2. Kapitel - Vergangenheit


4. März 1998


Selbst über eine Entfernung von fast dreitausend Meilen hinweg bot das Schiff einen beeindruckenden Anblick. Falls es ein Schiff war. Und falls die Daten, die der Computer in die untere rechte Ecke des Bildschirmes eingeblendet hatte, tatsächlich stimmten.

Charity bezweifelte beides, obwohl beides sehr eindeutig schien - es gab weder einen Grund, an den Zahlen zu zweifeln, die die Computer errechnet hatten, noch daran, dass eine fast neunhundert Meter durchmessende, mattsilberne Scheibe, die mit irrsinniger Geschwindigkeit aus dem intergalaktischen Raum herausgestürzt kam und Kurs auf den dritten Planeten der Sonne hielt, irgend etwas anderes als ein Raumschiff sein sollte.

Und doch...

Alles in ihr sträubte sich einfach dagegen, auch nur einen dieser beiden Gedanken zu akzeptieren. Es gab keine neunhundert Meter durchmessenden Raumschiffe, und die Wahrscheinlichkeit für den Besuch einer anderen, denkenden Spezies aus den Tiefen des Kosmos war eins zu ... eins zu irgend etwas, jedenfalls.

So gering, dass man neue Zahlen erfinden musste, um sie auszudrücken.

Und trotzdem war dieses Ungetüm da. Es grinste sie groß von sämtlichen Monitoren des Kontrollpunktes aus an, bewegte sich seit annähernd fünf Wochen als grünleuchtender Blip über die Radarschirme der Raumüberwachung auf der Erde, und wenn sie ganz genau hinsah, konnte sie es sogar mit bloßem Auge erkennen, als einen von zahllosen, stecknadelkopfgroßen Lichtpunkten, die über die Bugscheibe der CONQUEROR verstreut waren. Das einzige, was ihn von den Millionen Sternen der Milchstraße unterschied, war der Umstand, dass er sich irrsinnig schnell bewegte.

»Wie lange noch?« Mikes Stimme riss sie in die Wirklichkeit zurück. Charity sah auf ihre Instrumente und antwortete automatisch.

»Siebzehn Minuten. Elf bis zum Aufstieg.« Sie seufzte, richtete sich im Pilotensitz auf und hob die Hände, wie um sich erschöpft durch das Gesicht zu fahren. Erst dann fiel ihr ein, dass eine solche Geste in einem hermetisch geschlossenen Raumanzug kaum möglich war.

Mit einer fast ärgerlichen Bewegung schnippte sie eine Anzahl Schalter auf dem Kontrollpunkt vor sich um und stand auf.

»Kommandant übergibt an Kopiloten«, sagte sie ins Mikrofon des Bordbuches; eine ebenso sinnlose wie alte Vorschrift, denn seit ihrem Start vor dreieinhalb Wochen hatte niemand an Bord auch nur einen Atemzug getan, der nicht auf mindestens drei verschiedenen Videotapes festgehalten und sofort zur Erde gefunkt worden war.

Etwas leiser fügte sie hinzu: »Machen Sie es sich bequem, Niles. Für die nächsten neunzig Minuten gehört die Kiste Ihnen.«

Sie konnte Niles Gesicht nicht erkennen, während er sich in seinem schweren Raumanzug an ihr vorbeischob und im Pilotensitz Platz nahm, aber sie konnte sich den Ausdruck darauf gut vorstellen.

Sie alle waren nervös - das waren sie seit ihrem Start vor fünfundzwanzig Tagen, und während der letzten anderthalb Stunden, in denen die CONQUEROR auf Kollisionskurs mit dem fremden Schiff gegangen war, war die Anspannung fast unerträglich geworden.

Und warum auch nicht? Gegen Armstrongs kleinen Schritt für einen Mann, aber ein gewaltiger Schritt für die Menschheit war das, was ihnen bevorstand, ein Marathonlauf mit Siebenmeilenstiefeln - nämlich nichts weniger als der erste Kontakt zwischen Menschen und einer außerirdischen Lebensform. Einer denkenden Lebensform, keinen Einzelligen Mikroorganismen, wie sie sie auf dem Mars gefunden hatten, oder die schleimigen Schimmelpilzgewächse vom Titan, die die irdischen Wissenschaftler in einen Freudentaumel versetzt hatten - sondern intelligenten, denkenden Geschöpfen, die in der Lage waren, ein neunhundert Meter durchmessendes Raumschiff zu bauen und mit einer Geschwindigkeit von mehr als viertausend Meilen in der Sekunde auf die Erde abzuschießen.

Sie hatten gute Gründe, aufgeregt zu sein.

Aber sie durften es nicht. Wenn der Computer recht hatte, dann blieben ihnen weniger als zwölf Minuten, aus der CONQUEROR auszusteigen, zu dem fremden Schiff hinüberzufliegen und es sich anzusehen. Das Ding war einfach zu schnell, um neben ihm herzufliegen oder gar daran anzudocken. Alles, was ihnen blieb, war, auf Parallelkurs zu gehen, ein Stück vor ihm herzufliegen und sich überholen zu lassen. Zwölf Minuten, ehe die Distanz zu groß wurde, um ihre sichere Rückkehr zum Shuttle zu garantieren; vierzehn, wenn man bereit war, den Selbstmörder zu spielen und die Sicherheitsreserven der Rucksäcke bis auf den letzten Treibstofftropfen zu vergeuden.

Charity hatte keine Lust, den Helden zu spielen. Aber sie machte sich Sorgen um Mike, und viel mehr noch um Soerensen. Sie war ziemlich sicher, dass er Ärger machen würde - er gehörte zu jener Art von Wissenschaftlern, die ohne mit der Wimper zu zucken ihr Leben opferten, nur um ihren Namen in irgendeiner Fußnote eines wissenschaftlichen Berichtes verewigt zu wissen. Ihrer Meinung nach war es ein Fehler gewesen, ihn mitzunehmen. Dabei ging es gar nicht um ihn persönlich. Auf einer solchen Expedition hatten Wissenschaftler nichts zu suchen. Sie würden - falls es ihnen überhaupt gelang, einen Weg in dieses Ding zu finden! - nicht einmal zehn Minuten im inneren des fremden Raumschiffes verbringen. Was zum Teufel bildete er sich ein, in zehn Minuten erforschen zu können?

»Sieben Minuten«, sagte Niles. »Wir sind auf Kurs. Geht nach oben.« Seine Stimme klang verzerrt, und das lag nicht allein an der schlechten Übertragung der kleinen Helmlautsprecher. Er war verbittert, und sie alle - mit Ausnahme Soerensens - kannten sich zu gut, als dass er versucht hätte, diese Verbitterung zu verbergen.

Charity konnte ihn sogar verstehen. Aber das Los war nun einmal auf ihn gefallen, und einer von ihnen musste zurückbleiben; auch wenn er die ganze Zeit über wahrscheinlich so gut wie nichts zu tun hatte. Die CONQUEROR wurde seit drei Stunden ausschließlich von den Computern geflogen, und daran würde sich in den nächsten Stunden auch nichts ändern. Doch selbst der beste Computer konnte versagen. Weder Charity noch einer der anderen hatten besondere Lust, die CONQUEROR auf Nimmerwiedersehen im Weltraum verschwinden zu sehen, nur weil irgendein verdammter Chip durchgebrannt war oder die ETs dort drüben ihr Hallo Nachbarn! vielleicht auf einer Frequenz funkten, die ihre Bordrechner ausflippen ließ.

Nacheinander kletterten sie in den Laderaum hinauf. Die beiden riesigen Klappen des Frachtraumes standen weit offen, und für einen Moment kam sich Charity winzig und verloren vor. Um sie herum war jetzt buchstäblich nichts mehr, nur die eisige Kälte des Weltraumes und die Leere zwischen den Planeten.

Der Gedanke, dass sie von dieser entsetzlichen Leere jetzt nichts weiter als das bisschen Plastik ihres Schutzanzuges trennten, ließ sie schaudern.

»Dort ist es!« Eine der weißen Gestalten neben ihr hob den Arm und deutete auf einen von zahllosen flimmernden Silberpunkten über ihnen, und Charity erkannte Soerensens Stimme. Sie runzelte spöttisch die Stirn, hütete sich aber, irgend etwas zu sagen. Ihre Worte wurden nicht nur von den fünf anderen, sondern auch von ungefähr fünftausend SPACE-FORCE-Leuten auf der Erde mitgehört.

»Drei Minuten«, verkündete Niles' Stimme über die Helmlautsprecher. »Schiff liegt genau auf Kurs. Macht euch fertig.«

Es gab nichts fertig zumachen, aber sie war trotzdem beinahe dankbar für Niles' Worte, vielleicht auch nur für den Klang seiner Stimme, der ihr wenigstens die Illusion vorgaukelte, in dieser unendlichen Leere nicht allein zu sein. Schwerfällig drehte sie sich in ihrem plumpen Raumpanzer zur Seite und betrachtete die Gestalten der anderen, eineiige Vierlinge aus Silber und Weiß, die sich nur durch die kleinen Namensschildchen auf den Helmen unterschieden. Es tat ihr sehr leid, Mikes Gesicht nicht erkennen zu können, aber seine Helmscheibe hatte sich automatisch verdunkelt.

Trotzdem glaubte sie zu spüren, dass er sie anlächelte, und erwiderte sein Lächeln.

Eines der flachen Silbergesichter - das Namensschildchen darüber behauptete, dass es Soerensen gehörte - wandte sich ihr zu.

In den Helmlautsprechern knackte es ganz leise, als sich der Wissenschaftler auf ihre Frequenz schaltete. »Captain Laird?«

»Ja?«

Soerensens ausgestreckte Hand wies auf den schlanken Gammastrahllaser, der an seiner Magnethalterung an der rechten Seite ihres Anzuges hing.

»Überlegen Sie es sich noch einmal«, sagte er. »Ich beschwöre Sie, das Ding da nicht mitzunehmen.«

Charity unterdrückte ein Seufzen. Wie oft hatten sie dieses Gespräch in den letzten dreieinhalb Wochen geführt? Hundertmal? Mindestens.

»Ich habe meine Befehle«, antwortete sie unwillig. »Außerdem ist es zu spät. Ich kann nicht mehr zurück ins Schiff.«

»Sie machen einen entsetzlichen Fehler, Captain!« sagte Soerensen fast flehend. »Ich bitte Sie! Wollen Sie einer außerirdischen Lebensform wirklich mit einer Waffe in der Hand gegenübertreten? Wozu?«

»Zum Beispiel, um unverbesserlichen Romantikern wie Ihnen den Arsch zu retten, Soerensen«, sagte sie scharf. »Und jetzt halten Sie gefälligst die Klappe - sonst lasse ich Sie hier, Soerensen. Dazu ist es nämlich keineswegs zu spät.«

Aber hinter der verdunkelten Sichtscheibe ihres Helmes lächelte sie. Sie war sicher, dass dieser Teil ihres Gespräches aus den Bändern ausgeschnitten werden würde, bevor man sie der Öffentlichkeit zugänglich machte.

Soerensen wollte erneut widersprechen. »Schluss jetzt!«

»Zwei Minuten«, sagte Niles, dann: »Eine Minute. Es geht los. Viel Glück. Und bringt mir eine hübsche Außerirdische mit.«

»Keine Privatgespräche mehr, Lieutenant«, sagte Charity, allerdings in einem Ton, der nur für die Zuhörer auf der Erde streng klang. Niles würde wissen, wie sie es wirklich meinte.

»Dreißig Sekunden«, sagte Niles. »Fünfzehn, zehn... und los.«

Es war beinahe enttäuschend undramatisch, wie alle wirklichen Weltraumspaziergänge - Charity hatte nicht das Gefühl, zu fliegen, denn es gab weder Schwerkraft noch eine spürbare Beschleunigung.

Die CONQUEROR sackte einfach unter ihnen weg und wurde zu einem handgroßen weißen Dreieck, dann zu einem winzigen Punkt und verschwand schließlich ganz. Es ging unglaublich schnell.

Die Sicherheitsleine, mit der sie alle fünf verbunden waren, spannte sich mit einem Ruck, und für einen ganz kurzen Moment führten sie eine Art grotesken Tanz auf, als ihre ganze Fünfergruppe ins Trudeln kam. Dann stachen kleine Lichtlanzen aus Mikes und Soerensens Rucksäcken, schließlich eine dritte, etwas längere aus dem Bellingers. Ihre grotesken Purzelbäume hörten auf, als der Leitcomputer in Charitys Anzug zu dem Schluss kam, dass sie wieder auf dem richtigen Kurs lagen.

Lautlos schwebten sie durch das All. Niemand sprach, und selbst die Atemzüge der vier anderen klangen flacher als gewohnt. Charity glaubte die Sekunden verrinnen zu hören.

Einhundertneunundvierzig, dachte sie. Genau einhundertneunundvierzig Sekunden bis zum Kontakt, jedenfalls hatte das der Bordrechner der CONQUEROR behauptet.

Einhundertneunundvierzig Ewigkeiten. Wie viele davon waren bereits vergangen? Und wie viele Sekunden vorher würden sie das Schiff sehen?

Sie widerstand der Versuchung, auf die Uhr zu blicken, und starrte gebannt in die Richtung, aus der die riesige Silberscheibe auftauchen musste; wie alle anderen.

Als es dann passierte, war sie fast enttäuscht. Es geschah vollkommen undramatisch: Einer der winzigen flimmernden Punkte vor ihnen wurde größer und verlor gleichzeitig etwas von seinem Glanz, und dann stand das Schiff vor ihnen, gigantisch und groß, unglaublich groß.

Das Schiff jagte heran, mit einer Geschwindigkeit, die jeder Beschreibung spottete, wurde größer und größter, füllte eine Hälfte des Kosmos vor ihnen vollkommen aus und wuchs noch immer, bis es wie ein aus der Bahn geratener Planet aus mattsilbernem Metall auf sie herabstürzen schien. Charity erkannte bizarre, unglaublich fremdartige Beschriftungen auf seiner Unterseite, hatte einen flüchtigen Eindruck seiner Form - ganz genau der, die die Kameras und Computergrafiken ihnen gezeigt hatten - und dann war es heran; ein Gigant von der Form einer flachen, an den Rändern abgerundeten Scheibe, mit einer kaum sichtbaren, kuppelartigen Erhebung auf der Oberseite. Ein perfektes UFO, riesengroß und irgendwie schön in seiner fremdartigen Eleganz.

»Großer Gott!« wisperte Soerensens Stimme in ihrem Helm. »Es ist gigantisch!«

Charity antwortete nicht darauf, aber der Computer in ihrem Anzug schien Soerensens Ausruf als Stichwort zu benutzen - diesmal schössen Flammen aus allen fünf Rucksäcken. Die kleine Gruppe wurde mit jäher Wucht auf die vorbeirasende Scheibe herabgeschleudert. Soerensen schrie vor Schrecken, und selbst Charity musste mit aller Gewalt den Impuls unterdrücken, in die Kontrollen zu greifen und den rasenden Sturz abzufangen, ehe sie ins Herz dieses künstlichen Mondes aus Stahl hinabgerammt wurden.

Der vernichtende Aufprall, den ihr ihre überreizten Sinne suggerierten, kam nicht. Statt dessen setzte die kleine Gruppe fast sanft auf der Oberfläche des Sternenschiffes auf, und wieder begannen Charitys Sinne für einen Moment zu revoltieren, als die rasende Bewegung des Schiffes von einer Sekunde auf die andere aufzuhören schien. Ihr Magen stülpte sich um, und ihr wurde übel.

Aber sie achtete nicht darauf. Drei der siebzehn Minuten, die ihnen blieben, waren vergangen. Sie mussten an die Arbeit gehen.

Und doch taten sie für die nächsten fünf, zehn Sekunden nichts anderes, als einfach dazustehen und fasziniert auf die ungeheuerliche Ebene aus Metall herabzublicken, auf der sie standen.

Was fühlte sie in diesem Moment? Sie wusste es nicht, weder jetzt noch zu irgendeinem späteren Zeitpunkt. Es war... erhebend, niederschmetternd, großartig, faszinierend... von allem etwas und doch nichts davon wirklich; ein Gefühl, das sie niemals beschreiben konnte, weil es keine passenden Worte dafür gab. Das, was Armstrong empfunden haben mochte, als er den Mond betrat, Kolumbus, als er Amerika entdeckte, Jewgenjew, als seine WOSCHOD auf dem Mars aufsetzte...

Es war ein unbeschreibliches Empfinden, das sie alle durchströmte und das sie sich alle zugleich klein und winzig wie unglaublich mächtig vorkommen ließ.

Schließlich war es wiederum Soerensen, der das andächtige Schweigen brach.

»Dort vorne«, sagte er. »Rechts, Captain Laird. Dort scheint eine Art Einstieg zu sein.«

Charity blickte in die angegebene Richtung und sah, was Soerensen meinte: Nicht einmal weit von ihnen entfernt gähnte ein kreisrundes Loch im Boden.

»Okay. Beeilen wir uns. Und seid vorsichtig.« Sie gingen los.

Die Magnetsohlen ihrer Stiefel weigerten sich, sie am Rumpf des Sternenschiffes festzuhalten, so dass sie sich nur sehr vorsichtig bewegen konnten, um nicht von der Kraft ihrer eigenen Schritte ins All hinauskatapultiert zu werden, aber sie schafften es. Nach einer knappen Minute standen sie in einem Dreiviertelkreis, dessen Größe von der Länge ihrer Sicherheitsleinen bestimmt wurde, um den Einstieg herum und blickten in die Tiefe.

Es schien tatsächlich ein Zugang ins Innere des Schiffes zu sein, aber er führte irgendwie ins Nichts, denn die gebündelten Lichtstrahlen ihrer Scheinwerfer trafen nirgendwo auf Widerstand. Das Licht verlor sich irgendwo in fünfzig, vielleicht auch hundert Meter Entfernung in der Schwärze.

»Worauf warten wir?« fragte Soerensen. Er machte einen Schritt und blieb wieder stehen.

Charity blickte gebannt in die Tiefe. Was sie sah - genauer gesagt, was sie nicht sah -, gefiel ihr nicht. Es gab keine Wände. Kein Boden. Nichts. Wenn es ein Schacht war, dann musste er fast durch das gesamte Schiff führen.

»Worauf warten wir, Captain?« fragte Soerensen noch einmal. »Wir haben nur noch achteinhalb Minuten.«

»Das gefällt mir nicht«, antwortete Charity. Etwas warnte sie, aber sie wusste nicht einmal, - wovor. Verdammt, wenn sie nur ein bisschen mehr Zeit hätte, zu überlegen!

»Soerensen, Bellinger, Landers - ihr bleibt hier«, befahl sie. »Mike und ich gehen allein.«

Charity schaltete sein Funkgerät kurzerhand ab, löste ihre Sicherheitsleine aus dem Verband und machte einen vorsichtigen Schritt nach vorne. Auf der anderen Seite des Einstieges tat Mike es ihr gleich.

Schnell, aber trotzdem mit scheinbar quälender Langsamkeit glitten sie in die Tiefe. Für einen Moment streiften die Strahlen ihrer Scheinwerfer das Metall ihrer Schiffshülle, und ihr fiel auf, wie dick und unsauber verarbeitet es war: eine gut meterdicke Platte aus grobem Stahl. Nicht einmal die Ränder des Einstieges waren ganz glatt. Das Loch schien mehr aus dem Rumpf herausgebrochen als sorgfältig hineingeschnitten worden zu sein. Vielleicht durch den Aufprall eines Meteoriten, überlegte sie.

Dann waren sie hindurch, und die Strahlen ihrer Scheinwerfer verloren sich wieder in alles umfassender Schwärze. Es gab keine Möglichkeit, die Geschwindigkeit ihres Hinabsinkens zu schätzen, denn um sich herum war nichts als Dunkelheit, aber sie glaubte zu spüren, dass sie sich erhöhte. Behutsam griff sie an ihren Gürtel, ließ ihre Rucksackrakete eine kurze Feuerzunge ausstoßen und spürte, wie sich ihr Sturz in die Tiefe verlangsamte.

»Was ist los?« fragte Soerensens Stimme in ihrem Helm. »Was sehen Sie dort unten, Captain?«

Charity ignorierte ihn. Sie sah nichts. Der armdicke Strahl ihres Scheinwerfers kreiste beständig, aber er förderte nichts als Leere zutage. Dieses gewaltige Raumschiff enthielt nichts. Vielleicht war es eine Art Beiboothangar, in dem sie sich befanden, vielleicht...

Sie zwang sich, den Gedanken nicht zu Ende zu verfolgen, und konzentrierte sich statt dessen darauf, ihren Scheinwerferstrahl beständig weiterkreisen zu lassen.

Sie waren nur hier, um zu sehen. Herumraten konnten sie später.

Schließlich zeigte der Lichtstrahl doch etwas - über ihr. Der bleiche Kreis aus weißem Halogenlicht tastete zitternd über roh zusammengefügte Stahlplatten und glitt weiter, ohne mehr als diesen künstlichen metallenen Himmel zu treffen.

»Verdammt, Laird, was sehen Sie?« rief Soerensen. »So reden Sie doch! Wir haben nur noch sieben Minuten. Was haben Sie gefunden?!«

Charity seufzte. »Kommen Sie herunter und sehen Sie es sich selbst an, Professor«, sagte sie. »Aber passen Sie auf, dass sie sich nicht den Kopf stoßen. Es ist verdammt eng hier drinnen.«

Nicht einmal eine Sekunde später tauchte der Lichtstrahl von Soerensens Scheinwerfer über ihnen auf, dicht gefolgt von dem Bellingers und Landers. Mike hob seine eigene Lampe und leuchtete die drei winzigen silberhellen Gestalten an, die fünfzig Meter über ihnen durch die Decke kamen. Soerensen fluchte, als ihn der Lichtstrahl blendete.

Dann verstummte er jäh, als er begriff. Für einen Moment tat er Charity fast leid.

Sie selbst war eher überrascht gewesen, als sie begriffen hatte, dass dieses riesige Schiff nichts anderes als Leere transportierte. Für Soerensen musste eine Welt zusammenbrechen.

»Noch sechs Minuten«, sagte Mike. »Was tun wir? Weiter nach unten?« Charity schüttelte den Kopf, dann fiel ihr ein, dass die Bewegung im Inneren ihres Helmes wohl kaum zu sehen war.

»Nein«, sagte sie. »Macht euch fertig - ich zünde eine Leuchtgranate.«

Sie glitten zu Soerensen und den anderen hinauf. Charity befestigte ihre Sicherheitsleine wieder an den Anzügen Soerensens und Bellingers, überzeugte sich mit einem Blick davon, dass Mike auf der anderen Seite dasselbe tat, dann nahm sie ihre vorgeschriebene Position ein. Sie bildeten jetzt ein gleichmäßiges Fünfeck, mit nach außen gewandten Gesichtern und - weitaus wichtiger - Kameralinsen.

Mit etwas Glück würden sie das Innere des gesamten Schiffes aufnehmen können.

»Jetzt«, meinte Charity.

Zwanzig Meter unter ihnen flammte eine grellweiße Miniatursonne auf. Für einen Moment war Charity blind, trotz des Filters, der sich blitzartig vor die Sichtscheibe ihres Helmes senkte.

Dann gewöhnten sich ihre Augen an das schattenlose grelle Licht, und was sie sah...

Sie befanden sich im Inneren eines ungeheuerlichen, stählernen Domes. Decke und Wände bestanden aus mattem, beinahe weißem Metall, in dem eine große Anzahl runder Löcher waren, gleich dem, durch das sie das Schiff betreten hatten.

Über und neben ihnen waren keine Schatten, denn es gab nichts, was Schatten hätte werfen können - neunundneunzig Prozent dieser riesigen fliegenden Scheibe waren schlicht und einfach leer.

Nur unter ihnen war etwas zu sehen. Der grelle Teppich aus Licht, durch den sie hindurchblicken mussten, löste die Konturen auf wie leuchtende Säure und verwandelte den Boden der Flugscheibe in eine surrealistische Landschaft aus Schatten und ineinanderlaufenden Linien und Umrissen.

Die Leuchtgranate erlosch, und die Dunkelheit schlug wie eine Woge über ihnen zusammen. Für eine Sekunde hatte Charity das Gefühl, in der plötzlichen Schwärze nicht einmal mehr atmen zu können.

»Nach unten!« sagte Soerensen. »Wir müssen hinunter, Captain. Da ist etwas! Schnell!«

Der Unterton in seiner Stimme verrät eindeutig Panik, dachte Charity besorgt.

Aber das änderte nichts daran, dass er recht hatte. Trotzdem hielt sie ihn mit einem ärgerlichen Ruck zurück, als er sich an ihr vorbeisinken lassen wollte.

»Mike?« fragte sie.

»Fünf Minuten«, antwortete Mike.

»Knapp.«

Charity sah unentschlossen nach oben, weitere fünf unwiederbringlich verschenkte Sekunden, für die Soerensen ihr fünf Jahre Fegefeuer an den Hals wünschen würde.

Ihre anfängliche Besorgnis, den Einstieg nicht wiederzufinden, war unbegründet - dieses Schiff war ein fliegender Schweizer Käse, in dessen Rumpf sich Hunderte von Ausstiegen befanden. Und doch behagte ihr der Gedanke nicht, in dieses Labyrinth aus Schatten und unbekannten Dingen hinabzusteigen.

»Okay«, sagte sie. »Aber seid vorsichtig. Sie rühren nichts an, Soerensen, verstanden?«

Statt einer Antwort ließ sich der Wissenschaftler erneut in die Tiefe sinken, und diesmal hinderte ihn Charity nicht daran. Alle ihre Sinne arbeiteten mit mindestens zweihundert Prozent ihrer Leistung, und sie sah und hörte und fühlte und roch Dinge, von denen sie bis jetzt nicht einmal gewusst hatte, dass es sie gab.

Ihre Lichtstrahlen stießen auf Widerstand.

Etwas Großes, Schwarzes tauchte aus der Dunkelheit unter ihnen auf und verschwand wieder, und plötzlich waren sie von Schatten und mattblinkenden, sonderbaren Dingen umgeben, schräg gegeneinandergeneigten Ebenen aus stumpfem Metall, pyramidenförmigen, runden, kubischen und absolut unbeschreibbaren Formen, dazwischen Gräben und jäh aufklaffende, unregelmäßig geformte Löcher, die in weite, unbekannte Tiefen hinabführten, und endlich etwas, das wenigstens annähernd technisch aussah, ohne dass Charity sagen konnte, was es nun war.

Soerensen sicherlich auch nicht - was ihn allerdings nicht daran hinderte, unentwegt kleine, verzückte Laute auszustoßen und seine Lampe immer hektischer hin und her zu schwenken. Charitys Unwohlsein verstärkte sich. Welches Prädikat man immer auf die Technologie der Fremden anwenden wollte - einen angenehmen Anblick bot sie nicht.

Sie setzten auf einer fast fußballfeldgroßen Ebene aus grauem Metall auf, in der zahllose kleine Risse und Spalten prangten. Einige von ihnen schienen mit grober Gewalt in das Material hineingebrochen worden zu sein.

»Vier Minuten«, sagte Mike unaufgefordert. »Drei, bis wir zurück müssen.«

»Okay«, antwortete Charity. »Dann fangt an.«

Bellinger und Sanders lösten ihre Sicherheitsleinen aus dem Verband und begannen in fliegender Eile, aber ohne Hast, ihre mitgebrachten Instrumente aufzubauen und wenigstens einen Teil der Tests und Messungen durchzuführen, die auf der Wunschliste von Soerensens irdischen Kollegen gestanden hatten, während Mike behutsam niederkniete und ein Vibro-Messer aus dem Gürtel zog.

Charity beobachtete ihn aufmerksam, ohne ihre Umgebung dabei auch nur für eine Sekunde aus dem Auge zu lassen. Sie hatte den Laser schon auf halbem Wege nach unten von ihrem Anzug gelöst; jetzt schaltete sie die Sicherung aus und den Gammaverstärker ein.

Die Waffe begann lautlos in ihren Händen zu vibrieren, und in ihrem gläsernen Lauf glomm ein bösartiges, blutfarbenes Licht auf.

Soerensen sah auf, aber er sagte nichts. Entweder, dachte sie, hatte er endgültig begriffen, dass sie für die Sicherheit der Expedition verantwortlich war, oder die verbleibenden Sekunden waren ihm einfach zu kostbar, um sie mit einer weiteren überflüssigen Bemerkung zu verschwenden.

Mike schabte mit seinem Messer einen handlangen Span aus der Metallplatte, auf der sie standen, verstaute ihn sorgfältig in einer Tasche seines Anzuges und sah sich nach etwas anderem um, an dem er herumkratzen konnte, während Soerensen aufgeregt am Ende der Sicherheitsleine herumlief.

»Da drüben!« sagte er. »Dieser schwarze Zylinder, Captain!«

Charity sah Mike an.

»Zwei Minuten.« Mike nickte, löste seine Sicherheitsleine und beugte sich neugierig über irgend etwas am Boden, ohne sie oder Soerensen eines weiteren Blickes zu würdigen, und Charity wandle sich mit einer auffordernden Geste an den Wissenschaftler.

»Halten Sie sich fest, Professor.« Sie gab Soerensen nicht einmal Zeit, zu antworten, sondern flog los, direkt auf den gewaltigen schwarzglänzenden Zylinder zu, der ihn so faszinierte.

Sie verbrauchten ein Viertel ihrer verbliebenen Zeit, um ihn zu erreichen, aber das Ergebnis schien den Einsatz zu lohnen: Soerensen stieß einen kleinen faszinierten Schrei aus und riss sie fast von den Füßen, als er versuchte, auf das Ding loszustürmen, kaum dass sie wieder auf dem Boden aufgesetzt hatten.

»Der Antrieb!« sagte er ehrfürchtig. »Das muss eine der Antriebsmaschinen sein. Filmen Sie es, Captain! Nehmen Sie alles auf!«

Charity antwortete gar nicht. Ihre Helmkameras liefen, seit sie die CONQUEROR verlassen hatten. Sie hätten sie nicht einmal abschalten können, selbst wenn sie es gewollt hätten. Und außerdem hatte sie etwas entdeckt, das sie wesentlich mehr faszinierte als der monströse Raketenmotor vor ihnen.

Das hieß - faszinierte war nicht das richtige Wort. Es war...

Es war ein gewaltiger Block aus schwarzem Metall, fünfzig, sechzig Meter breit und so hoch wie ein zweistöckiges Haus. Er war vollkommen glatt, und auf seiner Oberfläche ruhte etwas, das sich ihren Blicken beständig zu entziehen schien, so absurd es klang.

»Großer Gott!« flüsterte Soerensen. »Was ist das?!«

Charity musste sich nicht zu ihm umdrehen, um zu wissen, was er meinte. Auch er hatte den schwarzen Block entdeckt. Und das Ding auf seiner Oberseite.

Was sie sahen, war faszinierend und erschreckend zugleich: Es war ein Ring, ein gewaltiger, dreißig, vierzig Meter durchmessender Kreis aus silbern schimmerndem Metall - vielleicht auch Kristall -, der wie eine auf die Kante gestellte Münze aufrecht auf dem gewaltigen Eisenblock ruhte. Er bewegte sich nicht, sondern schien so tot zu sein wie alles in diesem Schiff, und trotzdem... umgab ihn etwas.

Etwas wie ein Mantel aus... ein unsichtbares ungreifbares und trotzdem unübersehbares Etwas, das sich ihren Blicken beständig entzog, immer, wenn sie glaubten, es endlich genau erkennen zu können; zwei Bilder, die sich überlagerten, ohne dass man eines davon klar identifizieren konnte.

Soerensen machte einen Schritt auf den gewaltigen Block zu, aber Charity hielt ihn zurück. »Nein«, sagte sie.

»Warum nicht?« Soerensens Stimme klang nicht mehr ganz so aufsässig wie bisher. Er spürt es auch, dachte Charity. Sie war nicht allein mit dem unangenehmen Gefühl, das ihr der Anblick bereitete.

»Das Ding gefällt mir nicht«, antwortete sie. »Ich... weiß nicht, warum, Professor, aber ich bin ziemlich sicher, dass es besser wäre, wir gehen nicht zu nahe heran.«

Seltsamerweise widersprach Soerensen diesmal nicht. Dafür meldete sich Mikes Stimme wieder zu Wort: »Noch dreißig Sekunden, Freunde. Letzter Aufruf für die Passagiere Flug Nulleins Transgalaxis-Spacelines nach Hause.«

Charity fuhr sich nervös mit der Zunge über die Unterlippe. Es war seltsam - so sehr sie der Anblick dieses riesigen aufrecht stehenden Ringes beunruhigte, fiel es ihr doch gleichzeitig schwer, den Blick davon zu lösen. Irgend etwas ging davon aus, eine Aura, die einen Teil ihrer Seele berührte und ihn zu Eis erstarren ließ. Es war wie ein Hauch des Bösen, der sie gestreift hatte.

Mühsam riss sie sich von dem schauerlich-faszinierenden Anblick los und drehte sich herum. »Kommen Sie, Professor«, sagte sie. »Der Bus wartet.«

Sie hatte ein wenig geschlafen; nicht besonders lange, denn obwohl sie nach dem Siebzehn-Minuten-Ausflug in eine fremde Welt so müde wie nach einem anstrengenden Dauerlauf gewesen war, war sie viel zu aufgewühlt, als dass sie sich einfach hinlegen und schlafen konnte, als wäre nichts geschehen.

Jetzt saß sie wieder im Pilotensessel der CONQUEROR und blickte in das samtene Schwarz des Weltraums hinaus. Das fremde Schiff war längst ihren Blicken entschwunden, nicht einmal mehr ein Lichtpunkt unter vielen auf seinem Weg zur Erde. Wenn es zur Erde flog. Sie war sich dessen nicht mehr so sicher, nach allem, was sie gesehen hatten.

Es war sehr still an Bord des Schiffes. Nichts war von der Aufregung zu spüren, die sie erwartet hatte; im Gegenteil. Sie alle waren sehr ruhig, kaum jemand hatte ein Wort gesprochen; selbst Soerensen redete nur jede halbe Stunde ein paar Worte, immer dann, wenn sich die Erdstation meldete und er Antwort auf eine Frage gab, die dreißig Minuten mit Lichtgeschwindigkeit zu ihnen unterwegs gewesen war. Zum ersten Mal, seit sie damit begonnen hatte, die interessanten Stunden ihres Lebens im Weltraum zu verbringen, empfand sie die Zeitverzögerung als Erleichterung.

Charity fühlte sich... betäubt. Alles war so anders gewesen, als sie es sich vorgestellt hatte. Keine fremden Lebewesen, keine intergalaktische Hypertechnologie, nur Leere und kantige Klötze aus Eisen und... und dieses Ding, dieser riesige, flimmernde Ring, von dem sie immer noch nicht wusste, was er war, und der ihr selbst jetzt, in der bloßen Erinnerung, noch panische Angst einflößte.

Was war das? dachte sie. Bloße Xenophobie? Nichts als die angeborene natürliche Angst vor allem Fremden, Unbekannten? Oder mehr?

Sie seufzte, warf einen routinemäßigen Blick auf ihre Kontrollen und stellte ebenso routinemäßig fest, dass alles in Ordnung war und die Computer die CONQUEROR wie gewohnt präzise und zuverlässig auf Kurs hielten. »Kommandant verlässt den Pilotensitz«, sagte sie und stand auf. »Bellinger - übernehmen Sie einen Moment?«

»Selbstverständlich.«

Sie brach mit einer der eisernen Vorschriften, indem sie nicht einmal wartete, bis der hünenhafte Deutsche den Platz des Piloten eingenommen hatte, sondern wandte sich sofort um und verließ das Cockpit. Leise, um Landers und Niles nicht zu wecken, die ihren wohlverdienten Schlaf schliefen, durchquerte sie den schlauchförmigen Mannschaftsraum und ließ sich den Schacht zum Labor hinabgleiten; ein Fünf-Meter-Sprung, der bei der annähernden Schwerelosigkeit an Bord der CONQUEROR zu einem kaum spürbaren Hüpfer wurde.

Soerensen saß über ein Mikroskop gebeugt am Tisch und sah nicht einmal auf, als sie das Labor betrat. Charity lächelte lautlos in sich hinein. Jetzt, als die Anspannung von ihr abgefallen war, gestand sie sich ein, dass sie ihm unrecht getan hatte - er war weder so naiv, wie sie ihm unterstellte, noch der Idiot, als den sie ihn ziemlich offen behandelt hatte. Sie war Soldat, und er Forscher, und das war eben ein grundlegender Unterschied. Im Grunde war er ein ganz netter Kerl. Aber das würde sie ihm gegenüber natürlich nicht zugeben.

Er sah auf, als sie sich dem Tisch bis auf zwei Schritte genähert hatte, und für einen Moment musste sie ein Lächeln unterdrücken, als sich ihr die absurde Vorstellung aufdrängte, Soerensens rechtes Auge kreisrund und plattgedrückt zu sehen, von den fünf oder sechs Stunden, die er jetzt schon über das Mikroskop gebeugt dasaß. Sie fragte sich, warum er nicht den Monitor benutzte, um sich seine Funde genauer anzusehen.

»Captain Laird.« Soerensens Stimme klang überaus versöhnlich.

»Alles in Ordnung?«

Charity nickte. »Unser Baby liegt auf Kurs«, antwortete sie. »Keine Angst. In neunzehn Tagen sind Sie wieder zu Hause.« Sie deutete mit einem Lachen auf das Mikroskop. »Haben Sie den Nobelpreis schon gesichtet?«

Soerensen reagierte ganz anders, als sie erwartet hatte - weder schien er amüsiert noch verärgert zu sein. Als sie ihn eingehend musterte, glaubte sie fast, eine ganz leise Spur von Enttäuschung auf seinen Zügen zu erkennen. Oder war es Sorge?

»Was haben Sie, Professor?« fragte sie. »Irgend etwas, das ich wissen müsste?«

Soerensen schüttelte hastig den Kopf. »Nein«, sagte er rasch. »Nur ...« Er zögerte, sah das Mikroskop vor sich an, als erwarte er Hilfe von ihm, und seufzte tief.

»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Es ist alles... ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe.«

»Das geht mir genauso«, gestand Charity. Sie setzte sich neben Soerensen auf die Schreibtischkante und schlug die Beine übereinander. Sie sah ihn nicht an, als sie weitersprach. »Ich frage mich, ob es sich gelohnt hat.«

»Gelohnt?« Soerensens Tonfall machte deutlich, dass er ernsthaft an ihrem Verstand zweifelte. »Wie meinen Sie das?«

Charity machte eine weit ausholende Handbewegung. »Nun, wir haben dieses Schiff riskiert, unser aller Leben und einige hundert Millionen Dollar, nicht wahr? Und das alles, um zehn Minuten lang in einem leeren Schiff herumzufliegen und ein paar Fotos zu machen.«

»Sie sind ein Barbar, Captain«, behauptete Soerensen.

Charity grinste. »Stimmt. Deshalb hat man mich ausgesucht, diese Expedition zu leiten. Aber im Ernst, Professor - hat es sich gelohnt?«

»Zweifellos«, sagte Soerensen. »Es hätte sich für eine Minute gelohnt. Selbst für eine Sekunde.«

»Für Sie«, räumte Charity ein. »Aber für die Menschheit?«

Soerensen seufzte. Dann lächelte er. »Sicher - der Hintergedanke war vielleicht, auf Außerirdische zu treffen. Niemand hat es gesagt, aber selbstverständlich haben wir gehofft, sie zu sehen. Vielleicht sogar... Kontakt mit ihnen aufzunehmen. Wir sind nicht wegen dieser zehn Minuten hierher geflogen, Captain, sondern wegen der Chance.«

»Aber wir hatten sie nicht. Keine ETs«, sagte Charity nickend. Und fügte mit einem versöhnlichen Lächeln hinzu: »Aber wenigstens auch keine menschenfressenden Aliens, nicht wahr?«

Soerensen blieb weiterhin ernst. »Es ist ... wahrscheinlich zu früh, um irgend etwas Definitives zu sagen«, sagte er. »Aber ich ...«

Er brach wieder ab, lehnte sich plötzlich zur Seite und zog ein Hochglanzfoto aus einem fast zwanzig Zentimeter hohen Bilderstapel auf dem Tisch. Während Charity geschlafen hatte, hatte er Hunderte von Abzügen von den Bildern machen lassen, die sie geschossen hatten. Er hielt Charity das Bild hin. »Sehen Sie sich das an.«

Charity gehorchte. Im ersten Moment war sie überrascht - das Bild zeigte den gewaltigen Raketenmotor, den sie entdeckt hatten, aber zehnmal schärfer und detaillierter, als sie ihn in Erinnerung hatte. Nun, schließlich hatten sie nicht umsonst die besten Kameras und empfindlichsten Filme an Bord, die es überhaupt gab.

Eine Weile betrachtete sie das Bild neugierig, dann sah sie Soerensen an und zuckte mit den Schultern. »Und? Ein ganz normaler Raketenmotor.«

»Eben«, sagte Soerensen. Irgendwie klang er niedergeschlagen, fand Charity. »Das ist es ja gerade.«

Charity legte den Kopf schräg und sah ihn fragend an.

Soerensen nahm ihr das Bild fort, klaubte ein weiteres aus dem Stapel, machte aber keine Anstalten mehr, es ihr zu zeigen. Er seufzte. »Wie gesagt, es ist nur mein erster Eindruck, aber ...«

Er sprach auch jetzt nicht weiter, und Charity glaubte plötzlich auch zu wissen, warum: Weil er Angst vor dem hatte, was er eigentlich sagen wollte.

»Aber?« sagte sie.

Soerensen seufzte wieder. Er wirkte verstört. »Dieses Triebwerk, Captain Laird«, sagte er. »So etwas haben wir vor zehn Jahren schon besser gebaut.«

Es dauerte einen Moment, bis Charity begriff. Aber sie war nicht sehr überrascht.

Eigentlich hatte sie es die ganze Zeit über gewusst.

»Ich habe die Proben untersucht, die Lieutenant Wollthorpe vom Schiff genommen hat«, fuhr Soerensen fort, als sie nicht reagierte. »Wissen Sie, was es ist?«

»Woher?«

»Titanium«, sagte Soerensen. »Ganz normales Titanium. Nicht einmal besonders reines. Dieses Schiff hier besteht aus einem besseren und widerstandsfähigerem Material.«

»Sie wollen sagen, dass unsere großen Brüder aus dem Kosmos gar nicht so großartig sind«, sagte Charity leise.

»Ich will überhaupt nichts sagen«, fauchte Soerensen, plötzlich gereizt. Vielleicht war ihm eingefallen, dass jedes seiner Worte aufgenommen und sofort und live zur Erde gefunkt wurde. »Wir waren nicht einmal zehn Minuten im Inneren dieses Schiffes. Wir haben nur einen Bruchteil dessen gesehen, was es enthält.«

»Zum größten Teil gar nichts«, erinnerte Charity. »Wissen Sie, Professor - das ist es, was mir das größte Kopfzerbrechen bereitet. Wer baut ein so gewaltiges Schiff, um es dann vollkommen leer auf die Reise zu schicken?«

»Vielleicht war es nicht mehr leer«, sagte Soerensen.

Charity lachte gequält. »Ja, sicher. Es wird irgendwo unterwegs ausgeplündert worden sein, wie? Von Raumpiraten.«

»Es war sehr lange unterwegs«, erwiderte Soerensen ernst. Er deutete wieder auf die Materialproben. »An diesem Metall klebt kosmischer Staub. Ich kann mit diesen primitiven Geräten hier keine genauen Bestimmungen vornehmen, aber dieses Schiff bewegt sich seit mindestens fünfzehntausend Jahren durch das All. Vielleicht auch schon viel länger. Haben Sie eine Ahnung, was in dieser Zeit alles passieren kann?«

Natürlich hatte Charity das nicht - niemand hatte das -, aber sie nickte trotzdem. Sie wusste, was Soerensen meinte.

»Vielleicht gab es eine Katastrophe«, sagte sie. »Vielleicht ist es nicht fertig geworden. Vielleicht war es eine Art Transporter, der außer Kontrolle geriet, ehe er beladen wurde. Ich kann mir keinen anderen Grund vorstellen, ein so riesiges Schiff zu bauen, als den, irgend etwas zu transportieren.«

»Sie nicht«, bestätigte Soerensen. »Und ich auch nicht. Aber das heißt nicht, dass es so war. Wissen Sie, wie außerirdische Lebensformen denken?«

»Nein«, gestand Charity. »Aber wenn dieses Schiff wirklich so rückständig ist, wie Sie sagen ...«

»Das habe ich nicht gesagt«, unterbrach sie Soerensen. »Es ist in Teilen primitiver, als ich erwartet habe, das stimmt. Andererseits wären wir nicht in der Lage, ein solches Riesenschiff zu bauen und zu anderen Sonnensystemen zu schicken.«

»O doch«, widersprach Charity. »Es ergäbe nur keinen Sinn.«

Soerensen nickte, starrte an ihr vorbei und biss sich auf die Unterlippe. »Da ist noch etwas«, sagte er, ohne sie anzusehen.

Charity wurde hellhörig. »Ja?«

Der Wissenschaftler beugte sich über den Tisch und nahm ein in durchsichtiges Plastik verschweißten Gegenstand zur Hand. »Das hier hat Lieutenant Bellinger gefunden«, sagte er. »Ganz in der Nähe dieses sonderbaren Ringes. Was glauben Sie, was es ist?«

Charity hatte keine besondere Lust, Ratespielchen zu spielen, aber sie tat ihm den Gefallen, sich das Fundstück einige Sekunden lang genauer anzusehen.

Es war ein längliches, geschwärztes Stück Metall oder Kunststoff, brüchig und porös geworden von Soerensens mindestens fünfzehntausend Jahren, die es in absolutem Vakuum und Weltraumkälte dagelegen hatte.

»Und?« fragte sie.

Soerensen nahm ihr den Gegenstand vorsichtig wieder aus der Hand - immerhin war er etliche Millionen Dollar wert - und legte ihn an seinen Platz zurück. »Ich habe es für irgendein Bruchstück gehalten«, sagte er. »Etwas, das von etwas anderem abgebrochen ist, vielleicht auch einfach nur Abfall, den man wegzuräumen vergessen hat.«

Charity sah ihn verwirrt an.

»Dann habe ich es durchleuchtet.« Er drehte sich herum und schaltete einen der zahllosen Monitoren an der Wand vor sich ein.

Charity erkannte den Umriss des länglichen Gegenstandes, den sie gerade in der Hand gehalten hatte. »Diese schwarze Masse ist nichts als kosmischer Staub«, fuhr er fort. »Eine Art Kruste, die sich darauf gebildet hat. Und das da«, fügte er nach einer genau berechneten Pause hinzu, »war darunter, Captain Laird.«

Er drückte einen Knopf, und das Bild wechselte.

Charity erkannte es sofort, aber alles in ihr weigerte sich, es zu akzeptieren.

Es war eine Art Finger; allerdings nicht der Finger eines Menschen, sondern eine Klaue, fünfzehn Zentimeter lang und mit zwei übergroßen, verkrüppelt wirkenden Gelenken. Sie bestand aus schwarzem, brüchig gewordenem Chitin.

Es war die Klaue eines gigantischen Insektes.

Warum erschreckte sie diese Klaue so? Sie war nicht einmal sicher, dass es sich wirklich um eine solche handelte - selbstverständlich hatte Soerensen es nicht gewagt, sie schon an Bord der CONQUEROR von ihrem Panzer aus kosmischem Staub zu befreien, und er hatte es ebenso wenig gewagt, irgendwelche anderen Untersuchungen anzustellen, so dass sie auf das nicht besonders scharfe Ultraschallbild angewiesen waren - keine Röntgenaufnahmen, keine weiteren Durchleuchtungen, nichts, was ihren Fund in irgendeiner Weise beeinträchtigen konnte.

Und trotzdem war die Beunruhigung geblieben. Charity sah das Bild der ins Riesenhafte vergrößerten Insektenkralle im Traum. Sie fragte sich, warum dieses Bild sie so verfolgte, und mit solchem Schrecken. Dieses Krallenwesen war seit gut fünfzehntausend Jahren tot, und selbst wenn sie Insekten waren, was war schlimm daran? Was hatte sie erwartet? Kleine grüne Männchen oder galaktische Telefonfetischisten mit großen Köpfen und Leuchtfingern? Lächerlich.

Das war die eine Seite, die logische.

Leider gab es noch eine andere, und sie sorgte dafür, dass Charity während des achtzehntägigen Fluges nach Hause nicht besonders gut schlief. Es war nicht allein diese Kralle, die sie gefunden hatten: Bei aller verständlicher Paranoia musste sie sich eingestehen, dass es ein Dutzend überzeugender und wahrscheinlich einige tausend mögliche Erklärungen für dieses Fundstück gab. Aber etwas... hatte sie im Inneren dieses riesigen Sternenschiffes berührt. Und verändert.

Der Blick. In ihren Träumen sah sie ihn immer wieder, und manchmal war der zyklopische Ring auf seiner Oberfläche nicht leer, sondern erfüllt von namenlosen schrecklichen Dingen, und ein paarmal krochen Insektenwesen aus ihm heraus und auf sie zu, und...

Und an dieser Stelle wachte sie regelmäßig auf, als wäre der Regisseur dieses ganz privaten Horror-Filmes in ihr zu dem Schluss gekommen, dass es genug war.

Sie sprach zu niemandem von ihren Träumen, nicht einmal zu Mike. Einmal spielte sie mit dem Gedanken, mit Bellinger zu reden - wozu hatten sie einen Psychologen an Bord? -, aber der Gedanke an die - zigtausend anderen Ohren, die ihr Gespräch mithören würden, brachte sie von der Idee ab. Es gab keinen Ort auf der CONQUEROR, an dem sie ungestört reden konnten. Angeblich waren die Mikrofone und Sender abgeschaltet worden, nachdem sie ihre Mission erfüllt hatten, aber Charity hatte da gewisse Zweifel.

Was die technische Seite ihres Rückfluges anbelangte, verlief alles so perfekt, wie es überhaupt nur möglich war. Nach achtzehneinhalb Tagen - die gute alte Erde war so freundlich gewesen, ihnen entgegenzukommen - tauchte die CONQUEROR in die Atmosphäre ein und landete fast auf die Minute genau auf einem großräumig abgesperrten Teil der Jefferson-Air-Base.

Sie hatte mit einigen Unannehmlichkeiten gerechnet, aber was nach ihrer Rückkehr geschah, übertraf ihre schlimmsten Befürchtungen. Sie wurde von den anderen getrennt und untersucht, und danach begannen die Verhöre, unter denen sie mehr litt, als sie zugeben wollte. Keine Sekunde ihres Aufenthaltes auf dem Schiff, zu der sie nicht befragt wurde, keine Videoaufnahme, die sie nicht erklären musste, keine ihrer eigenen Worte - oder auch nur hingeworfenen Bemerkungen -, die ihr vom Band vorgespielt wurden und die sie kommentieren musste, immer und immer und immer wieder, bis sie bald selbst nicht mehr wusste, was sie nun gesagt hatte und warum. Am Ende kam sie sich beinahe wie eine Verbrecherin vor.

Und als sie fertig waren und sie - endlich - entließen, begann der zweite Teil der Tortur: Das Sternenschiff war in einigen hunderttausend Kilometern Entfernung an der Erde vorübergerast und näherte sich nun der Sonne, und sie und die fünf anderen waren die einzigen Informationsquellen für die Öffentlichkeit.

Es war die Hölle.

Nach drei Tagen sehnte sie sich in das Verhörzimmer im NASA-Hauptquartier in Houston zurück, und nach weiteren drei Tagen spielte sie ernsthaft mit dem Gedanken, auf jeden Reporter zu schießen, der ihr näher als fünf Meter kam. Es war beinahe unmöglich, den Fernseher einzuschalten oder eine Zeitung aufzuschlagen, ohne ihr Porträt zu erblicken.

Es dauerte drei Wochen, dann geschah etwas, was das Interesse der Öffentlichkeit schlagartig von Captain Charity Laird und den anderen Mitgliedern der CONQUEROR-Expedition ablenkte: Das Sternenschiff kam zurück.

Und diesmal landete es.

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