleicht hätte Mr. Madsen sein Unternehmen an eine andere Firma verkaufen sollen. Bei allem Respekt für Ms. Lang — und niemand schätzt sie höher als ich: Sie hat keine Arbeiten von unmittelbarem wirtschaftlichem Interesse geleistet. In der Biotechnologiebranche herrscht harte Konkurrenz, Ms. Lang, das wissen Sie.«

»Die Zukunft liegt in dem, was wir erschaffen können, Mr. Munsey«, sagte Kaye.

Munsey schüttelte traurig den Kopf. »Meine eigene Investition hätten Sie sofort, Ms. Lang. Aber ich bin schwach. Die anderen Firmen …« Er ließ den Satz unvollendet.

»Vielen Dank, Mr. Munsey«, sagte Orbison und bildete mit den Händen ein Zelt, auf das er seine lange Nase legte.

Munsey war über dieses Ende des Gesprächs offensichtlich verdutzt. »Es tut mir sehr Leid, Ms. Lang. Wir haben wegen der Umstände, unter denen Mr. Madsen verschwunden ist, noch Schwierigkeiten bei den Verhandlungen mit Bürgen und Versicherungen.«

»Er kommt nicht zurück, wenn es das ist, was Ihnen Sorge macht«, sagte Kaye mit versagender Stimme. »Man hat ihn gefunden, Mr. Munsey. Er wird nicht zurückkommen und sich einen Jux mit uns machen und sagen, wie ich in meinem Leben zurechtkommen soll.«

Munsey starrte sie an.

Sie konnte jetzt nicht innehalten. Die Worte sprudelten aus ihr heraus. »Sie haben ihn an den Felsen im Long Island Sound gefunden. Er war in einem schrecklichen Zustand. Ich musste ihn anhand unseres Eherings identifizieren.«

»Das tut mir sehr Leid. Davon wusste ich nichts«, sagte Munsey.

»Die endgültige Identifizierung hat erst heute Morgen stattgefunden«, fügte Orbison leise hinzu.

»Mein herzliches Beileid, Ms. Lang.«

Munsey zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich.

Orbison beobachtete sie schweigend.

Kaye wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Ich hatte keine Ahnung, was er mir bedeutet hat, wie sehr wir ein Geist geworden waren und zusammengearbeitet haben. Ich dachte, ich hätte meinen eigenen Kopf und mein eigenes Leben … und jetzt stelle ich etwas anderes fest. Ich fühle mich noch nicht einmal wie ein halber Mensch. Er ist tot.«

Orbison nickte.

»Heute Nachmittag fahre ich wieder zu EcoBacter und veranstalte mit den Leuten dort eine kleine Trauerfeier. Ich werde ihnen sagen, dass sie sich andere Jobs suchen müssen und dass es mir auch nicht besser geht.«

»Sie sind jung und intelligent. Sie schaffen das, Kaye.«

»Klar schaffe ich es!«, erwiderte sie energisch. Sie schlug sich mit der Faust aufs Knie. »Verdammt nochmal, dieses … Arschloch.

Dieser Hosenscheißer. Er hatte kein Recht dazu!«

»Keinerlei Recht«, sagte Orbison. »Es war ein billiger, schmutziger Trick, um jemanden wie Sie an Land zu ziehen.« Seine Augen funkelten vor Wut und Mitgefühl, wie sie es auch im Gerichtssaal taten, wenn seine Emotionen wie eine alte Grubenlaterne aufflackerten.

»Ja«, sagte sie und sah sich gehetzt im Zimmer um. »Oh Gott, es wird so schwierig werden. Wissen Sie, was das Schlimmste ist?«

»Was denn, Liebes?«, fragte Orbison.

»Dass ich einerseits sogar froh bin«, erwiderte Kaye und begann zu weinen.

»Na, na«, sagte Orbison, jetzt wieder ganz der müde, alte Mann.

23 Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta

»Mumien von Neandertalern«, sagte Augustine. Er durchquerte Dickens kleines Büro und legte ein zusammengefaltetes Blatt Papier auf den Schreibtisch. »Time hat sich darauf gestürzt. Und Newsweek auch.«

Dicken schob einen Stapel Kopien — Obduktionsberichte über Säuglinge und Feten des Northside Hospital in Atlanta aus den letzten beiden Monaten — weg und griff nach dem Artikel. Er stammte aus dem Atlanta JournalConstitution, und die Überschrift lautete »Prähistorische Herkunft des Paares aus dem Eis bestätigt«.

Lustlos und nur aus Höflichkeit überflog er den Bericht und blickte dann zu Augustine auf.

»In Washington geht es los«, bemerkte der Direktor. »Man hat mich aufgefordert, eine Taskforce zusammenzustellen.«

»Unter Ihrer Leitung?«

Augustine nickte.

»Das ist mal eine gute Nachricht«, sagte Dicken argwöhnisch. Er spürte, dass Unheil im Anzug war.

Augustine sah ihn mit ausdruckslosem Gesicht an. »Wir haben die von Ihnen zusammengestellte Statistik verwendet und dem Präsidenten damit einen gewaltigen Schrecken eingejagt. Die Leiterin des Gesundheitswesens hat ihm eine von den Fehlgeburten gezeigt. Ein Foto natürlich. Sie sagt, sie hat ihn noch nie wegen einer gesundheitspolitischen Frage so aufgebracht erlebt. Er will, dass wir sofort mit allen Einzelheiten an die Öffentlichkeit gehen.

›Da sterben Babys‹, hat er gesagt. ›Wenn wir es abstellen können, stellen Sie es ab, und zwar sofort.‹«

Dicken wartete geduldig.

»Dr. Kirby hält es für eine Vollzeitaufgabe. Könnte zur Bewilligung zusätzlicher Mittel führen, vielleicht sogar zu mehr Geld für internationale Projekte.«

Dicken versuchte, mitfühlend zu wirken.

»Sie wollen mich nicht von der Aufgabe ablenken, indem sie mich dazu ausersehen, in ihre Fußstapfen zu treten.« Augustines Blick wurde hart und glänzend.

»Shawbeck?«

»Den haben sie abgenickt. Aber der Präsident kann auch selbst jemanden aussuchen. Morgen wollen sie eine Pressekonferenz über die Herodes-Grippe abhalten. ›Der totale Krieg gegen einen weltweiten Killer.‹ Besser als die Kinderlähmung, und politisch ist es ein Volltreffer, anders als AIDS.«

»Küss’ die Babys und mach’ sie gesund?«

Augustine fand das nicht lustig. »Zynismus steht Ihnen nicht, Christopher. Sie sind doch der idealistische Typ, wissen Sie noch?«

»Muss an der gespannten Atmosphäre liegen«, erwiderte Dicken.

»Ja, ja. Man hat mir gesagt, ich soll bis morgen Mittag meine Mannschaft zusammenstellen, damit Kirby und Shawbeck sie absegnen können. Sie sind für mich natürlich die erste Wahl. Heute Abend treffe ich mich mit ein paar Leuten von den NIH und wissenschaftlichen Talentsuchern aus New York. Von dem Kuchen wollen die Direktoren aller Institutionen ein Stück abhaben. Ich muss sie mit Bröckchen füttern, bevor sie das ganze Problem an sich reißen. Können Sie sich mit Kaye Lang in Verbindung setzen und ihr sagen, dass man sie heranziehen wird?«

»Ja«, antwortete Dicken. Sein Herz fühlte sich merkwürdig an.

Er war kurzatmig. »Ich würde auch selbst gern ein paar Leute aussuchen.«

»Keine ganze Armee, hoffe ich.«

»Erstmal nicht«, sagte Dicken.

»Ich brauche ein Team«, betonte Augustine, »und keine lockere Gruppe von Einzelkämpfern. Keine Primadonnen.«

Dicken lächelte. »Ein paar Diven vielleicht?«

»Wenn sie in der gleichen Tonart singen, sobald es Zeit für die Nationalhymne ist. Ich möchte eine Hintergrundprüfung, ob es irgendwo stinkt. Das können Martha und Karen von der Personalabteilung für uns erledigen. Keine ehemaligen Fahnenverbrenner oder Hitzköpfe. Und keine Randgruppen.«

»Natürlich«, sagte Dicken, »aber dann bin ich auch aus dem Rennen.«

»Geniales Bürschchen.« Augustine feuchtete den Finger an und machte ein Zeichen in der Luft. »Einen darf ich dabei haben.

Staatliche Angelegenheit. Kommen Sie um sechs in mein Büro.

Bringen Sie ein paar Flaschen Pepsi, Pappbecher und eine Schüssel Eis aus dem Labor mit — sauberes Eis, okay?«


24 Long Island, New York

Als Kaye ihr Auto abstellte, standen drei Umzugswagen vor dem Vordereingang von EcoBacter. Am Empfangsschalter rollten zwei Männer einen EdelstahlLaborkühlschrank an ihr vorüber. Ein anderer trug einen Titrierplattenzähler, und dahinter kam ein vierter mit der Zentraleinheit eines PC. EcoBacter wurde von Ameisen bis auf die Knochen abgenagt.

Nicht dass es noch etwas ausgemacht hätte. Ausgeblutet war die Leiche ohnehin schon.

Sie ging in ihr Büro, das man bisher nicht angerührt hatte, und schloss die Tür energisch hinter sich. Als sie auf ihrem blauen Schreibtischsessel saß — er hatte zweihundert Dollar gekostet und war sehr bequem —, fuhr sie ihren Computer hoch und loggte sich mit ihrem Passwort bei der Stellenvermittlung des Internationalen Verbandes der Biotechnologieunternehmen ein. Was ihr Agent in Boston ihr gesagt hatte, stimmte. Mindestens vierzehn Universitäten und sieben Firmen waren an ihr interessiert. Sie blätterte auf dem Bildschirm die Angebote durch. Dauerstellung, Aufbau und Leitung eines kleinen Labors für Virusforschung in New Hampshire … Professorin für Biologie an einem privaten College in Kalifornien, eine christliche Schule, Baptisten …

Sie musste lächeln. Ein Angebot von der medizinischen Fakultät der University of California in Los Angeles — dort sollte sie mit einem nicht genannten, angesehenen Professor für Genetik in einem Forschungsteam arbeiten, das sich mit erblichen Erkrankungen und ihrem Zusammenhang mit Provirusaktivität befasste. Das merkte sie sich vor.

Nach einer Viertelstunde lehnte sie sich zurück und rieb sich dramatisch die Stirn. Stellensuche war ihr immer zuwider gewesen. Aber sie durfte den Impuls jetzt nicht verpuffen lassen. Bisher hatte sie keine Auszeichnungen erhalten, und das konnte auch in den nächsten Jahren so bleiben. Es war an der Zeit, dass sie ihr Leben in die Hand nahm und aus dem Tief herausfand.

Sie hatte drei der einundzwanzig Angebote markiert und in die engere Wahl gezogen. Schon jetzt war sie erschöpft, und ihre Achselhöhlen waren schweißnass.

Mit einer gewissen Vorahnung sah sie ihre EMails durch, und dabei stieß sie auf eine Nachricht von Christopher Dicken vom NCID. Der Name kam ihr bekannt vor; dann fiel es ihr wieder ein, und jetzt verfluchte sie den Bildschirm, die Nachricht, die darauf stand, den Verlauf ihres Lebens, die ganze dreckige Welt.

Debra Kim klopfte an die durchsichtige Glastür. Kaye fluchte noch einmal sehr lautstark, und Kim spähte mit großen Augen herein.

»Was schreist du mich an?«, fragte sie arglos.

»Man fordert mich auf, in einem Team bei den CDC mitzuarbeiten«, sagte Kaye und schlug mit der Hand auf den Schreibtisch.

»Regierungsauftrag. Großes Gesundheitsprojekt. Freiheit, die eigene Forschung nach eigenem Zeitplan zu betreiben.«

»Saul fand es schrecklich, in einem staatlichen Institut zu arbeiten.«

»Saul war ein widerborstiger Individualist«, erwiderte Kim und setzte sich auf die Ecke von Kayes Schreibtisch. »Jetzt räumen sie meine Ausrüstung weg. Ich denke, für mich gibt es hier nichts mehr zu tun. Meine Fotos und Disketten habe ich, und … du lieber Gott, Kaye!«

Kaye stand auf und umarmte Kim, die zu schluchzen anfing.

»Ich weiß nicht, was ich mit den Mäusen machen soll. Mäuse im Wert von zehntausend Dollar!«

»Wir werden ein Labor finden, das sie für dich aufbewahrt.«

»Aber wie sollen wir sie transportieren? Sie sind voller Vibrio!

Ich werde sie hier töten müssen, bevor sie die Sterilisationsgeräte und den Brennofen abholen.«

»Was sagen die Leute von AKS?«

»Die wollen sie in dem Isolierraum lassen. Sie werden nichts damit anfangen.«

»Das ist ja unglaublich.«

»Sie sagen, es sind meine Patente, und deshalb ist es auch mein Problem.«

Kaye setzte sich wieder und blätterte in der Hoffnung auf eine Erleuchtung ihr Adressregister durch. Es war eine nutzlose Geste.

Kim hatte keinen Zweifel, dass sie in ein bis zwei Monaten eine Stelle finden würde und dort sogar ihre Forschungsarbeiten mit den SCIDMäusen fortsetzen konnte. Aber es würden neue Mäuse sein, und sie würde ein halbes oder ganzes Jahr verlieren.

»Ich weiß nicht, was ich dir sagen soll«, sagte Kaye mit krächzender Stimme und hob hilflos die Hände.

Kim bedankte sich — wofür, wusste Kaye eigentlich kaum. Sie umarmten sich noch einmal, und Kim ging hinaus.

Für Debra Kim und die anderen ehemaligen Angestellten von EcoBacter konnte Kaye so gut wie nichts tun. Sie wusste, dass sie einen ebenso großen Anteil an der Katastrophe hatte wie Saul, dass sie durch ihr Unwissen ebenso dafür verantwortlich war. Sie hasste es, Geldmittel aufzutreiben, hasste Finanzangelegenheiten hasste es, auf Stellensuche zu gehen. Gab es auf dieser Welt irgendetwas Pragmatisches, das sie gern tat?

Sie las noch einmal die Nachricht von Dicken. Jetzt musste sie einen Weg finden, um wieder Wind in die Segel zu bekommen, wieder auf eigenen Füßen zu stehen, wieder in den Wettlauf einzusteigen. Vielleicht war eine kurzfristige staatliche Stelle jetzt genau das Richtige. Warum Christopher Dicken auf sie Wert legte, konnte sie sich nicht vorstellen; sie hatte kaum eine Erinnerung an den kleinen, vierschrötigen Mann in Georgien. Auf ihrem Handy — die Telefonleitungen im Labor waren schon abgeschaltet — wählte sie Dickens Nummer in Atlanta.

25 Washington, D. C.

»Wir haben die Befunde von zweiundvierzig Kliniken aus dem ganzen Land«, sagte Augustine zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. »Bei den Mutationen des Typs, den wir untersuchen, mit nachfolgender Abstoßung des Fetus, wurde in allen Fällen ein eindeutiger Zusammenhang mit der Herodes-Grippe gefunden.«

Der Präsident saß am Kopfende des großen, polierten Ahorntisches im Lageraum des Weißen Hauses. Er war groß und stattlich, und der Kopf mit den weißen, gewellten Haaren wirkte wie ein Leuchtfeuer. Während seines Wahlkampfes hatte man ihn liebevoll auf den Spitznamen »QTip« getauft und damit einen abwertenden Begriff, den jüngere Frauen auf ältere Männer anwandten, in einen Ausdruck von Stolz und Zuneigung verwandelt. Neben ihm saßen: der Vizepräsident; der Sprecher des Repräsentantenhauses, ein Demokrat; der Mehrheitsführer im Senat, ein Republikaner; Dr. Kirby; Shawbeck; der Gesundheitsminister; Augustine; drei Berater des Präsidenten, darunter der Stabschef; der Verbindungsmann des Weißen Hauses für gesundheitspolitische Fragen; und eine Reihe Leute, die Dicken nicht einordnen konnte. Es war ein sehr großer Tisch, und für die Besprechung waren drei Stunden eingeplant.

Wie alle anderen hatte Dicken sein Handy, Pager und Palmtop bei der Sicherheitskontrolle am Eingang abgeben müssen — erst zwei Wochen zuvor hatte das explodierende »Handy« eines Touristen im Weißen Haus beträchtliche Schäden angerichtet.

Von dem Lageraum war er ein wenig enttäuscht — keine hochmodernen Wandbildschirme, Computerschalttafeln oder Warnlampen, sondern nur ein ganz normaler großer Raum mit einem großen Tisch und vielen Telefonen. Aber der Präsident hörte aufmerksam zu.

»SHEVA ist der erste nachgewiesene Fall eines endogenen Retrovirus, das von einem Menschen auf den anderen übertragen wird«, fuhr Augustine fort. »Die Herodes-Grippe wird von SHEVA verursacht, daran gibt es nicht den leisesten Zweifel. Etwas so Bösartiges habe ich in meiner ganzen Mediziner- und Wissenschaftlerlaufbahn noch nicht gesehen. Wenn eine Frau sich im Frühstadium der Schwangerschaft die Herodes-Grippe zuzieht, endet der Fetus — ihr Baby — als Fehlgeburt. Nach unserer Statistik können wir möglicherweise bereits über zehntausend Fehlgeburten auf das Virus zurückführen. Und wenn die derzeitigen Informationen stimmen, sind Männer die einzige Quelle für den Erreger.«

»Entsetzlicher Name«, sagte der Präsident. »Ein sehr treffender Name, Mr. President«, bemerkte Kirby. »Entsetzlich und treffend«, räumte der Präsident ein. »Was die Ausprägung bei Männern in Gang setzt, wissen wir nicht«, erklärte Augustine weiter, »aber wir haben den Verdacht, dass ein Pheromon, vielleicht von der Partnerin, der Auslöser ist. Und wir haben keine Ahnung, wie wir es aufhalten können.« Er ließ Papiere rund um den Tisch verteilen. »Unsere Statistiker sagen, wir könnten im kommenden Jahr mehr als zwei Millionen Fälle von Herodes-Grippe erleben. Zwei Millionen potenzielle Fehlgeburten.«

Der Präsident nahm die Aussage nachdenklich auf. Das meiste hatte er schon bei früheren Besprechungen von Frank Shawbeck und dem Gesundheitsminister gehört. Wiederholung ist notwendig, dachte Dicken, damit diese unwissenden Politiker begriffen, wie sehr die Fachleute eigentlich im Dunkeln tappten.

»Ich verstehe nicht, wie etwas aus uns selbst so viel Schaden anrichten kann«, sagte der Vizepräsident.

»Der Satan in uns«, fügte der Sprecher des Repräsentantenhauses hinzu.

»Ganz ähnliche genetische Abweichungen verursachen Krebs«, gab Augustine zu bedenken. Dicken hielt das für ein wenig zu stark vereinfacht, und Shawbeck schien der gleichen Ansicht zu sein. Für ihn war der Augenblick seines schwungvollen Vortrages gekommen, mit dem er sich als wichtigster Kandidat für Kirbys Nachfolge empfehlen wollte.

»Wir stehen hier ohne Zweifel vor einem ganz neuen medizinischen Problem«, sagte Shawbeck. »Aber wir haben auch HIV in den Griff bekommen. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen bin ich zuversichtlich, dass wir innerhalb von sechs bis acht Monaten wichtige Fortschritte erzielen können. Überall im Land und auf der ganzen Welt stehen große Forschungszentren bereit, um sich der Sache anzunehmen. Wir haben ein nationales Programm geplant, das auf die Ressourcen der NIH, der CDC und des National Center for Infectious and Allergie Diseases zurückgreifen soll.

Wir teilen den Kuchen in Stücke, damit er schneller gegessen werden kann. Noch nie war unsere ganze Nation so rückhaltlos bereit, ein Problem dieser Größenordnung in Angriff zu nehmen.

Sobald das Programm angelaufen ist, werden über fünftausend Wissenschaftler an achtundzwanzig Forschungszentren sich an die Arbeit machen. Wir werden uns der Hilfe privater Firmen und der Fachleute auf der ganzen Welt bedienen. Ein internationales Programm wird gerade entwickelt. Alles nimmt hier seinen Anfang.

Wir brauchen nur eines: die schnelle, koordinierte Reaktion Ihrer jeweiligen Fachbereiche, Ladies und Gentlemen.«

»Ich kann auf beiden Seiten des Hohen Hauses nicht erkennen, dass irgendjemand einem außerordentlichen Bewilligungsgesetz im Wege stehen würde«, sagte der Sprecher des Repräsentantenhauses.

»Ebenso wenig im Senat«, fügte der Mehrheitsführer hinzu. »Ich finde die bisher geleisteten Arbeiten beeindruckend, meine Herren, aber was unsere wissenschaftlichen Fähigkeiten angeht, bin ich nicht so zuversichtlich, wie ich es gern wäre. Dr. Augustine, Dr. Shawbeck, es hat über zwanzig Jahre gedauert, bis wir überhaupt eine erste Handhabe gegen AIDS hatten, und das obwohl wir zigmilliarden Dollar in die Forschung gesteckt haben. Ich weiß, wovon ich rede. Ich habe vor fünf Jahren eine Tochter durch AIDS verloren.« Er blickte in die Runde. »Wenn diese Herodes-Grippe etwas so Neues ist, wie können wir dann in sechs Monaten mit einem Wunder rechnen?«

»Nicht mit einem Wunder«, sagte Shawbeck, »aber mit einem ersten Ansatz zum Verständnis.«

»Wie lange dauert es dann, bis wir eine Behandlungsmöglichkeit haben? Ich rede nicht von einer Heilung, meine Herren. Aber eine Behandlung? Oder wenigstens einen Impfstoff?«

Shawbeck räumte ein, er wisse es nicht.

»Wir können nur so schnell vorankommen, wie wir uns die Macht der Wissenschaft zunutze machen«, sagte der Vizepräsident. Er sah sich ein wenig verlegen um und fragte sich, wann es wohl vorüber wäre.

»Ich sage es noch einmal, ich habe meine Zweifel«, erwiderte der Mehrheitsführer. »Ich frage mich, ob es nicht ein Zeichen ist.

Vielleicht ist es an der Zeit, unser Haus zu bestellen und tief in unser Herz zu blicken, Frieden mit unserem Schöpfer zu machen.

Ganz offensichtlich haben wir hier irgendwelche gewaltigen Mächte gestört.«

Der Präsident machte ein ernstes Gesicht und legte einen Finger an die Nase. Shawbeck und Augustine wussten Bescheid und schwiegen.

»Senator«, sagte der Präsident, »ich bete darum, dass Sie Unrecht haben.«


Nach der Besprechung gingen Augustine und Dicken hinter Shawbeck durch einen Seitenkorridor an Kellerbüros vorüber zu einem hinteren Aufzug. Shawbeck war ganz offensichtlich verärgert. »So eine Heuchelei«, murmelte er. »Ich finde es widerlich, wenn sie sich auf Gott berufen.« Er schüttelte die Arme, um die Verspannung im Nacken zu lösen, und gab ein leises, knackendes Glucksen von sich. »Ich bin eher für Außerirdische. Fragen wir doch mal bei Akte X.«

»Ich würde gern darüber lachen, Frank«, sagte Augustine, »aber ich werde fast verrückt vor Angst. Wir befinden uns auf unbekanntem Terrain. Fast die Hälfte der Proteine, die SHEVA aktiviert, kennen wir nicht. Wir haben keine Ahnung, was sie bewirken. Die Sache könnte einschlagen wie eine Bombe. Ich frage mich immer wieder: Warum gerade ich, Frank?«

»Weil du so ehrgeizig bist, Mark«, erwiderte Shawbeck. »Du hast diesen besonderen Stein gefunden und darunter geblickt.« Shawbeck lächelte ein wenig herausfordernd. »Nicht dass du eine andere Wahl gehabt hättest … langfristig.«

Augustine legte den Kopf schief. Dicken konnte seine Nervosität geradezu riechen. Er fühlte sich auch selbst etwas benommen.

Wir sitzen im falschen Boot und rudern wie die Verrückten, dachte er.

26 Seattle Dezember

Mitch hatte es noch nie lange an einem Ort ausgehalten. Er war einen Tag bei seinen Eltern auf der kleinen Farm in Oregon geblieben und dann mit dem Zug nach Seattle gefahren. Dort mietete er sich, nachdem er eine alte Pensionsversicherung angegriffen hatte, eine Wohnung am Capitol Hill und kaufte für zweitausend Dollar von einem Freund in Kirkland einen alten Buick Skylark.

So weit von Innsbruck entfernt erregten die Neandertalermumien bei der Presse glücklicherweise nur geringe Neugier. Er gab ein einziges Interview, und zwar dem Wissenschaftsredakteur der Seattle Times, der sich dann aber gegen ihn wandte und ihn des zweimaligen Verstoßes gegen die nüchternen, ordentlichen Gesetze der Archäologie bezichtigte.

Als er gerade eine Woche in Seattle war, bestattete die Konföderation der Fünf Stämme von Kumash den Pasco-Menschen noch einmal, und zwar mit einer komplizierten Zeremonie am Ufer des Columbia River im Osten des Staates Washington. Das Army Corps of Engineers deckte die Begräbnisstätte mit Beton ab, um sie vor Erosion zu schützen. Die Wissenschaftler protestierten, aber Mitch wurde nicht aufgefordert, sich an den Protesten zu beteiligen.

Er wollte jetzt vor allem Zeit für sich haben und nachdenken.

Seine Ersparnisse reichten für ein halbes Jahr, aber er bezweifelte stark, dass dieser Zeitraum ausreichen würde, um seinen schlechten Ruf schneller in Vergessenheit geraten zu lassen und wieder eine Stelle zu finden.

Jetzt saß er mit ausgestrecktem Gipsbein am vorgebauten Erkerfenster seiner Wohnung und blickte zu den Fußgängern auf dem Broadway hinab. Er musste ständig an das mumifizierte Baby denken, an die Höhle und den Ausdruck auf Francos Gesicht.

Die kleinen Glasröhrchen mit dem Gewebe der Mumien hatte er in einer Pappschachtel mit alten Fotos verstaut, die er ganz hinten im Kleiderschrank untergebracht hatte. Bevor er mit diesem Gewebe irgendetwas unternahm, musste er sich selbst darüber klar werden, was er eigentlich entdeckt hatte.

Selbstgerechter Zorn war nicht produktiv.

Er hatte den Zusammenhang erkannt. Die Verletzung der Frau passte zu der Wunde bei dem Kind. Die Frau hatte es zur Welt gebracht oder vielleicht abgetrieben. Der Mann war dabei geblieben und hatte das Neugeborene in Fell gewickelt, obwohl es wahrscheinlich tot geboren war. Hatte der Mann die Frau angegriffen?

Das glaubte Mitch nicht. Sie waren verliebt. Er hing an ihr. Sie waren vor irgendetwas auf der Flucht. Und woher wusste er das alles?

Mit außersinnlicher Wahrnehmung oder der Anrufung von Geistern hatte es nichts zu tun. Mitch hatte einen nicht unerheblichen Teil seiner Berufslaufbahn darauf verwendet, die mehrdeutigen Beobachtungen an archäologischen Fundstätten zu interpretieren. Manchmal kam er durch nächtelanges Grübeln auf die Antwort, manchmal auch, wenn er auf Steinen saß und die Wolken oder den gestirnten Nachthimmel betrachtete. Und in seltenen Fällen zeigte sich die Lösung im Traum. Solche Interpretationen waren Wissenschaft und Kunst zugleich.

Tagein, tagaus zeichnete Mitch Diagramme, schrieb kurze Notizen, notierte etwas in seinem kleinen, in Vinyl gebundenen Tagebuch. Er heftete ein Stück Pergamentpapier an die Wand des kleinen Zimmers und zeichnete darauf einen Lageplan der Höhle, wie er sie in Erinnerung hatte. Er klebte die aus Papier ausgeschnittenen Umrisse der Mumien auf das Pergamentpapier. Er setzte sich hin und starrte das Pergamentpapier mit den ausgeschnittenen Gestalten an. Er biss sich die Fingernägel bis auf das Fleisch ab.

Einmal trank er an einem Nachmittag einen ganzen Sixpack CoorsBier. Es war nach langen Tagen des Grabens einer seiner liebsten Flüssigkeitsspender gewesen, aber diesmal tat er es ohne Grabung, ohne Zweck, nur um etwas anderes auszuprobieren. Er schlief ein, wachte um drei Uhr morgens wieder auf und ging auf der Straße spazieren, an einem Schnellimbiss vorüber, einem mexikanischen Restaurant, einer Buchhandlung, einem Zeitungsstand und einer Starbuck’sKaffeebar.

Dann kehrte er zu seiner Wohnung zurück, und ihm fiel ein, dass er nach seiner Post sehen könnte. Eine Pappschachtel war angekommen. Er trug sie die Treppe hinauf und schüttelte sie sanft.

Bei einer Buchhandlung in New York hatte er eine alte Ausgabe des National Geographic mit einem Artikel über den Eismenschen Ötzi bestellt. Das Heft war in alte Zeitungen verpackt.

Liebevoll. Mitch wusste, dass sie liebevoll zueinander gewesen waren. Wie sie nebeneinander lagen. Wie das männliche Wesen seine Arme hielt. Es war bei dem weiblichen Wesen geblieben, obwohl es hätte fliehen können. Was zum Teufel — nun sag’ es schon. Der Mann war bei der Frau geblieben. Neandertaler waren keine Untermenschen; mittlerweile war allgemein anerkannt, dass sie eine Sprache besaßen und über komplizierte Sozialstrukturen verfügten. Stämme. Nomaden, Händler, Werkzeugmacher, Jäger und Sammler.

Mitch versuchte sich vorzustellen, was sie wohl vor zehn- oder elftausend Jahren dazu bewogen hatte, sich im Gebirge zu verstecken, in einer Höhle hinter dem Eispanzer. Vielleicht waren sie die Letzten ihrer Art.

Und sie hatten ein Baby zur Welt gebracht, das in den meisten Aspekten nicht von einem heutigen Kind zu unterscheiden war.

Er riss die Verpackung aus Zeitungspapier von dem Magazin, schlug es auf und blätterte bis zu der Ausklappkarte, auf der die Alpen zu sehen waren — die grünen Täler, die Gletscher, die Stelle, an der man den Eismenschen aus dem Eis freigehackt hatte.

Heute wurde der Eismensch in Italien zur Schau gestellt. In der Frage, wo man den fünftausend Jahre alten Leichnam gefunden hatte, gab es zunächst internationale Meinungsverschiedenheiten, und nachdem die wichtigsten Untersuchungen in Innsbruck abgeschlossen waren, hatte Italien schließlich Anspruch darauf erhoben.

Die Neandertaler standen eindeutig Österreich zu. Man würde sie an der Universität Innsbruck untersuchen, vielleicht in dem selben Institut, wo man zuvor den Ötzi studiert hatte. Sie waren tiefgefroren in genau kontrollierter Luftfeuchtigkeit gelagert; durch ein kleines Fenster konnte man sie sehen: Sie lagen nebeneinander, wie sie gestorben waren.

Mitch schlug die Zeitschrift zu und drückte seine Nase mit zwei Fingern zusammen, als ihm einfiel, wie entsetzlich durcheinander er sich gefühlt hatte, nachdem er auf den Pasco-Menschen gestoßen war. Ich habe die Beherrschung verloren. Ich wäre fast ins Gefängnis gewandert. Ich bin nach Europa gegangen, um etwas Neues auszuprobieren. Ich habe etwas Neues gefunden. Ich habe mich verrannt und es vermasselt. Ich habe keinerlei Glaubwürdigkeit mehr.

Was soll ich machen, wenn ich an solche unmöglichen Dinge glaube?

Ich bin ein Grabräuber. Ich bin ein Verbrecher, ein Bösewicht, und das sogar in doppelter Hinsicht.

Bedächtig strich er die zerknüllte Verpackung glatt, die aus der New York Times stammte. Dabei blieb sein Blick an einem Artikel in der unteren rechten Ecke eines zerrissenen Zeitungsblattes hängen. Die Überschrift lautete: »Georgien: alte Verbrechen, neu aufgerollt«. Aberglaube und Tod zu Füßen des Kaukasus. Schwangere Frauen aus drei Städten, zusammengetrieben mit ihren Ehemännern oder Partnern, abgeführt von Soldaten und Polizei, damit sie sich außerhalb einer Kleinstadt namens Gordi ihr eigenes Grab gruben. Direkt neben einer Werbeanzeige für Aktienhandel über das Internet.

Als Mitch den Artikel zu Ende gelesen hatte, schüttelte er sich vor Ärger und Erregung.

Die Frauen hatte man in den Bauch geschossen. Ihre Männer hatten Schüsse in die Leistengegend erhalten und waren dann erschlagen worden. Der Skandal erschütterte die georgische Regierung. Dort behauptete man, die Morde seien unter dem GamsachurdiaRegime begangen worden, das Anfang der Neunzigerjahre gestürzt worden war, aber einige Personen, denen eine Beteiligung vorgeworfen wurde, waren nach wie vor im Amt.

Warum man die Männer und Frauen ermordet hatte, war alles andere als geklärt. Einige Einwohner von Gordi beschuldigten die toten Frauen, sie hätten sich mit dem Teufel eingelassen, und deshalb sei der Mord notwendig gewesen; sie hätten Kinder des Satans zur Welt gebracht und Fehlgeburten bei anderen Müttern verursacht.

Es gab Spekulationen, diese Frauen seien einem frühen Ausbruch der Herodes-Grippe zum Opfer gefallen.

Mitch humpelte in die Küche und blieb dabei mit dem nackten Zeh, der unten aus seinem Gipsverband ragte, an einem Stuhlbein hängen. Er fuhr herum und fluchte; dann griff er nach unten und zog aus einem dünnen Zeitungsstapel, der in einer Ecke neben den grauen, grünen und blauen Plastikbehältern für die Mülltrennung lag, den vorderen Teil einer zwei Tage alten Seattle Times hervor. Die Schlagzeile lautete: Bekanntmachung über die Herodes-Grippe durch den Präsidenten, die Leiterin der Gesundheitsbehörde und den Gesundheitsminister. Daneben erläuterte eine Kolumne — sie stammte von dem selben Wissenschaftsredakteur, der Mitch so abschätzig beurteilt hatte — den Zusammenhang zwischen Herodes-Grippe und SHEVA. Krankheit. Fehlgeburten.

Mitch setzte sich auf den verschlissenen Sessel am Fenster, blickte hinaus auf den Broadway und sah gleichzeitig, wie seine Hände zitterten.

»Ich weiß etwas, das sonst niemand weiß«, sagte er und umklammerte mit den Händen die Armlehnen. »Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, woher ich es weiß oder was ich damit anfangen soll

Wenn jemals ein Mensch der Falsche für eine so unglaubliche Erkenntnis war, für einen so gewaltigen, aus dem Nichts entstandenen Gedankensprung, dann war es Mitch Rafelson. Es wäre für alle Beteiligten besser gewesen, er hätte nach dem Mann im Mond gesucht.

Es war jetzt an der Zeit, entweder aufzugeben, ein paar Dutzend Kästen Bier zu leeren und sich auf einen trägen, langweiligen Niedergang einzustellen, oder ein Fundament zu zimmern, auf dem er stehen konnte, und dazu sorgfältig eine wissenschaftlich begründete Planke nach der anderen zusammenzunageln.

»Du Arschloch«, sagte er zu sich, als er am Fenster stand, einen Fetzen der ZeitungspapierVerpackung in der einen Hand, die Titelseite mit der Schlagzeile in der anderen. »Du verdammtes … unreifes … Arschloch

27 Centers for Disease Control and Prevention, Atlanta Ende Januar

Schwere, träge Wolken, dünnes Sonnenlicht, das farblos ins Büro des Direktors fiel. Mark Augustine trat von der Kunststofftafel mit dem Gekritzel kreuz und quer verlaufender Linien und Namen zurück, stützte den Ellenbogen in die Hand und rieb sich an der Nase. Ganz unten in der komplizierten Zeichnung, noch unter Shawbeck, dem Direktor der NIH, und Augustines bisher nicht benanntem Nachfolger an den CDC, stand die Sonderarbeitsgruppe für die Erforschung menschlicher Proviren, die Taskforce for Human Provirus Research, kurz THUPR genannt, ausgesprochen wie »super« mit lispelndem S. Augustine mochte den Namen nicht und sprach immer nur von der Taskforce; einfach nur Taskforce.

Er fuhr mit der Hand an der grafischen Darstellung der Verwaltungshierarchie hinunter.

»Da haben wir’s, Frank. Ich höre hier nächste Woche auf und gehe nach Bethesda, ganz an den unteren Rand dieses Durcheinanders. Dreiunddreißig Stufen abwärts. So weit sind wir schon.

Bürokratie in Hochform.«

Frank Shawbeck lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es hätte noch schlimmer kommen können. Wir haben fast den ganzen Monat gebraucht, um die Sache zurückzustutzen.«

»Es könnte weniger albtraumhaft sein. Es ist immer noch ein Albtraum.«

»Du weißt wenigstens, wer dein Chef ist. Ich bin sowohl dem Gesundheitsminister als auch dem Präsidenten gegenüber verantwortlich«, sagte Shawbeck. Sie hatten es zwei Tage zuvor erfahren.

Shawbeck sollte an den NIH bleiben, wurde aber zum Direktor befördert. »Genau im Auge des guten alten Zyklons. Ehrlich gesagt, bin ich froh, dass Maxine sich entschlossen hat, nicht zurückzutreten. Sie ist als Zündschnur viel besser geeignet als ich.«

»Täusch’ dich nicht«, sagte Augustine. »Sie ist eine bessere Politikerin als wir beide. Wir würden einen Rückzieher machen, wenn es darauf ankommt.«

»Wenn es darauf ankommt«, sagte Shawbeck, aber seine Miene war nüchtern.

»Wenn, Frank«, wiederholte Augustine. Er grinste Shawbeck mit seiner typischen Grimasse an. »Die WHO will, dass wir alle Untersuchungen im Ausland koordinieren — und sie wollen auch in die USA kommen und ihre eigenen Tests durchführen. Die Gemeinschaft unabhängiger Staaten ist völlig hilflos … Russland hat sich seinen Republiken gegenüber zu lange als Herr aufgespielt.

Da ist keine Koordination möglich, und Dicken konnte aus Georgien und Aserbeidschan keinen Mucks herausholen. Man wird uns dort so lange keine Untersuchungen gestatten, bis die politische Situation sich stabilisiert hat, was das auch heißen mag.«

»Wie schlimm ist es dort?«, fragte Shawbeck.

»Schlimm, mehr wissen wir nicht. Sie bitten nicht um Hilfe. Sie haben die Herodes-Grippe schon seit zehn oder zwanzig Jahren, vielleicht auch länger … Und sie werden damit auf ihre Weise auf lokaler Ebene fertig.«

»Mit Massenmord.«

Augustine nickte. »Sie wollen nicht, dass es herauskommt, und erst recht sollen wir nicht sagen, SHEVA hätte bei ihnen seinen Ursprung. Der Stolz des jungen Nationalismus. Wir werden so lange wie möglich den Mund halten, schon damit wir dort noch einen Fuß in der Tür haben.«

»Du lieber Gott. Und wie sieht es in der Türkei aus?«

»Dort haben sie unsere Hilfe angenommen und lassen unsere Inspektoren ins Land, aber wir dürfen uns nicht an den Grenzen zum Irak und zu Georgien umsehen.«

»Wo ist Dicken jetzt?«

»In Genf.«

»Er hält die WHO auf dem Laufenden?«

»Über jeden einzelnen Schritt«, sagte Augustine. »Durchschläge von allen Berichten gehen an WHO und UNICEF. Der Senat schreit schon wieder. Sie drohen, die Zahlungen an die UN einzustellen, solange wir kein klares Bild davon haben, wer auf der weltweiten Bühne was bezahlt. Sie wollen nicht, dass wir die Hand drauf haben, wenn wir irgendeine Behandlungsmethode finden — und dass vielleicht nicht wir die finden, können sie sich nicht vorstellen.«

Shawbeck hob die Hand. »Vermutlich werden wir es tatsächlich sein. Für morgen habe ich Besprechungen mit vier Vorstandsvorsitzenden angesetzt — Merck, Schering Plough, Lilly, BristolMyers. Nächste Woche Americol und Euricol. Sie wollen über gemeinsames Vorgehen und Subventionen sprechen. Und das ist noch nicht alles: Heute Nachmittag kommt Dr. Gallo — er will Zugang zu allen unseren Forschungsergebnissen.«

»Aber das hier hat doch nichts mit HIV zu tun«, sagte Augustine.

»Er behauptet, es könne eine ähnliche Rezeptoraktivität sein.

Das ist weit hergeholt, aber er ist berühmt und hat auf dem Hill eine Menge zu sagen. Und offenbar kann er uns auch bei den Franzosen von Nutzen sein, nachdem sie jetzt wieder zusammenarbeiten.«

»Wie sollen wir das therapieren, Frank? Verdammt noch mal, meine Leute haben SHEVA bei allen Affen gefunden, von grünen Meerkatzen bis zu Berggorillas.«

»Für Pessimismus ist es noch zu früh«, erwiderte Shawbeck. »Es sind erst drei Monate.«

»Wir haben allein an der Ostküste vierzigtausend bestätigte Fälle von Herodes-Grippe, Frank! Und kein Silberstreif am Horizont!«

Augustine schlug mit der Faust auf die Kunststofftafel.

Shawbeck schüttelte den Kopf, hob beide Hände und machte leise, zischende Geräusche.

Augustine mäßigte seine Lautstärke und ließ die Schultern hängen. Dann nahm er einen Lappen und wischte sich sorgfältig die Handkante ab, mit der er die Farbe auf der Tafel verschmiert hatte. »Das Positive ist, dass es sich herumspricht«, sagte er. »Wir hatten schon zwei Millionen Zugriffe auf unsere HerodesWebsite.

Aber hast du gestern Abend Audrey Korda in Larry King Live gehört?«

»Nein«, sagte Shawbeck.

»Sie meint, Männer seien mehr oder weniger Teufel in Menschengestalt. Sie sagt, Frauen sollten ohne uns auskommen, man solle uns in Quarantäne stecken — pffi!« Seine Hand schoss nach vorn. »Kein Sex mehr, kein SHEVA mehr.«

Shawbecks Augen glitzerten wie kleine feuchte Steine. »Vielleicht hat sie Recht, Mark. Hast du die Liste der Leiterin des Gesundheitswesens mit den extremen Maßnahmen gesehen?«

Augustine ließ die Hand nach hinten durch seine sandfarbenen Haare gleiten. »Ich hoffe bloß, dass die nie an die Öffentlichkeit kommt.«

28 Long Island, New York

Wie kleine blaue Kaulquappen lagen Zahnpastatropfen im Waschbecken. Kaye spülte sich den Mund, spuckte das Wasser im hohen Bogen aus, um die Kaulquappen in den Abfluss zu befördern, und rieb sich das Gesicht mit einem Handtuch ab. Dann stellte sie sich in den Eingang des Badezimmers und blickte die lange Treppe hinauf zur geschlossenen Tür des ehelichen Schlafzimmers.

Es war ihre letzte Nacht in dem Haus; sie hatte im Gästezimmer geschlafen. Noch einmal sollte um elf Uhr heute Vormittag ein — kleiner — Umzugswagen kommen und die wenigen Habseligkeiten abholen, die sie mitnehmen wollte. Caddy würde Crickson und Temin adoptieren.

Das Haus stand zum Verkauf. Bei dem derzeitigen Immobilienboom würde sie dafür einen Superpreis erzielen. Wenigstens dieses Geld war vor den Gläubigern sicher: Saul hatte das Haus auf sie überschrieben.

Sie suchte heraus, was sie anziehen wollte — einfacher weißer Slip und BH, eine Kombination aus Bluse und cremefarbenem Pullover, hellblaue Hose — und verstaute die wenigen Kleidungsstücke, die noch nicht verpackt waren, in einem Koffer. Sie war es Leid, sich um Sachen zu kümmern, dieses und jenes Sauls Schwester zuzuteilen, Beutel als Kleiderspenden zu kennzeichnen, anderes auf den Müll zu werfen.

Fast eine Woche hatte sie gebraucht, um diejenigen Spuren ihres gemeinsamen Lebens zu beseitigen, die sie nicht mitnehmen wollte und die nach Überzeugung des Immobilienmaklers potenzielle Käufer eher abschrecken würden. Vorsichtig hatte er ihr erklärt, wie verheerend sich »diese ganzen Wissenschaftsbücher und Fachzeitschriften« auswirken könnten: »Zu abstrakt. Zu kalt. Einfach die falsche Farbe.«

Kaye malte sich aus, wie kritischgeistlose Paare, snobistische OberschichtFuzzis, in dem Haus einfallen würden, chic gekleidet in Tweed und Mokassins oder in weiche Seide und knielange Mikrofaser, Leute, die jedes Zeichen echter Individualität und Intellektualität vermieden, die Stiltipps aus den Sonntagsbeilagen der Zeitungen dagegen höchst reizvoll fanden. Nun ja, auch das Haus selbst hatte einige solche Reize zu bieten. Zusammen mit Saul hatte sie Möbel, Gardinen und Teppiche gekauft, die keinen offenen Angriff auf diese Art von Attraktivität darstellten. Aber bevor das Haus auf den Markt geworfen wurde, musste sie ihr gemeinsames Leben daraus entfernen.

Ihr gemeinsames Leben. Saul hatte seinem Anteil an der Fortsetzung ein Ende gemacht. Hier löschte sie die Hinweise auf ihre gemeinsame Zeit aus; AKS fledderte und verteilte ihr gemeinsames Berufsleben.

Der Immobilienmakler war rücksichtvoll gewesen und hatte Sauls blutiges Ende nicht erwähnt.

Wie lange würden die Schuldgefühle anhalten? Auf dem Weg die Treppe hinunter hielt sie inne und biss sich in den Daumenballen.

So oft sie sich auch einen Ruck gab und auf irgendein Gleis zurückzufinden versuchte, das ihr geblieben war, immer wieder driftete sie in ein Labyrinth der Assoziationen ab, auf emotionale Pfade, die ihre Traurigkeit noch verstärkten. Das Angebot der HerodesTaskforce war eine Möglichkeit, wieder eine eindeutige Richtung einzuschlagen, einen neuen, nüchternen und stabilen Weg. Die Merkwürdigkeiten der Natur würden ihr helfen, über die Merkwürdigkeiten ihres eigenen Lebens hinwegzukommen.

Das war zwar bizarr, aber es war auch annehmbar und glaubhaft; so konnte ihr Leben funktionieren.

Die Türklingel läutete melodisch »Eleanor Rigby«. Ein Anklang an Saul. Kaye stieg die letzten Stufen hinunter und öffnete die Tür. Unter dem Vordach stand Judith Kushner mit verkniffenem Gesicht. »Ich bin sofort gekommen, nachdem ich ein Muster erkennen konnte«, sagte sie. Judith trug einen schwarzen Wollrock, schwarze Schuhe und eine weiße Bluse; die Gürtelschnalle ihres Regenmantels schleifte auf dem Boden.

»Hallo Judith«, sagte Kaye ein wenig verlegen. Kushner griff nach der Tür, bat mit einem Blick gewissermaßen um die Erlaubnis einzutreten und trat ins Haus. Sie warf den Mantel ab und hängte ihn über einen stummen Diener aus Ahornholz.

»Mit Muster meine ich, dass ich acht Leute angerufen habe, die ich kenne, und Marge Cross hat sich mit allen in Verbindung gesetzt. Sie ist persönlich zu ihren Wohnungen gefahren — und hat immer gesagt, sie sei auf dem Weg zu irgendeiner geschäftlichen Besprechung. Immerhin wohnen fünf in der Nähe von New York, es ist also eine gute Ausrede.«

»Marge Cross — von Americol?«, fragte Kaye.

»Und von Euricol. Es würde mich nicht wundern, wenn sie auch in Übersee die Fäden zieht. Du lieber Gott, Kaye, sie ist ein großes Tier — Linda und Herb sind jetzt bei ihr. Und das sind nur die Ersten.«

»Bitte, Judith, mach mal ein bisschen langsam!«

»Fiona hat wie ein Mondkalb geguckt, als ich bei Cross abgesagt habe, ich schwöre es dir! Aber ich finde diese Konzernscheiße widerlich. Ich hasse sie wie die Pest. Kannst mich Sozialistin nennen — oder Kind der Sechziger …«

»Bitte«, sagte Kaye und hob die Hände, um den Wortschwall abzuwehren. »Wenn du weiter so wütend bist, dauert es noch ewig.«

Kushner hielt inne und starrte sie an. »Du bist schlau, meine Liebe. Du wirst schon wissen, was ich meine.«

Kaye dachte einen Augenblick nach. »Marge Cross und Americol wollen ein Stück vom SHEVAKuchen?«

»Sie bekommt nicht nur ihre Krankenhäuser voll, sondern sie kann sie auch direkt mit allen Medikamenten versorgen, die ›ihre‹

Arbeitsgruppe entwickelt. Therapieprogramme, exklusiv für Krankenversicherungen, die mit Americol verbunden sind. Dann gibt sie noch bekannt, dass sie ein hochkarätiges Team hat, und die Bewertung ihrer Firma geht durch die Decke.«

»Sie will mich?«

»Debra Kim hat mich angerufen. Sie sagt, Marge Cross würde ihr ein Labor geben, ihre SCIDMäuse unterbringen, ihr die Patente für die Choleratherapie abkaufen — zu einem sehr fairen Preis, der sie richtig reich machen würde. Und alles, bevor es überhaupt eine Therapie gibt. Debra wollte wissen, was sie dir sagen soll.«

»Debra?« Kaye ging das alles viel zu schnell.

»Marge ist psychologisch sehr geschickt. Das weiß ich. Wir haben in den Siebzigerjahren zusammen Medizin studiert. Nebenher hat sie noch das Examen in Betriebswirtschaft gemacht. Eine Menge Energie, hässlich wie die Nacht, keine Männergeschichten, viel Zeit, die du und ich mit Affären vergeudet hätten … 1987 hat sie der Medizin den Rücken gekehrt, und sieh sie dir heute an!«

»Was will sie von mir?«

Kushner zuckte die Achseln. »Du bist eine Vorreiterin, eine Berühmtheit — du lieber Gott, Saul hat aus dir eine Art Märtyrerin gemacht, vor allem für Frauen … Frauen, die eine Therapie brauchen. Du hast ausgezeichnete Referenzen, ausgezeichnete Veröffentlichungen, die Glaubwürdigkeit kommt dir sozusagen zu den Ohren raus. Ich dachte, sie würden den Boten umbringen, Kaye. Aber jetzt sieht es so aus, als wollten sie dir den Lorbeerkranz aufsetzen.«

»Du liebe Güte.« Kaye ging ins Wohnzimmer mit den nackten Wänden und setzte sich auf die frisch gereinigte Couch. Der Raum roch nach Seife mit leichtem Kiefernduft, ein wenig wie im Krankenhaus.

Kushner schnupperte und runzelte die Stirn. »Riecht, als ob hier Roboter wohnen.«

»Der Makler hat gesagt, es sollte sauber duften«, erwiderte Kaye; sie versuchte, Zeit zu gewinnen und ihre Gedanken zu ordnen.

»Und als sie oben sauber gemacht haben … nachdem Saul … der Duft ist geblieben. PineSol. Lysol. Irgend so etwas.«

»Mein Gott«, sagte Kushner leise.

»Du hast Marge Cross abgesagt?«, fragte Kaye.

»Ich habe genug Arbeit für den Rest meines Lebens, Liebes. Ich brauche keine überdrehte Geldmaschine, die mir sagt, wo es lang geht. Hast du sie im Fernsehen gesehen?«

Kaye nickte.

»Glaub’ ihrem Image nicht.«

Ein Wagen rumpelte durch die Einfahrt. Durch das vordere Erkerfenster sah Kaye eine große, dunkelgrüne ChryslerLimousine.

Ein junger Mann im grauen Anzug stieg aus und öffnete die rechte hintere Tür. Debra Kim kam zum Vorschein, blickte sich um und schützte das Gesicht mit der Hand vor dem kalten Seewind.

Gerade fielen die ersten Schneeflocken.

Der junge Mann in Grau riss die linke hintere Tür auf, und nun erhob sich Marge Cross in ihrer vollen Größe von einem Meter achtzig, im dunkelblauen Wollmantel, die graumelierten Haare zu einem würdevollen Knoten frisiert. Sie sagte etwas zu dem jungen Mann, der daraufhin nickte, zur Fahrertür zurückkehrte und sich gegen den Wagen lehnte. Cross und Debra Kim gingen auf die Haustür zu.

»Jetzt bin ich baff«, sagte Kushner. »Die arbeitet schneller, als ich denken kann.«

»Du wusstest nicht, dass sie kommen würde?«

»Nicht so schnell. Soll ich zum Hinterausgang raus?«

Kaye schüttelte denn Kopf, und zum ersten Mal seit Tagen konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken. »Nein. Ich möchte sehen, wie ihr beiden um meine Seele feilscht.«

»Ich mag dich, Kaye, aber auf eine Diskussion mit Marge lasse ich mich nicht ein.«

Kaye eilte zum Eingang und öffnete, bevor Cross klingeln konnte. Die Besucherin ließ ein breites, freundliches Grinsen sehen; ihr eckiges Gesicht und die kleinen grünen Augen strahlten mütterliche Fröhlichkeit aus.

Kim lächelte nervös. »Hallo, Kaye«, sagte sie und wurde ein wenig rosa im Gesicht.

»Kaye Lang? Wir haben uns noch nicht kennen gelernt«, sagte Cross.

Oh Gott, dachte Kaye, die klingt ja wirklich wie Julia Child!


Kaye machte Pulverkaffee mit Vanillegeschmack, den sie einer alten Blechdose entnahm, und schenkte ihn in dem Geschirr aus, das sie im Haus lassen wollte. Keinen Augenblick lang ließ Cross sie spüren, dass sie nicht die stilvollen Delikatessen serviert bekam, die einer Frau mit zwanzig Milliarden Dollar im Rücken angemessen waren.

»Ich bin gekommen, weil ich bei Ihnen die Erste sein wollte. Ich habe Debras Labor bei AKS gesehen«, sagte Cross. »Ihre Arbeit dort ist spannend. Wir haben eine Stelle für sie. Debra hat erwähnt, in welcher Lage Sie sind …«

Kushner blickte zu Kaye und nickte ganz leicht.

»Und ehrlich gesagt, wollen wir Sie schon seit Monaten kennen lernen. Ich habe fünf junge Männer, die für mich die Fachliteratur durchsehen — alle sehr gut aussehend und klug. Einer der hübschesten und Schlauesten sagte mir: ›Lesen Sie mal das hier.‹ Ihr Artikel, in dem Sie die Expression eines alten menschlichen Provirus voraussagen. Wow. Und jetzt — es kommt genau zur rechten Zeit. Kim sagt, Sie erwägen zurzeit ein Stellenangebot bei den CDC. Bei Christopher Dicken.«

»Eigentlich bei der HerodesTaskforce und Mark Augustine«, sagte Kaye.

»Ich kenne Mark. Er kann gut delegieren. Sie werden bei Dicken arbeiten. Ein kluger Bursche.« Cross durchpflügte das Terrain, als spräche sie über Gartenarbeit. »Wir wollen ein Team von Weltklassewissenschaftlern aufbauen, das die Herodes-Grippe erforscht. Wir werden ein Behandlungsverfahren finden und sie eines Tages vielleicht sogar heilen können. Unsere Spezialtherapie werden wir den AmericolKliniken anbieten, aber die Ausrüstung verkaufen wir an alle. Wir haben die Infrastruktur, mein Gott, und wir haben das Geld … Wir schließen ein Abkommen mit den CDC, und Sie können als unsere Repräsentantin beim Gesundheitsministerium und an den NIH arbeiten. Es wird so werden wie beim ApolloProgramm — Regierung und Industrie arbeiten in großem Maßstab zusammen, aber dieses Mal bleiben wir da, wo wir landen.« Cross drehte sich auf dem Sofa um und sah Kushner an. »Mein Angebot an Sie steht noch, Judith. Es wäre mir lieb, wenn Sie beide bei uns arbeiten.«

Kushner stieß ein kurzes, fast mädchenhaftes Lachen aus. »Nein danke, Marge. Ich bin zu alt, um noch einmal von vorn anzufangen.«

Cross schüttelte den Kopf. »Keine Reibereien, garantiert.«

»Ich bin mir über die Doppelaufgabe noch nicht im Klaren«, sagte Kaye. »Ich habe mit der Arbeit bei der Taskforce noch nicht einmal angefangen.«

»Ich bin heute Nachmittag bei Mark Augustine und Frank Shawbeck. Wenn Sie wollen, können Sie mit mir nach Washington fliegen, und wir gehen zusammen hin. Die Einladung gilt auch für Sie, Judith.«

Kushner schüttelte den Kopf, aber diesmal klang ihr Lachen gezwungen.

Kaye schwieg einen Augenblick lang und sah ihre gefalteten Hände an. Sie verkrampfte und entspannte die Finger, sodass Fingerknöchel und Nägel abwechselnd rot und weiß wurden.

Was sie jetzt sagen musste, wusste sie, aber sie wollte vorher noch mehr von Cross erfahren.

»Wenn Sie an einer bestimmten Sache arbeiten wollen, werden Sie sich um die Finanzierung niemals Sorgen machen müssen«, sagte Cross. »Das nehmen wir in Ihren Vertrag auf. So viel Vertrauen habe ich in Sie.«

Aber will ich überhaupt ein Edelstein in deiner Krone sein, meine Königin? fragte Kaye sich selbst.

»Ich verlasse mich auf meinen Instinkt, Kaye. Ich habe Sie schon von unseren Personalwerbern überprüfen lassen. Sie sind überzeugt, dass die kommenden Jahrzehnte die beste Arbeitsperiode Ihres Lebens sein werden. Kommen Sie zum Arbeiten zu uns, Kaye. Wir werden nichts, was Sie tun, übersehen oder für unwichtig erklären.«

Wieder lachte Kushner, und Cross lächelte die beiden an.

»Ich möchte so bald wie möglich aus diesem Haus rauskommen«, sagte Kaye. »Eigentlich wollte ich erst nächste Woche nach Atlanta fliegen … Ich suche dort gerade eine Wohnung.«

»Ich sage meinen Leuten, sie sollen sich darum kümmern. Wir werden etwas Hübsches für Sie finden, in Atlanta oder Baltimore, ganz gleich, wo Sie wohnen möchten.«

»Du lieber Gott.« Kaye lächelte schwach.

»Noch etwas anderes dürfte Sie interessieren. Sie haben zusammen mit Saul viel in Georgien gearbeitet. Wahrscheinlich könnte ich das mit meinen Kontakten retten. Ich würde die Phagentherapie gerne viel gründlicher erforschen. Vermutlich könnte ich die Leute in Tiflis dazu bringen, dass sie keinen politischen Druck mehr ausüben. Das Ganze ist ohnehin lächerlich — eine Laienspieltruppe, die da etwas in die Hand nehmen will.«

Cross legte eine Hand auf Kayes Arm und drückte ihn sanft.

»Kommen Sie jetzt mit! Wir fliegen nach Washington, gehen zu Mark und Frank, treffen uns mit jedem anderen, den Sie gerne sprechen möchten, bekommen ein Gefühl für die ganze Sache.

Entscheiden können Sie sich in ein paar Tagen. Fragen Sie Ihren Anwalt, wenn Sie wollen. Wir stellen Ihnen sogar einen Vertragsentwurf zur Verfügung. Wenn es nicht klappt, überlasse ich Sie ohne Meckern und Murren den CDC.«

Kaye wandte sich zu Kushner. Im Gesicht ihrer Lehrerin erkannte sie den gleichen Ausdruck wie damals, als sie verkündet hatte, sie werde Saul heiraten. »Wo ist der Haken an der Sache, Marge?«, fragte Kushner leise und faltete dabei die Hände auf ihrem Schoß.

Cross lehnte sich zurück und spitzte die Lippen. »An keiner von den üblichen Stellen. Die wissenschaftliche Anerkennung geht an die Arbeitsgruppe. Die Werbeabteilung der Firma koordiniert alle Presseerklärungen und überwacht sämtliche wissenschaftlichen Veröffentlichungen, damit die Informationen zum richtigen Zeitpunkt an die Öffentlichkeit gelangen. Keine PrimadonnaAllüren.

Die finanziellen Erlöse werden nach einem sehr großzügigen Prämiensystem verteilt.« Cross verschränkte die Arme. »Kaye, Ihr Anwalt ist schon ziemlich alt und nicht sehr versiert in solchen Angelegenheiten. Judith kann Ihnen sicher einen besseren empfehlen.«

Kushner nickte. »Ich werde ihr einen sehr guten nennen … falls Kaye Ihr Angebot ernsthaft in Erwägung zieht.« Sie klang ein wenig bedrückt, enttäuscht.

»Mit so vielen Konfektschachteln und Rosensträußen umworben zu werden, bin ich nicht gewohnt, das können Sie mir glauben«, sagte Kaye und starrte auf die Ecke des Teppichs hinter dem Couchtisch. »Bevor ich mich entscheide, wüsste ich gern, was man bei der Taskforce von mir erwartet.«

»Wenn Sie mit mir in Augustines Büro marschiert kommen, weiß er, was ich vorhabe. Und ich denke, er wird einverstanden sein.«

Zu ihrer eigenen Überraschung sagte Kaye: »Dann würde ich gern mit Ihnen nach Washington fliegen.«

»Sie haben es verdient, Kaye«, sagte Cross, »und ich brauche Sie.

Das Ganze wird kein Spaziergang. Ich will die besten Wissenschaftler haben, das beste Arsenal, das ich bekommen kann.«

Draußen schneite es jetzt stärker. Kaye sah, dass der Fahrer sich in den Wagen zurückgezogen hatte und mit einem Handy telefonierte. Eine andere Welt — so schnell, so beschäftigt, so verwoben und mit so wenig Zeit, um wirklich nachzudenken.

Vielleicht brauchte sie jetzt genau das.

»Ich kann diesen Anwalt anrufen«, sagte Kushner. Dann wandte sie sich zu Cross: »Ich würde gern ein paar Minuten allein mit Kaye sprechen.«

»Natürlich«, erwiderte Cross.

In der Küche griff Judith Kushner nach Kayes Arm und sah sie mit einer konzentrierten Grimmigkeit an, die Kaye nur selten bei ihr beobachtet hatte.

»Dir ist doch klar, was passieren wird?«, fragte sie.

»Was?«

»Du sollst das Aushängeschild abgeben. Die Hälfte deiner Zeit wirst du in großen Räumen mit Leuten sprechen, die dich erwartungsvoll anlächeln, dir alles ins Gesicht sagen, was du hören willst, und dann hinter deinem Rücken tratschen. Man wird dich als eines von Marges Haustieren bezeichnen, als einen von ihren Zöglingen.«

»Meinst du wirklich?«, fragte Kaye.

»Du wirst glauben, dass du tolle Arbeit leistest, und eines Tages wird dir dann klar, dass du die ganze Zeit nach ihrer Pfeife getanzt hast und sonst gar nichts. Sie glaubt, die Welt gehöre ihr und alles gehe nach ihrer Nase. Und dann wird jemand kommen müssen, der dich rettet, Kaye. Ob ich das jemals sein könnte, weiß ich nicht. Und ich hoffe für dich, dass es niemals ein zweiter Saul sein wird.«

»Ich weiß deine Besorgnis zu schätzen, danke«, sagte Kaye leise, aber auch mit einem Anflug von Trotz. »Aber ich lasse mich auch von meinem Instinkt leiten. Und außerdem will ich herausfinden, was die Herodes-Grippe eigentlich ist. Das wird nicht billig. Ich denke, mit den CDC hat sie Recht. Und wenn wir … die Arbeit am Eliava-Institut abschließen können? Für Saul? Im Andenken an ihn?«

Kushners Anspannung ließ nach. Sie lehnte sich gegen die Wand und schüttelte den Kopf. »Na gut.«

»Du redest von Cross, als sei sie der Teufel persönlich«, sagte Kaye.

Kushner lachte. »Der Teufel nicht gerade. Aber auch nicht meine Kragenweite.«

Die Küchentür öffnete sich, und Debra Kim kam herein. Sie blickte nervös zwischen den beiden hin und her und sagte dann bittend: »Kaye, eigentlich will sie dich und nicht mich. Wenn du nicht mit einsteigst, wird sie Mittel und Wege finden, damit meine Arbeit den Bach runtergeht …«

»Ich mache es«, sagte Kaye. »Aber um Himmels willen, ich kann jetzt nicht sofort weg. Das Haus …«

»Darum wird Marge sich schon kümmern«, sagte Kushner, als müsste sie einer begriffsstutzigen Studentin bei einem Thema auf die Sprünge helfen, das ihr selbst keinen Spaß macht.

»Ganz bestimmt«, bestätigte Kim eilig, und ihr Gesicht heiterte sich auf. »Sie ist einfach toll.«

29 Primatenlabor der Taskforce, Baltimore Februar

»Morgen, Christopher! Wie geht’s Europa?« Marian Freedman hielt die Tür an der obersten Betonstufe auf. Durch die Straße fegte ein eiskalter Wind. Dicken zog seinen zerknitterten Schal hoch und rieb sich vielsagend ein tränendes Auge, während er die Treppe hochstieg.

»Ich bin noch die Genfer Uhrzeit gewohnt. Schöne Grüße von Ben Tice.«

Freedman salutierte forsch. »Europa meldet sich zur Stelle«, rief sie dramatisch. »Wie geht’s Ben?«

»Er ist todmüde. Letzte Woche haben sie die Hüllproteine untersucht. Schwieriger als sie dachten. SHEVA kristallisiert nicht.«

»Er hätte mich fragen sollen«, sagte Marian.

Dicken legte Schal und Mantel ab. »Hast du heißen Kaffee?«

»Im Aufenthaltsraum.« Sie führte ihn durch einen Flur, dessen Wände in einem bizarren Orange gestrichen waren, und dirigierte ihn nach links durch eine Tür.

»Was macht das Gebäude?«

»Schrecklich. Hast du gehört, dass die Bauaufsicht Tritium in den Rohrleitungen gefunden hat? Das hier war letztes Jahr noch eine Anlage zur Aufarbeitung von Krankenhausabfällen, aber irgendwie ist Tritium in die Leitungen geraten. Wir hatten keine Zeit, abzulehnen und wieder auf die Suche zu gehen. Verrückter Markt! Also … Geigerzähler und Nachrüstung haben zehn Riesen gekostet. Außerdem müssen wir jeden zweiten Tag einen Inspekteur vom Nuklearrat mit seinem Schnüffelapparat durch das Haus führen.«

Dicken stand im Aufenthaltsraum vor dem schwarzen Brett. Es war in zwei Abschnitte geteilt: eine große breite Kunststofftafel und daneben eine kleinere Pinnwand aus Kork voller angehefteter Zettel. »Mitbewohner für billige Wohnung gesucht.« »Kann jemand am nächsten Mittwoch meine Hunde vom DullesAirport abholen?

Sie sind dort in Quarantäne. Bin den ganzen Tag beschäftigt.« »Wer kennt eine gute Kindertagesstätte in Arlington?« »Mitfahrgelegenheit nach Bethesda am Montag gesucht. Am liebsten jemand aus der Stoffwechsel- oder Exkretionsgruppe. Wir müssen uns sowieso unterhalten.«

Seine Augen trübten sich. Er war erschöpft, aber als er hier den Beweis sah, dass die Sache in vollem Gang war, dass Menschen aus der ganzen Welt zusammenfanden, mit ihren Familien umzogen und ihre Lebensläufe umkrempelten, war er tief bewegt.

Freedman gab ihm einen Styroporbecher. »Er ist ganz frisch.

Wir machen guten Kaffee.«

»Harntreibend«, sagte er. »Müsste euch helfen, das Tritium loszuwerden.«

Freedman verzog das Gesicht.

»Könnt ihr die Expression schon induzieren?«

»Nein«, sagte Freedman. »Aber das verstreute ERV bei Affen ist dem SHEVA mit seinem Genom beängstigend ähnlich. Wir beweisen gerade, was wir schon immer vermutet haben: Das Zeug ist uralt. Es ist ins Genom der Affen eingedrungen, bevor wir und die Meerkatzen getrennte Wege gegangen sind.«

Dicken trank schnell den Kaffee aus und wischte sich den Mund ab. »Dann ist es eigentlich keine Krankheit«, sagte er.

»Oha! Das habe ich nicht gesagt.« Freedman nahm ihm den Becher ab und warf ihn weg. »Es wird exprimiert, es verbreitet sich, es infiziert. Es ist also eine Krankheit, ganz gleich, woher es stammt.«

»Ben Tice hat zweihundert abgestoßene Feten untersucht. Bei allen war eine große Follikelmasse vorhanden, so ähnlich wie ein Eierstock, aber nur mit etwa zwanzig Follikeln. Bei allen …«

»Ich weiß, Christopher. Höchstens drei geplatzte Follikel. Er hat mir gestern Abend den Bericht geschickt.«

»Marian, die Plazenten sind winzig, das Amnion ist nur ein dünner kleiner Sack, und nach der unglaublich leicht verlaufenden Fehlgeburt — bei vielen Frauen tut es nicht einmal weh — wird auch die Gebärmutterschleimhaut nicht abgestoßen. Es ist, als wäre die Frau immer noch schwanger.«

Freedman wurde sehr unruhig. »Bitte, Christopher …«

Zwei weitere Wissenschaftler, beides junge Schwarze, kamen herein. Sie erkannten Dicken, obwohl sie ihm noch nie begegnet waren, nickten ihm zur Begrüßung zu und gingen zum Kühlschrank hinüber. Freedman dämpfte die Stimme.

»Christopher, ich möchte nicht zwischen dir und Augustine stehen, wenn die Fetzen fliegen. Ja, du hast nachgewiesen, dass die Opfer aus Georgien SHEVA im Gewebe hatten. Aber ihre Babys waren keine missgebildeten EierstockDinger, sondern ganz normal entwickelte Feten.«

»Ich würde liebend gern einen davon genauer untersuchen.«

»Dann nimm ihn woandershin mit. Christopher, wir sind kein kriminaltechnisches Labor. Ich habe hier hundertdreiundzwanzig Leute, dreißig Meerkatzen und zwölf Schimpansen, und wir arbeiten ganz gezielt an einem Auftrag. Wir erforschen die Expression endogener Viren im Gewebe von Affen. Das ist alles.« Die letzten Worte hatte sie Dicken an der Tür leise ins Ohr geflüstert. Dann sagte sie lauter: »Komm mit, sieh dir an, wie weit wir sind.«

Sie führte Dicken durch ein Labyrinth aus Bürokabinen, jede mit eigenem kleinen Flachbildschirm ausgestattet. Unterwegs begegneten ihnen mehrere Frauen in weißen Laborkitteln und ein Techniker im grünen Overall. Es roch nach Desinfektionsmitteln, bis Marian die Stahltür zum Haupttierlabor öffnete. Dort stieg Dicken der Geruch von altem Brot — Affenfutter —, der scharfe Gestank von Urin und Kot, aber auch der Geruch von Seife und Desinfektionsmitteln in die Nase.

Sie brachte ihn in einen großen Raum mit Betonwänden, in dem drei Schimpansenweibchen lebten, jedes in einer eigenen, luftdicht verschlossenen Zelle aus Kunststoff und Stahl. Jede Zelle wurde durch ein eigenes Ventilationssystem mit Luft versorgt. In den Käfig, der ihnen am nächsten war, hatte eine Tierpflegerin eine Fixierklammer gebracht, und der Schimpanse versuchte eifrig, sich der stählernen Fessel zu entziehen. Die Tierpflegerin zog die Schrauben an, sodass die Klammer sich immer weiter schloss, und wartete mit unmelodischem Pfeifen, bis das Affenweibchen sich schließlich in sein Schicksal ergab. Die Klammer hielt es so fest, dass es fast flach da lag. Es konnte nicht mehr beißen, nur ein Arm winkte gegenüber der Seite, an der die Pflegerin ihre Arbeit verrichtete, durch die Stangen.

Marian sah mit ausdrucksloser Miene zu, wie der gefesselte Schimpanse aus dem Käfig geholt wurde. Die Fixiervorrichtung wurde auf Gummirollen herumgedreht, und eine Assistentin nahm Blut und Vaginalabstriche ab. Das Schimpansenweibchen kreischte protestierend und schnitt Grimassen. Weder die Tierpflegerin noch die Assistentin achteten auf die Schreie.

Marian ging zu der Fixierklammer und berührte die ausgestreckte Hand des Affen. »Ist ja schon gut, Kiki. Ist ja schon gut, Mädchen. Braves Mädchen. Tut uns Leid, Schätzchen.«

Die Finger des Schimpansenweibchens strichen mehrmals über Marians Handfläche. Der Affe verzog immer noch das Gesicht und wand sich, schrie aber nicht mehr. Als das Weibchen wieder in den Käfig gebracht wurde, wandte Marian sich um. Sie sah die Tierpflegerin und die Assistentin an.

»Aus dem Idioten, der diese Tiere wie Maschinen behandelt, mache ich Hackfleisch in Dosen«, sagte sie mit leisem, unwirschem Knurren. »Habt ihr das verstanden? Sie braucht Zuwendung. Sie ist verletzt worden und will jemanden berühren, um sich zu beruhigen. Ihr seid am ehesten das, was Freunden und Angehörigen entspricht. Klar?«

Die Tierpflegerin und die Assistentin entschuldigten sich verlegen.

Marian stapfte an Dicken vorüber und bedeutete ihm mit einer ruckartigen Kopfbewegung, ihr zu folgen.

»Es wird sicher gut klappen«, sagte Dicken, bekümmert über die Szene. »Ich vertraue dir vorbehaltlos, Marian.«

Marian seufzte. »Dann komm wieder mit in mein Büro und lass uns weiter reden.«

Der Korridor vor dem Büro war menschenleer, die Türen an beiden Enden waren geschlossen. Mit ausholender Geste erklärte Dicken: »Ich habe Ben auf meiner Seite. Er hält es für einen sehr bedeutsamen Vorgang, nicht nur für eine Krankheit.«

»Will er sich denn gegen Augustine stellen? Unsere ganze Finanzierung wird mit der Suche nach einer Therapie begründet, Christopher! Wie soll man eine Therapie finden, wenn es keine Krankheit ist? Die Menschen sind unglücklich, die Menschen sind krank, und sie glauben, dass sie ihre Babys verlieren.«

»Diese abgestoßenen Feten sind keine Babys, Marian.«

»Was um alles in der Welt sind sie dann? Ich muss von dem ausgehen, was ich weiß, Christopher. Wenn wir völlig theoretisch werden …«

»Ich bohre weiter«, sagte Dicken. »Ich möchte wissen, was du denkst.«

Marian stand hinter ihrem Schreibtisch, legte die Hände auf die Resopalplatte und trommelte mit ihren kurzen Fingernägeln dagegen. Sie sah aufgebracht aus. »Ich bin Genetikerin und Molekularbiologin. Ansonsten habe ich keine Ahnung. Ich brauche jeden Abend fünf Stunden, um nur ein Hundertstel von dem zu lesen, was ich auf meinem eigenen Gebiet eigentlich wissen müsste.«

»Hast du dich schon mal bei MedWeb eingeloggt? Bei Bionet? Virion?«

»Ich bin nicht viel im Netz, außer um meine Mails zu lesen.«

»Virion ist ein kleines, inoffizielles Netzmagazin aus Palo Alto.

Nur Privatabonnenten. Es wird von Kiril Maddox betreut.«

»Ich weiß. Ich hatte in Stanford mal was mit Kiril.«

Dicken zuckte zusammen. »Das wusste ich nicht.«

»Erzähl’ es bitte nicht weiter! Er war schon damals ein hochintelligenter, revolutionärer kleiner Scheißer.«

»Großes Pfadfinderehrenwort. Aber du solltest es dir mal ansehen. Dreißig anonyme Beiträge. Kiril versichert mir, es seien alles seriöse Wissenschaftler. Und der Wirbel dreht sich nicht um Krankheit oder Therapie.«

»Ja, und wenn sie an die Öffentlichkeit gehen, komme ich mit und gehe mit dir zu Augustine ins Büro.«

»Versprochen?«

»Niemals! Ich bin keine schlaue Forscherin, und ich habe keinen internationalen Ruf zu verteidigen. Ich bin so eine Art Fließbandmalocherin mit Spliss in den Haaren und einem beschissenen Sexualleben, aber ich liebe meine Arbeit und will meinen Job behalten.«

Dicken kratzte sich im Nacken. »Es liegt etwas in der Luft. Etwas richtig Großes. Wenn ich es Augustine sage, brauche ich eine Liste von Leuten, die hinter mir stehen.«

»Du meinst, wenn du ihm den Kopf zurechtrücken willst. Er wird dir einen Tritt geben, dass du aus den CDC fliegst.«

»Das glaube ich nicht. Ich hoffe es nicht.« Dann fragte Dicken mit argwöhnischem Zwinkern: »Woher weißt du das eigentlich?

Hattest du mit Augustine auch mal was?«

»Er war Medizinstudent«, sagte Freedman. »Und um Medizinstudenten habe ich immer einen großen Bogen gemacht.«


»Jessies Puma« lag ein halbes Stockwerk unter dem Straßenniveau.

Davor befanden sich eine kleine Leuchtreklame, ein Schild aus Holzimitat und ein poliertes Messinggeländer. In dem langen, schmalen Gastraum servierte ein stämmiger Mann in Pseudosmoking und schwarzer Hose an winzigen Holztischen Bier und Wein. Sieben oder acht nackte Frauen bemühten sich nacheinander, auf der kleinen Bühne zu tanzen, allerdings ohne allzu großen Enthusiasmus.

Einem kleinen, handgeschriebenen Zettel auf einem Notenständer war zu entnehmen, dass der Puma diese Woche krank war —

Jessie würde also nicht auftreten. Fotos der abgehärmten Katze und ihrer aufgetakelten, lächelnden blonden Herrin zierten die Wand hinter der kleinen Bar.

Der Raum war eng — in der Breite maß er nur knapp drei Meter — und voller Rauch. Schon als Dicken sich setzte, fühlte er sich unwohl. Er blickte sich auf der Zuschauerseite um und sah Zweier- oder Dreiergruppen von älteren Männern im Anzug und junge Männer in Jeans — alle allein, alles Weiße, alle mit kleinen Biergläsern, an denen sie sich festhielten.

Ein Mann Ende vierzig ging zu einer Tänzerin, die gerade von der Bühne kam, flüsterte ihr etwas zu, und sie nickte. Dann zog er sich mit seinen Begleitern zur Privatunterhaltung in ein Hinterzimmer zurück.

Dicken hatte höchstens ein paar Stunden im Monat für sich.

Zufällig hatte er heute Abend frei — keine gesellschaftlichen Verpflichtungen und keine Bleibe außer einem kleinen Zimmer im Holiday Inn. Also war er, an vielen Polizeiwagen und ein paar Streifenbeamten auf Fahrrädern oder zu Fuß vorbei, ins Rotlichtviertel gegangen. Ein paar Minuten hatte er sich im Laden einer Buchhandelskette aufgehalten, aber die Aussicht, seinen freien Abend ausschließlich mit Lesen zu verbringen, war ihm völlig unerträglich vorgekommen. Seine Füße hatten ihn automatisch dorthin getragen, wo er von Anfang an hatte hingehen wollen, und sei es auch nur, um sich eine Frau zu suchen, mit der er nicht beruflich zu tun hatte.

Die Tänzerinnen waren durchaus attraktiv — Anfang bis Ende zwanzig, aufreizend in ihrer unverhüllten Nacktheit. So weit er es beurteilen konnte, waren ihre Brüste Produkte kosmetischer Chirurgie. Wie üblich war das Schamhaar zu einem kleinen Ausrufezeichen rasiert. Als er hereinkam, hatte keine von ihnen zu ihm herüber geblickt. In ein paar Minuten würde das Geld die Münder lächeln und die Augen leuchten lassen, aber bis dahin herrschte Funkstille.

Er bestellte ein Budweiser — die Auswahl bestand in Coors, Bud oder Bud Lite — und lehnte sich an die Wand. Im Augenblick stand eine junge, sehr schlanke Frau auf der Bühne, deren auffällig vorstehende Brüste nicht zu dem schmalen Brustkorb passten. Er sah ihr mit geringem Interesse zu; als sie mit ihren zehnminütigen Windungen, begleitet von ein paar starren Blicken ins Publikum, fertig war, warf sie einen schenkellangen Kunstfaserumhang über und kam die Rampe herunter, um sich unter die Leute zu mischen.

Dicken hatte nie ganz mitbekommen, wie es in solchen Clubs zuging. Er wusste zwar von den Hinterzimmern, aber ihm war nicht klar, was dort erlaubt war. Außerdem ertappte er sich dabei, dass er weniger an Frauen, Rauchen und Bier dachte als an den nächsten Morgen, für den die Besichtigung der Howard University vorgesehen war. Und an die Besprechung mit Augustine und den neuen Mitgliedern der Arbeitsgruppe am späten Nachmittag … Es würde wieder ein langer Tag werden.

Er sah sich die nächste Frau auf der Bühne an — sie war kleiner und ein wenig fülliger, mit kleinen Brüsten und sehr schmaler Taille — und musste an Kaye Lang denken.

Dicken trank sein Bier aus, ließ ein paar Vierteldollarmünzen auf den abgeschabten kleinen Tisch fallen und schob den Stuhl zurück. Eine halbnackte Rothaarige, die ihren Morgenmantel über das erhobene Bein drapiert hatte, bot ihm zum Geldeinstecken ihren Strumpf dar. Wie ein Schwachkopf stopfte er ihr einen Zwanziger unter den Hüftgürtel und sah zu ihr auf; sein Blick sollte wie eine lässige Aufforderung erscheinen, aber er fürchtete, dass er eher verklemmt und unsicher wirkte.

»Das ist doch schon mal ein Anfang, Schätzchen«, sagte sie mit dünner, aber selbstsicherer Stimme. Rasch sah sie sich um. Er war zurzeit der größte Fisch, der ohne Begleitung in dem Becken herumschwamm. »Hast zu viel gearbeitet, was?«

»Stimmt«, erwiderte er.

»Ich glaube, du brauchst eine kleine Privatvorstellung«, fügte sie hinzu.

»Das wäre nicht schlecht«, sagte er mit trockener Kehle.

»Es gibt hier ein hübsches Plätzchen. Du kennst doch die Regeln, Schätzchen? Nur ich darf dich anfassen, nicht umgekehrt.

Der Chef möchte, dass du brav auf deinem Platz bleibst. Es macht echt Spaß.«

Es klang entsetzlich. Dennoch folgte er ihr in ein kleines Zimmer auf der Rückseite des Hauses, einen von acht oder zehn Räumen in der ersten Etage, jeder so groß wie ein Schlafzimmer und unmöbliert bis auf eine kleine Bühne und einen oder zwei Klappstühle. Er setzte sich auf den Klappstuhl, und die Frau ließ ihren Morgenmantel herabgleiten. Sie trug einen winzigen String.

»Ich heiße Danielle«, sagte sie. Als er zum Sprechen ansetzte, legte sie den Finger auf ihre Lippen. »Sag’ es mir nicht«, forderte sie. »Ich liebe das Geheimnisvolle.«

Dann zauberte sie aus einer kleinen schwarzen Tasche an ihrem Arm ein weiches Plastikpäckchen hervor und öffnete es mit einer routinierten Bewegung aus dem Handgelenk. Sie zog sich eine Chirurgenmaske über das Gesicht.

»Tut mir Leid«, sagte sie mit noch dünnerer Stimme. »Du weißt ja, was los ist. Die Mädels sagen, diese neue Grippe geht durch alles durch — die Pille, Gummis, was du willst. Man muss nicht mal mehr — du weißt schon — unanständige Sachen machen, damit man Probleme kriegt. Sie sagen, alle Männer haben es. Ich hab’ schon zwei Kinder. Ich brauch’ keinen Urlaub, nur um eine kleine Missgeburt zu kriegen.«

Dicken war so erschöpft, dass er sich kaum noch rühren konnte.

Sie stellte sich auf der Bühne in Positur und fragte: »Was ist dir lieber — langsam oder schnell?«

Er stand auf und stieß aus Ungeschicklichkeit den Stuhl um, sodass es laut krachte. Sie blickte ihn verärgert an — die Augen über der Maske verengten sich, die Brauen zogen sich zusammen.

Die Maske war krankenhausgrün.

»Tut mir Leid«, sagte er und gab ihr noch einen Zwanziger.

Dann flüchtete er aus dem Zimmer, stolperte durch die verrauchte Luft, kletterte in der Nähe der Bühne über einige Beine, stieg die Stufen hinauf, hielt sich einen Augenblick lang an dem Messinggeländer fest und atmete tief durch.

Dann wischte er sich die Hand energisch an der Hose ab, als sei er derjenige, der sich anstecken konnte.

30 University of Washington, Seattle

Mitch saß auf der Bank und streckte die Arme in das blasse Sonnenlicht. Er trug ein Flanellhemd, verwaschene Jeans und abgeschabte Wanderstiefel, aber keinen Mantel.

Die nackten Bäume reckten ihre grauen Zweige über eine Fläche aus festgetretenem Schnee. Wo die Studenten regelmäßig gingen, waren die Bürgersteige frei, und Trittspuren zogen sich kreuz und quer über die verschneiten Wiesen. Langsam fielen die Flocken aus der zerklüfteten grauen Wolkenmasse, die sich über ihm türmte.

Winkend und mit dünnem Lächeln kam Wendell Packer näher.

Er war Ende dreißig wie Mitch, ein großer, schlanker Mann mit schütterem Haar und ebenmäßigen Zügen, die nur durch eine Knollennase ein wenig gestört wurden. Er hatte einen dicken Pullover und eine Daunenjacke an; in der Hand trug er einen kleinen Lederbeutel.

»Ich wollte schon immer mal einen Film über diese Wiese machen«, sagte Packer und faltete nervös die Hände.

»Was für einen?«, fragte Mitch, schon mit einem engen Gefühl in der Brust. Er hatte sich zwingen müssen anzurufen und auf das Universitätsgelände zu kommen. Allmählich lernte er, die Nervosität der früheren Bekannten und Wissenschaftlerkollegen zu ignorieren.

»Nur eine Szene. Januar, schneebedeckte Erde; Obstblüte im April. Ein hübsches Mädchen geht genau hier entlang. Allmähliche Überblendung: Erst ist sie von fallenden Schneeflocken umgeben, und später verwandeln sie sich in Blütenblätter.« Packer zeigte auf den Weg, wo die Studenten zu ihren Vorlesungen schlenderten. Dann wischte er den Matsch auf der Bank beiseite und setzte sich neben Mitch. »Du hättest auch in mein Büro kommen können. Du bist kein Ausgestoßener, Mitch. Niemand wird dich mit einem Fußtritt aus der Uni befördern.«

Mitch zuckte die Achseln. »Ich bin ein unruhiger Mensch geworden, Wendell. Ich schlafe nicht viel. In meiner Wohnung habe ich einen Stapel Lehrbücher … ich beschäftige mich den ganzen Tag mit Biologie. Ich weiß nicht, wo ich am meisten nachzuholen habe.«

»Jaja, na gut, verabschieden wir uns vom élan vital. Wir sind jetzt Ingenieure.«

»Ich würde dich gern zum Mittagessen einladen und dich ein paar Dinge fragen. Und dann wollte ich fragen, ob ich ein paar Vorlesungen in deinem Institut hören kann. Die Lehrbücher reichen mir einfach nicht.«

»Ich kann die Professoren fragen. Hattest du bestimmte Vorlesungen im Auge?«

»Embryologie. Entwicklung der Wirbeltiere. Ein bisschen Geburtshilfe, aber das ist nicht deine Abteilung.«

»Warum?«

Mitch blickte über die Wiese hinweg zu den ockerfarbenen Fassaden der Universitätsgebäude. »Ich muss noch eine Menge lernen, damit ich mir nicht den Mund verbrenne oder wieder etwas Dummes anstelle.«

»Zum Beispiel was?«

»Wenn ich dir das sage, hältst du mich mit Sicherheit für verrückt.«

»Mitch, einen der schönsten Augenblicke seit vielen Jahren habe ich erlebt, als ich mit meinen Kindern nach Ginkgo Tree gefahren bin. Es hat ihnen gefallen, sie sind überall herumgelaufen und haben Fossilien gesucht. Ich habe stundenlang auf den Boden gestarrt und mir im Nacken einen Sonnenbrand geholt. Da wurde mir klar, warum du hinten an der Mütze einen Nackenschutz hattest.«

Mitch lächelte.

»Ich bin immer noch dein Freund, Mitch.«

»Das bedeutet mir wirklich viel.«

»Es ist kalt hier«, sagte Packer. »Wohin wolltest du mich zum Essen einladen?«

»Magst du asiatische Küche?«


Sie saßen in dem kleinen chinesischen Restaurant in einem Erker am Fenster und warteten auf Reis, Nudeln und Curry. Packer nippte an einer Tasse heißem Tee, Mitch trank widersinnigerweise kalte Limonade. Das beschlagene Fenster ging auf die graue so genannte Ave hinaus, die in Wirklichkeit keine Avenue war, sondern die am Rand des Universitätsgeländes verlaufende University Street. Ein paar Jugendliche mit Lederjacken und weiten, schlotternden Hosen stapften rauchend um einen geschlossenen Zeitschriftenstand herum. Es hatte aufgehört zu schneien, und die Straßen glänzten schwarz.

»Also, warum willst du nun die Vorlesungen hören?«, fragte Packer.

Mitch entfaltete drei Zeitungsausschnitte mit Berichten über die Ukraine und Georgien. Packer las sie mit gerunzelter Stirn.

»Jemand hat versucht, die Mutter in der Höhle umzubringen.

Und Jahrtausende später bringen sie Mütter mit der Herodes-Grippe um.«

»Aha. Du meinst, die Neandertaler … Das Baby, das man außerhalb der Höhle gefunden hat.« Packer warf den Kopf zurück.

»Ich bin ein bisschen verwirrt.«

»Du lieber Gott, Wendell, ich war dort. Ich habe das Baby in der Höhle gesehen. Ich bin sicher, dass die Wissenschaftler in Innsbruck es inzwischen bestätigt haben, sie sagen es nur keinem.

Ich habe ihnen geschrieben, aber sie machen sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten.«

Packer dachte mit tief gerunzelter Stirn darüber nach und versuchte, sich ein vollständiges Bild zu machen. »Du glaubst, du bist über ein kleines Stück unterbrochenes Gleichgewicht gestolpert.

In den Alpen.«

Eine kleine Frau mit rundem, hübschem Gesicht brachte das Essen und legte Essstäbchen neben die Teller. Als sie gegangen war, fuhr Packer fort: »Du glaubst, sie haben in Innsbruck eine Gewebeübereinstimmung und geben nur die Befunde nicht bekannt?«

Mitch nickte. »Die Idee ist so weit hergeholt, dass niemand etwas sagt. Es ist ein unglaublich weiter Gedankensprung. Hör mal, ich will dich nicht nerven … ich will dich nicht mit den ganzen Details belästigen. Gib mir nur die Chance herauszufinden, ob ich Recht habe oder nicht. Vermutlich liege ich so weit daneben, dass ich besser eine neue Laufbahn im Straßenbau anfangen sollte. Aber … ich war dort, Wendell.«

Packer sah sich im Restaurant um, schob die Stäbchen beiseite, verteilte ein paar Löffel Chilisauce auf seinem Teller und fuhr mit der Gabel in das CurrySchweinefleisch mit Reis. Zwischen zwei Bissen sagte er: »Wenn ich dich ein paar Vorlesungen hören lasse, setzt du dich dann ganz hinten hin?«

»Ich bleibe draußen vor der Tür«, erwiderte Mitch.

»Es war doch nur ein Scherz«, sagte Packer. »Glaube ich jedenfalls.«

»Ich weiß«, sagte Mitch und lächelte. »Aber jetzt möchte ich dich noch um einen anderen Gefallen bitten.«

Packer hob die Augenbrauen. »Du treibst es ganz schön weit, Mitch.«

»Gibt es bei euch Postdocs, die mit SHEVA arbeiten?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, sagte Packer. »Die CDC haben ein Programm zur Koordination der Forschung, und wir sind beigetreten. Hast du auf dem Universitätsgelände die vielen Frauen mit Gesichtsmasken gesehen? Wir würden gern ein bisschen Vernunft in die ganze Sache bringen. Verstehst du … Vernunft?«

Er blickte Mitch durchdringend an.

Mitch zog seine beiden Glasgefäße hervor. »Die sind für mich sehr wertvoll«, sagte er. »Ich will sie nicht verlieren.« Er legte sie auf die geöffnete Handfläche. Sie klackten leise aneinander; der Inhalt sah aus wie zwei kleine Schnipsel Dörrfleisch.

Packer legte die Gabel hin. »Was ist denn das?«

»Neandertalergewebe. Das eine von dem Mann, das andere von der Frau.«

Packer hörte auf zu kauen.

»Wie viel davon brauchst du?«, fragte Mitch.

»Nicht viel«, erwiderte Packer mit dem Mund voller Reis. »Vorausgesetzt, ich kann überhaupt etwas damit anfangen.«

Mitch wiegte die Hand, und die Gefäße rollten langsam hin und her.

»Wenn ich dir glauben soll«, sagte Packer.

»Ich muss dir glauben«, erwiderte Mitch.

Packer blinzelte durch die beschlagenen Fensterscheiben; draußen tollten immer noch die Jugendlichen herum; sie lachten und rauchten Zigaretten.

»Testen … auf was? SHEVA?«

»Oder etwas Ähnliches wie SHEVA.«

»Warum? Was hat SHEVA mit Evolution zu tun?«

Mitch tippte auf die Zeitungsausschnitte. »Es wäre eine Erklärung für das ganze Gerede über die Satanskinder. Da spielt sich etwas sehr Merkwürdiges ab. Ich glaube, das hat es auch schon früher gegeben, und ich habe den Beleg gefunden.«

Packer wischte sich nachdenklich den Mund ab. »Ich kann das wirklich nicht glauben.« Er nahm die Gefäße von Mitchs Handfläche und sah sie genau an. »Sie sind so verdammt alt. Vor drei Jahren hatten zwei Postdocs bei mir ein Forschungsprojekt über Sequenzen der MitochondrienDNA aus Neandertalerknochen.

Es waren nur noch Fragmente übrig.«

»Dann kannst du ja bestätigen, dass die hier echt sind«, sagte Mitch. »Ausgetrocknet, zerfallen, aber vermutlich vollständig.«

Packer stellte die Gefäße vorsichtig auf den Tisch. »Warum soll ich das tun? Bloß weil wir Freunde sind?«

»Wenn ich Recht habe, ist es die größte wissenschaftliche Entdeckung unserer Zeit. Endlich würden wir mehr darüber erfahren, wie die Evolution funktioniert.«

Packer griff nach seinem Portemonnaie und nahm einen Zwanziger heraus. »Ich zahle«, sagte er. »Große Entdeckungen machen mich sehr nervös.«

Mitch sah ihn entsetzt an.

»Ach, ich mach’ das schon«, sagte Packer mürrisch. »Aber nur weil ich ein Idiot bin, der auf alles reinfällt. Nicht noch mehr Bitten um Gefallen, Mitch, ich flehe dich an!«

31 National Institutes of Health, Bethesda

Cross und Dicken saßen einander gegenüber an dem breiten Tisch in einem kleinen VorstandsBesprechungszimmer im Natcher Building. Neben Cross saß Kaye. Dicken spielte mit einem Kugelschreiber und blickte vor sich auf den Tisch wie ein nervöser kleiner Junge.

»Wann findet Marks großer Auftritt statt?«, fragte Cross.

Dicken blickte auf und grinste. »Ich würde ihm fünf Minuten geben. Vielleicht weniger. Er ist über das alles nicht gerade erbaut.«

Cross bohrte mit einem langen, abgebrochenen Fingernagel zwischen den Zähnen.

»Das Einzige, was Sie nicht in großen Mengen haben, ist Zeit, was?«, wollte Dicken wissen.

Cross lächelte höflich.

»Mir kommt’s so vor, als ob Georgien noch gar nicht weit zurückliegt«, sagte Kaye, nur um das Gespräch in Gang zu halten.

»Überhaupt nicht weit«, fügte Dicken hinzu.

»Sie haben sich in Georgien kennen gelernt?«, fragte Cross.

»Nur flüchtig«, erwiderte Dicken. Bevor sie die Unterhaltung fortsetzen konnten, kam Augustine herein. Er hatte einen teuren grauen Anzug an, bei dem im Rücken und an den Knien etliche Falten zu erkennen waren. Nach Kayes Vermutung hatte er heute schon in einigen Besprechungen gesessen.

Augustine gab Cross die Hand, setzte sich und legte die Hände locker gefaltet vor sich auf den Tisch. »Na, Marge, ist der Handel schon besiegelt? Sie haben Kaye und wir müssen sie mit Ihnen teilen?«

»Noch nichts Endgültiges«, sagte Cross fröhlich. »Ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen.«

Augustine war noch nicht überzeugt. »Was haben wir davon?«

»Vermutlich nichts, was Sie nicht ohnehin bekommen hätten, Mark«, sagte Cross. »Wir können das Bild jetzt in groben Zügen entwerfen und später die Einzelheiten einzeichnen.«

Augustine wurde ein wenig rot, biss kurz die Zähne aufeinander und erwiderte dann: »Ich feilsche ausgesprochen gerne. Was brauchen wir eigentlich von Americol?«

»Heute Abend bin ich mit drei republikanischen Senatoren zum Essen verabredet«, sagte Cross. »Typen aus dem christlichen Süden. Sie scheren sich nicht um das, was ich tue, solange ich mich um ihre kleinen Spendensammler kümmere. Ich werde ihnen erklären, warum die Taskforce und die ganze etablierte Forschung nach meiner Ansicht sogar noch mehr Geld bekommen sollten und warum wir eine Intranetverbindung zwischen Americol, Euricol und ausgewählten Wissenschaftlern von Taskforce und CDC einrichten müssen. Dann werde ich ihnen erklären, wie es wirklich aussieht. Mit der Herodes-Grippe, meine ich.«

»Sie werden ›Werk Gottes‹ schreien«, sagte Augustine.

»Das glaube ich eigentlich nicht«, erwiderte Cross. »Vermutlich sind die klüger, als Sie glauben.«

»Ich habe das alles schon jedem einzelnen Senator und den meisten Abgeordneten im Repräsentantenhaus erklärt«, sagte Augustine.

»Dann sind wir ein gutes Bauernfängerteam. Ich gebe ihnen das Gefühl, schlau und auf der Höhe der Zeit zu sein — das können Sie nicht besonders gut, Mark. Und was wir gemeinsam tun … wird zu einer Behandlungsmethode, vielleicht sogar zu einer Heilung führen, und zwar innerhalb eines Jahres. Dafür garantiere ich.«

»Wie können Sie so etwas garantieren?«, fragte Augustine.

»Wie ich Kaye auf dem Flug hierher gesagt habe: Ich habe ihre Artikel schon vor Jahren ernst genommen und ein paar von meinen wichtigsten Leuten in San Diego darauf angesetzt. Als dann die Nachrichten über die Aktivierung von SHEVA und später über die Herodes-Grippe kamen, war ich vorbereitet. Ich habe es den guten Leuten in unserem SentinelProgramm übergeben. Sie haben in gewisser Weise parallel zu Ihnen gearbeitet, Christopher, aber auf Firmenebene. Wir kennen bereits die Struktur der Capsidhülle von SHEVA, wir wissen, wie SHEVA in menschliche Zellen eindringt, an welche Rezeptoren es andockt. CDC und Taskforce können am Ende das Verdienst zur Hälfte für sich beanspruchen, und wir übernehmen die Aufgabe, die Therapie allen Menschen zugänglich zu machen. Natürlich für wenig oder gar kein Geld — vielleicht bekommen wir nicht einmal die Kosten herein.«

Augustine sah sie ehrlich überrascht an. Cross gluckste vor Lachen. Sie beugte sich über den Tisch, als wollte sie ihm einen Schlag versetzen, und sagte: »Jetzt hab’ ich Sie.«

»Ich fasse es nicht«, sagte Augustine.

»Mr. Dicken sagt, er wolle unmittelbar mit Kaye zusammenarbeiten. Dagegen ist nichts einzuwenden«, räumte Cross ein.

Augustine verschränkte die Arme.

»Aber dieses Intranet wird wirklich eine feine Sache. Direkt, schnell, das beste, was wir aufbauen können. Wir werden jedes blöde HERV im Genom kartieren und dafür sorgen, dass SHEVA sich nicht wiederholt und uns noch einmal überrascht. Kaye kann das Projekt leiten. Die pharmazeutischen Anwendungsmöglichkeiten könnten erstaunlich werden, absolut erstaunlich.« Ihre Stimme überschlug sich vor Begeisterung.

Kaye spürte, wie sie selbst vor Tatendrang bebte. Bei Cross war es etwas anderes.

»Was sagen Ihre Leute über diese HERVs, Mark?«, wollte Cross wissen.

»Eine Menge«, erwiderte Augustine, »aber wir haben uns natürlich auf die Herodes-Grippe konzentriert.«

»Wissen Sie, dass sich das größte Gen, das von SHEVA aktiviert wird, dieses Polyprotein auf dem Chromosom 21, in seiner Expression bei Affen und Menschen unterscheidet? Und dass es nur eines von drei Genen in der ganzen SHEVAKaskade ist, bei denen es Unterschiede zwischen Menschen und Affen gibt?«

Augustine schüttelte den Kopf.

»Es war uns so gut wie bekannt«, sagte Dicken und blickte sich dann ein wenig verlegen um. Cross beachtete ihn nicht.

»Wir haben es hier mit einer archäologischen Sammlung menschlicher Erkrankungen zu tun, die Jahrmillionen weit zurückreicht«, sagte sie. »Mindestens ein verrückter alter Visionär hat es bereits erkannt, und wir werden den CDC bei der endgültigen Beschreibung voraus sein … wir werden die staatliche Forschung im Regen stehen lassen, bis es zur Zusammenarbeit kommt, Mark. Kaye kann dafür sorgen, dass die Verbindung nicht abreißt. Gemeinsam schaffen wir es natürlich erheblich schneller.«

»Wollen Sie die Welt retten, Marge?«, fragte Augustine.

»Nein. Ich bezweifle, dass die Herodes-Grippe mehr ist als eine hässliche Unannehmlichkeit. Aber sie trifft uns da, wo wir zu Hause sind. Wo wir die Babys machen. Jeder, der fernsieht oder die Zeitung liest, hat Angst. Kaye ist berühmt, sie ist eine Frau, und sie ist vorzeigbar. Sie ist genau das, was wir beide brauchen.

Deshalb waren doch sowohl Mr. Dicken hier als auch die Leiterin der Gesundheitsbehörde der Ansicht, sie könnte nützlich sein, oder? Von ihrer offenkundigen Qualifikation einmal abgesehen?«

Augustine richtete seine nächste Frage an Kaye. »Ich gehe davon aus, dass Sie sich nicht von sich aus an Ms. Cross gewandt haben, nachdem Sie zugesagt hatten, zu uns zu kommen.«

»Nein, das habe ich nicht«, erwiderte Kaye.

»Was erwarten Sie sich von einem solchen Arrangement?«

»Ich glaube, Marge hat Recht«, sagte Kaye und spürte ein fast eiskaltes Selbstbewusstsein. »Wir müssen zusammenarbeiten, um herauszufinden, womit wir es zu tun haben und was wir dagegen unternehmen können.« Kaye Lang, die Geschäftsfrau — die Kühle, Distanzierte, die keine Zweifel kennt. Saul, du wärst stolz auf mich.

»Es handelt sich hier um ein internationales Vorhaben, Marge«, sagte Augustine. »Wir bilden gerade ein Bündnis mit zwanzig Staaten. Einer der wichtigsten Beteiligten ist die WHO. Primadonnen können wir nicht gebrauchen.«

»Ich habe im Management schon eine erstklassige Arbeitsgruppe zusammengestellt, die sich darum kümmert. Unser Impfstoffprojekt wird von Robert Jackson geleitet. Wir werden unsere Tätigkeit transparent machen. Wir sind seit fünfundzwanzig Jahren auf der internationalen Bühne zu Hause. Wir wissen, wie man sich einfügt, Mark.«

Augustine sah zuerst Cross und dann Kaye an. Er streckte die Hände aus, als wollte er Cross umarmen. »Meine Liebe«, sagte er, stand auf und drückte ihr einen Kuss auf die Wange.

Cross gackerte wie eine alte Henne.

32 University of Washington, Seattle

Wendell Packer hatte Mitch in sein Büro im MagnusonBau bestellt. Das Zimmer im Trakt E war klein und eng, fensterlos, vollgestopft mit Bücherregalen und zwei Computern, von denen einer mit den Geräten in Packers Labor vernetzt war. Sein Bildschirm zeigte eine lange Reihe von Proteinen, die gerade sequenziert wurden — rote und blaue Streifen sowie grüne Säulen in einer recht seltsamen Anordnung, die aussah wie ein verformtes Treppenhaus.

»Das hier habe ich selbst gemacht«, sagte Packer und hielt Mitch einen langen, zusammengefalteten Ausdruck hin. »Nicht dass ich zu meinen Studenten kein Vertrauen hätte, aber ich möchte ihnen auch nicht die Berufslaufbahn vermasseln. Außerdem will ich nicht, dass man mein Institut in die Pfanne haut.«

Mitch nahm den Ausdruck und blätterte ihn durch.

»Auf den ersten Blick scheint nicht viel Sinn darin zu stecken«, sagte Packer. »Das Gewebe ist viel zu alt, als dass man vollständige Sequenzen gewinnen könnte. Deshalb habe ich zuerst nach kleinen Genen gesucht, die es nur bei SHEVA gibt, und dann nach den Produkten, die bei der SHEVAInfektion einer Zelle gebildet werden.«

»Und hast du sie gefunden?«, fragte Mitch.

Packer nickte. »Deine Gewebeproben enthalten SHEVA. Und es sind nicht nur Verunreinigungen von dir oder den Leuten, mit denen du zusammen warst. Allerdings ist das Virus stark zerfallen.

Ich habe mit Antikörpersonden aus Bethesda gearbeitet, die an SHEVAassoziierte Proteine binden. Ein bestimmtes follikelstimulierendes Hormon kommt ausschließlich bei SHEVAInfektionen vor. Siebenundsechzig Prozent Übereinstimmung, nicht schlecht bei dem Alter. Dann habe ich ein bisschen auf die Informationstheorie zurückgegriffen und bessere Sonden konstruiert, für den Fall, dass SHEVA mutiert ist oder sich anderweitig verändert hat.

Dazu habe ich ein paar Tage gebraucht, aber dann bin ich bis auf achtzig Prozent Übereinstimmung gekommen. Und um es doppelt abzusichern, habe ich einen SouthwesternBlot mit ProvirusDNA des HerodesErregers gemacht. Deine Proben enthalten eindeutig kleine Stücke von aktivem SHEVA. Das Gewebe des Mannes ist voll davon.«

»Bist du sicher, dass es SHEVA ist? Kein Zweifel möglich, auch nicht vor Gericht?«

»Wenn man die Herkunft berücksichtigt, hätte es vor Gericht keine Chance. Aber ist es überhaupt SHEVA?« Packer lächelte.

»Ja. Ich bin seit sieben Jahren in diesem Institut. Unsere Geräte gehören zu den besten, die man kaufen kann, und unsere Leute gehören zu den Besten, die sich mit solchen Geräten anlocken lassen, alles dank drei sehr reicher junger Leute von Microsoft. Aber bitte setz’ dich, Mitch.«

Mitch sah von den Papieren auf. »Warum?«

»Setz’ dich einfach.«

Mitch ließ sich auf einen Stuhl fallen.

»Ich habe noch ein Schmankerl. Karel Petrovich aus dem anthropologischen Institut hat Maria Konig gleich gegenüber auf dem Flur um die Untersuchung einer sehr alten Gewebeprobe gebeten.

Maria ist die Beste in unserem Labor. Und rate mal, woher er die Probe hatte.«

»Innsbruck?«

Packer hielt ihm einen weiteren Papierstapel hin. »Sie haben Karel ausdrücklich gebeten, zu uns zu kommen. Unser guter Ruf, was weiß ich? Wir sollten nach bestimmten Markern und Allelkombinationen suchen, mit denen man am häufigsten die ElternKindBeziehung nachweist. Man hat uns ein kleines Gewebestück gegeben, etwa ein Gramm. Sie wollten sehr genaue Befunde, und das sehr schnell. Mitch, du musst mir versprechen, die Sache streng für dich zu behalten.«

»Versprochen«, sagte Mitch.

»Aus reiner Neugier habe ich den betreffenden Mitarbeiter nach dem Ergebnis gefragt. Ich will nicht in die langweiligen Einzelheiten gehen. Das Gewebe stammt von einem Neugeborenen. Es ist mindestens tausend Jahre alt. Wir haben nach den Markern gesucht und sie gefunden. Und ich habe mehrere Allele mit deinen Gewebeproben verglichen.«

»Sie passen?«, fragte Mitch.

»Ja … und nein. Mit meiner Ansicht oder mit dem, was du wohl annimmst, wären die Leute in Innsbruck wahrscheinlich nicht einverstanden.«

»Ich nehme nichts an. Ich weiß es.«

»Nun ja, hm, ich bin fasziniert, aber vor Gericht könnte ich den Mann herauspauken. Keine prähistorischen Alimente. Die Frau dagegen, ja. Da stimmen die Allele überein.«

»Sie ist die Mutter des Babys?«

»Ohne jeden Zweifel.«

»Aber er ist nicht der Vater?«

»Wie gesagt: Ich könnte ihn vor Gericht herauspauken. Genetisch sieht es sehr seltsam aus. Richtig unheimlich, wie ich es noch nie erlebt habe.«

»Aber das Baby ist ein Mensch wie wir!«

»Mitch, bitte versteh’ mich nicht falsch. Ich werde dir nicht den Rücken stärken, und ich werde dir nicht helfen, irgendwelche Artikel zu schreiben. Ich habe ein Institut und meine eigene Karriere, die ich schützen muss. Von allen müsstest du das am besten verstehen.«

»Ich weiß, ich weiß«, sagte Mitch. »Aber allein schaffe ich es nicht.«

»Ich will dir ein paar Tipps geben. Du weißt, dass die Menschen, genetisch betrachtet, bemerkenswert einheitlich sind.«

»Ja.«

»Nun ja, ich glaube, beim Homo sapiens neanderthalensis war die Einheitlichkeit nicht ganz so groß. Dass ich das sagen kann, ist ein echtes Wunder, Mitch, ich hoffe, das verstehst du. Vor drei Jahren hätten wir für die Analyse noch acht Monate gebraucht.«

Mitch runzelte die Stirn. »Ich kann dir nicht folgen.«

»Der Genotyp des Säuglings stimmt fast mit deinem und meinem überein. Das Mädchen war nahezu ein Jetztmensch. Die MitochondrienDNA in dem Gewebe, das du mir gegeben hast, stimmt mit anderen Proben aus Neandertalerknochen überein.

Aber wenn du mich nicht so skeptisch ansehen würdest, würde ich sagen: Der Mann und die Frau, von denen deine Proben stammen, sind ihre Eltern.«

Mitch wurde schwindelig. Er beugte sich auf dem Stuhl nach vorn und legte den Kopf zwischen die Knie. »Du lieber Gott«, sagte er mit erstickter Stimme.

»Eine sehr späte Anwärterin auf die Rolle der Eva«, sagte Packer.

Er hielt eine Hand hoch. »Sieh mich an. Jetzt bin ich der, der zittert.«

»Was kannst du überhaupt tun, Wendell?«, fragte Mitch, wobei er den Kopf hob und den Freund ansah. »Ich sitze hier auf der tollsten Geschichte in der modernen Naturwissenschaft. In Innsbruck werden sie mauern, das rieche ich jetzt schon. Sie werden alles abstreiten. Das ist der einfache Ausweg. Aber was soll ich tun?

Zu wem soll ich gehen?«

Packer rieb sich die Augen und schnäuzte sich in ein Taschentuch. »Du musst jemanden finden, der nicht so vorsichtig ist. Außerhalb der Universitäten. Ich kenne ein paar Leute bei den CDC.

Beispielsweise unterhalte ich mich öfter mit einem Freund in den Instituten in Atlanta — eigentlich ist es der Freund einer früheren Freundin, aber wir haben immer noch ein gutes Verhältnis. Sie hat ein paar Mal Leichengewebe analysiert, und zwar für einen Virusforscher namens Dicken von der HerodesTaskforce der CDC.

Wie nicht anders zu erwarten, hat er bei Leichen nach SHEVA gesucht.«

»Leichen aus Georgien?«

Packer begriff nicht sofort. »Du meinst Georgia, wo Atlanta liegt?«

»Nein, Republik Georgien.«

»Äh … ja, stimmt. Aber er hat auch in historischen Aufzeichnungen nach Anhaltspunkten für die Herodes-Grippe gesucht. In früheren Jahrzehnten, sogar Jahrhunderten.« Packer tippte Mitch viel sagend auf die Hand. »Vielleicht wüsste er gerne, was du weißt?«

33 Magnuson Clinical Center, National Institutes of Health, Bethesda

In dem hell erleuchteten Zimmer saßen vier Frauen. Die Ausstattung des Raumes bestand aus zwei Sofas, zwei Sesseln, einem Fernseher mit Videorecorder, Büchern und Zeitschriften. Kaye fragte sich, wie Krankenhausarchitekten es immer wieder schafften, eine so sterile Atmosphäre zu verbreiten: Holz in der Farbe von Asche, Wände in kühlem, gebrochenem Weiß, gesundheitsfördernde Pastellbilder von Stränden, Wäldern und Blumen. Eine bleiche, beruhigende Welt.

Für kurze Zeit beobachtete sie die Frauen durch die Glasscheibe des Seiteneingangs, während sie darauf wartete, dass Dicken und die Leiterin des klinischen Forschungsprojektes zu ihr aufschlossen.

Zwei schwarze Frauen. Die eine, Ende dreißig und stämmig, saß aufrecht in einem Sessel und blickte, ein Heft von Elle auf dem Schoß, desinteressiert auf den Fernseher. Die andere war höchstens Anfang zwanzig und sehr schlank, mit kleinen, spitzen Brüsten und kurzer Zöpfchenfrisur. Sie saß, die Wange auf eine Hand gelegt und den Ellenbogen auf der Armlehne, in einem der Sofas.

Und zwei weiße Frauen, beide in den Dreißigern, die eine strohblond, abgehärmt und mit benommenem Blick, die andere gut gekleidet und mit ausdrucksloser Miene. Sie lasen in abgeschabten Exemplaren von People und Time.

Dicken näherte sich zusammen mit Dr. Denise Lipton durch den mit grauem Teppichboden ausgelegten Korridor. Lipton war Anfang vierzig, klein und auf eine herbe Weise hübsch. Ihre Augen sahen aus, als könnten sie Funken sprühen, wenn sie sich ärgerte. Dicken stellte sie vor.

»Sind Sie bereit, sich unsere Freiwilligen anzusehen, Ms. Lang?«, fragte Lipton.

»Bereiter geht’s nicht«, erwiderte Kaye. Lipton lächelte mechanisch. »Sie fühlen sich nicht besonders wohl. In den letzten paar Tagen mussten sie sich so vielen Tests unterziehen, dass … nun ja, dass sie sich jetzt nicht besonders wohl fühlen.«

Die Frauen in dem Zimmer blickten beim Klang der Stimmen auf. Lipton strich sich den weißen Kittel glatt und stieß die Tür auf.


»Guten Tag, meine Damen«, sagte sie zur Begrüßung.

Das Zusammentreffen verlief recht gut. Dr. Lipton brachte drei der Frauen in ihre Einzelzimmer, sodass Dicken und Kaye sich ausführlicher mit der vierten unterhalten konnten. Es war die ältere schwarze Frau, Mrs. Luella Hamilton aus Richmond in Virginia.

Als Erstes fragte Mrs. Hamilton, ob sie einen Kaffee bekommen könne.

»Die haben mir so viel abgezapft. Wenn es nicht an den Blutabnahmen liegt, spielen vielleicht meine Nieren verrückt.« Dicken versprach, für jeden eine Tasse zu holen, und verließ den Raum.

Mrs. Hamilton blickte Kaye durchdringend an und kniff die Augen zusammen. »Wir haben gehört, Sie hätten diese Bazillen entdeckt.«

»Nein«, sagte Kaye. »Ich habe ein paar Artikel darüber geschrieben, aber entdeckt habe ich den Erreger eigentlich nicht.«

»Man kriegt nur ein bisschen Fieber«, sagte Mrs. Hamilton. »Ich habe schon vier Kinder, und jetzt haben sie mir gesagt, dieses Mal würde es kein richtiges Baby werden. Aber sie wollen es mir nicht rausnehmen. Sie sagen, sie wollen der Krankheit ihren Lauf lassen.

Ich bin doch bloß ein großes Versuchskaninchen, oder?«

»Hört sich so an. Werden Sie gut versorgt?«

»Ich bekomme zu essen«, erwiderte sie mit einem Achselzucken.

»Das Essen ist gut. Die Bücher und Filme gefallen mir nicht. Die Schwestern sind nett, aber diese Dr. Lipton — die ist ein harter Brocken. Sie benimmt sich freundlich, aber ich glaube, in Wirklichkeit mag sie niemanden.«

»Ich bin überzeugt, dass sie gute Arbeit leistet.«

»Jaja, na gut, junge Frau, Miz Lang, setzen Sie sich mal ’ne Zeit lang hier hin, und dann sagen Sie noch mal, es gäbe nix zu meckern.«

Kaye lächelte.

»Es kotzt mich an, dieser schwarze Pfleger da, der behandelt mich immer wie’n Vorbild. Der will, dass ich so stark bin wie seine Mammi.« Sie sah Kay mit weit geöffneten Augen unverwandt an und schüttelte den Kopf. »Ich will nicht stark sein. Ich will heulen, wenn sie die Untersuchungen machen, wenn ich an dieses Baby denke, Miz Lang. Kapiert?«

»Ja«, sagte Kaye.

»Es fühlt sich an wie bei den anderen um diese Zeit. Ich sage, vielleicht haben sie sich geirrt und es ist doch ein Baby. Bin ich deshalb doof?«

»Wenn sie die Untersuchungen gemacht haben, wissen sie genau Bescheid«, sagte Kaye.

»Nicht mal mein Mann darf mich besuchen. Steht im Vertrag.

Von ihm habe ich diese Grippe, und von ihm habe ich dieses Baby, aber er fehlt mir. Es war doch nicht seine Schuld. Ich rede am Telefon mit ihm. Er klingt ganz munter, aber er vermisst mich auch, das weiß ich. Macht mich nervös, dass ich weg bin, verstehen Sie?«

»Wer kümmert sich um Ihre Kinder?«, fragte Kaye.

»Mein Mann. Die Kinder dürfen mich besuchen kommen.

Mein Mann bringt sie her, und dann kommen sie rein zu mir, und er bleibt draußen im Auto. Vier Monate dauert es noch, vier Monate!« Mrs. Hamilton drehte den dünnen goldenen Ehering an ihrem Finger. »Er sagt, er ist so einsam, und die Kinder, mit denen ist es manchmal auch nicht einfach.«

Kaye fasste Mrs. Hamiltons Hand. »Ich weiß, wie tapfer Sie sind, Mrs. Hamilton.«

»Sagen Sie Luella zu mir«, erwiderte sie. »Und noch mal: Ich bin nicht tapfer. Wie heißen Sie mit Vornamen?«

»Kaye.«

»Ich hab’ Angst, Kaye. Wenn Sie rausfinden, was wirklich los ist, sagen Sie’s mir als Erstes, okay?«


Kaye ließ Mrs. Hamilton allein. Sie fühlte sich ausgedörrt, außerdem war ihr kalt. Dicken begleitete sie ins Erdgeschoss und aus der Klinik hinaus. Immer wenn sie es nicht bemerkte, sah er sie an.

Sie bat ihn, einen Augenblick stehen zu bleiben. Mit verschränkten Armen blickte sie über ein kurz geschnittenes Rasenstück hinweg zu einer kleinen Baumgruppe. Der Rasen war von Gräben umgeben. Das NIH Gelände war zum größten Teil ein Labyrinth aus Umleitungen und Baustellen, Löchern, die mit nackter Erde gefüllt waren, Beton und aufragenden Wäldern aus Moniereisen.

»Alles in Ordnung?«, fragte Dicken.

»Nein«, sagte sie. »Ich bin niedergeschmettert.«

»Wir müssen uns daran gewöhnen. Es geschieht überall.«

»Die Frauen haben sich alle freiwillig gemeldet?«

»Natürlich. Wir zahlen die medizinische Behandlung und einen Tagessatz. Zu so etwas kann man selbst im Fall des nationalen Notstandes niemanden zwingen.«

»Warum dürfen die Ehemänner sie nicht besuchen?«

»Das dürfte meine Schuld sein«, sagte Dicken. »Auf unserer letzten Besprechung habe ich über Anhaltspunkte berichtet, wonach die Herodes-Grippe auch ohne sexuelle Betätigung zu einer zweiten Schwangerschaft führt. Die Mitteilung geht heute Abend an alle beteiligten Wissenschaftler.«

»Was für Anhaltspunkte? Du liebe Güte, reden wir hier von unbefleckter Empfängnis?« Kaye stemmte die Hände in die Hüften, drehte sich um und sah ihn durchdringend an. »Dieser Sache sind Sie auf der Spur, seit wir uns in Georgien kennen gelernt haben, stimmt’s?«

»Schon vor Georgien. Ukraine, Russland, Türkei, Aserbeidschan, Armenien. In diesen Ländern ist die Herodes-Grippe vor zehn, zwanzig Jahren ausgebrochen, vielleicht sogar noch früher.«

»Dann haben Sie meine Artikel gelesen, und auf einmal passte alles zusammen? Sie sind also so eine Art wissenschaftlicher Geheimagent?«

Dicken verzog das Gesicht und schüttelte den Kopf. »Wohl kaum.«

»Und ich bin der Auslöser?«, fragte Kaye ungläubig.

»So einfach ist das nicht, Kaye.«

»Es wäre mir sehr Recht, wenn man mich auf dem Laufenden halten würde, Chris.«

»Christopher, bitte.« Er wirkte unangenehm berührt und kleinlaut.

»Es wäre mir sehr Recht, wenn Sie mich auf dem Laufenden halten würden. Sie laufen hier ständig wie ein Schatten hinter mir her — was glauben Sie wohl, warum ich Sie für einen der wichtigsten Leute in der Taskforce halte?«

»Danke, aber das ist eine weit verbreitete Fehleinschätzung«, sagte er mit gequältem Lächeln. »Ich versuche, Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen, aber ich glaube, das gelingt mir nicht.

Manchmal, wenn die Belege stichhaltig sind, hören sie mir zu, und in diesem Fall ist es so — Berichte aus armenischen Krankenhäusern, sogar aus ein paar Kliniken in Los Angeles und New York.«

»Christopher, wir haben noch zwei Stunden bis zur nächsten Besprechung«, sagte Kaye. »Seit zwei Wochen hänge ich jetzt in Konferenzen über SHEVA. Die glauben, ich hätte da meine ökologische Nische gefunden. Ein gemütliches kleines Plätzchen, wo ich nach anderen HERV suchen kann. Marge hat mir in Baltimore ein hübsches Labor eingerichtet, aber … ich glaube nicht, dass die Taskforce mich wirklich gebrauchen kann.«

»Dass Sie zu Americol gegangen sind, hat Augustine wirklich durcheinander gebracht. Ich hätte Sie warnen sollen.«

»Also werde ich mich auf die Arbeit für Americol konzentrieren müssen.«

»Das wäre nicht schlecht. Die haben das Geld, und es sieht so aus, als ob Marge Sie mag.«

»Ich wüsste gern mehr darüber, wie es … an der Front aussieht?

Sagt man so?«

»An der Front«, bestätigte Dicken. »Manchmal sagen wir, jetzt gehen wir zu den richtigen Soldaten, zu denen, die krank werden.

Wir sind nur Arbeiter; sie sind die Soldaten. Für Leiden und Sterben sind vor allem sie zuständig.«

»Ich fühle mich wie ein Zaungast. Reden Sie überhaupt mit Außenstehenden?«

»Aber mit Vergnügen«, erwiderte Dicken. »Sie wissen doch, wogegen ich hier kämpfe, oder?«

»Gegen die Mühlen der Bürokratie. Die glauben, sie wüssten, was die Herodes-Grippe ist. Aber … eine zweite Schwangerschaft, und das ohne Sex!« Kaye spürte ein leichtes Frösteln.

»Das haben sie schon begriffen«, sagte Dicken. »Heute Nachmittag werden wir über einen möglichen Mechanismus reden. Sie wollen alle Karten auf den Tisch legen.« Er verzog das Gesicht wie ein kleiner Junge, der ein schlimmes Geheimnis verbirgt. »Wenn Sie allerdings Fragen stellen, die ich nicht beantworten kann oder darf …«

Aufgebracht ließ Kaye die Hände von den Hüften fallen. »Und was sind die Fragen, die Augustine nicht stellt? Was ist, wenn wir völlig falsch liegen?«

»Genau das ist die Frage«, erwiderte Dicken. »Genau das, Kaye.

Ich wüsste, dass Sie es verstehen würden. Während wir über alle möglichen Wenns reden … Haben Sie etwas dagegen, dass ich Ihnen mein Herz ausschütte?«

Bei dieser Aussicht fuhr Kaye zurück.

»Wissen Sie, ich bewundere Ihre Arbeit so sehr …«

»Ich hatte Glück, und ich hatte Saul«, antwortete Kaye steif. Dicken wirkte verletzlich, und das mochte sie nicht. »Christopher, was um alles in der Welt verheimlichen Sie?«

»Es würde mich wundern, wenn Sie es nicht schon wüssten. Wir schrecken alle vor dem Offensichtlichen zurück — oder jedenfalls vor dem, was für ein paar von uns offensichtlich ist.« Mit zusammengekniffenen Augen forschte er aufmerksam in ihrem Gesicht.

»Ich werde Ihnen sagen, was ich denke, und wenn Sie auch der Meinung sind, dass es möglich ist — dass es wahrscheinlich ist —, müssen Sie mich entscheiden lassen, wann ich damit herausrücke.

Wir warten, bis wir alle erforderlichen Belege haben. Ich habe ein Jahr lang in einem Land der Vermutungen gelebt, und ich weiß ganz genau, dass weder Augustine noch Shawbeck mir zuhören werden. Manchmal habe ich das Gefühl, ich bin nur ein besserer Laufbursche. Also …« Er trat von einem Fuß auf den anderen.

»Bleibt das unter uns?«

»Natürlich«, sagte Kaye und sah ihn durchdringend an. »Sagen Sie mir, wie es Ihrer Ansicht nach mit Mrs. Hamilton weitergehen wird.«

34 Seattle

Mitch wusste, dass er schlief oder sich vielmehr im Halbschlaf befand. Gelegentlich verarbeitete sein Geist die Tatsachen seines Daseins, seine Pläne, seine Vermutungen eigenständig und mit hartnäckiger Unabhängigkeit, und das geschah immer am Rande des Schlafes.

Er hatte schon oft von der Stelle geträumt, wo er gerade grub, aber jedes Mal in einem anderen zeitlichen Zusammenhang. Heute Morgen — sein Körper war gefühllos und sein bewusster Geist wie ein Zuschauer in einem Theater — sah er einen jungen Mann und eine junge Frau. Sie waren in leichte Pelze gehüllt, und an ihren Fußknöcheln hatten sie abgetragene Sandalen aus Schilf und Tierhäuten befestigt. Die Frau war schwanger. Zuerst sah er sie im Profil wie auf einem rotierenden Präsentierteller, und eine Zeit lang hatte er Spaß daran, sie aus unterschiedlichen Winkeln zu betrachten.

Nach und nach verschwand dieses Bild; jetzt gingen der Mann und die Frau im hellen Tageslicht — dem hellsten, das er jemals in einem Traum gesehen hatte — über frisch gefallenen Schnee und vom Wind glatt gefegtes Eis. Das Eis glitzerte, und sie hielten schützend die Hand über die Augen.

Auf den ersten Blick hielt er sie für seinesgleichen. Aber schon bald erkannte er, dass diese Menschen ihm nicht glichen. Anfangs kam ihm der Verdacht nicht wegen der Gesichtszüge, sondern wegen des komplizierten Musters von Bart und Gesichtsbehaarung bei dem Mann und wegen der dicken, weichen Mähne rund um das Gesicht der Frau, das ihre Wangen, das fliehende Kinn und die niedrige Stirn freiließ, sich aber über die Augenbrauen hinweg von einer Schläfe zur anderen zog. Die Augen unter ihren buschigen Brauen waren sanft und dunkelbraun, ja sogar fast schwarz, und ihre Haut olivfarben. Die Finger waren grau, rosa und voller Schwielen. Beide hatten breite, dicke Nasen.

Das sind keine Menschen wie ich, dachte Mitch, aber ich kenne sie.

Die beiden lächelten. Die Frau bückte sich und hob ein wenig Schnee auf. Verstohlen knabberte sie daran, aber als der Mann gerade einmal nicht hinsah, formte sie ihn schnell zu einem harten Ball und warf ihn ihrem Begleiter an den Kopf. Der Getroffene geriet durch den Stoß ins Taumeln und schrie mit heller, glockenreiner Stimme, die fast wie die eines Beagle klang. Die Frau tat, als wollte sie sich ducken, aber dann lief sie weg, und der Mann rannte hinter ihr her. Er zog sie trotz ihres wiederholten, unterwürfigen Grunzens zu Boden, trat dann einen Schritt zurück, hob die Arme zum Himmel und überhäufte sie mit lauten Worten. Aber obwohl seine Stimme einen tiefen, grollenden Tonfall hatte, schien sie nicht sonderlich beeindruckt. Sie wedelte mit den Händen in seiner Richtung und schürzte die Lippen, wobei sie laute Schmatzgeräusche von sich gab.

In der trägen Inszenierung des Traumes sah Mitch die beiden hintereinander in Nieselregen und Schnee einen schlammigen Pfad entlanggehen. Durch die zähe Wolkendecke konnte er im Tal unter ihnen kleine Waldstücke und Wiesen erkennen, und auf einem See trieben breite Flöße aus Baumstämmen, die Schilfhütten trugen.

Es geht ihnen gut, sagte eine kleine Stimme in seinem Kopf. Jetzt siehst du sie und du kennst sie nicht, aber es geht ihnen gut.

Mitch hörte einen Vogel, aber dann wurde ihm klar, dass es kein Vogel war, sondern sein Handy. Er brauchte ein paar Sekunden, um alle Traumbilder abzuschütteln. Wolken und Talsohle zerstoben wie eine Seifenblase, und mit einem Ächzen hob er den Kopf.

Sein Körper fühlte sich taub an. Er hatte in Seitenlage mit einem Arm unter dem Kopf geschlafen, und jetzt waren seine Muskeln steif.

Das Telefon war hartnäckig. Beim sechsten Klingeln nahm er ab.

»Ich hoffe, ich spreche mit dem Anthropologen, mit Mitchell Rafelson«, sagte eine Männerstimme mit britischem Akzent.

»Mit einem davon jedenfalls«, sagte Mitch. »Und wer sind Sie?«

»Merton, Oliver. Wissenschaftsredakteur beim Economist. Ich schreibe einen Bericht über die Neandertaler von Innsbruck. Ihre Telefonnummer ist nicht leicht herauszukriegen, Mr. Rafelson.«

»Ich stehe nicht im Telefonbuch. Ich bin es Leid, ständig genervt zu werden.«

»Das kann ich mir vorstellen. Hören Sie, ich kann wahrscheinlich beweisen, dass die Leute in Innsbruck die ganze Sache versiebt haben, aber ich brauche noch ein paar Einzelheiten. Es wäre für Sie eine Chance, alles einem wohlwollenden Zuhörer zu erklären.

Ich bin übermorgen drüben im Staat Washington — ich will mit Eileen Ripper sprechen.«

»Na gut«, sagte Mitch. Er dachte daran, einfach aufzulegen und vielleicht den interessanten Traum wieder aufzunehmen.

»Sie arbeitet an einer anderen Grabung in der Schlucht … ColumbiaSchlucht? Wissen Sie, wo die Eisenhöhle ist?«

Mitch streckte sich. »Ich habe ein paar Mal ganz in der Nähe gegraben.«

»Ja, na ja, es ist noch nicht an die Presse gedrungen, aber das wird nächste Woche passieren. Sie hat drei Skelette gefunden, sehr alt, nicht annähernd so außergewöhnlich wie Ihre Mumien, aber doch ganz interessant. Mein Bericht wird sich vor allem auf ihre Taktik konzentrieren. In einer Zeit des Mitgefühls für die Eingeborenen hat sie eine wirklich ausgebuffte Versammlung zusammengebracht, um die wissenschaftliche Seite zu schützen. Ms.

Ripper hat sich die Unterstützung der Konföderation der Fünf Stämme gesichert. Die kennen sie doch.«

»Allerdings.«

»Sie hat ein Team von Anwälten, die für die gute Sache umsonst arbeiten, und hält auch ein paar Abgeordnete und Senatoren auf dem Laufenden. Ganz anders als bei Ihren Erlebnissen mit dem Pasco-Menschen.«

»Freut mich, das zu hören«, sagte Mitch mit finsterem Gesichtsausdruck. Er rieb sich ein Körnchen Schlaf aus einem Auge.

»Das ist mit dem Auto einen Tag von hier entfernt.«

»So weit? Ich bin jetzt in Manchester. England. Habe gerade die Koffer gepackt und bin von Leeds hierher gefahren. Mein Flieger geht in einer Stunde. Ich würde mich gern mit Ihnen unterhalten.«

»Ich bin vermutlich der Letzte, den Eileen da draußen sehen möchte.«

»Von ihr habe ich Ihre Telefonnummer. Sie sind nicht der Ausgestoßene, für den Sie sich vielleicht halten, Mr. Rafelson. Eileen würde sich freuen, wenn Sie einen Blick auf die Grabung werfen.

Ich habe den Eindruck, dass sie ein mütterlicher Typ ist.«

»Sie ist ein Temperamentsbündel«, sagte Mitch.

»Ich bin sehr gespannt, ehrlich. Ich habe schon Grabungen in Äthiopien, Südafrika und Tansania gesehen. Zwei Mal war ich in Innsbruck und wollte wissen, was sie mir zeigen würden. Viel war es nicht. Und jetzt …«

»Mr. Merton, es würde mir Leid tun, Sie zu enttäuschen.«

»Ja, na gut, aber was ist mit dem Baby, Mr. Rafelson? Können Sie mir etwas über diesen bemerkenswerten Säugling sagen, den die Frau im Rucksack hatte?«

»Ich hatte damals grauenhafte Kopfschmerzen.« Mitch wollte auflegen, Eileen Ripper hin oder her. So etwas hatte er schon zu oft erlebt. Er hielt das Telefon ein Stück vom Ohr weg. Jetzt klang Mertons Stimme blechern und hart.

»Wissen Sie, was in Innsbruck los ist? Wussten Sie, dass die sich dort im Labor richtig geprügelt haben?«

Mitch nahm das Telefon wieder ans Ohr. »Nein.«

»Wussten Sie, dass sie Gewebeproben an Labors in anderen Ländern geschickt haben, um zu einer Art gemeinsamer Haltung zu kommen?«

»Neein«, sagte Mitch gedehnt.

»Ich würde Sie gern auf den neuesten Stand bringen. Ich könnte mir gut vorstellen, dass Sie hinterher wie ein junger Apfelbaum aufgehen oder was sonst so im Staat Washington blüht. Wenn ich Eileen sage, sie soll Sie anrufen und an die Grabungsstelle einladen, wenn ich ihr sage, dass Sie interessiert sind … Können wir uns treffen?«

»Warum treffen wir uns nicht einfach am Flughafen von Seattle?

Da kommen Sie doch an, oder?«

Merton machte ein lautes Geräusch mit den Lippen.

»Mr. Rafelson, ich kann nicht mit ansehen, dass Sie sich die Gelegenheit entgehen lassen, ein bisschen Erde zu schnuppern und unter einer Zeltplane zu sitzen. Eine Gelegenheit, über die größte archäologische Sensation unserer Zeit zu sprechen.«

Mitch fand seine Armbanduhr und sah auf das Datum. »Na gut«, sagte er, »wenn Eileen mich einlädt.«

Er legte auf, ging ins Badezimmer, putzte sich die Zähne und sah in den Spiegel.

Mehrere Tage lang hatte er in seinem Appartement Trübsal geblasen, weil er sich nicht entscheiden konnte, was er als Nächstes tun sollte. Er hatte die EMailAdresse und eine Telefonnummer von Christopher Dicken bekommen, aber er hatte noch nicht den Mut aufgebracht, ihn anzurufen. Sein Geld ging schneller zur Neige, als er erwartet hatte. Und bisher drückte er sich davor, seine Eltern wegen eines Darlehens anzugehen.

Er hatte sich gerade das Frühstück gemacht, da klingelte erneut das Telefon. Es war Eileen Ripper.

Nachdem Mitch mit ihr gesprochen hatte, setzte er sich kurz in den verschlissenen Sessel im Wohnzimmer. Dann stand er auf und sah aus dem Fenster auf den Broadway. Draußen wurde es hell. Er öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus. Auf der Straße gingen die Menschen hin und her, an der roten Ampel vor dem Imbiss hielten die Autos.

Er rief zu Hause an. Seine Mutter nahm ab.

35 National Institutes of Health, Bethesda

»Das hat es auch schon früher gegeben«, sagte Dicken. Er brach ein Rosinenbrötchen in der Mitte durch und tauchte die eine Hälfte in den Schaum auf seinem Milchkaffee. Die riesige, moderne Cafeteria des NatcherBaues war um diese Zeit am Vormittag fast leer, und das Essen war hier besser als in der Kantine im Gebäude 10. Sie saßen an den hohen, getönten Fenstern ein ganzes Stück entfernt von den anderen Angestellten. »Genauer gesagt ist es in Georgien passiert, in oder bei Gordi.«

Kayes Mund formte sich zu einem O. »Mein Gott. Das Blutbad …«

Draußen brach die Sonne durch die tief hängenden Morgenwolken, sodass sich auf dem Gelände und in der Cafeteria Schatten und helle Flecken bildeten.

»Ihre Gewebe enthalten in allen Fällen SHEVA. Ich hatte nur Proben von drei oder vier, aber die hatten es alle.«

»Und das haben Sie Augustine nicht gesagt?«

»Ich habe mich auf die klinischen Befunde gestützt, auf die aktuellen Berichte aus den Krankenhäusern … Was würde es schon für eine Rolle spielen, wenn ich SHEVA ein paar Jahre zurückverlege, und zwar höchstens zehn? Aber vor zwei Tagen habe ich ein paar Akten aus einem Krankenhaus in Tiflis bekommen. Ich habe dort einem jungen Assistenzarzt zu ein paar Kontakten in Atlanta verhelfen. Er hat mir von Leuten im Gebirge erzählt. Die Überlebenden eines anderen Massakers, dieses Mal vor sechzig Jahren.

Während des Krieges.«

»Die Deutschen sind nie bis Georgien gekommen«, sagte Kaye.

Dicken nickte. »Es war Stalins Armee. Sie haben ein einsames Dorf am Kazbeg fast völlig ausgelöscht. Vor zwei Jahren hat man ein paar Überlebende gefunden. Die Regierung in Tiflis schützt sie. Vielleicht hatten sie die Säuberungen satt, vielleicht … vielleicht wussten sie überhaupt nichts von Gordi oder von den anderen Dörfern.«

»Wie viele Überlebende?«

»Ein Arzt namens Leonid Sugashvili hat einen kleinen Privatkreuzzug zur Aufklärung unternommen. Seinen Bericht hat der Assistenzarzt mir geschickt — veröffentlicht wurde er nie. Aber er ist ziemlich gründlich. Zwischen 1943 und 1991 wurden nach seiner Schätzung in Georgien, Armenien, Abchasien und Tschetschenien insgesamt etwa dreizehntausend Männer, Frauen und sogar Kinder getötet. Man brachte sie um, weil jemand sie für die Überträger einer Krankheit hielt, die bei schwangeren Frauen eine Fehlgeburt verursacht. Wer die erste Säuberung überlebte, wurde später ausfindig gemacht … weil die Frauen mutierte Kinder zur Welt brachten. Kinder mit Flecken im ganzen Gesicht, mit seltsamen Augen, Kinder, die gleich nach der Geburt schon sprechen konnten. In manchen Dörfern übernahm die örtliche Polizei das Morden. Aberglaube ist schwer auszurotten. Den Männern und Frauen — Müttern und Vätern — wurde vorgeworfen, sie hätten sich mit dem Satan verbündet. So viele waren es nicht — über vierzig Jahre hinweg. Aber … Sugashvili vermutet, dass es solche Fälle auch schon vor Jahrhunderten gegeben hat. Zehntausende von Morden. Schuldgefühle, Scham, Unwissen, Schweigen.«

»Glauben Sie, die Kinder sind wegen SHEVA mutiert?«

»Nach dem ärztlichen Bericht behaupteten viele der getöteten Frauen, sie hätten die sexuellen Beziehungen zu ihren Ehemännern oder Geliebten völlig eingestellt. Sie wollten keine Satanskinder zur Welt bringen. Sie hatten von den mutierten Kindern in anderen Dörfern gehört, und nachdem sie Fieber und eine Fehlgeburt gehabt hatten, wollten sie nicht noch einmal ein Kind. Aber fast alle Frauen waren dreißig Tage nach der Fehlgeburt wieder schwanger, ganz gleich, was sie getan oder gelassen hatten. Das Gleiche, was jetzt auch manche Krankenhäuser bei uns berichten.«

Kaye schüttelte den Kopf. »Das ist so völlig unglaublich!«

Dicken zuckte die Achseln. »Es wird auch nicht glaubhafter oder einfacher werden. Ich bin schon seit einiger Zeit überzeugt, dass SHEVA keine Krankheit im üblichen Sinne ist.«

Kaye presste die Lippen zusammen. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab und verschränkte die Arme; ihr fiel die Unterhaltung mit Drew Miller in dem Restaurant in Boston ein, und wie Saul gesagt hatte, es sei an der Zeit, sich mit Evolution zu befassen. »Vielleicht ist es ein Zeichen«, sagte sie.

»Was für ein Zeichen?«

»Ein Schlüssel, der eine abgelegte genetische Information zugänglich macht, die Anweisungen für einen neuen Phänotyp.«

»Ich glaube, ich verstehe nicht ganz«, sagte Dicken mit gerunzelter Stirn.

»Irgendetwas hat sich über Tausende, über Zehntausende von Jahren angesammelt. Vermutungen, Hypothesen, die mit diesem oder jenem Merkmal zu tun haben, Weiterentwicklungen eines ziemlich starren Bauplans.«

»Wozu?«, fragte Dicken.

»Evolution.«

Dicken schob seinen Stuhl zurück und legte die Hände auf die Schenkel. »Oha.«

»Sie haben selbst gesagt, es ist keine Krankheit«, erinnerte ihn Kaye.

»Ich habe gesagt, es ist keine Krankheit, wie ich sie kenne.

Aber es ist immerhin ein Retrovirus.«

»Sie haben doch meine Artikel gelesen, oder?«

»Ja.«

»Da habe ich ein paar Anspielungen fallen lassen.«

Dicken überlegte. »Ein Katalysator.«

»Er produziert es, wir bekommen es, wir leiden«, sagte Kaye.

Dicken errötete. »Ich versuche, keine MännerFrauenGeschichte daraus zu machen«, sagte er. »Von der Sorte haben wir ohnehin schon zu viel.«

»Tut mir Leid«, sagte Kaye. »Vielleicht versuche ich nur, die eigentliche Frage zu umgehen.«

Dicken war offenbar zu einer Entscheidung gelangt. »Ich überschreite jetzt meine Kompetenzen und zeige Ihnen etwas.« Er wühlte in seiner Reisetasche und brachte den Ausdruck einer EMail aus Atlanta zum Vorschein. Am Ende der Nachricht waren vier kleine Bilder angefügt.

»In der Nähe von Atlanta ist eine Frau durch einen Autounfall ums Leben gekommen. Bei der Obduktion im Northside Hospital stellte einer unserer Pathologen fest, dass sie im ersten Schwangerschaftsdrittel war. Er untersuchte das Ungeborene — eindeutig ein HerodesFetus. Dann untersuchte er die Gebärmutter der Frau.

Dort fand er an der Plazentabasis eine zweite, sehr frühe Schwangerschaft. Sie war durch eine dünne Schicht Laminagewebe geschützt. Die Plazenta hatte sich bereits abgelöst, aber die zweite Eizelle war unversehrt. Sie hätte die Fehlgeburt überlebt. Und einen Monat später …«

»Ein Enkelkind«, sagte Kaye. »Abgegeben von der …«

»Zwischentochter. Eigentlich nur von einem spezialisierten Eierstock. Der erzeugt eine zweite Eizelle, und die nistet sich in der Gebärmutterwand der Mutter ein.«

»Und was ist, wenn ihre Eizellen, die Eizellen der Tochter, anders sind?«

Dicken hatte mittlerweile einen trockenen Hals und musste husten. »Entschuldigung.« Er stand auf und holte sich einen Becher Wasser; dann kam er zwischen den Tischen zurück und setzte sich neben Kaye.

Ganz langsam fuhr er fort. »SHEVA sorgt für die Ausschüttung eines Polyproteinkomplexes, der im Cytosol außerhalb des Zellkerns zerfällt. LH, FSH, Prostaglandine.«

»Ich weiß. Judith Kushner hat es mir erzählt«, sagte Kaye mit schwacher Stimme. »Manche davon sind die Auslöser der Fehlgeburt. Andere könnten die Eizelle beträchtlich verändern.«

»Mutationen?«, fragte Dicken, der immer noch an den Trümmern der alten Lehrmeinung hing.

»Ich weiß nicht genau, ob das der richtige Ausdruck ist«, erwiderte Kaye. »Es klingt so bösartig und zufällig. Nein. Wahrscheinlich haben wir es mit einer anderen Art der Fortpflanzung zu tun.«

Dicken trank seinen Becher Wasser leer.

»So etwas ist mir nicht ganz neu«, grübelte Kaye leise. Sie ballte die Fäuste, um dann leicht und nervös mit den Knöcheln auf die Tischplatte zu klopfen. »Wollen Sie behaupten, dass SHEVA ein Teil unserer Evolution ist? Dass wir dabei sind, eine neue Art von Menschen hervorzubringen?«

Dicken sah Kaye prüfend an, registrierte die Mischung aus Staunen und Erregung in ihrem Gesicht, das seltsame Entsetzen, das einen überwältigt, wenn man auf die geistige Entsprechung zu einem wütenden Tiger stößt. »Ich würde nicht wagen, es so krass zu formulieren. Aber vielleicht bin ich ein Feigling. Vielleicht ist es wirklich so ähnlich. Ich schätze Ihre Meinung sehr. Jetzt kann ich weiß Gott eine Verbündete gebrauchen.«

Kaye schlug das Herz bis zum Hals. Sie griff nach ihrer Kaffeetasse, und die kalte Brühe schwappte. »Mein Gott, Christopher.«

Sie gab ein leises, hilfloses Lachen von sich. »Und wenn es stimmt?

Wenn wir alle schwanger sind? Die ganze Menschheit?«

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